Falconry Gardens - Moonkeepers
31. Dezember 2210
Als sie Zuhause aufgebrochen waren in ihren warmen neuen Mänteln und den blank polierten Schuhen, war es später Nachmittag gewesen und die Sonne noch am Horizont sichtbar. Mittlerweile hatte sich Dämmerung über die Kleinstadt hinweg geschoben und sie in Dunkelheit getaucht - doch anstatt zum Anbruch der Nacht Zuhause zu bleiben, wurden mit zunehmender Uhrzeit die Straßen Falconry Gardens immer voller.
Warmes Feuer flackerte mittlerweile in den Straßenlampen. Hier und da brannten ein paar Flammen zusätzlich in Feuerschalen um zum Aufwärmen und zum Essen einzuladen und nicht selten kam es vor, dass sie sich Schulter an Schulter vor allem in Nähe der Stände durch die Massen schieben mussten. Offene, leere Fässer zierten vereinzelt die Straßenecken und forderten einen mit Zeichnungen von Lebensmitteln dazu auf, Reste und leere Kohlblätterschalen dort zu entsorgen um später auf Komposthaufen zu landen, die hoffentlich in wenigen Wochen die umliegenden Äcker wieder fruchtbar machen würden.
In den Schaufenstern brannte Licht, doch nicht etwa um noch etwas zum Verkauf anzubieten, sondern um die Besucher von weit her mit eben jener Ware zu locken, die sie nach den Feiertagen erwerben und hoffentlich mit raus in die Welt tragen würden, ähnlich wie auch Alecs Familie aus weiter Entfernung immer wieder neuen Kram anschleppte, um hier die Leute zu begeistern und die Freunde ihres Sohnes zu beschenken.
An einigen Buden - besonders aber jenen, an denen Alkohol ausgeschenkt wurde - herrschte bereits sehr losgelöste Stimmung und immer wieder brach sich ein lautes kehliges Lachen oder ein schrilles, feminines Gackern durch die Menge, das aufzeigte, dass sich an diesem Abend niemand mit Sorgen belasten wollte.
Feiertage waren immer etwas besonderes in der Zeit, in der sie lebten. Vielleicht war es bei den Alten ähnlich gewesen, vielleicht hatte man Feste dort noch viel größer gefeiert als hier - oder womöglich hatte es damals nur eine nebensächliche Rolle gespielt, ob ein Jahr zu Ende ging oder ein neues anfing. Als überreizt hatte Nagi die Alten oft beschrieben - Menschen, die im Überfluss alles besaßen und alles kauften und an nichts mehr richtige Freude empfanden, da Konsum nichts besonderes mehr war. Niemand sparte auf etwas oder musste wochenlang warten, bis eine Anfertigung endlich fertig oder die Bestellung bei einem der Händler eingetroffen war. Was für ein trauriges Leben, hatte sich Clarence oftmals bei dieser Vorstellung gedacht. Denn war nicht gerade die Zeit des Hoffens und Erwartens der schönste Moment, wenn man sich auf etwas freute, auf das man so lange hin gearbeitet hatte? - Aber wer war er schon, so zu urteilen, nachdem er seinen Mann nur zwei Wochen nach ihrer ersten Liebeserklärung geheiratet hatte?
Es stimmte, seitdem er mit Cassie zusammen war, hatte seine sonst so stoische Geduld drastisch unter den neuen Umständen gelitten. Nicht mit Sicherheit konnte er sagen woran das lag; entweder hatten ihn mittlerweile all die Jahre mürbe gerieben, an denen er sich selbst Strafen und Selbstgeißelung aufgebürdet hatte bis zu jenem Moment, an dem er zu Matthew Ja gesagt hatte - oder die chronische Ungeduld des Jüngeren färbte langsam auf ihn ab, was Clarence durchaus wahrscheinlicher erschien.
So oder so, es gab Dinge auf die er mittlerweile nicht mehr so verzichten konnte wie früher und deshalb war es auch kein Wunder, dass er seinen Mann fest an der Hand hielt, während sie sich durch die engen Menschenmengen hindurch drängten. Vorwiegend mochten der Nachteinbruch und die Ablenkung all der Besucher und Einheimischen durch die Festlichkeiten dazu beitragen, dass er sich heute durchaus wohler als sonst fühlte, während er Cassie seine Zuneigung in der Öffentlichkeit zeigte - aber was spielte das schon für eine Rolle, so lange sie einen schönen Abend miteinander hatten und seit langer Zeit ihr erstes Fest miteinander genossen?
„Entspann dich, so schlimm wird‘s schon nicht“, sprach er ihm abermals frohen Mut zu und nahm einen weiteren Schluck von seinem Wegbier, das sie sich an einer der Buden mitgenommen hatte. Eigentlich hatte er heute hart daran arbeiten wollen sich zur Feier des Tages ein wenig zu betrinken, doch nachdem sein Mann ihm sein Getränk vorhin einfach entwendet hatte, rutschte sein Ziel damit in weite Ferne. „Also… jedenfalls nicht so schlimm. Nur ein bisschen… seltsam vielleicht.“
„Seltsam… verstörend… bis ins Mark erschütternd… jedem so, wie er es für sich selbst definiert“, korrigierte Addy den Blonden mit einem selbstgefälligen Grinsen, immerhin hatte er sich diese Grube über Jahre hinweg selbst geschaufelt und musste nun seit einigen Wochen zusehen, wie er das tiefe Loch wieder aufschüttete ohne sich dabei beide Beine zu brechen. „Ich glaube, ich bin doch ganz froh darüber, dass ich nun doch mitkomme. Wäre rückblickend echt schlimm gewesen, wenn ich das Beste der Jahreswende verpasst hätte.“ - Ihrer Ansicht nach geschah es diesem Tölpel genau richtig, sich selbst nach all seinen Predigten über die einzig richtige Verbindung zwischen Mann und Frau nun in dieser Situation wiederzufinden und der Rotschopf machte keinen Hehl daraus, dass es sie köstlich amüsierte. Clarence konnte ihr ansehen, dass sie am liebsten weiter Salz in die Wunde gestreut und gefragt hätte, was man noch gleich in seiner Heimat mit so Leuten wie ihm machte. Doch wenigstens so viel Anstand besaß sie, den Bogen nicht zu überspannen; immerhin wusste sie bis heute auch nicht wie viel Matthew über seinen Mann wusste. Aber zum Glück ging nicht alles aus ihrer Beziehung Adrianna etwas an.
„Komm, hier runter. Wir trinken nicht mit dem gemeinen Volk, da kann man sich nicht frei unterhalten“, winkte Addy Matthew hinter sich her und öffnete ihm dabei nicht etwa die Tür zum Schankraum des Moonkeepers, sondern bevorzugte es sich auf einer schmalen, in Stein geschlagenen Treppe zwischen der Schänke und dem Nebengebäude fast die Haxen zu brechen. Wer es im Winter bei Schnee und Eis hier hinab wagte, der war nicht gerade gesund im Kopf - aber welcher Jäger der Kestrel war das schon?
Ähnlich wie die meisten Häuser in Falconry, hatte auch die kleine Stammkneipe ein Fundament aus dickem, gemauerten Stein und wurde ansonsten rustikal von dunkel gestrichener Holzfassade geziert. Über einer Tür aus dicker Eiche hing ein krummes Schild, das seine besten Tage bereits hinter sich hatte und das gleiche Logo aufzeigte wie das Bier, das sie auf Camerons Zimmer bei ihren Krankenbesuchen tranken: Eine Mondsichel und eine Sonne, die eng beieinander über zwei behütend ausgebreiteten Händen thronten.
Zwei kleine Einlässe waren neben dem Treppenabstieg in das steinerne Fundament der Kneipe gearbeitet und durch die gekippten Fenster drang schon jetzt ein dichtes Stimmenwirrwarr hindurch. Es war nur ein Bruchteil des Clans heute hier - der gute Teil, wie Clarence fand - und trotzdem war die Stimmung munter genug, um kein Wort mehr aus dem Innenraum zu verstehen. Es klang, als würde in einer Ecke in geselliger Runde bereits um einige Kupferlinge Karten gespielt werden, in einer anderen stritt man sich über die Schallplatte die als nächstes aufgelegt wurde und über alles hinweg tönte schließlich ein freudiges Jubeln, als Adrianna - die ihre beiden Begleiter schon längst abgehängt hatte - eines der hohen Scheunentore des Kellers aufgestemmt hatte und als der Überraschungsgast des Abends die Meute zu begeistern schien.
„Na immerhin lenkt die einarmige Banditin die Aufmerksamkeit etwas von uns weg, das ist doch was. Ich würde ja sagen hast du gut gemacht, aber man soll den Abend nicht vor dem neuen Jahr loben“, neckte Clarence seinen Mann leise und zog ihn an der Hand zurück zu sich, um ihm einen kurzen Kuss zu stehlen bevor sie die Kneipe betraten - doch noch bevor er ansatzweise so weit war, zeigte die Rothaarige ihr einzigartiges Talent auf aus Momenten wie diesen eine Selbstverständlichkeit zu zaubern, so wie es Clarence nie im Leben geschafft hätte:
„Ich hab auch Matthew und Sky dabei. Das hier ist—… Leute, wo bleibt ihr denn? - Ah, da seid ihr ja“, tönte ihre Stimme durch das offene Tor, bevor sie ihm seinen Mann einfach aus den Händen riss und ohne ihn in den ausgebauten Schankraum schubste - den Dunkelhaarigen dabei mit ihrer einen, aber dafür eisernen Hand im Rücken an Mantel festhaltend, damit er seinem elenden Schicksal nicht entkam.
„Das hier ist Matti, mein Wohltäter und Retter. Sagt brav ‚Hallo‘ zu dem Mann mit der Axt“, stellte sie den Jüngeren mit einer einladenden Geste ihres Stumpfes in den Raum vor und begutachtete sich dabei vergnügt die Menge, die zwar nicht zur Gänze still geworden war, aber dafür trotzdem auffällig leiser als noch zuvor. Lediglich die neue Schallplatte war es, die fröhlich den Schankraum erfüllte während der Unbekannte sich durch mindestens ein Dutzend Augenpaare beobachtet fühlen durfte, wobei ganz deutlich nicht alle auch zu einem Jäger gehörten. „Der Verrückte mit der Axt und nebenher verheiratet zu sein ist einfacher als mit dem Verrückten verheiratet zu sein und nebenher ‘ne Axt zu haben. Vertrau mir.“
Bis auf die kleine Treppe am hinteren Ende des alten Kellers war der Stammplatz der Kestrel fast gänzlich abgetrennt durch den Rest der Kneipe, die oben ihr Hauptgeschäft führte. Wenige kleine Fenster ließen am Tage spärlich Tageslicht hinein; hauptsächlich waren es kleine Lampen auf den Tischen und unter der Decke, die den Raum in fahles Licht tauchten und die Gesichter durch den dicken Rauch von Zigaretten und Zigarren hinweg erkennbar machten. Der ein oder andere hatte seine Liebste im Arm oder auf dem Schoß, wobei nicht jede der Damen durch bunte Bilder und Figuren auf der Haut aufwartete - Matthew war nicht der einzige Nicht-Jäger auf dieser Veranstaltung und wäre dem anders gewesen, wäre Clarence heute vermutlich auch gar nicht mit seinem Mann hierher gekommen.
„Schön, dass ihr da seid. Warum kommt ihr so spät?“, wollte jemand aus den hinteren Reihen wissen und kippelte mit dem Stuhl leicht vom runden Kartentisch weg, um den Neuankömmling besser betrachten zu können - eine junge Frau mit blasser Haut, die Matthew schon bei seiner Ankunft als Rookie kennengelernt hatte und die sich direkt eine Maßregelung einfing, indem sie von ihrem Sitznachbarn zurück an den Tisch gezogen wurde.
Es dauerte einen Moment, bis die Stimmen sich langsam wieder erhoben und das alte Wirrwarr erneut einsetzte - Zeit, in der sich von einem der Stehtische eine auffordernde Hand erhob, die sie zu sich winkte. Alec hatte die Zeit bislang zwar nicht alleine verbracht und nicht explizit auf die beiden, beziehungsweise nun drei gewartet - doch trotzdem freute er sich nun ganz offensichtlich die bekannten Gesichter endlich im Moonkeepers zu sehen.
Spätestens jetzt rächte es sich, dass Matthew sich nie besonders für Jäger und deren Clans interessiert hatte. Bei David war das anders gewesen, aber sein gescheiter, älterer Bruder war schon so lange kein Teil mehr seines Lebens, dass Matthew längst die Hoffnung aufgegeben hatte ihn irgendwann noch einmal wiederzusehen.
Aufmerksam blickte er zu dem Gebäude empor, dessen verblichenes Schild es als Moonkeepers und damit als ihren Zielort auswies.
Nachdem er White Bone und der rauen Wildnis entkommen war, waren es die Walkers gewesen, die ihn gefunden und nach Varlan gebracht hatten. Die meisten Jungen in seinem Alter hätten sich wahrscheinlich der Gilde angeschlossen - oder es wenigstens versucht - aber Matthew hatte das nie gewollt. Es war ihm immer schon befremdlich vorgekommen sich einer Gruppe mit Leib und Seele zu verschreiben, die Möglichkeit aufgebend einen Job abzulehnen und eigener Wege zu gehen.
Oder vielleicht lag es auch einfach nur am Verschwinden seines Bruders, dem es kein Glück gebracht hatte, der Aufnahme in einem Jägerclan entgegenzufiebern.
Angespannt straffte er die Schultern, während Adrianna an ihm vorbeidrängte, ihnen den Weg weisend - weil sie nicht mit dem gemeinen Volk tranken. Warum nicht, das erklärte sie direkt mit und Matthew leuchtete all das durchaus ein.
Clarence hielt ihn an der Hand- eine Geste welche hier draußen nicht für Aufsehen sorgte und die Matthew still genoss. Mit zunehmender Dunkelheit wurde die Stimmung immer ausgelassener, die Menschen waren fröhlich und nicht daran interessiert Streit anzufangen. Wenn es nach Matthews Erfahrung ging, dann würde sich das eventuell bei dem einen oder anderen mit steigenden Bier- oder Metpegel ändern.
So war es fast immer und zwar fast überall.
Die einarmige Banditin hastete jedenfalls ungeachtet ihres Bierpegels mit selbstzerstörerischer Geschwindigkeit eine Treppe hinab, deren Stufen so schmal und abgetreten waren, dass sicherlich schon so mancher den Weg nicht unbeschadet vollzogen hatte. Trotzdem huschte sie hinab ohne auch nur einmal zu straucheln. Sie freute sich auf das Moonkeepers, auf ihre Freunde und Bekannten, auf den Abend und nicht zuletzt auf die Reaktionen der anderen auf… die neuen Umstände. Daraus hatte der Rotschopf keinen Hehl gemacht. Auf dem ganzen Weg hierher hatte sie immer wieder stichelnde Bemerkungen gemacht die allesamt eher Clarence als Ziel hatten statt Matthew. Sein Mann hatte diesen Ort damals als bibeltreuer Christ verlassen und sich - schenkte man Addy Glauben - mit seinen Bemerkungen ein ums andere Mal recht weit aus dem Fenster gelehnt. Und nun rückte er an… verheiratet mit einem Mann.
Und das entsprach nun ganz und gar nicht dem christlichen Werteverständnis, so viel wusste jeder. Dass es unter diesen Voraussetzungen Gerede geben würde, Klatsch und vielleicht auch Böses Blut war wenig verwunderlich und man brauchte auch nicht viel Fantasie es sich vorzustellen.
Cassie konnte der Rothaarigen jedenfalls keinen Augenblick lang böse sein für ihre Neugierde darauf, wie die Runde auf diese Entwicklung reagierte.
Heiter und gut gelaunt stemmte sie eine Seite der großen Tür auf, wobei der Geruch von Tabak und Bier in die kalte Abendluft drängte. Ohne große Umschweife kündigte sie ihr Kommen an und musste lauthals über das Stimmen- und Musikgewirr brüllen.
„Oh man…“, sagte Matthew, der die Hand des Blonden fester drückte.
„Ist eigentlich nur eine Kneipe… kein Grund nervös zu sein.“, versuchte er sich einzureden und blickte zu Clarence. Gerade wollte er noch etwas aufmunterndes sagen - für sie beide, immerhin erwarteten Clarence sicherlich auch einige Fragen - da zog Adrianna ihn mit unerwarteter Vehemenz von dem Blonden weg und schob ihn in das Innere des Raumes.
Urplötzlich verstummte ein Großteil der Gespräche und allerhand Köpfe drehten sich in ihre Richtung während Addy ihn mit wenigen Worten vorstellte. Matti war zwar nicht der Name den sich die anderen hier einprägen sollten, aber in Anbetracht der Situation konnte er sich nun auch schlecht beschweren. Ein paar Leute sagten sogar artig ‚Hallo‘, wie Addy es gefordert hatte - der größte Teil allerdings musterte ihn weitestgehend ohne Kommentar. Schließlich war es die blonde junge Frau die Matthew schon bei Ankunft kurz kennengelernt hatte, die aufstand und sie begrüßte - wofür sie so gleich getadelt wurde.
„Danke, Elaine. Wir wurden von ein paar Bier aufgehalten.“, erwiderte er auf die ihm typische Art und Weise. Nie um eine Antwort verlegen und ganz bestimmt alles außer schüchtern. „Das ist uns auch passiert!“ - schallte es heiter von einem Kerl an einem runden Tisch, an dem gerade Karten gespielt wurde - woraufhin seine Kumpanen kurz lachten und zustimmten. Die blonde junge Frau sagte zwar nichts mehr und schaute auch nicht mehr herüber - aber Matthew erahnte den Hauch eines Lächelnd auf ihren Lippen als er sie bei ihrem Namen genannt hatte.
„Hallo, in die Runde.“, wandte er sich schließlich mit fester Stimme an alle.
„Den ein oder anderen konnte ich schon kurz kennenlernen. Und dank Addy wissen nun auch die anderen wer ich bin. Schön hier zu sein.“, er klopfte mit den Fingerknöcheln gegen eine der hölzernen Säulen des Raumes, wie man es eben so tat, wenn man in großer Runde ‚Hallo’ sagen wollte ohne jedem einzelnen die Hand zu geben.
Ein paar erwiderten den Gruß in dem sie auch kurz klopften und insgesamt hatte Matthew den Eindruck, dass man ihn zwar durchaus genau im Auge hatte - aber nicht feindselig eingestellt war. Und das wiederum machte es leichter für ihn, auch wenn man ihm die Anspannung weder in der Stimme anhörte noch an seiner Körpersprache abzulesen vermochte. Vereinzelt nickte man ihm zu, andere hoben kurz ihre mit Bier gefüllten Humpen, andere nahmen augenscheinlich gar keine Notiz von ihm. Die Gespräche wurden allmählich fortgesetzt, allerdings nur so lange bis Clarence in den Raum trat - woraufhin kollektives Klopfen auf den Tischplatten einsetzte, begleitet von Johlen und Pfiffen - so als wäre ein ruhmreicher Held aus der Schlacht zurückgekehrt. Sogar Alec klopfte mit, den Addy und Matthew nun ansteuerten und der sie bestens gelaunt begrüßte.
„Hey, wie ich sehe habt ihr euch doch noch hierher verirrt. Schön euch zu sehen.“ - „Danke… verirrt ist nicht ganz richtig, Addy hat die ganze Zeit keinen Hehl draus gemacht wohin es geht und was uns erwartet.“ - daraufhin zuckte Adrianna lächelnd die Schultern und unternahm noch nicht mal einen Versuch das abzustreiten. „Hier gibts heute nichts zu befürchten, mein lieber Ritter. Alle Drachen sind woanders.“, bemerkte sie mit einem Zwinkern. „Außer vielleicht für deinen Mann, der wird sich bestimmt so manchen Fragen stellen müssen…“
Zu wissen, dass sein Mann heute offiziell einem großen Teil des Clans vorgestellt wurde, brachte zweifelsohne gemischte Gefühle mit sich. Auf der einen Seite war Clarence nie jemand gewesen der in Falconry Gardens gedatet hatte, so wie einige andere es hier taten um sich die Zeit vor Ort zu vertreiben und in Gesellschaft zu sein. Er war nie jemand gewesen der Hand in Hand mit einer anderen Person durch die Stadt lief, der rot anlief wenn man ihn darauf ansprach oder der mit seinen Geschichten und jenen prahlte, die er sich aufgerissen hatte. Nun jemanden wie Matthew zu haben den er liebte, der spürbar neue Seiten in ihm hervor brachte und ihn zweifelsohne weicher machte als Clarence früher gewesen war, würde ihm sicher von manch einem als Schwäche vorgehalten werden und der Blonde konnte dieser Unterstellung nicht mal ganz widersprechen.
Natürlich war Matthew nun sein wunder Punkt. Keine einzige Person fiel ihm ein, bei der die Familie das nicht war. Doch viel mehr noch als eine Schwachstelle zu sein, zog er aus der Verbindung zu seinem Mann viele neue Stärken, die er früher nicht gehabt hatte. Jemanden zu haben den man liebte, für den man alles tat und der einen Berge versetzen ließ, nur damit man wieder beieinander sein konnte… nein, Clarence hatte definitiv aus all den Dingen, die mittlerweile hinter ihnen lagen, weit mehr für sich und von sich gelernt als ohne Cassie und selbst wenn es ein seltsames Gefühl war sich heute Abend vielleicht manch einem Lästermaul stellen zu müssen, so würde es ein deutlich besseres Gefühl sein zu wissen, dass es auch durchaus Leute gab die hinter ihnen standen und Matthew gut in der für ihn neuen Stadt aufnehmen würden.
Adrianna und Alec waren zwei von dreien, die seinen Mann mittlerweile mit solch einer Selbstverständlichkeit behandelten, wie Clarence es nie erwartet hätte - aber wie es dem sonnigen und offenen Gemüt des Jüngeren durchaus gerecht wurde. Er hatte sich fein rausgeputzt, war höflich, kümmerte sich um Cameron und zeigte, ohne aufgesetzt zu wirken, dass er es gut meinte mit seiner Ankunft in Falconry Gardens.
Als Clarence sich schließlich als letzter durch die Tür schob, diese hinter sich schließend, fühlte es sich für einen Moment fast heimelig an von den Brüdern und Schwestern des Clans und etwaigem Anhang derart begrüßt zu werden. Beinahe als wäre er nie fast zwei Jahre weg gewesen, winkte man sie an einen der Stehtische hinüber und holte Matthew zu sich, sich enger aneinander drängend um auch dem blonden Jäger noch Platz zu schaffen und ein ganz bisschen vielleicht fühlte es sich so an, als könnten die Dinge fortan immer so sein.
„Na dann will ich mal hoffen, dass mich die Drachen heute Abend nicht finden“, griff Claire den Kommentar der Rothaarigen auf, während er ein abwimmelndes Winken in den Raum warf, um der überschwänglichen Begrüßung Einhalt zu gebieten. „… oder mich zumindest nicht bis auf die Knochen flambieren.“
„Ich glaube, das kann ich dir leider nicht versprechen, mein Guter. Addy hat schon herum erzählt, dass Matthew deutlich gesprächiger ist als deine Wenigkeit. Manch ein Drache ist noch immer froher Hoffnung, aus ihm vielleicht ein paar mehr Informationen quetschen zu können als aus dir“, zuckte Alec hilflos mit den Schultern und schenkte ihm einen typischen Selbst Schuld-Blick, während er ihm seinen Beutel mit Tabak über den Tisch entgegen schob.
„Nicht dass du denkst, ich hätte dich ein Plappermaul genannt“, insistierte Adrianna an Matthew gewandt und beteuerte damit postwendend ihre Unschuld. „Ich hab gesagt, du bist ein ganz normaler Mensch im Vergleich zu dem da. Das beinhaltet alle weitere Informationen über dich schon automatisch.“
„Vielen Dank dafür“, beteuerte Clarence ironisch seine Dankbarkeit der rothaarigen Hexe gegenüber und fischte sich aus Alec‘s Beutel ein Stück Papier und zwei Finger voll getrockneten Tabak. „Noch irgendwelche Informationsweitergaben, von denen wir wissen müssten? Wäre vielleicht ganz gut gewesen schon oben am Lagerfeuer von dir gebrieft zu werden, dann hätten wir uns wenigstens auf die Höhle des Löwen vorbereiten können.“
„Och, nur das Nötigste. Kommunikationsweise, Axtschwung, Schuhgröße, Lieblingsfarbe… was man sich halt so erzählt, wenn man über Clarence Sky‘s Ehemann redet“, zählte sie gewitzt auf, untermalt durch ein amüsiertes Lachen seitens Alec’s, wobei sie nicht direkt durchscheinen ließ, ob die zweifelsohne noch lange Liste nun ein Scherz war oder purer Ernst. Die Leute waren sicher interessiert daran gewesen, was für ein Typ dieser Mann war, der den einstigen Fanatiker umgepolt hatte und Claire zweifelte nicht daran, dass man sich hinter seinem Rücken ausgiebig den Kopf darüber zerbrochen hatte.
„Na, so lange es nur das ist“, versuchte der Blonde es sich schön zu reden und schob den Tabak seinem Mann zu, während er mit der anderen Hand das klein geschnittene Kraut im Papier zu einer feinen Zigarette verdrehte. „Und was ist eigentlich mit deinem Anhang heute Abend, mh? Wo ist Annabelle die Schöne, erste ihres Namens?“
„Nenn sie doch nicht so!“ - Tadelnd klopfte er dem Blonden mit der Faust gegen die Schulter, immerhin war das zwischen ihm und ihr nicht mal annähernd etwas festes, geschweige denn wenigstens etwas unverbindliches. Dass sich Alec wünschte es wäre anders, sah man seinem grenzdebilen Grinsen jedoch deutlich an, das er nur schwer unterdrücken konnte.
„Oh, hier! HIER DRÜBEN!“, verschaffte sich Adrianna Gehör und weil ihr kurzer Arm in der Menge unterging, zögerte sie keinen Moment stattdessen den von Alec zu greifen und in die Luft zu reißen, um die die Ehefrau des Schankwirts zur Bestellung zu ihnen heran zu winken - was den zum Glück schon leeren Humpen des Dunkelhaarigen quer über den Tisch warf.
Wenn man sich als Moralapostel aufspielte und dann plötzlich die eigenen Prinzipien über den Haufen warf, brauchte man sich nicht wundern, wenn das Umfeld einen neckte oder tadelte.
So war es einfach, das wusste jeder und Clarence ertrug nicht zuletzt deswegen all die Sticheleien schicksalsergeben. Dabei hatte er sie gar nicht verdient, zumindest nicht in Matthews Augen. Denn was die Anwesenden allesamt nicht wussten war, wie lange Clarence sich selbst kasteit hatte.
Sein Selbstgeißelungsprogramm war wie ein unsichtbarer Stacheldraht gewesen der ihn ausgrenzte vor allen Dingen die ihm Freude machen konnten. Cassie hatte jenen Stacheldraht lange nicht bemerkt - aber er hatte die Konsequenzen zu spüren bekommen.
Der Mann mit dem er seit Coral Valley verheiratet war, war nicht der Mann den er damals kennengelernt hatte. Und es war nochmal ein anderer Mann als der mit dem er nun hier war. All die Ereignisse und die Dinge die sie gemeinsam durchgemacht hatten, hatten sie enger zusammenwachsen lassen als sich Außenstehende vorstellen konnten. Aber der Weg bis hierher war steinig gewesen, blutig und geprägt von unglaublichen Selbstzweifeln.
Wer auch immer dachte, dass er den Blonden umgepolt hatte, hatte keinen Schimmer davon wie traurig und trostlos Clarence sein Leben gelebt hatte. Im Schatten von Nagi Tanka und seiner toten Frau hatte er mehr als genug Buße getan und mehr als genug gelitten. Ruby hatte ihn seiner Kinder beraubt und Nagi hatte seine Klauen in ihn geschlagen. Es gab keinen Menschen der es mehr verdient hatte glücklich zu sein als sein Mann - und wie Matthew ihn da so neben sich stehen sah, schien Clarence es auch endlich zu sein.
„Axtschwung, hm? Ich hoffe du hast ihn ausreichend gewürdigt.“ - „Na was denkst du denn? Keiner kann den wohl besser beurteilen als ich.“ - entgegnete Addy frohgemut. Dass sie einmal so aufgeschlossen Matthew gegenüber sein würde, dass hatte der Dunkelhaarige niemals so kommen sehen. Adrianna war in Denver eher eine Einzelgängerin gewesen, hatte keine Hilfe angenommen und auch nie nach welcher gefragt. Sie war auf eine Weise stark und unbeugsam wie es Matthew beeindruckt hatte und noch immer hatte der junge Mann Respekt vor ihr. Aber sie war mehr als das, sie hatte einen derben Sinn für Humor und war sich nicht zu fein auch unbequeme Dinge anzusprechen, wenn es denn sein musste.
Während sie mithilfe von Alec’s Arm die Schankdame zu ihnen an den Tisch lotste erkundigte sich Clarence derweil nach einer gewissen Annabelle, deren Erwähnung Alec ein grenzdebiles Grinsen ins Gesicht zauberte.
„Wir sehen uns vielleicht später noch. Aber, wie du sehr wohl weißt, halten wir die Sache eher…flexibel.“ - ob sie das taten weil sie es beide so wollten oder weil die Herzensdame es sich so in den Kopf gesetzt hatte blieb ungesagt - aber Cassie hatte so eine Vermutung beim Grinsen des Dunkelhaarigen.
„Na sieh sich einer das an, der mysteriöse Matthew Sky. Es gibt ihn tatsächlich. Manche hielten dich schon für einen Geist. Schön, dass dem nicht so ist. Ich bin Lauren. Wirtin, Bedienung, Küchenfee - alles in einem.“, die Schankdame war eine füllige Frau mittleren Alters, die ihre aschblonden Haare zu einem Zopf geflochten trug. Auf ihrer Schürze war das Symbol des Moonkeepers gestickt ebenso wie auf dem Ärmel des senfgelben Leinenkleids.
Sie musterte Matthew aus blauen, aufmerksamen Augen und lächelte herzlich. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“, entgegnete Matthew und erwiderte ihr Lächeln. „Ich kenne Clarence schon seit er damals hierhergebracht wurde und glaub mir, so wie in den letzten Monaten hat ihn hier noch keiner erlebt. Gut, dass du es hergeschafft hast, die wenigsten haben daran geglaubt.“ - sie schenkte Clarence einen fürsorglichen Blick, so als sie höchstpersönlich in größter Sorge um ihn gewesen.
„Niemand ist glücklicher darüber es hergeschafft zu haben als ich, das kann ich versprechen.“ - daraufhin lachte sie kurz aber herzlich.
„Das glaube ich gern. Nun denn, euer erstes Bier hier geht aufs Haus.“ Sie deutete auf Addy, Clarence und ihn und blickte letztlich auch zu Alec.
„Was schaust du mich an, mit deinem Hundeblick? Du hattest dein erstes Bier hier vor zwei Stunden.“ - „Ich hab den dreien den Platz reserviert!“ entgegnete Alec sonnig und Lauren lachte schnaubend, wobei ihr ansehnlich üppiger Busen wogte.
„Ist das so?“, fragte sie zweifelnd und erntete breite Zustimmung der anderen drei, woraufhin sie theatralisch seufzte und verschwand…
Ein paar Minuten später kehrte sie zurück - mit vier Krügen Freibier, statt dreien - was ihr die uneingeschränkte Begeisterung von Alec einbrachte.
Während Clarence seine Zigarette aus Alec‘s Tabak an der Kerze des Tisches entzündete, lauschte Clarence den unterschiedlichen Stimmen an ihrem Platz und auch jenen, die in näherer Umgebung zu hören waren. Obwohl keiner damit hausieren ging - jedenfalls noch nicht - gab es ganz sicher auch Anwesende, die weniger überschwänglich auf ihrer beider Eintreffen reagierten. Jeder Mensch machte sich nun mal ungefragt und teils auch ungewollt ein ganz eigenes Bild dessen, was man zu erwarten hatte.
Wer Matthew war, wie er aussah und sich benahm, was für ein Typ Mensch und was für ein Typ Mann er war… all das und noch mehr ging einem sicher unweigerlich durch den Kopf wenn man hörte, dass Nagi Tankas einstiger Schüler, Clarence Sky, während seines Verschwindens jemanden kennengelernt und geheiratet hatte. So einladend und unvoreingenommen wie Alec seinem Mann begegnet war, so ablehnend war Adrianna zu Beginn gewesen die zwar weiterhin mit dem Dunkelhaarigen umgegangen war wie vorher auch, aber auch da schon nicht besonders freundschaftlich auf ihn reagiert hatte.
Camerons Einstellung zu dem Thema war eher durch den Verlust seines mittlerweile guten Freundes und die eigenen Verletzungen getrübt gewesen und wenn er sich eine Meinung dazu gebildet hatte, so hatte er es Clarence niemals spüren lassen - zweifelsohne aus der Konsequenz heraus, dass er damit auch seinen Kumpel hätte kritisieren müssen.
Am Besten fassten es vermutlich noch die Worte Livs zusammen, die ihn später hatte wissen lassen, sich Matthew anders vorgestellt zu haben. ‚Ich kann dir auch nicht sagen, wie genau‘, hatte sie den Blonden schulterzuckend wissen lassen, als sie gemeinsam an der langen Tafel des Clans gesessen und sich unterhalten hatten. Bei einem Schluck aus ihrem Humpen hatte sie über die Frage nachgedacht, wie genau sie das meine. ‚Anders halt. Aber anders muss nicht immer gleich was schlechtes bedeuten‘.
Es waren die letzteren Worte gewesen, die Claire von diesem Gespräch im Gedächtnis is geblieben waren und die Blonde hatte recht damit, dass es nicht negativ sein musste den Erwartungen nicht zu entsprechen - nicht nur was die Frage anging was für ein Typ Mensch Matthew war, sondern vor allem auch nicht den Erwartungen zu entsprechen wenn es darum ging, von seiner Reise eine Frau oder einen Mann an seiner Seite mit nach Hause zu bringen.
Beobachtet zu werden, wenn er nun mit seinem Mann bei Adrianna und Alec an einem Tisch stand, bedeutete nicht augenblicklich auch beurteilt zu werden… sondern manchmal einfach nur, dass Leute neugierig waren und eventuell vielleicht sogar positiv überrascht darüber, wen er den anderen als erste Person überhaupt in Falconry an seiner Seite vorstellte.
Lauren, die stämmige und fürsorgliche Besitzerin der Kneipe in der der Clan schon seit Jahren zum Inventar gehörte, empfing das unbekannte Gesicht augenblicklich mit einer solchen Herzlichkeit, dass Clarence sich fragen musste, wie lang man an diesem Abend schon über Matthew mit ihr gesprochen hatte. Zweifelsohne hatte die Wirtin die anderen schon hingebungsvoll ausgefragt zu dem mysteriösen Mann, von dem man schon seit Ankunft munkelte wie höflich und gutaussehend er war und als der Blonde Alec einen skeptischen Blick schenkte, sagte dessen Reaktion dem Älteren bereits alles, was er über die vorangegangenen zwei Stunden des anderen Jägers wissen musste.
„Was? Was guckst du mich so an? Ich werd‘ doch hier nicht stundenlang still in der Ecke stehen und darauf warten, dass ihr auch irgendwann mal kommt. Das ist ein freies Land, ich werd mich wohl noch unterhalten können mit meiner guten alten Freundin Lauren“, verteidigte sich Alec im Brustton der Unschuld, der einen stillen Blick genauso gut zu lesen wusste wie Matthew ein Brummen interpretieren konnte. Daraufhin fing er sich dafür aus Richtung der Treppe ein lautes ‚Das ‚alt‘ hab ich jetzt mal überhört!‘ von der Wirtin ein, welche schon wieder auf dem Weg war, die zweite Runde für die nächsten Bestellungen abzuzapfen.
„Wie dem auch sei, wir haben hier ein Fest zu feiern statt zu streiten und müssen auch mit unserem guten alten Freund Alec noch anstoßen. Also, hoch die Tässchen“, grätschte Addy den beiden dazwischen und wedelte mit ihrer Hand kurz vor Claires Gesicht herum, um ihn von seinen Grübeleien abzulenken.
„Wir haben hier ja fast zwei F-Feste zu feiern, oder nicht? Wo bleibt mein Tässchen denn?“, mischte sich die Stimme eines anderen Jägers mittleren Alters ein, der denn Stehtisch kurz zum Erbeben brachte, während er sich zwischen Clarence und Alec in die Runde quetschte. Ein zart ergrauender Backenbart zierte seine Wangen, während sein zurückgekämmtes Haar dicht und dunkel das Gesicht eines gestandenen Mannes hervorhob. „Normalerweise hält ein Bräutigam doch eine Rede und gibt zur F-Feier des Tages seinen guten Freunden einen aus, wenn alle zusammenkommen um zu f-feiern. Oder nicht? Zumindest war das früher mal so!“
Jakob, der fast in Waylons Jahrgang hinein reichte und einer seiner engsten Freunde war, hörte und sah man seinen schon gut angestiegenen Pegel bereits an. Obwohl sein Auftreten nicht selten so wirkte, als würde er für Stress sorgen wollen, war das eher der Eindruck den man nur dann von ihm hatte wenn man ihn nicht gut kannte. Tatsächlich musste man eher darauf aufpassen, dass einem der Schlawiner nicht Runde um Runde das Geld aus der Tasche zog oder einem den letzten Tabak verrauchte - weshalb Alec‘s Finger sich direkt unauffällig über seinen Beutel legten und diesen vorsichtig an Jacob vorbei von Claire zurück zu seinem eigentlichen Besitzer zogen.
„Jake, komm wieder her. Lass die Kinder alleine spielen“, tönte es genervt vom Pokertisch am anderen Ende des Raumes herüber. Jaylynn, die es bereits gewohnt zu sein schien bei Saufgelagen auf ihn und ihren Mann aufpassen zu müssen, sah beim Verteilen der Karten nicht mal auf - was daran lag, dass Jakob sowieso nur schwer belehrbar war.
„Nein nein, hier braucht niemand alleine spielen. Wir sind alle eine große, gute F-Familie und ich erwarte- n-nein, ich bestehe darauf… dass Sky zur F-Feier des Tages, jetzt wo wir alle zusammen sind-“
„Halt‘s Maul Jake, wir sind nicht mal die Hälfte“, tönte es amüsiert von einer jungen Frau mit verwaschenem, violett gefärbtem Haar -
„Jetzt, wo wir alle zusammen sind“, beharrte der Angetrunkene in feierlichem Ton auf seine Formulierung und ein erheitertes Lachen flammte hier und da auf; man schien es schon gewohnt zu sein, dass sich bei Jake die Grenzen von Vernunft und Anstand mit steigendem Pegel langsam verwuschen und weil dabei manchmal die lustigsten Dinge heraus kamen, schien niemand ernsthaft bemüht ihn davon abzuhalten. „Da finde ich, dass eine Runde Bier und eine Rede und eine Runde Bier von Mister Sky mehr als angebracht sind.“
Eine feierliche, ausladende Geste gen Publikum unterstrich sein Anliegen, während er sich verschwörerisch zu Clarence hinüber beugte: „Ehrlich, hab ich schon gesagt, dass ich eine Runde Bier sehr angebracht f-fände? Und wie ist das nun, darf man dich jetzt überhaupt noch Mister Sky nennen oder ist das zu irrini… irrtin… hn… bringt euch das zu sehr durcheinander?“, wollte er auch an Matthew gewandt wissen und deutete zwischen den beiden hin und her.
„Jake, ich werd mich hüten euch allen einen auszug-“
„REDE! REDE!“, forderte Jakob lautstark, zweifelsohne als Erpressungstaktik, und schien damit guten Erfolg zu erzielen - denn Clarence versuchte ihn direkt zu beschwichtigen und zum Schweigen zu bringen, indem er ihm stattdessen Adriannas volles Bier zu schob - die durfte ja eigentlich sowieso nicht trinken.
Elaine, die den betrunkenen Jake noch nicht annähernd so gut kannte wie den nüchternen, schien sich eingeladen zu sehen mitzufordern und fand sich beim dritten REDE! alleine enthusiastisch in den Raum rufend, womit sie sich schlagartig ein paar Lacher einfing.
Der Mensch war von Natur aus neugierig. Und er war von Natur aus so gestrickt, dass er sich Gedanken um das machte was er nicht kannte. Egal ob das andere Leute waren, unerklärliche Naturphänomene oder fremde Kulturen. Was man nicht kannte, darüber machte man sich trotzdem ein Bild, so liefen die Dinge einfach.
Ahnte Matthew, dass man ihn seit seiner Ankunft vor wenigen Tagen beurteilte, über ihn nachdachte, ihn bewertete?
Natürlich - immerhin war er nicht nur der Neue an Clarence‘ Seite, sondern vor allem der überhaupt erste - und letzte, wie er schwer hoffte - den der Blonde hierher gebracht hatte. Als jemand der eigentlich gläubiger Christ war hatte er sicherlich seinen Ruf gehabt und jetzt hatte er den sicherlich auch bekommen. Nur einen anderen. Und Matthew gleich mit.
Er war der unbekannte Dritte in der Gleichung mit Clarence und der Stadt und damit zwangsläufig auch derjenige, den man genau im Auge behielt und beurteilte ob er denn überhaupt hierher passte.
Bisher waren die Menschen in Falconry Gardens alle höflich gewesen, niemand hatte ihn offen angefeindet, niemand hatte allzu neugierige Fragen gestellt. Er war hergekommen, hatte einen Kaffee bekommen und man hatte ihm erlaubt sein Pferd unterzustellen- welches bereits am nächsten Morgen getürmt war. Seither hatte er mit Clarence seine Zeit verbracht und niemand schien daran Anstoß zu nehmen, ein Umstand der keineswegs selbstverständlich war.
Naiv genug zu glauben, dass alle in diesem Ort mit freundlicher Zurückhaltung reagierten war Matthew nicht, aber er war durchaus dankbar, dass er bisher noch auf niemanden von anderem Schlag gestoßen war. Die letzte Begegnung mit jemanden der ihn nicht mochte, weil er mit Clarence zusammen war, war Sally Mitchell gewesen und was die getan hatte wusste er noch allzu lebhaft. Deshalb war es gut vorerst an niemanden zu geraten der Ärger wollte oder dem seine Nase nicht passte.
Dass konnte sich freilich jederzeit ändern und als ein unbekannter Mann schließlich zielstrebig ihren Stehtisch ansteuerte glaubte der Dunkelhaarige, nun sei es soweit.
Jake, wie er schließlich genannt wurde, sah aus wie die Sorte Mensch, die gerne Streit anfingen und sich gern blutige Fingerknöchel holten und sich diese dann an der Hose abwischten - weil es freilich das Blut eines armen Trottels war und nicht das eigene welches daran klebte.
Doch weder Alec noch Addy noch Clarence schienen besorgt über das Auftauchen des Mannes zu sein und schon nach wenigen Augenblicken verstand Matthew, dass von Jake keine Gefahr ausging. Statt einen Streit vom Zaun zu brechen erinnerte er Clarence daran, was die alten Gepflogenheiten so vorsahen, wenn man als lediger Bursche auszog und dann als verheirateter Mann wiederkehrte.
Ein spitzbübisches Schmunzeln stahl sich auf Cassies Lippen, weil er noch vor gar nicht mal langer Zeit derjenige gewesen war, der eigentlich eine Runde hatte ausgeben wollen. Was sein knauseriger Mann ihm untersagt und gleich den Münzbeutel mit eingesackt hatte. Jetzt war er es, der in die Bredouille geriet und obendrein noch eine Rede halten sollte - was für einen Kerl wie Clarence wahrlich nicht gerade die Königsdisziplin darstellte.
„Tja.“, machte Cassie - und selten hatte mehr Amüsement in drei Buchstaben gelegen, während er noch einen Schluck von seinem überaus schmackhaften Bier nahm.
„Da wo ich herkomme… hält man es ziemlich genauso wie Sie es sagen, Sir.“ - pflichtete er dem Fremden bei, der sich offiziell noch nicht vorgestellt hatte und den er deshalb auch nicht mit Namen ansprach.
Wenn man es genau nahm, dann war er ‚Da wo er herkam‘ nicht lange genug gewesen um so etwas zu wissen, aber so kleinlich wollte Matthew an diesem Abend nicht sein - und Clarence ganz sicher auch nicht.
„Hör dir d-deinen Freund hier an, ist ein cleverer Bursche, das w-wett‘ ich!“ heraus kam ‚is ei gleverer Burrsche…‘
„Matthew Sky, wissen Sie sicher längst - aber nochmal fürs Protokoll.“ - Matthew streckte dem Älteren seine Hand hin und dieser zögerte nicht sie zu ergreifen und zu schütteln. Obwohl seine Aussprache verwaschen war, war sein Händedruck fest und kräftig. „Jakob Pre~..“ - er hickste und beendete den Namen „Prekrowszka… musst du dir n-nicht merken, J-Jake reicht voll und ganz.“ reischd vollungans.
„Freut mich sehr, Jake.“ -„Ich b-bin ein Freund von Traditionen… g-gute Traditionen sollte man nicht brechen.“ -„Dem stimme ich zu, Sir.“ - wieder lächelte Matthew ein Lächeln welches gut gelaunt und auch bisschen schadenfroh war, weil er wusste, dass Clarence‘ Chancen aus der Nummer wieder rauszukommen immer kleiner wurden. „Und eine R-Rede ist so eine Tradition… er ist immerhin als B-Bräutigam nach Hause gekommen. - es hörte sich verdächtig nach Bräutgan nach Hause gkomm an.
„Da gehört eine Rede eigentlich zum guten Ton, hm?“, fragte Matthew ihn obligatorisch und nun schnallten auch Alec und Addy endgültig was hier lief. „Yeah, eine Rede ist eigentlich keine schlechte Idee.“, warf Adrianna ein, woraufhin Jake mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, so wie man es tat wenn man einen Entschluss gefasst hatte. „Sky!“ tönte der angeheiterte Herr und wandte seinen Blick auf Clarence. „Eine R-Rede ist unvermeidlich. Alle sind hier und w-wollen es.“ - mit alle meinte er aktuell drei bis vier Personen - aber nun da das Streichholz entfacht war, war es zu spät zu verhindern, dass das Stroh Feuer fing und als Jake anfing auf die Tischplatte zu klopfen und „Rede, Rede!“ zu rufen, da stimmten erst Matthew, Alec und Adrianna mit ein, bevor es schließlich aus den Kehlen duzender weiterer Feiernden kam und nach und nach der ganze Raum wie aus einem Munde jenes Wort wiederholte.
Nein, aus dieser Nummer kam Clarence ganz bestimmt nicht mehr raus und Cassiel hätte um kein Geld der Welt so tun können, als würde ihn das nicht erheitern.
Das kleine aber feine ‚Tja‘ aus Cassies frechem Mund war derart bedeutend und amüsiert, dass er sich eigentlich noch an Ort und Stelle einen Ellenbogen in seine Seite verdient hatte. ‚Tja‘ machte der Kerl - als wäre es das normalste der Welt, dass er hier in Falconry ankam, damit ihre Ehe wieder komplett machte und die Gepflogenheiten nun so nach sich zogen, was der Anstand gebot.
‚Tja, Sir, wir machen das ganz genau so‘ behauptete er einfach daher und Clarence fragte sich, woher der Typ eigentlich kam, dass er solche Gepflogenheiten zu kennen glaubte.
„Wann in drei Teufels Namen warst du denn mal auf einer Hochzeit“, platzte es Clarence postwendend heraus, doch sein ungläubiger Einwand wurde weder beachtet, noch mit einer Antwort gesegnet. Stattdessen belehrte Jake ihn darüber was für ein schlaues Kerlchen sein Freund hier war und bei Gott, wenn Cassie so weiter machte, dann würde er auch bald wieder zu eben solchem degradiert und konnte in Jakob seinen neuen besten Freund finden, das konnte er aber glauben.
Die Grundsteine für diese Bindung wurde bereits mit dem ersten Handschlag besiegelt und Claire fragte sich, wann er vorhin in der Stadt falsch abgebogen war, dass er nun solch einen Alptraum durchleben musste.
„Ich halte keine Rede, das könnt ihr verg-“ - doch der laute Schlag auf den Tisch, der die Bierhumpen zum Klirren brachte, übertönte seine Widerworte und auch der Ältere machte sehr deutlich klar, dass er ihn - außer für eine Rede - gar nicht erst zu Wort kommen lassen würde.
„Jake, niemand hier will eine Rede. Und du hörst auch auf damit“, warf er Cassie schließlich einen äußerst nachdrücklichen Blick zu, dabei eine abschneidende Geste in den Raum werfend die eigentlich dazu führen sollte, das zunehmende Rufen im Keim zu ersticken. Doch leider war das Gegenteil der Fall und aus dem ursprünglich kleinen Lüftchen an seinem Tisch, das anfangs nicht mehr gewesen war als eine erfrischende Anekdote am Rande, wurde gerade ein Hurrikane, der Clarence mitzureißen versuchte - ob er wollte oder nicht.
Woher auch immer die Idioten sie mal wieder gezaubert hatten, aber es dauerte nur wenige Rufe lang, da zog jemand die typische abgewetzte Kiste durch den Raum, die nicht selten für Podiumsdiskussionen und Ansprachen herhalten musste. Schmutzige Schuhabdrücke verrieten, dass nicht zum ersten Mal jemand auf ihr stand um eine Rede zu halten und auch Jakes schwerer Arm, der sich schließlich auffordernd um seine Schultern legte um ihn Richtung Kiste zu dirigieren, ließ kein sonderlichen Spielraum für Gegenwehr.
„Komm sch‘n, Junge. Tring dein Bier aus un’ dann ssei ein Mann un‘ sseig uns, was für‘in ehrnwehter Typ du bis“, klopfte er ihm beinahe schon väterlich auf die Brust - allerdings nur, um ihm daraufhin die bereits brennende Zigarette zu klauen, sie selbst zwischen seinen Lippen verschwinden zu lassen und ihm danach für eigene Zwecke den Humpen abzunehmen, der noch gar nicht richtig leer geworden war.
Unter Klopfen und Johlen schob ihn Jake schließlich zur Kiste hinüber und selbst wenn er gewollt hätte, die Menge war mittlerweile so aufgeheizt durch das enthusiastische Fordern an seinem eigenen Stehtisch, dass es die Stimmung nachhaltig ruiniert hätte sich ernsthaft zu verweigern. Matthew, der ein unheimlich selbstgefälligen Ausdruck in seinen kleinen Torfkopf-Augen hegte, fing sich derweil einen tonlosen Fluch von seinem Ehemann ein und ein leises Zischen: „Du brauchst nicht glauben, dass sich heute Nacht jemand das Bett mit dir teilt, du Penner!“ - Leider war er allerdings schon so nah an der Kiste, dass die ersten Chor-Nester ihr Jubeln bereits wieder eingestellt hatten und ein erheitertes Lachen legte sich über die näheren Tische angesichts der unehrenhaften Drohung, die man in der Regel so nur von einem echten Ehepaar zu hören bekam.
Mit einem Gesichtsausdruck, als hätte jemand den Platz vor der Kiste als Abort missbraucht, stieg Clarence widerwillig auf sein Podest und wurde dabei schließlich begleitet von aufmunterndem Klatschen, das den Raum erfüllte. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Blonde kein Mann für offene Reden oder große Auftritte war - Himmel, er redete ja nicht mal mit seinem eigenen Mann so viel wie er eigentlich müsste und wenn Cassie nicht dazu in der Lage wäre aus seinen einzelnen Brummlauten ganze Antworten zu erschließen, vermutlich hätten sie beide bis heute dann noch nie ein einziges komplettes Gespräch miteinander geführt.
Das hier war eigentlich eine Aufgabe wie sie für Matthew gemacht war. Der Jüngere war eloquent, redegewandt, sympathisch und hatte Ausstrahlung - alles Dinge, in denen Clarence nicht glänzte und die ihm nun umso schwerer fielen, wo er die Aufgabe nicht einfach an seinen Mann abtreten konnte.
„Ja“, begann er in einem abschließenden Tonfall und strich sich kurz das Hemd glatt, ganz so als hätte er seine Ansprache bereits hinter sich gebracht und wäre bereit nun wieder von seiner Kiste zu treten.
„Ja, jetzt wo wir alle zusammen sind und alle es wollen, da kann ich wohl schlecht die Stimmung ruinieren. Ob eine Kriegserklärung oder ein Liebesgeständnis, wir sind immerhin bekannt für große Reden - und zwar von Falconry bis nach Varlan“, deutete er hinüber zu Waylon und erntete sich von diesem ein kehliges Brummen, ähnlich wie es sonst Claire immer von sich gab. Wenigstens waren sie sich darin einig.
Das Klopfen, das im Kollektiv nun für den breiten Glatzkopf mit dem dichten Rauschebart gespendet wurde, war nicht geringer als jenes, das sie beim Betreten der Kneipe erhalten hatten. Waylon war zwar ein wortkarger Typ, aber dafür hatte er sich schon in jungen Jahren einen handfesten Ruf für seine Wortgewandtheit erarbeitet in jenen Momenten, in denen es darauf ankam. Da war zwar nie jemand aus dem Clan dabei gewesen der es bezeugen konnte, doch alle anderen schwärmten heute noch davon.
Sich angesichts eines solchen Urgesteins nun etwas aus dem Ärmel schütteln zu müssen über das er sich noch die Gedanken gemacht hatte, war für den Blonden dadurch nicht gerade einfacher und all die Augenpaare, die nun auf ihn gerichtet waren, ließen ein flaues Gefühl in seinem Magen aufbranden, das er so gar nicht mochte.
„Es mag jemandem von euch schon länger vorkommen, aber es sind gerade mal zweieinhalb Tage, seitdem ich niemandem mehr mit dem unbekannten Typen auf den Sack gehe, den ich irgendwo in einem Wald gefunden und irgendwo in einer Eiswüste wieder verloren habe. Zweieinhalb Tage, in denen das Leben für die Stadt und für euch so weiter gegangen ist wie immer, aber die für diesen unbekannten Typen und mich alles verändert haben. Das mag den meisten von euch egal sein oder nicht - aber glaubt mir, ihr hättet es alle deutlich schwerer mit mir, wenn er nicht wieder aufgetaucht wäre. Vor allem der arme Alec, der sich schlimmer benimmt als eine Amme und mir an den Fersen klebt wie Leim aus der Buchbinderei oben“, zeigte er symbolisch in die Zimmerecke des Kellers gen Bergstraße, an deren Ende die Falknerei und die Papeterie lagen.
„Naja, wie dem auch sei, ähm…“, nachdenklich kämmte er sich kurz durch den Bart, bis er einen ungefähren Faden wiedergefunden hatte. „Die meisten Gesichter, die heute Abend hier sind, sind mehr oder weniger daran beteiligt, dass ich jetzt niemandem von euch mehr auf die Nerven gehen muss… oder dass dieser unbekannte Typ euch alle einen Kopf kürzer macht, weil hier Zuhause in Falconry Gardens niemand auf ihn gewartet hat. Denn auch wenn Adrianna ein verlogenes Miststück ist und ihr ganzen Trottel nicht besser seid-“, machte er ihnen noch immer den Vorwurf unter dem auch die Rothaarige lange gelitten hatte - nämlich, dass man ihm bewusst vorgelogen hatte Matthew warte krank in Falconry auf ihn, nur damit er motiviert war mitzukommen und nicht auf die Idee kam, in der Geisterstadt und ihrer Umgebung zu bleiben. Die Finte, die man dafür geschlagen hatte, war alles andere als lustig - doch nun, wo Matthew endlich wieder bei ihm war, ertrug Clarence gerne die Lacher die er dafür erntete, sich noch immer darüber zu ärgern.
„-am Ende hat zwar nicht er hier Zuhause auf mich gewartet - aber wegen euch und den anderen Helfern aus der Stadt wurde dafür gesorgt, dass ich auf ihn hier warten konnte.“
Das hätte er nicht getan wenn er gewusst hätte, dass Cassie als verschollen galt und im schlimmsten Fall wäre er tatsächlich irgendwo gestorben, ganz so wie sein Mann es lange Zeit gedacht hatte, bevor einer seiner Briefe ihn schließlich erreicht hatten.
„Ihr habt wie durch ein Wunder Barclay wiedergefunden und ihn hierher gebracht, ihr habt dafür gesorgt, dass die Leute euch Planwagen, Lebensmittel und Zugvieh bereit stellen und ihr seid aufgebrochen auf einen Auftrag, der keiner war. Für einen Zweck, der sich vielleicht nicht erfüllt hätte. Für Menschen, die ihr nicht gekannt habt und die ihr nicht hättet retten müssen. Und alleine dafür gebührt euch mein größter Dank.“
„Hört, hört!“, schallte es aus einigen Ecken und mancher prostete dem Blonden anerkennend ob der Anerkennung zu. Es tat Jägern immer gut etwas Honig ums Maul geschmiert zu bekommen, das war Balsam für die Seele die man gerne hatte - und es tat dem Clan gut, dass er Falconry Gardens vermehrt als ihr Zuhause bezeichnete, auch wenn Matthew und er noch kein einziges Wort darüber verloren hatten. Aber das war nicht von Bedeutung, so lange es das war, was der Clan gerne von ihm hören wollte um nicht an ihrer beider Loyalität zu den Kestrel zu zweifeln.
Aber so dankbar er auch war, es hatten nicht alle der Überlebenden bis in die Stadt geschafft. Manche, weil sie nicht bis hierher gewollt hatten - und andere, weil sie es nicht so lange überlebt hatten.
Clarence dachte an Gabriel, den sie noch weit vor Falconry zurück gelassen hatten. Der kleine Junge, der sein Herz in den zurückliegenden Monaten erwärmt hatte, war in Flammen bestattet worden mit den Liedern des Clans. Wie einen echten Jäger hatte man ihn gebettet, hatte ihm Rituale zuteil werden lassen die ihm nicht gebührten und hatte ihn mit Respekt verabschiedet, nur weil er die Tage zuvor so fasziniert gewesen war von den edlen Rettern um ihn herum mit all ihren bunten Bildern unter der Haut und ihren Gepflogenheiten. Seine Schwester hatte teilnahmslos dabei zugesehen - und nun saß sie vermutlich teilnahmslos in ihrem tristen Zimmer, während sie weinte oder einfach nur an die Decke starrte und sich fragte, wer auf der Welt sich noch einen Deut um sie scherte.
„Aber genau so, wie ihr euch um all diese Leute gekümmert habt… hat auch dieser unbekannte Typ, mit dem ich die ganze Zeit jedem auf den Sack gegangen bin, sich schon Wochen davor um eure Brüder und um eure Schwester gekümmert. Er hat Cameron Barclay im tiefsten Schnee verteidigt und einen verkommenen Mutanten auf sich selbst gehetzt, als es darum ging das eigene Leben oder das eures Bruders zu retten“ - ein kurzes Murmeln ging durch den Raum, gefolgt von manchem Kopf der nickte - „Und er hat Adrianna Fairbanks aus den Fangzähnen eines stählernen Monsters befreit, als es sonst keiner konnte. Wäre er nicht gewesen, dann läge eure Schwester erfroren in den Trümmern eines Wracks - zurück gelassen von Kindern und Halbstarken, die es nicht besser gewusst hätten“, verkündete er etwas reißerisch was geschehen war, doch so war es nun mal gewesen - und mit Adrianna, die in den vergangenen Wochen sowieso nicht müde geworden war ihren Retter in den Himmel zu loben, ertönte auch das erste jubelnde Grölen für den Dunkelhaarigen, den bislang noch kaum jemand kannte außer von Erzählungen.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Rothaarige seinen Mann mit dem Ellenbogen in die Seite stieß und ein schmales Lächeln legte sich dabei über seine Lippen, denn Cassies größte Heldentat würden die meisten hier sowieso nicht begreifen. Imaginäre Mauern einzureißen war kein Talent, das sich gut in einer Kneipe begießen ließ.
„Und in einer Zeit noch lange vor dem Absturz des elenden Zeppelins, war ich es, der von diesem Mann hier gerettet wurde - und ich denke wir können uns alle einig sein, dass der Arme es einfach nicht besser gewusst hat“, fügte er spaßeshalber an, immerhin war es wirklich eine vertraute Situation, in die sich Cassie da hinein befördert hatte. Erst rettete er einen armen irren Fanatiker vor dem Hungertod, nur um ihn dann wenige Monate später zu heiraten. Hätte dem Jüngeren das vorher jemand gesagt, sicher hätte er die Beine in die Hand genommen und wäre damals zum Sterben noch ein paar Meter weiter gekrochen, irgendwo hin, wo der Jäger ihn nicht hätte finden können.
Das elende Gefühl des Verhungerns in der Magengrube war mitnichten mit dem Gefühl zu vergleichen, das er just in diesen Moment im Bauch hatte. Er war aufgeregt und nervös, selbst wenn sein Auftritt und die unbeholfenen Sprüche vielleicht etwas anderes vermuten ließen. Doch die Zeit, in denen er sich mit Cassie verstecken wollte, lag schon lange hinter ihm und seit seiner Sorge um den einst Verschollenen war es auch kein Geheimnis mehr, was der Unbekannte ihm bedeutete.
„Dieser Mann ist jetzt… mein Mann, Matthew Sky, und ich bin froh, dass nicht nur die laschen Kontrollen morgens um halb fünf am Zaun dazu geführt haben, dass er heute Abend endlich hier ist, sondern… dass er nicht müde geworden ist, nach mir zu suchen. Selbst dann noch, als es so wirkte, als hätten sich alle schönen Träume ausgeträumt.“
Wehmut und Glück lagen in seinem Blick während er seinen Mann musterte. Er war niemand, der hier vor allen Leuten Süßholz raspeln und eine Ansprache auf ihre tiefe und innige Liebe halten würde - auf der einen Seite weil er nicht der Typ dafür war, auf der anderen Seite weil es niemanden hier etwas anging, wie tief sie füreinander empfanden. Aber das würde ihn trotzdem nicht daran hindern auf ihr Gelübde am Traualtar anzuspielen, bei dem er ihm versprochen hatten einander selbst dann noch zu lieben, wenn sich alle Wünsche erfüllt hatten und alle Träume geträumt waren.
„Jedenfalls, hm… jedenfalls wünsche ich mir…“, versuchte er zurück zu finden zu dem worauf er hatte hinaus wollen, bevor er am Ende doch noch sentimentaler wurde, als es ihm lieb war. „Wir wünschen uns… dass… mein Mann… auch hinsichtlich dessen, was er alles für den Clan getan hat noch bevor ihr ihn kennengelernt habt, von euch genauso empfangen wird wie alle anderen. Er mag euch noch nicht so bekannt sein wie Daisy oder Richard“, er nickte dem einzigen Mann im Saal, der so blasse Haut hatte wie Elaine, respektvoll zu, „aber das wird er bald sein. Und damit keiner behauptet, wir hätten heute Abend kein gutes Licht auf uns geworfen, gibt Matthew jedem von euch Idioten ein Bier aus. - Das wollte du doch sowieso, also mach‘s auch“, fügte er an Matthew gewandt zu und knotete unter Grölen den Münzbeutel von seinem Gürtel, um ihn seinem Mann zuzuwerfen.
Eventuell vielleicht war Matthew an ihrem Stehtisch ein winziges bisschen früher in die Forderung nach einer Rede eingestimmt als Addy und Alec - ein Vergehen, welches die Menge sicher nicht registrierte.
Clarence aber schon. Und wie er es registrierte.
Seine kläglichen Einwände, seine traurige Weigerung eine Rede zu halten waren vollkommen sinnlos, denn die Anwesenden hatten unlängst beschlossen, dass sie eine hören wollten. Und zwar eine von ihm.
Clarence warf ihm einen entrüsteten Blick zu, dunkel wie die Wolken eines Sommergewitters, aber Tja…
Matthew, der sich wahrscheinlich wie ein Verräter hätte fühlen sollen, sah mit interessierter Neugier wie eine Kiste in den Raum gezogen wurde welche fraglos als kleines Podest diente. Das verschmitzte Lächeln auf seinen Lippen wurde etwas breiter als er Clarence gemeine Worthülsen vernahm, aber da sie eben nicht mehr als Hülsen waren, besorgten sie ihn keineswegs. Nie und nimmer würden sie getrennt schlafen, dies war so gewiss wie das Amen in der Kirche, wie es so schön hieß.
Allerdings brachten die gemurmelten Worte einige andere zum Lachen und Cassie zuckte lächelnd die Schultern als wolle er sagen ‚Ich kann nichts dafür, die Leute wollen was sie wollen. Du machst das schon.‘
Und in den nächsten paar Minuten wurde Matthew Zeuge einer Verwandlung, die er selbst kaum für möglich gehalten hatte. Clarence machte es tatsächlich und er machte es großartig.
Wie er da so stand, widerwillig auf das Podest getreten und damit die Anwesenden um mindestens anderthalb Köpfe überragend, sah er aus wie eine Lichtgestalt. Zumindest für Matthew. Überlegend kämmte er durch seinen Bart, so wie er es immer tat, wenn er erstmal seine Gedanken sortierte und genau das tat er nun auch. Nachdenken., einen Anfang suchen, überlegen was er eigentlich zu sagen gedachte. Bei Clarence dauerte es einen Moment, weil plappern eher Matthews Metier war.
Aber als er endlich bereit war seine sortierten Gedanken mit den anderen zu teilen, da tat er das auf eine Art und Weise wie man sie eher von Matthew erwarten konnte, weil er Übung darin hatte. Aber Clarence brauchte gar keine Übung, er war ein Naturtalent, er dankte dem Clan für die geleistete Hilfe, er dankte für alles was man in den vergangenen Monaten riskiert und getan hatte - und er erinnerte alle Anwesenden daran, was auch Matthew für den Clan getan hatte ohne bis dahin je einen Fuß in Falconry Gardens gesetzt zu haben. Er fand Anerkennung für die Menschen der Stadt, für den Clan und für einige die er namentlich erwähnte. Dabei trug Clarence nie zu dick auf, sondern war zu jeder Sekunde maß- und taktvoll. Nichts von dem was der Blonde sagte war gelogen und ebensowenig staffierte er unnötig sentimental irgendetwas aus, aber Matthew erkannte in den Zwischentönen immer wieder so viel Liebe und Wertschätzung für ihn, dass er irgendwann den Blick auf seinen Humpen senkte und diesen schüchtern betrachtete, weil er sonst ganz rot werden würde. Rot wurde er zwar trotzdem als Addy ihm den Ellenbogen in die Seite stieß und sich zahlreiche Augen auf ihn richteten - forciert durch die Ausführungen des Blonden - aber hoffentlich schluckte das diesige Licht und die harten Schatten einen Großteil der Farbe.
Zu behaupten, Matthew sei gerührt von den Worten seines Mannes, würde nicht annähernd dem gerecht werden, was er fühlte.
Endlich hob er den Blick wieder und schaute zu Clarence hinüber, in seinen dunklen Augen lagen Wärme und Stolz.
Als sie sich kennengelernt hatten war er ein Niemand gewesen, ein Söldner der nicht gerne tötete, ein Lehrling ohne Meister. Kaum einer kannte seinen richtigen Namen und niemand kannte ihn.
Aber das hatte Clarence geändert und längst war er mehr als er sich je erträumt hatte sein zu können. Er war ein Ehemann, er war Teil einer Familie, er war anderen ein Freund.
Der Blonde hatte ihn zu mehr gemacht als er allein jemals hätte sein können und damit hatte er ihn nicht nur gerettet - sondern ihm auch sein schimmerndes Mehr zurückgegeben, von dem Matthew geglaubt hatte es sei längst erloschen. An dem Tag an dem Clarence ihn, an einem Baum lehnend und verblutend, gefunden hatte, hatte er sich um ihn gesorgt. Er hatte Arbeit und Mühsal auf sich genommen um ihn wieder auf die Beine zu bekommen und all das hatte er getan ohne je eine Gegenleistung von ihm zu erwarten. Und Matthew, der gelernt hatte, dass niemals etwas ohne Preis ist, hatte jene Selbstlosigkeit lange Zeit weder glauben noch verstehen können. Längst war das anders geworden, weil der Mann der da auf dem Podest stand ein geduldiger Lehrer war - und weil Clarence nie müde geworden war, an Matthews Seite zu sein.
Selbst dann nicht, wenn es den Anschein gehabt hatte, dass alle Wünsche erfüllt und alle Träume geträumt waren.
Ein paar der Blicke blieben auf Matthew hängen, während Clarence weitersprach doch die allermeisten richteten ihren Fokus wieder auf den Blonden. Cassie beobachtete blickte in ein paar der Gesichter und suchte nach… Ablehnung, Skepsis, Missmut - aber er fand nichts dergleichen. Die Menschen die hier waren, waren vielleicht nicht alle Clarence Freunde, aber sie respektierten und schätzten ihn und sie hörten ihm nicht nur zu, weil er auf dem Podest stand - sondern weil sein Wort Gewicht hatte.
Und er legte dieses Gewicht für Matthew ein. Für seinen Mann.
Unweigerlich wurde das Lächeln auf seinen Lippen breiter und ein warmes Kribbeln breitete sich in Matthews Bauch aus, wurde ihm mit einem Mal bewusst, wie es fortan sein könnte. Wie sie hier leben würden. Nicht als Freunde, nicht als Team, nicht als Gefährten - sondern als Eheleute. Niemand warf entrüstet einen Bierkrug nach ihnen, niemand schien sich angegriffen zu fühlen - alle lauschten Clarence, hier und da sah Mannheim Kopfnicken oder hörte zustimmendes Gemurmel. So richtig laut wurde es erst, als Clarence verkündete, dass es Freibier geben würde - da wurde geklopft und gejohlt und einzelne laute Pfiffe ausgestoßen. Cassie lachte und fing den Münzbeutel mit geübter Leichtigkeit aus der Luft.
„Ihr habt Clarence gehört! Die nächste Runde geht auf uns!“
Erneutes Klopfen, während ein paar Leute sich von ihren Plätzen erhoben und zu Clarence gingen, ihm auf die Schultern klopften, kurz umarmten oder ihn knufften. In so ziemlich jedem Gesicht stand ein Lächeln und auch zu ihm kamen vereinzelte Menschen, schlugen ihm auf die Schulter und bedankten sich für das, was er für den Clan getan hatte.
Lauren und zwei ihrer Schankhilfen waren eifrig dabei den nun aufziehenden Sturm an Biernachfragen zu bewältigen, während Matthew sich von dem Stehtisch löste und sich durch die Meute drängte, die nun mehrheitlich auf den Beinen war.
Natürlich hätte Matthew auch warten können bis Clarence wieder zurück zu ihrem Tisch kam, aber der Dunkelhaarige wollte schlicht und ergreifend nicht. Im dichten Gedränge fand er schließlich den Menschen der ihm auf der Welt alles bedeutete und nachdem der Blonde von einem kräftigen Jäger freigegeben worden war - den Mann würde Matthew später als Waylon kennenlernen - ging Cassie zu ihm. Noch immer strahlte er und noch immer kribbelte sein Bauch vor Stolz und Glück.
Eigentlich hatte er Clarence zuerst sagen wollen, wie gut er das gemacht hatte und das er öfter Reden halten sollte - ein ernstgemeintes Kompliment - doch als er dem Blonden gegenüberstand zögerte Matt keine Sekunde ihm einen kurzen, festen Kuss auf die Lippen zu drücken. Eine Geste die die umstehenden Menschen erneut johlen ließ.
„Kuss, Kuss,Kuss!“ skandiertem sie plötzlich und Cassie lachte erneut - weil das nun wirklich etwas war, was er noch nie erlebt hatte. Wie konnte es sein, dass alle hier unten so locker waren? So freundlich, so unvoreingenommen?
‚Wir sind alle eine große, gute Familie…‘ kamen Cassie die Worte von Jake wieder in den Sinn - und er wurde das Gefühl nicht los, dass das vielleicht wirklich stimmte. „Was ist mit deinen Leuten los?“, fragte er an Clarence gewandt, wobei er lauter sprechen musste, weil der Geräuschpegel schon wieder angeschwollen war und man kaum sein eigenes Wort verstand.
„Das ist doch verrückt!“, schob er nach, Clarence in etwa so anstrahlend wie damals beim Welpenkauf - nur noch ungläubiger und noch glücklicher.
Clarence war nie derjenige gewesen, der große Reden an den Clan geschwungen hatte. Seine Aufgabe war es gewesen still zu sein, zu lernen, zu beobachten - und das hatte er getan. Monat um Monat, Jahr um Jahr.
Selbst dann noch, als sein einstiger Lehrmeister nicht mehr gewesen war, war es vor allem Stille gewesen, die den Blonden umgeben hatte. Sich nicht in die eigenen Karten schauen zu lassen, die Situation zu überblicken und dafür die Entscheidungen der anderen zu analysieren, das war sein Metier gewesen und hatte dazu geführt, dass er es letztendlich gewesen war, der das Blatt der anderen erahnte, noch bevor man es in die Hand genommen hatte.
Selbst mit Matthew war das anfangs nicht anders gewesen, auch wenn der Dunkelhaarige wesentlich schwieriger zu verstehen gewesen war als die meisten anderen Menschen. Trotzdem war es dem jungen Mann schwer gefallen, aus seinem schweigsamen Begleiter mehr heraus zu bekommen als das nötigste und nicht selten hatte sich Clarence die Frage gestellt, warum um alles in der Welt dieser Typ immer noch an ihren verabredeten Treffpunkten auftauchte, obwohl er alleine sicher mehr Spaß bei seinen Reisen gehabt hätte als mit dem Jäger.
Seitdem Cassie mitten auf dem Marktplatz von Coral Valley von ihm gefordert hatte mehr mit ihm zu reden, hatte sich ein Großteil seiner Marotten mit der Zeit verloren und wenngleich er Fremden gegenüber noch immer Schweigsam und eher der Beobachter war, war er seinem Mann gegenüber regelrecht aufgeblüht. Manchmal - so kam es ihm jedenfalls selbst vor - erinnerte er sich selbst wieder an den jungen Kerl der er einst gewesen war, bevor er seine Heimat verlassen hatte; doch dies war eine Seite von ihm, die noch immer ganz allein sein Mann heraufzubeschwören wusste und Matthew allein gehörte, niemandem sonst.
Trotzdem, das musste er sich selbst eingestehen, hätte er sich noch vor einem Jahr nicht vor einer betrunkenen Meute Jäger stehen sehen, die mit ihren Blicken regelrecht an seinen Lippen klebten und jedes Wort in sich aufsogen wie ein nasser Schwamm das Wasser. Den Clan zu motivieren und die Leute für eine Sache brennen zu lassen, das war immer Nagis Aufgabe gewesen und in seltenen Fällen die von Waylon, als er noch auf große Aufträge raus in die Welt gezogen war, um Mythen und Legenden hinterher zu jagen.
Diese Jäger hier sind einfach gestrickt, Clarence. Gib ihnen das Gefühl, das Zentrum von etwas Großem zu sein und dann finde heraus, was du ihnen versprechen musst, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, hatte Nagi ihm einst erklärt, als das erste Hunters Chase nach Clarence‘ Ankunft in der Stadt vor der Tür gestanden hatte. Damals hatte er nicht begriffen wieso man freiwillig losziehen sollte, um sich für ein wenig Ruhm und Ehre gegenseitig den Schädel einzuschlagen und dabei die Leute des eigenen Clans wie unbedeutende Bauern aufs Feld zu schicken. Aber was sich seinem Horizont nicht verborgen hatte, war die Quintessenz dessen, was sein einstiger Meister schon immer benutzt hatte um die Leute an seine Worte zu fesseln: Leere Versprechungen.
Wie Eintagsfliegen waren seine Gaben gewesen, welche die oberflächlichen Bedürfnisse seiner Leute befriedigt hatten, nur um ihnen am nächsten Tag wieder dabei zuzusehen, wie sie ihm am ausgestreckten Arm verhungerten. Das einzig Wahre, was seinen Weisheiten entsprungen war, war das große Ganze gewesen, an das er seine Mannschaft in Mahnreden immer wieder erinnert hatte.
Jake und Waylon kannten sie noch, die Zeiten in denen alle eine große, gute Familie gewesen waren und in denen Leute wie Ryan oder Rory gemaßregelt worden wären, wenn sie versuchten dem stabilen Kern der Familie Schaden zuzufügen. Zeiten, in denen es keinen Nathan gegeben hatte, der den Mitgliedern des Clans mehr schadete als half - und Zeiten, in denen Familienmitglieder mit offenen Armen empfangen worden waren, auch wenn sie selbst keine Jäger waren.
Clarence war sich anfangs alles andere als sicher gewesen, ob er es schaffte mit seinen Worten in eben jene Kerbe zu schlagen, die den einstigen Zeitgeist traf und nicht in wenigen Momenten hätte er am liebsten eine Souffleuse hinter sich gehabt die ihm half. Doch wie zu erwarten blieb Matthew still und ließ ihn alleine in eben jenen Überfall rennen, der sich am Ende nicht etwa als Messer entpuppte mit dem man ihn von der Kiste zu stürzen versuchte, sondern als gut gemeinte Umarmungen und Beglückwünschungen ob der Rede die er soeben gehalten hatte - und sogar vereinzelt Glückwünsche ob der Bindung, die er mit Matthew eingegangen war.
Noch immer drückte ihn ein flaues Gefühl im Magen, denn nicht nur war es ungewohnt überhaupt eine brennende Rede zum Besten zu geben oder das Ganze mit einer Kundmachung ob seines eigentlich gar nicht mehr allzu neuen Ehemannes zu verknüpfen, sondern auch überhaupt derart im Mittelpunkt der Bemühungen zu stehen. Nicht mal damals, als er seine Ausbildung zum Jäger abgeschlossen hatte, hatte man ihn derart herzlich überrannt wie in diesem Moment; doch noch viel schöner war es anzusehen, das er nicht der einzige war, um den sich eine dichte Traube gebildet hatte.
Mancher begrüßte ihn überschwänglicher, manche drückte ihm nur die Hand oder hieß ihn willkommen, doch sein Mann wurde nicht weniger von Leuten umzingelt wie er selbst und das machte ihn noch viel glücklicher als der Umstand, am Ende seiner Ansprache nicht abgestochen worden zu sein. Selbst als Waylon ihn schließlich freigegeben und Matthew sich zu ihm durchgekämpft hatte, konnte der kurze aber feste Kuss vor all den Leuten seine Stimmung nicht trüben und auch nicht machen, dass er dem frechen Taugenichts böse war.
„Gib einem Jäger sein Bier und er ist glücklich. Gib einem Jäger ein Freibier aus und du machst ihn zum glücklichsten Menschen der Welt“, zog Clarence lautstark sein vorübergehendes Fazit aus dem was um sie herum geschah und fragte sich ob die Reaktionen wohl anders wären, wenn er knauserig geblieben und nicht Cassies erstem Plan einer Lokalrunde gefolgt wäre. „Du kannst froh sein, dass ich dich so sehr liebe und du dir deshalb so viele Frechheiten herausnehmen kannst. Sonst wären wir schon längst geschiedene Leute!“
Noch immer hörte er über das ganze Stimmengewirr hinweg seine eigenen Worte kaum und es juckte ihm in den Fingern, seinem Mann zur Strafe seine perfekt sitzende Haarpracht zu durchwurschteln - allerdings war der Kerl zu schön anzusehen wenn er sich so zurecht gemacht hatte und mit dieser Aktion würde Claire sich wohl genauso ins eigene Fleisch schneiden.
Mit warmem Blick musterte er den Jüngeren verliebt, bevor er ihm tadelnd die Wange tätschelte, dann jedoch sein Kinn festhielt um seinem Böckchen seinerseits einen kurzen Kuss zu geben. Es war ein unheimlich schönes Gefühl zu wissen, dass man nun endlich wusste wie dieser unbekannte Kerl aussah und dass man wusste, dieser Typ war Matthew Sky, Clarence‘ Ehemann. Nicht irgendein Kumpel, nicht ein Freund oder Weggefährte.
„Ist dir mal aufgefallen, dass ich wegen dir heute Abend noch kein einziges Bier ausgetrunken habe? Wenn das so weiter geht, geh ich nüchterner ins Bett als ein trockener Alkoholiker. Eine grausame, grausame Welt ist das“, schob Clarence einen Arm um seinen Mann und mokierte sich dabei berechtigt, immerhin betrank sich der Jüngere heute ganz alleine ohne ihn und am Ende würde Cassie kurz nach Mitternacht einfach tot ins Bett fallen, noch ehe Zuhause das Feuer im Ofen entfacht war.
Wahrscheinlich hatte Matthew noch vor drei Tagen nicht daran geglaubt, dass sich das Blatt je wieder zum Guten würde wenden können.
Seit ihrer Trennung in Denver war viel passiert und nichts davon war gut gewesen und wenn Matthew eines über seine ganz persönlichen Pechsträhnen wusste dann, dass sie viel zu lang waren und nur schwer rissen. Man konnte sagen, das Pech haftete an ihm wie Haare an feuchter Seife. Er war zumindest sicher gewesen, dass die Briefe wirklich von Clarence gewesen waren - aber trotzdem war es ihm vollkommen abwegig erschienen herzukommen und da anzuknüpfen wo sie in Denver aufgehört hatten.
Einerseits weil er nun Dinge wusste die er vorher nicht gewusst hatte und die ihr zufälliges Kennenlernen plötzlich in weit weniger zufälligem Licht erscheinen ließen. Und dann war da auch die Zeit an sich. Vier Monate waren verdammt lange und ganz egal was in diesen Wochen geschehen war, es wäre utopisch gewesen zu glauben, dass sich die Dinge zwischen ihnen vielleicht nicht doch ein bisschen verändert hatten.
Und während Clarence sein Kinn umfasste und Matthew kurz abef fest auf den Mund küsste, da würde dem Jüngeren klar, dass sich wirklich etwas verändert hatte.
Ihre Bindung war enger geworden.
Der Mann der ihn jetzt und hier vor aller Augen küsste, war nicht mehr der Mann, der ihn damals an einem Baum lehnend gefunden hatte. Er war auch nicht der Mann welcher ihn gefragt hatte ob sie einander heiraten wollten. Jener Mann war unsicher gewesen ob seiner Gefühle, ob es Gotteslästerung war, wenn sie einander berührten oder küssten.
Doch von Angst oder Unsicherheit war keine Spur mehr. Dass sie einander liebten - und zwar nicht weniger rechtmäßig und intensiv wie es Mann und Frau taten - war kein Versteckspiel mehr und auch kein Geheimnis welches es zu hüten galt. Zwar war Falconry Gardens nicht die große weite Welt und das Moonkeepers auch nicht die ganze Stadt selbst, aber an diesem Abend ließen sie beide los, was sie daran hinderte die Wahrheit zu erkennen.
Nämlich, dass es keine Freiheit gab ohne Wahrheit. Und die Wahrheit war: sie waren eine Familie - und wer sich daran störte, sollte sich eben daran stören, die meisten der Anwesenden schienen allerdings kein Problem damit zu haben.
Clarence wurde bewusst, viel mehr Freunde und Sympathien innerhalb des Clans zu haben als erwartet und das man sich für ihn freute, statt ihn zu verurteilen. Und Matthew spürte zum ersten Mal in seinem Leben was es bedeutete irgendwo zu sein und willkommen geheißen zu werden. Nicht weil er Geld verprasste, nicht weil er charmant herumwitzelte oder sich als jemand ausgab der er nicht war. Dieses Mal war er einfach nur er. Matthew Sky und die Leute schienen ihn genau dafür zu mögen. Das zu erkennen war verrückt, weil Cassie ein Leben lang immer irgendwelche Rollen gespielt hatte.
„Du warst richtig gut! Ich meine… was du gesagt hast und vor allem wie.“
Clarence hatte sich nicht nur wacker geschlagen, er hatte seine Kameraden eingeschworen und gleichzeitig milde gestimmt. Und das lag ganz sicher nicht nur am Freibier. Matthew ahnte, dass die hier Anwesenden wahrscheinlich den guten Teil des Clans darstellten. Eben jene Leute, die von vornherein wenig Antipathie gegen ihn gehegt hatten und die grundsätzlich auch Clarence gegenüber wohlwollend und offen waren.
Die einen mehr, die anderen weniger. Aber der Blonde hatte sie alle erreicht und zwar mit Worten, die er noch in Denver nie so offen ausgesprochen hätte. Wie sehr Matthew das berührte und mit Stolz und Glück erfüllte konnte er gar nicht in Worte fassen - aber vielleicht sah Clarence es ihm an. „Los, Blondie sehen wir zu, dass du endlich dein erstes Bier austrinkst!“ - er piekste den Größeren in den Bauch und machte sich mit ihm im Schlepptau wieder auf den Rückweg zu ihrem Tisch.
Bei Lauren, welche eifrig Kreidestriche nach jeder Bestellung an eine Schiefertafel machte, zahlte Cassie die bereits fällige Summe und bestellte sich dann selbst noch ein Bier - mit dem er gegen das von Clarence stieß.
Eine kleine Weile unterhielten sie sich noch - mit Jake, mit Lauren aber auch mit Leuten die Matthew bis dahin noch nicht auf dem Schirm gehabt hatte. Noch während sie tranken beugte Matt sich schließlich zu Clarence herüber und sprach ihm -aufgrund der Lautstärke - direkt ins Ohr.
„Was meinst du, ist es zu spät um Lucy doch noch abzuholen? Sie wollte zwar nicht… aber vielleicht ändert sie ihre Meinung, wenn wir nochmal zu ihr gehen. Was meinst du, hm?“
Es lag ihm fern dem Mädchen etwas aufzuzwingen, auf der anderen Seite wollte er sie auch nicht sich selbst überlassen. Nicht heute, nicht an diesem Festabend - und wenn das Mädchen es nicht wollte, dann sollte sie nie mehr allein sein müssen.