Falconry Gardens - American Kestrel
31. Dezember 2210
Wie kurzweilig die Tage sich doch anfühlten, wenn man sie nur in der richtigen Gesellschaft verbrachte, dass wurde Matthew seit seiner Ankunft in Falconry Gardens mehr und mehr bewusst.
Hatten die Wochen seiner einsamen Reise einer Art unendlichen Odyssee geglichen, erfüllt mit der Tristesse ewig gleicher Mühe, so waren die Stunden mit Clarence das komplette Gegenteil dessen.
Die Zeit mit ihm flog nur so dahin, ganz gleich ob sie in der Stadt eine neue Garderobe für ihn kauften, mit den Hunden spazieren gingen oder sich mit Addy auf einen kurzen Plausch trafen.
Selbst während sie einfach nichts taten, sondern nur zusammen waren, war die Zeit erfüllt von Freude und Liebe und Glück.
In Falconry Gardens schien das Vergangene zu verblassen, so als wolle die ganze Stadt sagen, dass es Zeit für die Zukunft war und all das Blut und der Schweiß durch den sie gewatet waren nun nicht mehr zählte.
Und fast hätte man der Verlockung erliegen können zu glauben, dass das stimmte - wären da nicht Dinge und Erfahrungen gewesen, die unauslöschlich eingebrannt waren.
Und eine unauslöschliche Begegnung war Lucy. Eben jenes Mädchen welches Matthew vor Monaten zusammen mit ihrem Bruder aus den Trümmern des Zeppelins gerettet hatte.
Die Zeit war nicht gut zu ihr gewesen, die Erfahrungen hatten sie still gemacht, der erlittene Verlust beinahe teilnahmslos. Als Matthew sie am Tag nach seiner Rückkehr zusammen mit Clarence besucht hatte, hatte sie ihn zwar erkannt - aber sie hatte wenig Anteil an seiner Gegenwart genommen. Als sei er ein Geist hatte sie ihn angeschaut, der Welt seltsam entrückt. „Du hättest uns nicht finden sollen.“ hatte sie unter anderem zu ihm gesagt - eine Bemerkung die Matthew einen Stich versetzt hatte und über die er den ganzen Tag über nachgedacht hatte.
Lucy hatte ihm vertraut, ebenso wie Gabriel. Sie hatten Clarence auf ihre kindliche Weise bewundert und sie hatten Matthew gern gehabt. In einer anderen Welt, unter anderen Umständen, hätten sie beide Kinder retten können und vielleicht hätten sie füreinander eine Art kleine Familie sein können. Aber das Schicksal hatte andere Pläne gehabt und sollte Lucy noch bei ihnen leben wollen, so hatte sie dies bei jenem ersten Wiedersehen nicht gezeigt.
Matthew verstand das und obwohl das Mädchen weder direkt danach fragte noch durch die Blume darum bat, versprach er ihr sie am nächsten Tag wieder zu besuchen.
Auch das tat er - gemeinsam mit Clarence - und auch wenn ihre Reaktion wenig anders ausfiel als am Tag davor, schenkte sie zumindest den Hunden ein kleines Lächeln als diese ihr unermüdlich Stöckchen um Stöckchen anschleppten, auf das sie es werfen möge.
Auf die Frage ob sie am Abend mit auf das Jahreswendfest kommen wollte, verneinte sie kopfschüttelnd. Das aufgeweckte und zielstrebige Mädchen welches sich fürs Bogenschießen begeisterte und für die Jagd, war still und in sich gekehrt… nichts was Matthew ihr verübeln konnte und gleichwohl etwas von dem er hoffte, dass es mit der Zeit wieder anders wurde.
Die Stadt und ihre Bewohner indes war in Festagslaune. Die gepflasterten Straßen säumten bunte Girlanden, Tore und Dachfirste waren mit Wimpeln geschmückt und die Luft war geschwängert mit den verschiedensten Gerüchen. Räucherfisch, frisches Brot, Speck, süße Nüsse oder kandierte Früchte… an nahezu jeder Ecke gab es Stände mit verschiedenen Speisen und Waren.
Kaum einer Feierlichkeit kam eine größere Bedeutung zu als dem der Jahreswende, denn es bedeutete mehr als alle anderen Festtage, dass es Anlass zur Hoffnung gab. Hoffnung auf Gesundheit , Frieden, Wohlstand.
Inwieweit sich diese Hoffnungen erfüllen würden war freilich eine Frage die erst die Zeit beantworten würde. Einige glaubten an Götter, andere glaubten an Schicksal…Matthew hingegen glaubte, dass allein Menschen über das bestimmten was Menschen passierte.
Und er für seinen Teil hatte nicht mehr vor davonzulaufen - ganz gleich in welche Richtung. Wieder mit Clarence zusammen zu sein zeigte ihm auf unmissverständliche Art auf, was genau er vom Leben wollte.
Worauf er eigentlich gern verzichtet hätte war die Vorstellung seiner Person im großen Kreis - aber sein Ehemann zeigte diesbezüglich keinerlei Einsicht und es gab in dieser Hinsicht auch keinen Verhandlungsspielraum.
„Und wenn die mich nun nicht leiden können? Das wird uns den ganzen Abend und das Fest versauen…“, versuchte Matthew nochmals den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, während er sich selbst im Spiegel musterte.
Seine Beine steckten in einer schwarzen Hose, dazu trug er Stiefel in der selben Farbe welche seine schlanken Waden betonten und ihn wie eben jenen Waldläufer aussehen ließen der er im Grunde war.
Ein dunkelroter Pullover bildete auf harmonische Weise einen Kontrast zu seinen dunklen Haaren, die er seit gestern wieder kurz trug. Ausrasiert im Nacken und an den Seiten, während der Rest auf verwegene und willkürlich anmutende Weise von seinem Kopf abstand.
„Ich hoffe die sind alle drauf wie Cam.“ - wenn das der Fall war, dann machte er sich ganz umsonst Sorgen, denn es gab in ganz Falconry Gardens vermutlich keine Menschenseele mit der er sich besser verstand als mit diesem Kerl. Von Clarence einmal ganz abgesehen.
„Komm schon, beeil dich - wir sind schon spät dran und je nachdem wie viel Überzeugungsarbeit ich leisten muss, damit er mit runter kommt, verspäten wir uns nur noch mehr.“ - er blickte hinter sich, wo sein blonder Bär noch Gott weiß was tat. „Wenn ich wegen dir noch lange auf etwas zu futtern verzichten muss, wirst du mit den Konsequenzen leben müssen. Ich hab tierischen Hunger.“ - seit Matthew wieder in der Zivilisation angekommen war, hatte er ständig Appetit und ständig Lust auf irgendetwas anderes. Mal war es Rührei mit Speck, dann wieder Kuchen oder eingelegte Pflaumen mit Zimt und Rum.
Ahnend was es bedeutete wenn Matthews Hunger dich richtig auswuchs, beeilte sich Clarence schließlich wirklich und we oh später waren sie beide auf dem Weg ins Clanhaus. Die Straßen und Gassen waren bereits gut gehüllt, Menschen in bester Laune schlenderten umher, lachten und redeten. Die Luft war geschwängert mit den Düften verschiedenster Leckereien, man konnte hier und da Musik hören und allerlei fahrendes Volk versuchte Ware an den Mann oder an die Frau zu bringen.
Matthew, der in seinem Leben schon viel gesehen hatte und viel rumgekommen war, war nichtsdestotrotz von der eigenartig losgelösten Stimmung und dem Flair der kleinen Stadt angetan. Er mochte die kleinen Gassen, die pittoresken Häuser mit ihren Gärten, er mochte die klare Luft und bisher mochte er sogar die Leute.
Alles in allem war Falconry Gardens wirklich ein schöner Ort und etwaige Schattenseiten… würden bis nächstes Jahr warten müssen um ans Licht zu kommen.
Es hatte keine zwei Tage gedauert und schon war alles fast wieder ein bisschen so, wie es immer schon gewesen war und am liebsten immer bleiben durfte.
Die Wohnstube, einstmals aufgeräumt und beinahe verwaist, war gesäumt von den Kleidungsstücken die sie gestern für Matthew erworben hatten und die er auch eben nicht müde geworden war alle nochmals neu anzuprobieren und zu kombinieren, damit er auch bloß das optimale Outfit für den heutigen Abend trug. Auf dem Tisch lagen noch immer die Karten lose aufeinander gestapelt, mit denen sie sich gestern Abend die Zeit beim Gespräch darüber vertrieben hatten, was heute vor den Festlichkeiten noch alles anstand und selbst das Bett hatten sie nicht gemacht, es genau so zerwühlt hinterlassend, wie es auch schon im Bauch der Harper Cordelia immer gewesen war.
Matthew zurück an seiner Seite zu haben hieß nicht nur nicht mehr alleine zu sein - sondern auch eben jenes Leben wieder zurück zu haben, wie er es liebte und gewöhnt war, seitdem sie Bett und Tisch miteinander teilten.
„Wenn die plötzlich alle drauf sind wie Cameron, erschieß‘ ich mich“, konterte Clarence in gewohnt trockener Manier aus dem Inneren der Wohnung und verstaute dabei sorgsam seinen Tabak und das dazugehörige Täschchen in der Innentasche seiner Jacke. Im Moment verspürte er noch keinen Drang sich zu eilen, ein Umstand an dem sein Mann mit Nachdruck versuchte für Veränderung zu sorgen und Stress zu machen, für den Claire gar keinen Anlass sah. Immerhin rannte weder der Clan und schon gar nicht Cameron irgendwo hin - das einzige, was wirklich dringlich war, schien für Matthew das Essen zu sein und sein Freund Cam war nur eine beinahe lästige Station auf dem Weg dorthin.
„Dir ist schon klar, dass wir erst was trinken und danach erst aufs Fest gehen, oder? Ich hab dir vorhin oft genug gesagt du sollst was essen, weil dir sonst der Magen in den Knien hängt. Du hörst ja nie auf mich.“
Hätte man ihnen nun zugehört, es bliebe kein Zweifel daran offen, dass sie verheiratet waren und vielleicht hätte man sogar die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sie schon weit länger verheiratet sein mussten als erst ein Jahr.
Trotzdem eilte sich Clarence schließlich - mehr aus Nächstenliebe statt aus tatsächlichem Stress - und zündete sich seine Zigarette noch im Gehen an, während er großen Schrittes zu seinem Mann aufschloss.
Die ganze Stadt hatte sich schon in den Abendstunden des Vortages begonnen in ihr schönes Kleid zu zwängen und all die harte Arbeit machte sich nun bezahlt. Wimpel, Girlanden und Papierblumen zierten die Straßen, an den freien Wegen die nicht gerade durch eng bebaute Viertel führten hatten sich im Laufe des Tages kleine Buden aufgebaut und waren zum Leben erwacht, seitdem die Geschäfte geschlossen hatten.
Obwohl es kalt war, drängten sich schon jetzt in der Stadt in manchen Straßen die Leute aneinander. Einige der Gesichter waren Clarence trotz der langen Zeit, die er nicht hier gewesen war, bekannt - vor allem diejenigen Herrschaften in ihren sauber gebürsteten Mänteln und schicken Anzügen fielen ihm in die Augen, die zum Vorstand der Stadt gehörten und vermutlich wieder in den noblen Nebenstraßen des Clans in engem Kreis feiern würden. Irgendwo mit Mo‘Ann in ihrer Mitte, dabei gehobene Gespräche über Bildung und Politik und all die anderen Dinge führend, von denen der Rest der Stadt nichts verstand. Aber sie war es nicht, an die Clarence am heutigen Tag seine Aufmerksamkeit verschwenden würde; ihre Zeit würde kommen, doch wenigstens den Feiertag würde sie ihnen nicht versauen, nachdem sie schon ihren Hochzeitstag nicht miteinander gefeiert hatten.
Im Kontrast zur Führungsriege waren es allerdings viel mehr einfache Menschen von außerhalb, die zum Feiern in die Stadt gekommen waren. Freunde und Familie der umliegenden Dörfer, manchmal auch einfach nur Reisende oder Schaulustige, die es geschafft hatten sich eines der letzten Zimmer für die Nacht zu organisieren und die nun in langsamen Schritten daher schlendernd die Straßen blockierten, um sich Buden und die Auslagen der Geschäfte zu betrachten. Selten war es in Falconry Gardens so voll wie an den großen Feiertagen, doch auch von dieser Form von Tourismus lebten die Menschen hier und verließen sich darauf, dass trotzdem der Frieden in den Straßen durch den Clan gewahrt wurde.
„Nicht mal eine Schwangere futtert sich so quer durch die Auslage wie du in den letzten beiden Tagen. Würde ich es nicht besser wissen, würde ich dich vorsichtshalber nicht rauchen lassen“, zog er den Dunkelhaarigen amüsiert auf, obwohl er dafür gesorgt hatte, dass sein Blondie ihm kaum in etwas nachstand. Ihm seine Reste aufgedrängt hatte Cassie, gefolgt von einem neuen dunkelgrünen Strickpullover welcher ihn heute Abend warm hielt und einem anständigen Haarschnitt, der sich allerdings so ungewohnt kalt auf seinem Kopf anfühlte, dass er nicht darum herum kam sich draußen mit einer Mütze warm zu halten.
Ein weiteres Mal zog er an seiner Zigarette, bevor er sie aus Gewohnheit Cassie entgegen hielt um sie mit ihm zu teilen, auch wenn es ihnen in Falconry Gardens nicht an Nachschub mangelte.
„Bist du aufgeregt wegen nachher? Die werden dich schon mögen. Ich mag dich“, erhob er das Offensichtliche zum Gütekriterium für soziales Miteinander und setzte damit voraus, dass es anderen mit Matthew auch nicht anders gehen konnte als ihm.
Trotz der vollen Straßen kamen sie erstaunlich zügig voran, was vor allem daran lag, dass sie gestern und heute schon die Hunde zum Spaziergang abgeholt hatten und der Jüngere den Weg hinauf zum Clan mittlerweile kannte. Wenigstens das machte es etwas einfacher, auch wenn es sich noch immer seltsam anfühlte von manchen dabei beobachtet zu werden, als wäre man eine Art Absonderling.
„Wir können vorher auch noch an irgendeiner Bude halten und besorgen dir was für deinen leeren Magen, wenn du dich dann wohler fühlst. Nicht, dass der Hunger sich am Ende zur Furie werden lässt und du es dir wider Erwarten doch noch verscherz-“ - „Platz daaaaa“, kreischte es derweil von hinten, bevor sich unvermittelt zwei Kinderhände zwischen ihnen hindurch schoben und sie auseinander drängten, gefolgt von einem zweiten Kameraden, der seinem Kumpanen durch die geschlagene Schneise hinterher rannte. An ihren Hälsen baumelte ein Band, das von hinten aussah wie eine Art Medaille und Clarence zweifelte nicht daran, dass die beiden Strolche den ersten ihrer Stempel bereits ergattert hatten.
„Ja… vielleicht hast du recht und wir beeilen uns doch ein wenig. Sibyll ist sicher froh, wenn wir Cameron die Treppe runter geschleppt haben und er ihr unter die Arme greifen kann.“

Der Trubel in Falconry Gardens war anders als der Trubel den Matthew aus Metropolen wie Coral Valley oder Rio Nosalida kannte.
Obwohl er von den hunderten Leuten nur einen winzigen Bruchteil kannte, hatte man den Eindruck, dass eine jede anwesende Person hier richtig war. Die Budenbesitzer lachten und scherzten miteinander, potenzielle Kundschaft schlenderte gelassen von Stand zu Stand, manch einer sich lautstark beraten lassend.
Es war eine ausgelassene Stimmung die fraglos auch auf Matthew abfärbte. Die Dinge die hinter ihm lagen waren nicht vergessen, aber seit er wieder neben Clarence einschlief und neben ihm aufwachte war die Welt irgendwie ein Stückchen mehr wieder in Ordnung.
„Haha, ich will dich mal erleben, wenn du vier Monate lang nur zähes Kaninchen, paar kümmerlichen Beeren und gelegentlich mal etwas Fisch zu essen bekommst. Es hat Zeiten gegeben, da hätte ich meine Seele für ein paar Krümel Salz verkauft.“ - schilderte er die Mühen seiner Reise und wer ihn kannte der wusste, dass Matthew kaum etwas so unzufrieden stimmte wie es ungewürzte Speisen taten.
Aber das allein war nicht der Grund für sein exzessives Essverhalten in den letzten zwei Tagen. Dass er mehr zubereitete oder bestellte als er essen konnte lag an einem anderen, perfideren Vorhaben: nämlich Clarence zu animieren mehr zu essen. Als ein gut erzogener Fanatiker-Junge konnte der Verschwendung nämlich so gar nicht leiden und musste darum so manches Mal das aufessen, was Matthew ganz zufällig zu viel gemacht oder gekauft hatte. Auf diese Weise stellte er sicher, dass sein Bärchen hoffentlich bald schon wieder ein stattlicher Bär wurde.
„Ich bin… aufgeregter als mir lieb ist.“, räumte er ein, nachdem er Clarence die Zigarette abgenommen und sich selbst zwischen die Lippen gesteckt hatte. Dass man ihn mögen würde weil Clarence ihn mochte war eine Logik der Matthew nicht folgen konnte, wie man seinem vielsagenden Blick deutlich ablesen konnte.
„Du kennst mich… mir ist eigentlich egal was irgendwer von mir hält, aber diese Leute sind irgendwie deine Leute und deshalb…“ er zuckte die Schultern und nahm noch einen Zug von der Zigarette, den Satz unbeendet lassend.
„Wir holen Cam‘, treffen uns mit Addy und-…“ dass er dieses Mal den Satz nicht vollendete lag an den Kindern welche wie von der Tatantel gestochen durch die Menge stoben. Sie drängelten sich wenig achtsam und dafür voll kindlichem Eifer an allen vorbei die ihnen im Weg waren.
Einen Moment lang sah der Dunkelhaarige den beiden verdutzt hinterher, es waren nicht die ersten Kinder die er in der Kleinstadt zu Gesicht bekam, aber so ganz geheuer war es ihm nicht, dass sie so autark unterwegs waren.
„…die zwei haben es aber eilig.“ kommentierte er das offensichtliche und schließlich, weil er einfach nicht anders konnte:
„Hat… niemand Sorge, dass… naja… irgendwas passiert?“ - jenes ominöse irgendwas spezifizierte er nicht, musste er auch nicht Clarence gegenüber, der genau wusste warum Matthew diesbezüglich nicht aus seiner Haut konnte. Aber Falconry Gardens war nicht Stillwaters Reach, White Bone oder irgendein anderes Kaff auf diesem Kontinent.
Hier verschwanden keine Kinder von den Straßen und Höfen, vielleicht aus Glück, vielleicht aber auch weil man nicht dort wilderte wo man wohnte… was auf Mo‘Ann eindeutig zutraf.
„Jedenfalls…“, wechselte er das Thema schließlich erneut und lenkte es zurück auf ihre abendliche Planung, nachdem Clarence ihm versichert hatte, dass die Kinder von so vielen wachsamen Augen beobachtet wurden, dass sicher nicht einmal der größte Volltrottel auf die Idee käme ihnen etwas anzutun.
„… könnten wir zusammen mit Cam‘ und Addy eine Kleinigkeit essen. Fände es gut, wenn wir ihm was holen nachdem er runtergekommen ist. So als zusätzlichen Ansporn und so.“ von dieser Idee schön sein Mann nur so semi begeistert - was Cassie ihm direkt an der Nasenspitze ansah.
„Jetzt schau nicht so. Er kann sowohl die extra Motivation als auch etwas ordentliches zu essen vertragen. Und außerdem wäre es arschkrampig ihn und Addy nicht einzuladen.“
Hintereinander stiegen sie die Treppenstufen empor, entgegenkommende Passanten jeweils durchlassend, bevor der Weg oben wieder breiter wurde.
Vor dem Haupttor des Clangeländes blieb Cassie schließlich stehen, nahm den letzten Zug von der Zigarette und drückte den Stummel an der steinernen Säule aus, in der das geöffnete Tor in den Angeln hing.
„Blondie?“, Clarence blickte zu ihm, mit roter Nase und seiner komischen Mütze und Matthew lächelte zu ihm empor, so offensichtlich über beide Ohren in den Kerl verliebt wie man nur sein konnte.
„Ich liebe dich. Denk daran, wenn ich dir heute Abend Schande mache.“ - witzelte er, obgleich ein Funken echte Besorgnis in der Aussage steckte.
„Auf jetzt, Cam und Addy sind sicher schon am Verhungern.“
„Es hat auch schon Zeiten gegeben, da hast du unsere letzten Krümel Salz für eine hässliche Mütze eingetauscht. Deshalb bin ich mir nicht so sicher, wie ernst ich dein vehementes Klagen nehmen kann“, wendete der Blonde ein und warf seinem Mann von der Seite her einen skeptischen Blick zu, denn ja, auch solche Zeiten hatte es schon gegeben. Er solle sich nicht so anstellen, hatte Cassie ihm da vorgeworfen, und dass es sowieso ein Aberglaube der Jäger sei, Salz könne sie vor Geistern schützen; dass ihr Essen die kommenden Wochen so fad wie Schuhsohle sein würde, so weit hatte der Taugenichts damals nicht gedacht.
Doch diese Zeiten hatten sich zum Glück geändert und längst hatte Matthew nicht nur den Wert von Salz, sondern auch von halbwegs genießbarem Essen erkannt wegen dem es sinnvoll war, das gute Salz nicht ständig gegen irgendwelche Tand einzutauschen. Und nicht zuletzt hatte er den wahren Wert seines Gefährten begriffen, der wohl größte Zugewinn, den der Jüngere hatte machen können.
Dass Cassie eventuell vielleicht tatsächlich etwas aufgeregt wegen heute Abend war, war… ungewohnt, aber auch etwas, das eine undefinierbare Wärme in Clarence‘ Magengrube erwachen ließ. Es stimmte, der Clan war zwar zwei Jahre kein besonders großer Teil seines Lebens gewesen, aber es waren seine Leute - ob er wollte oder nicht. Früher, in einem gänzlich anderen Leben, hatte er noch andere Menschen seine Familie genannt; auch über Ruby-Sue und die Kinder hinaus hatte er Verwandte gehabt, die Teil seines Lebens gewesen waren. Zu den einen hatte er mehr, zu den anderen weniger Kontakt gehabt und doch hatten sie zu seiner Familie gehört wie jene, die er selbst gegründet hatte.
Die alten Bande, die ihn einst mit diesen Menschen verbunden hatten, waren mit seinem Aufbruch aus Fort Martyrdom gekappt worden und alles was ihm in den vergangenen Jahren davon geblieben war, war die graue Erinnerung daran gewesen was es hieß, während Familienfesten beieinander zu sein.
Mit seinen Brüdern und Schwestern des Clans war er vielleicht nicht durchs Blut verbunden, doch sie waren die engsten Verbündeten gewesen, die er seitdem gehabt hatte. Sie waren Familie geworden ohne miteinander verwandt zu sein und auch ohne es auszusprechen wussten Cassie und er beide, dass es etwas ähnliches niemals zwischen ihnen geben würde, wo sie einander geliebte Menschen vorstellten und hofften, dass die anderen den eigenen Ehemann mögen und gut im eigenen Kreis aufnehmen würden.
Auf der anderen Seite - so dachte er sich, während er Matthew die schmale Gasse den Berg hinauf folgte - war sein geliebter Mensch bereits bei ihm und Cassie seine Familie, der er heute den Rest vorstellte. Am Ende war es vielleicht also gar nicht so wichtig was die anderen von seinem Mann hielten, sondern nur, was seine Familie vom Großteil des Clans hielt und auch wenn das eine mehr als blauäugige Hoffnung war, so ließ alleine der Gedanke daran ein munteres Schmunzeln auf seinen Lippen entstehen.
So viele Sorgen hatten sie sich in den vergangenen Monaten umeinander gemacht, dass die Festlichkeiten zum heutigen Tag eigentlich das geringste Übel sein sollten. Sie hatten Spinnen überlebt, eine Irre, waren dem Winter entkommen und hatten ein Szenario fernab jeglicher Wirklichkeit überlebt, das er sich niemals auch nur in seinen dunkelsten Träumen hätte ausmalen können.
Obwohl er sich an die Stunden und die Nacht danach, im Schnee, nur kaum noch erinnerte, so waren die Erinnerungen an den Absturz selbst bei Clarence noch umso klarer im Gedächtnis. Das Geschirr und der Tand, der ihnen im Gang entgegen geflogen war als die Nase des Zeppelins sich dem Abgrund entgegen geneigt hatte, wie er versucht hatte Cassie vor sich am Flur empor zu schieben um weiter gen Heck zu gelangen und schließlich, wie Cameron über ihnen aufgetaucht war und versucht hatte, als erstes seinem Mann weiter hinauf zu helfen. Und dann… war Stille über ihn hinein gebrochen.
Die Angst um Matthew war von jener Sorte Furcht gewesen, wie Clarence sie nie wieder hatte erleben wollen und zweifelsohne hatte sie eine alte Wunde in ihm aufgerissen, die nichts in der Welt wieder hätte heilen lassen können, wenn er seinen Mann an diesem Tag verloren hätte.
Trotz alledem waren sie noch hier. Entgegen jeder Erwartung, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit und entgegen allem, was sich ihnen seitdem noch weiter in den Weg gestellt hätte. Während er Matthew vor der Tür zum Clan stehend ansah, wie dieser Taugenichts ihm mit funkelnden Augen entgegen lächelte und so niedlich drein blickte wie damals im Zuber bei seinem Antrag, wurde ihm einmal mehr bewusst welche Angst es ihm machte Cassie zu verlieren - und wie glücklich und dankbar er für jede einzelne Minute miteinander war, seitdem sein Mann zu ihm zurück gekehrt war.
Es war nur ein kurzes Zögern das ihn aufhielt, doch schließlich lehnte er sich zum Jüngeren hinab um ihm einen kurzen, liebevollen Kuss zu geben
„Ich denke jede Sekunde daran, dass du mich liebst - anders würde ich es an manchen Tagen auch gar nicht mit dir aushalten“, entgegnete er ihm schließlich spitzbübisch, bevor sich ein zufriedenes Grinsen sein Gesicht erhellte und er den Dunkelhaarigen neckend in die Seite zwickte. „Zum Glück liebe ich dich auch, das macht das Ganze etwas erträglicher. Und jetzt lass uns rein gehen, sonst kommt Cameron nie zu was anständigem zu Essen heute.“
Im Gegensatz zu den vergangenen zwei Tagen, an denen er seinen Mann heimlich während des Abendessens durch den Aufgang in der Küche hinauf zu Cameron geschmuggelt hatte, war die Eingangshalle heute nicht kahl und leer, sondern geschmückt mit bunten Girlanden und geziert von Kerzen, die schon jetzt den langen dunklen Flur in angenehmes Licht tauchten. Zur Rechten, wo sie sich leise an einer großen geschlossenen Flügeltür vorbei geschmuggelt hatten, stand der Durchgang in den großen Gesellschaftsraum des Clans heute offen und selbst bis zum Eingang konnte man die beiden Rabauken hören, die auch schon eben an ihnen in der Gasse vorbei gerannt waren. Wie zu erwarten hatten sie sich zum nächsten Checkpoint durchgekämpft, auf der Jagd nach Stempeln für ihre Karten um sie später gegen Süßwaren oder kleine Spielzeuge einzutauschen und so wie die Groll- und Gröhlgeräusche vermuten ließen, wollten die beiden Jungs zweifelsohne heute Muties oder Dämonen sein - wie so oft an Feiertagen, wenn Sibyll anbot die Kinder mit der Farbe aus ihren Töpfen zu verzieren.
„Sei nett zu ihr. Sie hat viel Meinung und war schon zu Zeiten hier im Clan, da haben wir beide vermutlich noch in den Windeln gelegen“, wisperte er Cassie verschwörerisch zu und legte ihm eine Hand in den Rücken, um ihn sachte neben sich her durch die Tür zu drängen, während er mit der anderen gegen die Flügeltür klopfte um auf sie aufmerksam zu machen.
Hinter dem Durchgang, der die vergangenen zwei Tage stets verschlossen gewesen war, erstreckte sich heute ein langer festlich geschmückter Raum mit einer großen gläsernen Front, die auf den tristen Innenhof gerichtet war und zum Teil auch einen Blick auf die Gesteine des Bergfußes hinterm Haus frei legte. Die Wände waren geziert durch das liebevoll gepflegte Holz, aus dem das alte Blockhaus geformt worden war bevor man einen neueren Teil angebaut hatte und selbst die schier endlos anmutende Tafel, die das Prunkstück des einstigen Rathauses bildete und einst als Festsaal gedient hatte, nahm einen sofort in seinen Bann. Verschiedene Stühle hatten sich an den Seiten eingefunden und ließen keinen Zweifel daran offen, dass dort jeder seinen eigenen Platz besaß; manche bevorzugten ein Stück Bank oder einen Stuhl mit lehne, andere eine etwas gepolsterte Variante mit Armlehnen, um es bequemer an eben jenem langen Tisch zu haben wo nicht nur gespeist, sondern auch zusammen Entscheidungen gefällt wurden.
An einigen Stellen war die Oberfläche dunkler als an anderen und ließ einen erahnen, wer durch stete Anwesenheit schon eine Patina auf die Tafel gearbeitet hatte und wer durch Abwesenheit seinen Platz zu schonen wusste. Vereinzelt waren kleine Bildnisse in das Holz geritzt worden - Tiere, Mutanten aber an seltenen Stellen auch Namen, umrahmt von Blumen oder einer Krone - und ließen der Fantasie freien Lauf, wie viele Clanmitglieder diese Tafel im Laufe ihrer Existenz bereits kennengelernt, aber auch wieder verabschiedet haben mochte.
„Ich zweifel‘ nicht an der Sache mit den Windeln“, tönte Sibyll mit konzentriertem Blick von ihrem Platz aus, während sie das Gesicht des Jungen am Kinn beiseite neigte und ihren Pinseln zurück in die weiße Farbe tauchte - die kurze Pause von ihrer Arbeit nutzend, um den beiden jungen Männern in der Tür ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr Blick war auf eine Art und Weise prüfend, dass es einem einen kalten Stich in den Knochen versetzen konnte und letztlich blieb er unverhohlen an dem unbekannten Gesicht des Kleineren hängen, während sie ihren Pinsel am Rand des Topfes abklopfte. „Du bist Matthew, ja? Ich dachte, da wäre ein bisschen mehr dran an dir. Du bist ja nur ein halbes Hemd.“
Freches Kichern der beiden Frechdachse untermalten die voreilige Äußerung der Jägerin, die im Gegensatz zu Matthew hier Hausrecht besaß und der man ansah, dass es nicht selbstverständlich war, überhaupt bis hierher eingetreten zu sein. Lediglich dem kalten Wetter und den Feiertagen war es geschuldet, dass sie ihren Gemeinderaum für die Kinder geöffnet hatten - und ob sie den Burschen nun kannte oder nicht, aber er schien Cameron gut zu tun und dieser Umstand alleine war es schließlich, der Sibyll nicht monieren ließ den Fremden hier drin zu haben.
„Für dich bin ich Mrs. McIntosh, bis wir uns besser kennengelernt haben.“ - Schließlich gestikulierte sie mit ihrem Pinsel in den hinteren Bereich des Saals, wo sich um einen offenen Kamin eine große Ledergarnitur und ein paar dubiose, ausgestopfte Kreaturen ausbreiteten. Dahinter befand sich ein weiterer Treppenaufgang, eben jener der direkt in den Schlaftrakt von Cameron führte und den Clarence bislang aus offensichtlichen Gründen mit seinem Mann gemieden hatte.
„Ich bin schon froh, wenn du Cam bis dahinten hin bekommst. Er soll raus aus seinem Bett, sonst wächst er da noch drin fest und fängt an zu stinken. Das kann ich nicht gebrauchen“, wies sie Matthew unverblümt an, jedoch nicht auf eine Weise, die etwaige Antisympathie gegenüber dem Fremden ausdrückte. „Sag ihm, wenn er nicht freiwillig mit dir mitkommt, komme ich hoch und prügel’ ihn aus den Federn. Ich versichere dir, das bekomme ich gerade noch hin.“

Um nichts in der Welt würde Matthew auf die Idee kommen, dass sein Blondie ihn nicht auch liebte. Eine Angst, die er damals durchaus gehabt hatte. Im Blauer Hund, als er einem lädierten und schweigsamen Clarence Sky in einem abgeranzten Ohrensessel gefunden hatte.
Der Blonde hatte in jenem Augenblick verletzt und gleichsam schroff gewirkt und Matthew hatte all seinen Mut zusammennehmen müssen um ihm letztlich zu sagen, dass er ihn nicht nur mochte, ihn nicht nur gern hatte, in ihm mehr als nur einen Freund sah… Hätte der Blonde ihn nach jenem Geständnis fortgeschickt , so hätte Matthew auf einen Schlag alles verloren was ihm noch etwas bedeutete und trotzdem war er das Risiko eingegangen. Rückblickend betrachtet war er nie mutiger gewesen und ebenfalls hatte sich sein Mut nie mehr ausgezahlt als in jenem Zimmer im Blauer Hund.
Seither war zwar nicht gerade eine Unmenge Zeit verstrichen, aber es war unglaublich viel geschehen. So viel, dass es für mehrere Leben reichte.
Und jedes Ereignis, ob zum Guten oder Schlechten, hatte sie geprägt und enger zusammenwachsen lassen. Matthew, der selbst nach ihrer Hochzeit dann und wann die irrationale Angst gehabt hatte, für Clarence nicht gut genug zu sein, wusste unlängst wie sehr der Blonde ihn liebte und vergötterte. Er wusste nicht warum - aber das war auch nicht wichtig, so lange der Größere es nie vergaß.
„Haha…ich hatte ganz vergessen wie witzig du bist.“, konterte er die Kleine Neckerei seines Mannes, nachdem dieser sich nach kaum merklichem Zögern zu ihm herabbeugt hatte und ihm einen kurzen, liebevollen Kuss auf die Lippen gab. Einer jener Sorte, wie er vollkommen beiläufig und vollkommen natürlich anmutete und gerade deshalb Matthews Herzschlag in ein aufgeregtes Flattern verwandelte.
Der Kuss währte nur eine Sekunde, trotzdem war es Zeit genug für Matthew um sich kurz auf die Zehenspitzen zu stellen und die Zuneigung instinktiv zu erwidern - ein Schmunzeln auf den Lippen und ein Funkeln in den dunklen Augen, wie es ganz sicher nur Clarence heraufbeschwören konnte.
Eine Madame Cœur hatte es definitiv nie zu Gesicht bekommen.
Um einen Hauch Röte auf den Wangen reicher und gefühlt wie auf Wolken schwebend, schob Clarence ihn schließlich durch den Eingang und lotste ihn - dieses Mal ohne Umwege - direkt zu eben jener großen Türe welche das letzte Mal verschlossen gewesen war und am heutigen Tage offen stand.
Der Raum der sich dahinter offenbarte war definitiv von zentraler Bedeutung für den Clan. Er war opulent in seiner Größe und Ausstattung. Altehrwürdiger Glanz ging von ihm aus, es roch nach Holz und Politur, nach Wachs und Tabak. Die zwei Jungs von vorhin waren wenige Augenblicke vor ihnen bereits an der langen Tafel vorbei gestürmt und hatten Stellung vor einer alten Frau bezogen, deren Gesicht von Tinte und Falten gezeichnet war.
Man hätte meinen können, dass eine Frau ihren Alters schwach und tattrig war - aber als sie die Stimme erhob war diese fest und klar.
Ihr Blick hatte sich unverhohlen auf Matthew fixiert und sie musterte den Dunkelhaarigen eingehend und schließlich ihr vorläufiges Fazit ziehend welches die kleinen Jungs amüsierte. Ein halbes Hemd nannte sie ihn - was beileibe nicht das schlimmste war wie man ihn je genannt hatte.
Hatte Clarence ihn vorhin noch sanft durch die Tür geschoben, betrat Matthew nun den großen Raum mit der ihm eigenen ruhigen Gelassenheit. Seine Schritte waren nicht eilig und nicht zögerlich und er erwiderte den Blick der Dame auf offene und gleichsam unbeeindruckte Weise.
Falls er in diesem Augenblick nervös war, so merkte man es ihm nicht an.
Es war nicht so, dass er sich vornahm selbstbewusst zu wirken - es war einfach seine Art einen Raum für sich einzunehmen und dabei ein natürliches Selbstbewusstsein auszustrahlen. Dabei wirkte er nicht arrogant, aber eben wie jemand dem scheinbar nichts und niemand etwas anhaben konnte.
Eben diese Attitüde war es die mit schöner Regelmäßigkeit dafür sorgte, dass man Matthew in einer Menschenmenge wahrnahm obwohl er weder besonders groß noch besonders auffällig gekleidet war.
„Der erste Eindruck täuscht.“, verkündete er in einem Tonfall neutraler Gewissheit der durchblicken ließ, dass er sich weder auf den Schlips getreten fühlte noch das sein Ego auch nur einen Kratzer davongetragen hatte. „Es ist ein Vergnügen Sie kennenzulernen, Mrs. McIntosh, machen Sie sich keine Sorgen wegen Cameron. Ich bekomm ihn hier runter und vielleicht sogar zu einem kurzen Abstecher raus in den Hof. “
Das war ein hehres Ziel, doch Matthew zweifelte nicht daran, dass er es erreichen würde. Hinter Cameron lagen schlimmere Dinge als ein Ausflug an die frische Luft - auch wenn der Andere das manchmal zu vergessen schien. Flankiert von Clarence nahmen sie beide schließlich die Treppe nach oben um auf direktem Wege auf den Flur zu gelangen, von dem aus man die einzelnen Zimmer der Clanmitglieder erreichte. Zielstrebig steuerten sie die Tür von Cameron an und schon Augenblicke später standen sie in dem Zimmer.
„Hey Addy, hey Cam’.“ begrüßte Cassie die beiden anderen unverkrampft und freundschaftlich, wobei der Dunkelhaarige tatsächlich noch im Bett lag. Ein Gesicht machend wie sieben Tage Regenwetter.
„Was liegt im Bett und sieht gut aus?“, fragte Matthew in - für sie beide typisch flachsender Manier.
„Na ich, du Schlauberger.“, erwiderte Cameron, woraufhin Matthew den Kopf schüttelte. „Falsch. Die richtige Lösung ist: ich, bevor ich aufstehe. Aber in der Senkrechten machst du keine schlechte Figur… also los, aufstehen, anziehen und dann gehts runter zu den anderen.“ - und bevor Cameron etwas einwenden konnte fügte Matthew direkt an: „Du kannst mich nicht hängenlassen, ich hab Mrs. McIntosh - wie ich sie nennen soll - versichert, dass ich dich bis runter und sogar raus in den Hof kriege. Würde ganz schön jämmerlich dastehen, wenn du nicht mitmachst.“
Der Blick, den Sibyll ihm zuwarf kaum dass sie sich zum Anpeilen der Treppe abgewandt hatten, war auf so vielsagende Weise unbedeutend, dass Clarence versuchte sich ein stummes Schmunzeln zu verkneifen - denn es wäre das eine gewesen, auf Widerstand zu treffen und noch hier unten den Marsch geblasen zu bekommen. Es waren zwar Feiertage und aufgrund des Wetters der Gemeinderaum für die Kinder geöffnet, aber das war noch lange nicht gleichbedeutend mit einem Tag der offenen Tür für die Allgemeinheit und im Augenblick war Matthew noch nichts anderes als eben genau das. Er war nicht offiziell dem Clan vorgestellt, war -noch- kein Teil der Angehörigen wie etwa Daisy es war oder Sibylls Tochter, die mit einem Mann aus der Stadt verheiratet war und mehr Freiheiten in diesem Haus genossen als etwa Cassie, der kaum jemanden kannte.
Aber sie hielt ihn auch nicht auf. Sie bestand nicht darauf, er möge Cameron hier unten in Empfang nehmen nachdem Adrianna und Claire ihn irgendwie die Treppe hinab geprügelt hatten und sie rümpfte nicht etwa die Nase über das halbe Hemd, das sie sich ganz offensichtlich anders vorgestellt hatte. Stattdessen war es so furchtbar normal, dass sie seinen Mann schweigend an sich vorbei passieren ließ - und das war um so viele Längen mehr, als sich Clarence jemals hätte ausmalen können.
„Ich hab Schmerzen, ich schaff‘ das nicht die ganze Treppe runter. Später vielleicht“, versuchte Cameron derweil den Kopf aus der Schlinge zu bekommen, die sein Kumpel Matthew ihm immer enger um den Hals zusammenzog.
„Ach - als ob“, polterte Adrianna von der Seite her, die es sich in dem Sessel bequem gemacht und die Füße aufs Fensterbrett hoch gelegt hatte. Auf ihrem Schoß lagen bereits einige Klamotten für ihn, die sie ihm zweifelsohne mit viel Liebe zusammengesucht hatte - denn rund um Barclays Kleiderschrank sah es aus, als wäre eine Bombe explodiert. Mit äußerster Hingabe schien sie alles durchforstet zu haben, was der Einbauschrank hergab und sogar ein halbwegs ansehnliches Hemd hatte sie ihm rausgesucht, von dem Clarence gar nicht wusste, dass Cam so etwas besaß.
„Lass dich nicht von ihm verarschen, ich hab ihm eine von meinen Pillen gegeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kerl hüftabwärts seine Beine überhaupt noch spürt, geht direkt gegen Null“, gestikulierte sie mit ihrem bandagierten Stumpf dem Bett entgegen, doch nicht etwa um dem faulen Sack darin zu drohen, sondern damit er nun bloß nicht die Dreistigkeit besaß zu behaupten, seine drei Kratzer wären schlimmer auszuhalten als das, was sie hinter sich gebracht hatte. „Schau, ich hab dir sogar frische Unterhosen raus gesucht, falls sich wider erwarten irgendeine Lady hier hoch verirrt um dich um Mitternacht zu trösten. Es ist an alles gedacht.“
„Beweg deinen Arsch aus dem Bett und tu wenigstens so als wäre es dir wichtig, dass der hier sich noch weiter hier drin blicken lassen darf. Los jetzt“, griff schließlich sogar der Blonde ein, der diese Allüren Barclays sowieso gefressen hatte. Er selbst mochte zwar nicht weniger Unleidlich sein wenn er angeschlagen war, doch dafür hatte er wenigstens den Drang das Bett gelegentlich zu verlassen - und im Moment war Claire sich nicht mal sicher, ob Cameron zumindest mal für seine natürlichen Bedürfnisse aus den Federn kam, oder nicht einfach unter sich machte.
Untermalt von einem genervten Brummen, griff er schließlich nach Camerons Bettdecke und begann mahnend an ihr zu zerren. Doch dafür, dass er es angeblich so schwer mit dem Laufen hatte, hatte der kleine kranke Kerl noch immer einen ganz schön festen Griff und Addy ließ sich nicht lange bitten, um die Kleidung von ihrem Schoß zu schmeißen und Clarence zu Hilfe zu eilen.
„Du benimmst dich wie ein verfluchtes Kleinkind. Lass - jetzt - los!“, drohend versuchte sie seine Finger von dem stoffenen Schutzmantel zu lösen, den Cameron über sich festhielt als würde sein Leben davon abhängen. Doch er hatte keine Chance gegen die einzig wahre Geheimattacke, die schon immer dazu geholfen hatte ihn in Bewegung zu setzen und auch heute wieder dazu führte, dass er seine Gegenwehr schließlich fallen lassen musste: Das gute alte Kitzeln.
Schließlich lag er dort, einem gestrandeten Walfisch gleich, in seinen schmutzigen Socken und seiner Boxershorts und schien die Welt nicht mehr zu verstehen, dass man ihn nicht einfach in Ruhe lassen konnte. Dass sich ein erwachsener Mann so unglaublich anstellen konnte, war schon allein beim Zusehen unangenehm und eben jene Tatsache schien auch Cameron langsam zu begreifen, der versuchte die unangenehme Situation mit Galgenhumor zu retten.
„Ihr wollt mich doch nur nackt sehen, das ist alles“, bedeckte er seine Nippel schließlich scheu mit seinen Fingern, indem er die Arme vor der Brust kreuzte und erntete sich damit ein verächtliches Schnauben seitens Clarence.
„Da schau ich ja lieber noch den Rest meines Lebens Waylon beim Nacktbaden zu. Ich glaub, du hast hier die letzten Tage zu viele Bettmilben eingeatmet. Raus da jetzt.“ - Klang er ungeduldig? Vielleicht. Aber immerhin wollte er an diesem Abend ja auch immer noch ein bisschen Zeit mit seinem Mann verbringen, nicht nur mit diesem faulen Stück, das sein Leben im Bett vergeudete.

Cameron hatte eindeutig einen Hang zum Drama, eine Tatsache die sich mehr und mehr offenbarte, je länger er diskutierte und sich weigerte aus dem Bett zu kommen.
Adrianna - die in der Wildnis nach einer Amputation mit einer Axt überlebt hatte, diente ihm leider nicht als leuchtendes Vorbild und das, obgleich sie zweifellos als solches getaugt hatte.
„Nun mach schon Cam.“, versuchte Matthew es abermals, doch gegen die geballte Lethargie kam man mit Worten scheinbar nicht weit.
Schließlich war es Clarence, welcher zu drastischeren Mitteln griff und nach einem kurzen Gerangel und unterstützt durch Addy es schaffte, die Bettdecke von dem Dunkelhaarigen zu ziehen und ihn zu entblößen. Etwas, dass dem Dunkelhaarigen sichtlich unangenehm war und ihn endlich dazu nötigte in die Gänge zu kommen - selbst wenn er weiterhin moserte.
„Klar, dich nackt zu sehen ist einzig wahre Grund meiner Rückkehr.“, stichelte Matthew und erntete ein überraschtes, amüsiertes Schnauben von Addy. „Wenn das stimmt, dann bin ich eine Gelehrte aus Viridarium.“
Entnervt richtete sich Cameron schließlich in seinem Bett auf und schwang kraftlos die Beine über die Matratzenkante.
Der einst so agile und vitale junge Mann hatte sichtlich an Muskeln und Kraft verloren - aber es würde im Bett auch definitiv nicht besser werden.
Ein wenig betreten beobachteten die drei wie er mühselig zur Seite rutschte, dann klatschte Cassie jäh in die Hände und sicherte sich damit die Aufmerksamkeit aller. „Okay, fein. Clarence, sei so gut und sammel mit Addy mal die Sachen auf die herumliegen. Sieht schlimmer hier aus als nach einem Orkan.“ - oh er wusste, dass er sich mit dieser Aufgabenverteilung nicht beliebt machte, aber immerhin galten die Blicke nun ihm und lagen nicht mehr auf dem weidwunden Cameron.
Letzterer hatte sich an die Bettkante manövriert und stützte sich mit der einen Hand von der Matratze ab, während er sich mit der anderen Halt am hölzernen Kopfende suchte und sich daran emporzog.
Ob nun aus reiner Nächstenliebe oder weil Clarence und Adrianna den Wink verstanden hatten, sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf das verursachte Chaos, während Matthew seinem Freund buchstäblich unter die Arme griff. Er half ihm auf - ohne zu fragen ob er Hilfe brauchte - und machte das ohne viel Aufsehen oder mit einem stichelnden Kommentar.
Zuerst ging es in das kleine private Badezimmer in welches er Cameron schließlich seine Kleidung brachte. Es dauerte eine Zeit weil Cam’ die Hilfe eigentlich nicht wollte und Matthew ihn machen ließ was der Andere meinte allein machen zu müssen. Dort wo er nicht weiterkam half Matt ihm einfach, sodass sein Freund schließlich gewaschen und frisch eingekleidet wieder vor die Türe trat.
In der Zwischenzeit war das Chaos durch die zwei anderen beseitigt und selbst das Bett gemacht worden. Das Fenster stand offen und von draußen wehten Stimmen und Gelächter herein.
Die frische Luft welche klar und kühl war belebte die Geister zusätzlich und machte zugleich, dass man nicht mehr das Bedürfnis hatte sich wieder hinzulegen.
„Das ich dich nochmal auf beiden Beinen sehe treibt mir fast die Tränen in die Augen.“, kommentierte Addy scherzend - obgleich in ihren Worten ein durchaus anerkennender Unterton mitschwang.
„Dir ist doch bloß was ins Auge geraten, mach dir nichts vor.“ erwiderte Cam‘ der langsam aber tapfer an Matthews Seite humpelte.
Die Krücken die ihm eigentlich zur Verfügung standen lehnte er ab, lieber nahm er sich Zeit und Schmerzen in Kauf anstatt wie ein Invalide mit den Gehhilfen herumzustaksen.
„Dann mal auf ins Getümmel, hm? Krieg von Mrs. McIntosh sicher einen Orden wenn sie dich unten sieht.“ - „Das will ich auch hoffen, diese Tortour lohnt sich besser wenigstens für einen von uns.“ - „Macht sie, versprochen.“
Sie lohnte sich vor allem für Cameron selbst, auch wenn dieser so tat als würde er den ganzen Aufwand mehrheitlich für Matthew auf sich nehmen - was aus seiner Sicht wahrscheinlich sogar stimmte.
Zu viert verließen sie schließlich das Zimmer und mit jedem Schritt den Cameron machte - gestützt von Matt - hellte sich die Stimmung des Verletzten auf. Es fiel ihm nicht leicht und die Art wie er ging verriet, dass er trotz dem Medikament von Addy durchaus noch Schmerzen hatte, aber vor allem war die Aussicht darauf unten bei den anderen zu sein plötzlich verlockender denn je. Oben an der Treppe blieb der kleine Tross schließlich stehen und man blickte zweifelnd die Stufen herunter.
„Kein Problem, ich nehm dich Huckepack.“ - „Oh man… was ist das mit euch beiden?“, fragte Addy kopfschüttelnd und blickte zu Clarence.
„Sicher, dass er wegen dir zurückgekommen ist und nicht wegen unserer Prinzessin in Nöten?“ - Cassie lachte kurz, dann zuckte er die Schultern.
„Hör nicht auf sie, Claire… Ich würde dich auch Huckepack nehmen aber da breche ich uns nur beiden den Hals bei der Treppe.“
Das schien einzuleuchten und trotz dem freundschaftlichen Gestichel, ging Cassie schließlich in die Knie, sodass Cameron sich gegen seinen Rücken lehnen und die Arme um ihn schlingen konnte.
Matthew hakte seine Arme unter die Kniekehlen des Anderen und richtete sich wieder auf. „Du siehst leichter aus als du bist!“ -
„Hier oben gefällst mir.“, konterte Cameron heiter und alleine diesen Tonfall nach all der Zeit wieder bei ihm zu hören, war Grund genug die ganze Aktion als gelungen anzusehen.
Dass Camerons Stimmung sich nach all der Zeit im Bett plötzlich wieder aufklarte, kaum dass er auf den Beinen und aus seinem muffigen Zimmer draußen war, verwunderte Clarence nicht im geringsten. Es war kein Geheimnis, dass es den Menschen nicht gut tat sich den ganzen Tag in einem dunklen Loch zu verkriechen wenn sie krank und hilfsbedürftig waren und die eigens gewählte soziale Isolierung gab einem keinen großen Anlass, sich wenigstens für gute Gesellschaft aus dem Bett zu quälen.
Wo der Blonde im Falle von Schmerzen viel zu viel Antrieb besaß das Bett zu verlassen, wie die Zeit nach dem Feld der Spinnen damals gezeigt hatte, besaß Barclay leider viel zu wenig davon und musste gepampert werden wie ein kleines Kind, um sich seine Motivation zurück zu gewinnen. Doch trotz seiner Antipathie gönnte Claire ihm den heutigen Fortschritt - immerhin war Cameron normalerweise ein starkes, produktives Mitglied des Clans und er half hier niemandem, wenn er weiterhin leidend im Bett versauerte anstatt wieder auf die Beine zu kommen.
„Ja, was ist das mit euch beiden“, echote er schließlich Adriannas Worte und stierte seinem Mann mit einem mahnenden Kopfschütteln entgegen, ganz so, als könne das den Jüngeren tatsächlich irgendwie davon abhalten diese Schnapsidee in die Tat umzusetzen, auch wenn er es natürlich besser wusste.
Da wartete man Tage, Wochen, Monate auf die Rückkehr seines Ehemannes - und das nur, damit er sich nach nur drei Tagen in einem waghalsigen Manöver auf der Treppe zu Tode stürzte? Na danke aber auch.
„Weißt du was? Wenn ihr beide das hier überlebt, kannst du ihn von mir aus behalten. Ich will den gar nicht wieder haben, der macht mir viel zu viel Stress“, wobei er mit Stress Sorgen meinte und mit Sorgen abgrundtiefe Verzweiflung. Doch Cameron schien sich an solch einer Gefühlsachterbahn weit weniger zu stören wie er.
„Kein Problem, nehm ich“, tönte es glücklich von dem Reiter, der sein kleines Pony bestiegen hatte und Matthew sachte den Kopf tätschelte, als würde er ihn im Anschluss dorthin führen wollen, wo sein neues Zuhause war.
Abermals schüttelte Clarence den Kopf, dem oberen Dunkelhaarigen einen düsteren Blick entgegen werfend der nichts anderes prophezeite als pure Gewalt, wenn sich Cameron dort oben nicht benahm und sie deshalb beide zu Fall brachte. Widerwillig umrundete er die beiden, sich vor dem Pack auf der Treppe positionierend, um im Fall eines Sturzes wenigstens als Rammbock und Bremse zu fungieren.
„Ich hab keine Zweifel daran, dass du uns beiden Selbst heute ganz sicher den Hals brechen würdest. Das hast du letztes Jahr in Coral Valley auch fast schon geschafft mit deiner Aktion.“
„Hat er da auch versucht dich Huckepack zu nehmen?“, polterte Adrianna von hinten und lachte alleine bei der Vorstellung amüsiert auf, immerhin hatte sie Clarence‘ Status damals, bei ihrem Wiedersehen in Rio Nosalida, nicht vergessen. Er war gut in Form gewesen, vielleicht so vital und kräftig wie sie ihn noch nie gesehen hatte, und nicht gerade ein Leichtgewicht mit seinen kräftigen Muskeln und seiner hünenhaften Statur. Dass solch ein Manöver zum Scheitern verurteilt war, wunderte sie scheinbar überhaupt nicht, da sah sie die Kräfte Matthews schnell an ihre Grenzen geraten.
„Da hat er gemeint, er müsste seine Grenzen austesten und schauen, wer wen nach der Hochzeit über die Schwelle tragen kann. - Pass auf, die Stufe hier wackelt“, warnte er das Reiter-Pony-Gespann, damit es den Rest hinab nicht abkürze indem es flog, und überspielte damit das überraschte „Oh“ seitens Adrianna gekonnt, ohne dass eine unangenehme Pause entstand. Schon damals in Denver hatten weder Addy, noch Cameron nach dem Geständnis ihrer Ehe große Fragen zu dem Wie oder Warum gestellt und bislang hatte sich Clarence nicht daran gestört - und wenn es nach ihm ging, musste sich niemand plötzlich genötigt fühlen Fragen dazu zu stellen, nur um nicht unhöflich zu wirken.
„Na, wenn das nicht mein guter Freund Cameron Barclay ist! Dass ich dich noch mal bei Tageslicht erleben darf - oder dem, was davon übrig geblieben ist“, schallte die Stimme Sibylls durch den Raum und blickte ihnen von ihrem Platz an der Tafel entgegen, zweifelsohne entzückt über den Anblick des Bettlägerigen, der sich endlich aus seinem Bett hatte schälen lassen. „Du hast gerade den Kleinen von den Morrisons verpasst, er hat nach dir gefragt. Aber da ich nicht wusste, ob sie dich wirklich von da oben raus bekommen…“
Dass sie den Jungen gerne da behalten hätte, damit er Cameron Hallo sagen konnte, betrübte sie sichtlich - nicht nur um des Kindes wegen, sondern vor allem, damit der junge Mann spürte wie sehr er hier unten vermisst worden war.
Mit alten, bereits zum Teil verformten Fingern deutete sie neben der Gesellschaftsecke auf die verglaste Fensterfront zum Innenhof hin, hinter der bereits ein Feuer brannte, um Cameron endlich wieder an die frische Luft zu bringen. Doch schließlich überlegte sie sich es anders und langte nach einem Lappen, um sich die Farbe von den Fingern zu wischen und sich selbst um die Tür und das gute Gelingen der Bergungsaktion zu kümmern.
Erst auf den Beinen erkannte man, dass Sibylle McIntosch bereits mehr von Alter gezeichnet war als ihre wache Art es vermuten ließen. Ein leichter Buckel hatte begonnen ihre Beweglichkeit einzuschränken und auch sonst wirkte ihr Gang so steif wie ihre knotigen Finger, doch das hielt sie nicht davon ab das Gespann am Treppenabsatz zu überholen und ihren Part bei der Bergungsaktion zu übernehmen, indem sie noch zusätzlich einen alten Sessel beiseite schob um Platz für die Bergung des Genesenden zu schaffen.
„Wehe, du lässt dich auch noch bis vor die Tür tragen. Du sollst dich mehr bewegen“, predigte Clarence derweil dem anderen das herunter, was der Arzt ihm schon seit Wochen versuchte begreiflich zu machen.
„Oh neee… auf dem Rückweg dann!“, monierte Cam in fast kindlicher Manier, der äußerste Freude an seinem Wohltäter gewonnen hatte - und sich ganz offensichtlich nicht weniger an Matthews Rückkehr erfreute wie Clarence. „Ein Stück noch, bis vor die Tür. Hast du noch so viel Kraft, Matti?“
Freundschaftlich tätschelte er ihm die Schulter und Claire wagte nicht zu bezweifeln, dass er Matti zur Motivation auch noch eine Möhre gegeben hätte, wenn eine in Reichweite gewesen wäre.
Clarence war ein Pessimist wie er im Buche stand, deshalb unkte er auch herum, dass Matthew den Weg hinab niemals schaffen würde.
Aber viel bemerkenswerter als seine Schwarzmalerei, war die Anekdote die er zum Besten gab, während er vor Matthew die Stufen herunterging.
Cassie lachte hell auf, ein überraschter Laut der so ausgelassen klang wie schon lange nicht mehr.
„Du übertreibst! Ich hätte es schon noch geschafft, wenn ich es weiter probiert hätte…“, verteidigte er sich - nachdem Adrianna mit einem überraschten „Oh“ gekontert hatte - von dem man hörte, dass die mit dieser Information nicht gerechnet hatte.
Matthew selbst hatte auch nicht damit gerechnet, dass Clarence plötzlich solch ein Detail zum Besten gab - aber es tat so unfassbar gut ihn von ihrer Hochzeit reden zu hören, wie Cassie es selbst kaum verstand.
Stufe für Stufe ließen sie zu viert hinter sich und schließlich - allen Unkenrufen zum Trotz - schafften sie es heil nach unten.
Matthew schob seinen Passagier ein Stück hinauf und machte keine Anstalten ihn abzusetzen.
„Sehen Sie, Mrs. McIntosh - wie versprochen.“, richtete er sich stolz an die ältere Dame ohne mit ihrer Anerkennung zu rechnen - und ohne sie zu erhalten. Dafür tätschelte Cameron ihn abermals, was Matthew dazu veranlasste zu ihm nach oben zu blicken.
„Keine Bange, Cami - du kannst auf mich zählen.“, versicherte er seinem Kumpi der noch nicht abgesetzt werden wollte.
„Meine Güte, ihr beiden… Clarence, vielleicht sollten wir zwei den Abend zusammen verbringen und wir lassen die zwei Turteltauben allein.“, stichelte Adrianna. „Nichts da, da musst du dich hinten anstellen, Addi.“, intervenierte Cassie heiter und warf nun einen anhimmelnden Blick zu dem Blonden. „Auch wenn du mich vorhin schon loswerden wolltest, was ich dir übel nehme… aber nicht zu sehr.“ - „Sicher? Du und Cami seid ein Herz und eine Seele.“, beharrte die Rothaarige keck, woraufhin Matt heiter die Schultern zuckte. „Stimmt genau.“
Die ausgelassene Stimmung in der durchaus die eine oder andere Neckerei mitschwang war unglaublich belebend und befreiend.
Nach all der Zeit in der Einöde und Einsamkeit hätte der Trubel auch schnell zu viel werden können - doch das Gegenteil war der Fall. Irgendwie - und das war durchaus bemerkenswert, war Matthew doch eigentlich ein sehr skeptischer, misstrauischer Mensch - hatte die Gesellschaft von Adrianna und Cameron eine unerwartet befreiende Wirkung auf ihn.
Clarence war sein Halt im Leben, sein Licht, seine Hoffnung und seine Liebe - sie waren beste Freunde, Seelenverwandte, ein Team. Der Blonde war seine Familie und sein Partner in Crime.
Die anderen beiden hingegen waren… Freunde. Menschen deren Gegenwart gut tat, in deren Gesellschaft er sich nicht verstellen brauchte und mit denen es einfach schön war, Zeit zu verbringen.
Die ungleiche Truppe verließ die Halle schließlich gemeinsam - wobei Cameron keinen Fuß auf die Erde zu setzen brauchte. Erst draußen setzte Cassie ihn schließlich wieder ab, aber erst nachdem er sich mit ihm auf dem Rücken einen Weg zu einem der Stände gebahnt hatte.
Die Blicke einiger anderer waren ihnen dabei sicher, ein paar riefen dem Verletzten zu, dass es schön war ihn draußen zu sehen - andere winkten oder hoben prostend die Humpen in seine Richtung.
„So, Endstation Cam‘.“ - ohne Widerstand, dafür aber mit einem erneuten Tätscheln seines Schopfes - ließ sich der junge Mann vorsichtig absetzen. „Warst ein gutes Pony, danke.“ - „Und du warst ein miserabler Reiter.“, konterte er, woraufhin Cameron die Nase rümpfte und eine Grimasse schnitt - was Matthew dazu trieb ihm die Zunge rauszustrecken.
Fast wie zwei kleine Jungs.
„Wie sieht’s aus… kommt ihr nachher mit zur großen Vorstellungsrunde? Claire möchte mich den anderen vorstellen… seid ihr mit dabei, hm?“
Das würde die Sache wirklich irgendwie leichter für ihn machen, auch wenn er eigentlich gar nicht nervös sein sollte. Und eigentlich war das auch gar nicht seine Art… Jedoch - und da biss die Maus keinen Faden ab - wollte er mehr denn je, dass man ihn mochte - oder zumindest nicht komplett zum Kotzen fand. Das würde ihre potentielle Zukunft an diesem Ort erleichtern und es würde - auch wenn Clarence es so nicht sagen würde - den Blonden glücklich machen.
Camerons Anwesenheit in Falconry Gardens war von den Leuten hier nicht vergessen worden, auch wenn er die letzten Wochen in seinem Zimmer verbracht hatte. Die Lorbeeren, die man ihm für seinen tapferen Versuch vorhielt Hilfe für die Überlebenden des dramatischen Zeppelinabsturzes zu holen, hatte er zwar nicht ernten können weil er nie vor die Tür gegangen war - aber sie waren noch immer da und warteten auf ihn.
Beim Versuch Hilfe zu holen für die zahlreichen Menschen im Lager, war er fast gestorben. Halb zerfleischt durch einen Mutanten, halb erfroren im Schnee war es wirklich ein Wunder gewesen, dass man ihn nicht nur lebend, sondern überhaupt gefunden hatte. Er war nicht müde geworden zu betonen, dass Matthew den gleichen Anteil an Ansehen für ihren mutigen Aufbruch verdient hatte und doch war der gesichtslose Fremde für die Leute hier in Falconry nicht mehr gewesen als ein Name. Cameron hingegen war als Mitglied des Clans bekannt, er war schwer verletzt und - zumindest temporär - eingeschränkt und das auch noch in seinem jungen Alter.
Es verwunderte Clarence dementsprechend nicht, dass Barclay während seines Ausflugs hinab an die Bude keinen einzigen Kupferling für sein Bier und sein Essen zu bezahlen hatte, das Adrianna zusammen mit dem Gekauften der anderen in einem Korb unter ihrem Arm transportierte. Trainieren kann man nie genug um seine Eigenständigkeit zurück zu bekommen, merk dir das, Clarence, hatte sie ihm lautstark hörbar und eher in Richtung Cameron erklärt, a ls Claire versucht hatte ihr den schweren Korb abzunehmen und selbst hinauf zu tragen; der kränkelnde Dunkelhaarige hingegen entzog sich weiterhin jeder Verantwortung, während er einen Arm um die Brust seines Ponys gelegt hatte um sich zu halten, mit der anderen Hand sein Starkbier süffelnd.
Die Stimmung war ausgelassen, auch dann noch nachdem Matthew den stetig ansteigenden Weg zurück hinauf gen Clan erklommen und den Faulpelz schließlich am Feuer des Innenhofes abgesetzt hatte. Wo im Sommer dichte Wiese alles überwucherte, hatte der Winter nur gelb verdorrten Rasen und an vielen Stellen karge Erde hinterlassen, was dem eigentlichen Trainingsgelände eine traurige Note verlieh. Gerüste, selbst gebaute Gewichte und der Parcours, der im Sommer zum Training von Agilität, Ausdauer und Kraft einlud, wirkte nun ausladend, ja beinahe wie verlassen; daran störten sich die Hunde allerdings weniger, die angesichts der Gesellschaft aus ihrem Schläfchen erwachten und lautstark bellend die Gesellschaft am Lagerfeuer ergänzten - dicht gefolgt von ihren eigenen beiden erst die helle Mischlingshündin, die deutlich kleiner war als ihre Wölfe, und ganz zuletzt der winzige Schoßhund, der so gar nicht in die durchmischte Truppe zu passen schien.
„Ich weiß nicht, ob mein Pony mich so weit tragen kann. So weit ich das sehe, wird sich hier auch kein anderes zur Verfügung stellen“, zeichnete Cameron recht schnell das Hauptproblem aus Cassies Vorschlag heraus und auch wenn er das so nicht sagte, aber letzten Endes würde er wohl das fünfte Rad am Wagen sein, wenn sich im Moonkeepers niemand anderes seiner annehmen würde und die Zeit kam, wo Leute zunehmend beschwipst und lieber zu zweit waren um Dinge zu tun, die… überlegend blickte Cameron zwischen Matti und dem Griesgram umher, denn egal wie groß seine Fantasie auch war, gewisse Dinge entzogen sich einfach seiner Vorstellungskraft.
„Auf ein Bier werde ich es wohl schaffen“, Adrianna warf einen Blick auf ihre Uhr, nur um festzustellen dass links kein Arm mehr war an dem sie eine trug, und warf schließlich rechts einen Blick auf ihr Handgelenk. „Ist ja noch nicht allzu spät. Aber ich will nicht, dass Olli zu lange alleine ist.“
„Als ob es dem was ausmachen würde alleine zu bleiben“, ertönte Clarence schließlich wieder aus dem Gesellschaftsraum und schloss die Tür hinter sich - das Besteck in der Hand, das er aus der Küche für sie alle geholt hatte.
Die Auswahl an den äußersten Buden war wahrlich nicht so groß gewesen wie in der Innenstadt, aber es gab Bier und Wein und ein paar Spezialitäten. Die Aussicht auf flambierten Fisch vom Räuchergrill hatte es Cameron angetan, der sich von Adrianna den Korb hinüber reichen ließ um sein in dünnes Fladenbrot eingeschlagenes Mahl herauszufischen und selbst das Pilzragout hatte die Reise heil überstanden, das er vorgeschlagen hatte sich mit Cassie zu teilen und das in Kohlblättern serviert wurde, von denen mehrere ineinander gelegt worden waren um eine auslaufsichere Schale daraus zu formen.
„Macht es auch nicht. Aber mir macht es was aus, wenn er so lange alleine ist. Ich will nicht, dass aus dem sowas wird wie das hier“, sie deutete neben sich auf Cameron, der ihr mit einem empörten „Hey!“ einen Tritt gab - aber wenigstens bewegte er dafür seine kaputten Beine und das war es Adrianna wert.
„Ich hab keine Bedenken, dass dich da jemand nicht mag. Du bist doch ein ganz umgänglicher Typ. Mit etwas Glück wertet das wenigstens das düstere Gesicht von Clarence etwas auf, ein neues Image tut dem nämlich auch mal ganz gut“, auffordernd fischte sie aus dem Korb das Bier des Besagten und öffnete mit einem leisen Plopp den Bügelverschluss bevor sie ihm die Flasche reichte, selbiges schließlich auch mit dem Bier Matthews anstellend.