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Zuhause

29. Dezember 2210


Clarence B. Sky

Sie hatten noch einen Moment dort im Regen gestanden, nass bis fast auf die Knochen und einander fest im Arm, bevor sie sich schließlich gelöst hatten und ihren Heimweg angetreten waren. Es war gesagt worden was früher oder später hatte gesagt werden müssen und Matthew hatte ihn wissen lassen, was der Blonde selbst schon wusste - aber es war das eine sich ins Gedächtnis zu rufen dass einen keine Schuld traf und etwas anders war es zu erfahren, dass einem der Partner keine Schuld gab.

Der Weg nach Hause war ein Weg durch Dunkelheit und Stille gewesen, denn genau so niederschmetternd wie die Worte um Gabriels Verbleib gewesen waren, so ernüchternd war die Offenbarung seines Mannes, dass er sich schon in Denver vorgestellt hatte wie es könnte, die Kinder später zu sich zu holen. Es erfüllte Clarence mit einer eigentümlichen Mischung aus Verzweiflung und melancholischer Freude, denn nichts brachte Gabe wieder zu ihnen zurück um das wahr werden zu lassen, worüber sie beide getrennt voneinander nachgedacht hatten. Aber sie hatten darüber nachgedacht. Es war keine Spinnerei, die der Junge ihm in den Kopf gepflanzt hatte und Cassie hielt ihn nicht für einen Narren, weil er den Vorschlag befürwortet hatte… und hätten sie das Thema früher angeschnitten, noch bevor der Jüngere mit Cameron aufgebrochen war um Hilfe zu holen, vielleicht hätten sie sich schon in der kleinen Dachwohnung in dem alten Motel dafür entschieden, die Kinder zu sich zu nehmen. Vielleicht hätte er Gabe sagen können, dass er nicht erst in Falconry mit Matthew darüber reden musste. Vielleicht wäre der Junge dann in dem Wissen gestorben, dass er ein Zuhause gehabt hatte.

Die Wärme, die sich oben in der Gasse mit Cassies Händen über sein Gesicht gelegt hatte, hatte der Regen auf dem Spaziergang zu ihrer Wohnung schon wieder kalt von seinem Leib gespült, doch dafür hielt er die Hand des anderen umso fester auf dem Heimweg. Was es ihm bedeutete nicht mehr alleine zu sein, nicht mehr alleine um den Jungen zu trauern oder sich um Lucy Sorgen zu machen, das wusste Matthew; Clarence brauchte ihm nicht sagen wie er sich fühlte, denn schon immer hatte sein Mann auch wortlos erkannt was in dem blonden Klotz vor sich ging, wenn er ihn betrachtete. Doch es war nicht fair ihm diese Last mit aufzubürden. Es war nicht rechtens dankbar dafür zu sein, Erleichterung dafür zu verspüren, dass Matthew ebenso über die beiden Kinder dachte wie er selbst und am allerwenigsten war es richtig, dass dieser Mann sich mit dem Tod eines Kindes auseinander setzen musste, das weit mehr für ihn war als ein quirliges Anhängsel einer Gruppe Überlebender. Er liebte diesen Mann mehr als sein eigenes Leben und hätte er gekonnt, er würde jedes Unheil von Matthew abwenden, noch bevor es in der Ferne am Horizont erschien. Aber das konnte er nicht und wie so oft waren alle seine Gebete nicht erhört worden.

Als sie wieder an dem kleinen Anbau angekommen waren, drängten sich dieses Mal keine Hunde aufgeregt durch das quietschende Gartentor und auch die Fenster waren so schwarz wie die Nacht dunkel. Es war, als wäre der schöne Garten gleich etwas trostloser als noch zu ihrem Aufbruch und auch wenn er wusste dass das Unsinn war, so kam es ihm trotzdem vor, als wäre auch die Wohnung mit all ihrer Kälte und Dunkelheit gleich weniger einladend.

Warte, ich… hol uns ein bisschen Licht.“ - Umständlich schlüpfte er aus den Stiefeln und stellte sie im Flur beiseite, bevor er kurz in der Wohnung verschwand. Es dauerte nicht lange, da kam Clarence mit einer Öllampe wieder, die den kleinen Flur in warm-flackerndes Orange tauchte und offenbarte, dass sie beide wie zwei ertrunkene Seefahrer aussahen.

Womöglich, wenn er es nicht besser gewusst hätte, vielleicht hätte er in ihnen beiden nichts anderes gesehen als zwei pudelnasse Tölpel, die spät in der Nacht durch die Stadt stolperten ohne Schirm oder Hut. Doch er wusste es besser und hinter den Regentropfen, hinter dem nassen Haar und dem triefenden Mantel, da waren Cassies Augen noch immer so rot verquollen wie seine eigenen und seine Schultern hingen genauso tief, wie Claire sich fühlte.

Wortlos legte er dem Jüngeren ein Handtuch um sein Haupt, packte ihn bis zu den Wangen darin ein und trocknete sein nasses Haar etwas an, um das sich der Jäger vorhin schon oben am Berg Sorgen gemacht hatte. Nach seiner langen Anreise sollte sich Matthew nicht annähernd so verausgaben, sonst lag er tatsächlich in den nächsten Tagen mit Fieber im Bett und konnte sich mit Clarence das Antibiotikum teilen.

Cassie?“, erhob er vorsichtig seine Stimme, tupfte ihm dabei den Regen aus der Stirn und vom Hals und musterte ihn im Schein der Öllampe still. Es war eisigkalt geworden in der Wohnung, aber nichts was ein Feuer im Ofen nicht richten würde, sobald sie es entfacht hatten. Trotzdem fror der Blonde nicht, so lange sein Mann wieder an seiner Seite war und nicht einige Meter vor ihm.

Ich… lass uns… über Lucy reden. Ich will nicht, dass sie irgendwo auf einem Hof als Magd endet… oder bei einem völlig fremden Onkel in Poison Ivy, der sonstwas mit ihr macht.“

Das Mädchen kannte diesen Mann genauso wenig wie er oder Matthew es taten, aber sie beide wussten zu was Männer fähig sein konnten. Umso mehr, wenn es Leute aus Poison Ivy waren.

Sie ist noch ein halbes Kind. Bis sie… bis sie weiß, was sie machen will... könnte sie unser Mündel sein. - Wenn sie das will“, fügte er an, denn natürlich stand es ihr frei zu ihrem Onkel zu wollen oder sie beide zu verschmähen. Aber es fühlte sich nicht richtig an ihr nicht das gleiche Angebot zu machen, was die Kinder auch dann von ihnen bekommen hätten, wenn Gabe nicht….

Wenn Gabe noch da wäre.

Und wenn nicht, dann bringen wir sie zu ihrem Onkel. Oder… suchen ihr eine Stelle, an der sie bleiben will. Oder suchen ihr…“ - es war schwer auszusprechen was ihm auf der Zunge lag, aber nicht alle ihre Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen war nicht gerecht und letztlich ging es nicht um sie beide, sondern um das Mädchen. „Oder wir suchen ihr eine Familie, wenn nicht… nicht wir die sind, bei der sie sich wohl fühlt.“


Matthew C. Sky

Monoton prasselten die Regentropfen auf Dächer und Straßen und erzeugten dabei ein Rauschen in dem man sich perfekt verlieren konnte. 

Während sie zurückgingen sagte keiner von ihnen mehr ein Wort, doch das Schweigen war nicht länger ein Resultat ihres Streits, sondern ihrer beider Nachdenklichkeit. 

Dass Gabriel tot war, dass er sich ausgemalt hatte bei ihnen zu leben und die Art wie er gestorben war… all dies waren Informationen, welche Matthew schwer auf der Seele lasteten, nun da Clarence mit ihm geredet hatte und er wusste was sich ereignet hatte. 

Er konnte verstehen, dass diese Geschichte nichts für ein Wiedersehen war, nichts für die ersten Stunden nach so langer Trennung.

Aber es war wie Matthew bereits gesagt hatte: für manches gab es nur falsche Momente - und die Geschichte um den Jungen war so etwas. 

In Gedanken versunken aber fest an der Hand des Blonden, folgte Matthew seinem Mann der sie sicher nach Hause brachte. 

Das Gebäude sowie der Anbau lag in Dunkelheit gehüllt da, aber schon wenig später standen sie pitschnass im Flur. Matthew schloss die Tür hinter sich während Clarence in der kleinen Wohnung verschwand um Licht zu machen. 

Blass und frierend blieb Cassie an Ort und Stelle und trat von einem Bein auf das andere. Als Clarence zurückkam brachte er Licht und ein Handtuch mit sich.

Still legte er den Stoff um Matthews Schultern - obgleich er selbst nicht weniger durchnässt vom Regen war - und fing an, sein Haar trocken zu reiben und ihm vorsichtig das Wasser aus der Stirn zu tupfen. 

Als wäre Matthew ein Hundewelpe den er eben erst von der Straße aufgesammelt hatte, rieb er ihn ab und war dabei vorsichtig wie auch beherzt. Jeder andere Mensch auf dieser Welt hätte nicht mal im Ansatz versuchen brauchen den Dunkelhaarigen so nah zu kommen. Matthew war in der Zeit mit Clarence zugänglicher geworden, doch gewisse Charaktereigenschaften waren schwer abzulegen - und jemanden so nah an sich heranzulassen wie Clarence es durfte, war etwas das der Blonde noch immer als Privileg verstehen konnte. 

Und Matthew? Der konnte nicht umhin jenen Mann für seine Fürsorge und liebevolle Aufmerksamkeit noch mehr zu lieben als ohnehin schon.

Leise erhob der ehemalige Wildling schließlich seine Stimme und während er sprach und ihn trocknete, lauschte der Kleinere auf jedes Wort. 

Lucy… das Mädchen war ihm schnell ans Herz gewachsen, sie war eine Kämpfernatur und hatte in nahezu jeder Situation immer erst an ihren Bruder gedacht. 

Die Vorstellung, dass sie auf irgendeinem Hof für Fremde schuftete oder gar in Poison Ivy bei einem fremden Mann unterkam, war wenig erbaulich. 

„Ich… ich weiß nicht ob… ich das…“, er senkte unsicher den Blick nach unten auf den Dielenboden und zögerte noch einen Moment länger, bevor er schließlich nochmal neu anfing. „Du hast recht. Ich will nicht, dass ihr was passiert…“ - das wollte er wirklich nicht, aber so wie Clarence ihm seine Gedanken anvertraut hatte und ihm erzählt hatte was passiert war, so war es nun an Matthew diesen Schritt ebenfalls zu gehen. 

„Aber bevor… wir mit ihr darüber sprechen muss ich… erst mit dir reden.“ unsicher und angespannt richtete er den Blick wieder nach oben und musterte das Gesicht seines Mannes für einen Moment mit schmerzlicher Melancholie. 

„Du musst aus den nassen Sachen raus… ich schätze ich auch. Und dann… reden wir.“

Matthew zog das Handtuch über eine Schulter hinweg nach vorn und nahm es schließlich mit in den Wohnbereich. 

Das Fenster, welches er bei Verlassen der Wohnung angekippt hatte, war noch immer offen und der Ursprung der ungemütlichen Kälte. Also schloss er es, während Clarence ein neues Feuer machte. 

Gemeinsam entzündeten sie noch ein paar Lämpchen und Kerzen, sodass der Raum schon bald getaucht war in rötlich-goldenes Licht. 

Derweil prasselte der Regen von außen gegen die Scheiben und ließ Tropfen wie Tränen vom Glas perlen. 

„Ich würd ja vorschlagen wir nehmen zusammen ein Bad… aber daraus wird nichts.“ - so viel Luxus hatte das Häuschen nicht zu bieten und im Normalfall war das auch kein Problem - immerhin kam man ja nicht ständig pitschnass und durchgefroren abends hier an. 

Es blieb ihnen also nichts anderes übrig als die nassen Sachen gegen Trockene zu tauschen, wobei Clarence Matthew mit einem warmen und weichen Pullover ausstattete der viel zu groß war - aber dafür unheimlich gemütlich. Auch der Blonde zog sich um und nachdem sie beide ihr Haar nochmal extra abgerubbelt hatten, trockene Sachen trugen und das Feuer im Ofen loderte, war die Kälte von draußen schon fast wieder vergessen. 

Obgleich es genug freie Sitzplätze gab, setzte Matthew sich schließlich auf den Boden neben dem Feuer und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, den Blick in die Flammen gerichtet. 

„Ehrlich gesagt… weiß ich nicht wo ich anfangen soll und auch nicht wie…“, eröffnete er schließlich und schaute zu Clarence empor, ehe er mit einer Hand neben sich klopfte und ihm bedeutete sich zu ihm zu setzen. 

„Es gibt eine Menge was ich dir erzählen muss. Aber bevor ich damit anfange musst du mir versprechen… dass du mich ausreden lässt. Bis ganz zum Schluss. Versprichst du mir das?“ - wieder sah er blass und angespannt aus, beinah schon kränklich. Und hätte man Matthew gefragt wie er sich gerade fühlte so hätte er geantwortet, dass es ihm selten schlechter gegangen war.

Und das musste was heißen. 


Clarence B. Sky

Eine eigentümliche Anspannung hatte sich über ihr Beisammensein gelegt. Wie eine schwere Decke, die einen auf seltsame Weise zur Ruhe mahnte, jedoch gleichzeitig dafür sorgte, dass man sich unter ihrem Druck unheimlich anspannte und man das atmen dann und wann vergaß.

Clarence, dem die feinen Nuancen in der Stimme seines Mannes nicht entgingen, gefiel die Art und Weise nicht wie Cassie zögerte, nur damit sich danach eine seltsame Stille zwischen sie legte, während der sie sich in trockene Kleider hüllten und in ihrer Wohnstube für Licht sorgten. Auch war ihm nicht entgangen, dass sein Mann mit keinem Wort sein vielfältig interpretierbares Stammeln weiter definiert oder seine endgültige Meinung zu der Sache mit Lucy ausgesprochen hatte.

Sie mussten erst reden war eine Formulierung, die in ihrer aktuellen Lage alles und nichts bedeuten konnte und die dafür sorgte, dass der Blonde seine innere Anspannung auch nach einem tiefen Durchatmen nicht verlor, denn sein Mann sah nach allem aus, aber nicht nach einem Thema das leichter Kost entsprach.

Clarence wusste zu gut was es bedeutete, wenn Matthew erst reden musste, bevor er weitreichende Entscheidungen traf. Er hatte erst reden müssen, damals in der Villa von Jeyne, weil er dachte er könne ihn nicht heiraten, wenn Claire nicht zuerst die ganze Wahrheit über ihn erfuhr. Obwohl er nach außen hin raff wirkte, selbstbewusst und eingebildet genug um sich seines Werts durch seine Fähigkeiten bewusst zu sein, so sah er an vielen Stellen seinen Wert als Mensch nicht. Zu einem Teil, weil er immer als Arbeitskraft und für Vorteile ausgenutzt worden war die er mit sich brachte, zum anderen Teil, weil er selbst zu wenig an sich und daran glaubte, dass ihn jemand um seiner selbst Willen mögen oder gar lieben konnte.

Das war kein Gefühl oder keine Eingebung die man von ihm bekam, wenn man ihn einfach nur anschaute. Matthew Cassiel Reed und Matthew Cassiel Sky waren beide zwar nicht mehr ein und derselbe Mann, aber sie beide hatten schon immer eine Wirkung auf andere gehabt die es schwer machten hinter die Fassade zu blicken, die Cassie sich über die Jahre hinweg aufgebaut hatte. Nicht mal Clarence hatte damals geahnt wie unsicher sein Partner war, wenn es um bestimmte Dinge ging und den Moment, als der Vorhang das erste Mal gefallen war und die Geheimnisse jenes jungen Mannes offenbart worden waren, würde er niemals vergessen.

Die Art, wie blass und unsicher sein Böckchen schließlich vom Boden aus zu ihm empor blickte, machte Claire Angst und beschwor eben jenes flaue Gefühl in seinem Magen, das er schon damals im Bett der Hurenvilla empfunden hatte. Ein Gefühl, als würden zwei eisig kalte Hände in seinen Innereien herum wühlen, alles in ihm zusammenziehen und versuchen ihn sich so elend fühlen zu machen wie sein Partner aussah; schon immer war es ihm nahe gegangen wenn etwas mit Cassie war und dieses Empfinden hatte sich durch seine wachsenden Gefühle zu ihm mit den Jahren natürlich eher noch verstärkt als ihn einfach kalt zu lassen.

Sein Mann hatte damals erst mit ihm reden müssen, bevor er ihn hatte heiraten können und nun musste er erst mit ihm reden, bevor sie sich Gedanken darüber machen konnten, wann sie worüber mit Lucy redeten.

Schweigend und mit zusammengezogenen Brauen musterte er den Mann, der plötzlich so klein und blass vor ihm am Boden saß und von dem er noch immer nicht im geringsten wusste, was ihm in den vergangenen Wochen und Monaten widerfahren war. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, für den Clarence darüber nachdachte ob ihm während ihrer Trennung ähnliches geschehen sein mochte wie das, wovon Cassie ihm vor ihrer Hochzeit erzählt hatte. Wenn dem so wäre - das wusste der Jäger schon jetzt - würde er sich nie wieder verzeihen können, dass er seinen Mann alleine mit Barclay losgeschickt hatte. Vermutlich mochte es weit hergeholt sein, völlig unwahrscheinlich und unrealistisch; aber genauso weit hergeholt war es mit einem Zeppelin abzustürzen, von einem Berglöwen gefressen, mitten in der Eiswüste vom Clan gefunden zu werden oder nach einer langen Wanderschaft und vielen Auseinandersetzungen eben jenen Mann zu heiraten, mit dem man sich sonst immer in den Haaren hatte.

Vielleicht, so hoffte Clarence, vielleicht waren es andere Dinge, die Cassie so sehr beschäftigten, dass er mit ihm reden musste und sich so elend fühlte. Vielleicht hatte Claire ihn falsch verstanden und sein Mann hatte während ihrer Trennung doch jemand anderen gehabt. Vielleicht hatte er eine Frau geschwängert und würde ihn wenigen Monaten irgendwo in einem Dorf fernab ein Kind erwarten. Vielleicht hatte er sich Feinde gemacht, die auf dem Weg hierher waren um ihn einzuholen und ihn holen zu kommen. Vielleicht war diese… Irre aus Coral Valley ihm wieder erschienen, die ihm damals vier ihrem Ablegen Fotos unter die Nase gehalten und ihn bedrängt hatte.

Eventuell vielleicht.

„Okay“, antwortete er schließlich einsilbig, während er diese und noch zahlreiche andere zahllose Optionen abwägte, nur um sich von dem Gedanken dessen zu lösen was wäre, würde er ihm doch von ähnlichen Erlebnissen berichten wie damals vor ihrer Hochzeit. Cassie hätte sich ihm kaum in den frühen Morgenstunden hingegeben wenn dem so wäre, noch wäre seine erste Option gewesen sich gemeinsam einen Zuber mit heißem Wasser zu füllen, würde es um so ein Thema gehen.

Vorsichtig und nach langem Zögern ließ er sich schließlich neben Cassie auf dem Boden nieder, nahe dem Ofen, dessen Wärme seine kalt gewordenen Innereien einfach nicht erreichen wollte.


Matthew C. Sky

Während Matthew zu Clarence emporblickte war es fast so als könne er seine Gedanken in seinem eigenen Kopf hören. Das Zögern, sein Widerstreben, all die Sorgen. 

Flehentlich sah er hinauf zu ihm während die Angst in seinem Innersten wuchs, dass Clarence sich abwenden würde. Wenn er sich nun nicht neben ihn setzte, wenn er nun beschloss nicht hören zu wollen was Matthew ihm sagen musste… was sollte er dann machen? 

Vieles war leichter geworden seit sie einander hatten, aber manches war nun auch unsäglich schwerer. 

Mit rasendem Herzen und so blass als hätte er einen Geist gesehen hielt der Dunkelhaarige den Blickkontakt aufrecht, so als würde er fürchten, dass Clarence sonst ging. 

Und sollte er so entscheiden, dann wusste Cassiel nicht was er tun sollte. 

Er wird nicht gehen, er hat es vor seinem Gott geschworen‘ 

Dachte Matthew und war doch nicht davon überzeugt, dass jenes Gelübde seinen Mann nun hier bleiben ließ. 

Aber schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, stimmte der Blonde zu und setzte sich neben ihn auf den Boden.

Clarence sah schrecklich verunsichert aus, ein Ausdruck der ihm nicht gut stand und der Matthew schmerzte. 

‚Es wird ihm noch schlechter gehen, wenn er dir zuhört.‘

rief ihm ein garstiger Gedanke zurück ins Gedächtnis, als würde Matthew das nicht selbst wissen. 

Aber wie sahen seine Alternativen aus? Schweigen und die Sache mit sich ausmachen? Schweigen und alleinig Konsequenzen ziehen? Oder schweigen und nichts tun?

‚Das kann ich nicht.‘ - und nein, nichts tun würde er nicht können. Niemals. 

Gedankenverloren und aufgewühlt rieb sich Matthew über den Unterarm, während er in die Flammen starrte ohne sie wirklich zu sehen. Wo sollte er anfangen?

‚Wenn du dich einer schmerzlichen Wahrheit stellen musst, dann stell dich ihr besser früher als später.‘ - das hatte er irgendwo mal gehört. Wer hatte ihm das gesagt? 

Der gütige Mann? Sein Vater, Le Rouge? Oder irgendein anderes Arschloch das sich für besonders geistreich gehalten hatte?

Matthews Mund fühlte sich trocken an, aber würde er jetzt aufstehen um sich etwas Wasser zum trinken zu holen, wusste er nicht ob er nochmal den Mut finden würde den Anfang zu machen. Kurz sah er neben sich, Clarence saß dicht bei ihm und schaute in das weggesperrte Feuer hinter der Ofenscheibe. Er sah elend besorgt aus aber er hatte sich zu ihm gesetzt. Und wenn Clarence sich der Anspannung stellen konnte, dann konnte Matthew das auch. 

Dann musste er.  

In der kleinen Wohnung war es still geworden, nur das Prasseln des Regens und das Knacken der hölzernen Scheite im Ofen waren zu hören, bis Matthew schließlich die Stimme erhob. Sie hörte sich nicht ganz so fest an wie sonst, aber auch nicht brüchig oder verweint. 

„Der Mann der mich nach dem Angriff des Muties gefunden hat… der mich gerettet hat… er reiste mit einer Gruppe Leute. Er nannte sie das Schweigende Volk. 

Dieser Mann…“, kurz zögerte er und suchte nach den richtigen nächsten Worten, aber es war nicht so leicht sie zu finden. 

„Er kannte meinen Namen ohne, dass ich ihm sagen musste wer ich bin. Er kannte auch deinen Namen und den von Adrianna und Cam.“ - zögerlich sah er nochmal kurz zu Clarence, bevor er wieder zurück in das Feuer blickte. 

„Und er kannte den Namen von Nagi Tanka. 

Nathan Abaelarus.“ - den Namen des Mannes spie er aus als sei er vergiftet - und ja irgendwie traf das sogar den Kern der Wahrheit. 

Unbewusst schob Matthew dem Ärmel seines Pullovers ein Stück empor. Ihm war warm geworden und die Aufregung tat ihr Übriges. „Als ich wieder bei Kräften war… hat er mich Dinge gefragt… über früher.“ - Früher war ein dehnbarer Begriff, das wusste er selbst - aber welches Früher er genau meinte, fiel ihm schwer zu formulieren. 

Das unstete Reiben über seinen Unterarm wurde zu einem nervösen Kratzen, von dem er sofort abließ als es ihm selbst bewusst wurde. 

„Über ganz früher.“, scheu sah er zu Clarence um zu prüfen ob er ihn verstand und als er ganz kurz seinen Blick aufgefangen hatte, sah er sofort wieder weg. 

Die Vergangenheit um die es ging würde für den jungen Mann immer das dunkelste Kapitel in seinem Leben darstellen und es war noch immer schambehaftet - und würde es wahrscheinlich auch immer sein. 

Das Schweigen das nun von ihm ausging war erstickend und von einer finsteren Festigkeit. 

Ein Scheit im Ofen knackte laut, verzehrt von den Flammen… als wollte es Matthew mahnen endlich weiterzusprechen. 

„Er hat nicht alles gewusst… aber er hatte von vielen Dingen eine… Ahnung. Ich hab ihm zuerst nicht viele Antworten gegeben. Keine eigentlich. Aber als er mir erzählt hat was er wusste… oder sich zusammengereimt hat… Da hab ich angefangen ihm Fragen zu stellen und… seine Antworten waren… nicht das, was ich erwartet hatte.“, er schluckte hart und kratze wieder über seinen Unterarm, eine unsägliche Marotte, geboren aus Unsicherheit und Nervosität. 

Mittlerweile war er wieder so angespannt wie vorhin in der Gasse, nicht weil er Angst hatte, sondern weil die Dinge einfach nicht wahr sein durften - und es dennoch waren. 

Sie waren real und jetzt würde er diese zerstörerische Realität auch in Clarence‘ Leben bringen. 

„Er wusste was in… in White Bone war. Er w-wusste von dem H-Heim und den…Jungen.“ ein Schaudern ließ ihn erzittern, denn die Kälte war zurück in seine Knochen gekehrt. „Er wollte wissen… ob ich… geholt w-wurde, ob m-meine Mutter…Rosalie Reed war.“ zögernd presste er die Lippen aufeinander und zwang sich, weiter eisern in die tanzenden Flammen zu sehen. 

Ein trostloses Lachen verließ seine Kehle kurz darauf, so unsäglich bitter und kümmerlich, dass es sich surreal anhörte. „Er fragte wie der M-Mann hieß der mich erholt hat. Ob er sich der Edle nannte oder so etwas in der Richtung. Ich sagte ihm, dass sich der Typ als gütiger Mann vorgestellt hat und wir waren uns einig, dass das mindestens so ein beschissener Name war wie der Edle.“

Das freudlose Lächeln auf seinen Lippen war längst wieder vergangen, geblieben war ein Ausdruck von Schmerz. 

Clarence saß noch immer schweigend neben ihm, erfüllte das Versprechen um das Matthew ihn zuvor gebeten hatte mit eiserner Disziplin, obgleich er noch immer nicht wissen konnte was Matthew ihm hier eigentlich genau mitteilen wollte.

Der Dunkelhaarige verfiel neuerlich in Schweigen, hing seinen unausgesprochenen Gedanken nach, gefangen in Erinnerungen die längst vergangen und doch noch immer präsent waren - und immer präsent sein würde. 

Niemand verließ White Bone so wirklich.  

„Und dann… dann hat er mir eine Fibel gezeigt. Du weißt schon… Symbole die für Begriffe stehen, für Leute die nicht lesen können.“ - seine Stimme klang wieder fester, aber Matthew fühlte sich selbst wie weit, weit fort. 

Er war nicht hier in der Wohnung mit Clarence, er war irgendwo an jenem dunklen Ort in seinen Erinnerungen. 

Fibeln wie die, die er eben erwähnt hatte waren keine Seltenheit. In einer Welt in der ein Großteil der Bevölkerung nicht lesen konnte, hatten sich bestimmte Symbole etabliert die überall verstanden wurden. 

Messer und Gabel die sich kreuzten standen für ein Gasthaus, ein stilisiertes Bett für Übernachtungsmöglichkeiten. Fand man ein Wappen mit Herz an einem Gebäude oder Wegweiser wusste man, hier konnte man gegen Geld Gesellschaft für die Nacht kaufen…

Unzählige dieser Zeichen gab es, viele universell verständlich - andere speziell und nur für einen bestimmten Kreis Eingeweihter verständlich. 

Jägerclans etwa hatten oftmals ihre eigenen Symbole, was logisch war, bestanden doch auch die Mitglieder jener Gilden mehrheitlich aus Analphabeten.  

Die kleinen Zeichnungen unterschieden sich immer in ihrer Ausführung. Jedes gezeichnete Bett sah ein bisschen anders aus und auch wenn es Symbole gab, die immer die selbe Bedeutung hatten, so waren die Bildchen doch so individuell wie ein Fingerabdruck. Je nach Zeichner. 

„Es war eine Fibel…“, Matthew stockte und er zwang sich dazu, das unbewusst wieder aufgenommene Kratzen seines Armes einzustellen, auf dem bereits dunkle Striemen entstanden waren. Er grub die Finger nun in den Saum des Pullovers und zwar so fest, dass sich die Knöchel seiner Finger weiß von der restlichen Haut abhoben. Und als er den Blick endlich von den Flammen nahm, da war sein Gesicht ebenso bleich. 

Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten und seine Iriden waren zwei glänzende Onyxe die in Schmerz und Verzweiflung schwammen. 

„…eine Fibel der American Kestrel.“, führte der junge Mann mit leiser, eindringlicher Stimme aus. 

„Und ich h-habe einige… einige der Symbole erkannt. D-das Schaf, d-den R-Raubvogel…, den W-Wolf der für…Bestien steht.“ - Matthew sah eindringlich zu seinem Mann, zitternd und aufgewühlt, aber er sprach weiter. Sprach aus was offensichtlich war und was doch unbegreiflich war. 

„D-dein Lehrmeister, Nagi T-Tanka…, Nathan Abaelarus… und der gütige Mann… s-sind ein und die selbe Person.“

Nun wischte er sich kurz mit dem Handballern über die Augen, vertrieb die Tränen die sich gelöst hatten. Seine Lippen zittern wie sein ganzer Leib. 

Wie sehr Matthew unter Strom stand, wie sehr sein Herz raste… man konnte es nur erahnen. 

„Ich m-muss wissen…w-was davon seine Frau wusste und wer vielleicht noch eingeweiht war und w-wenn…“, seine Stimme wurde dunkler, trotziger aber auch brüchiger.

 „…wenn sie… auch nur ein bisschen was wusste, ein bisschen geahnt hat…w-was ihr Mann tut oder… g-getan hat… d-dann bring ich sie um, Claire. Ich bring sie um und j-jeden der es w-wusste. Und w-wenn das bedeutet, dass der Clan zerbricht… oder mich jagt, dann… dann werde ich mit den Konsequenzen leben.“, nun zitterte er heftiger, doch den Blick wandte er trotzdem nicht ab. 

Ich…“ Matthew schüttelte den Kopf und schniefte, wischte erneut die Tränen fort und rang sichtlich um Fassung. 

„Ich s-sehe was dir… all d-das hier bedeutet Claire und ich… ich w-wünschte ich k-könnte einfach hier bleiben. Ich wünschte ich würde nicht w-wissen wer er war.“ - das hätte es leicht gemacht in der Stadt Fuß zu fassen und anzukommen. „Aber ich k-kann… die Sache n-nicht ruhen lassen, ich muss wissen w-was sie wusste. Auch w-wenn das bedeutet, dass…“, hilflos zuckte der Jüngere mit den Schultern. Er musste nicht aussprechen was die Konsequenzen wären. 

Konsequenzen die er nicht allein tragen würde, nun da Clarence es wusste. „Es t-tut mir leid….“ 


Clarence B. Sky

Ernste Gespräche zu führen war etwas, das dem Blonden einfach nicht lag. Schon als Kind, aufgewachsen in einem strengen Umfeld mit einem autoritären Großvater der sich mit Vorliebe in die Erziehung seines Enkels einmischte, waren ernste Gespräche nie etwas Gutes gewesen. Und später, als Ephraim Bartholomy Sky nicht von der Nachtwache zurückgekehrt war, waren ernste Gespräche meistens zu etwas geworden, die mit Hiobsbotschaften einher gingen.

Auch jetzt fühlte er eben jene Anspannung in seiner Brust, die einem das Atmen und Denken schwer machte wie eine Schnürung, die verhinderte, dass einem das Herz regelrecht schlug und sich einem die Lungen mit kühler Luft füllten, die einem die Gedanken wieder rein wuschen. Was blieb war das Prasseln des Regens gegen ihre Fenster und das Knistern der Holzscheite im Ofen, die ihr Dasein gänzlich unberührt von den Dingen fristeten, von denen Matthew zu sprechen begann. Von einem schweigenden Volk, einem Mann der alle ihre Namen wusste doch selbst keinen besaß und von Nagi, der Teil seiner Geschichte war - und eigentlich nicht derer des Jüngeren. Von ganz früher, einer Zeit wegen der sich der Blonde schon Sorgen gemacht hatte bevor er sich auf dem Boden mit angezogenen Knien wiedergefunden hatte und die ihn nun tatsächlich einholte, jedoch nicht auf die Weise, wie er sie am meisten gefürchtet hatte - zum Glück, sollte man meinen. Aber was hatte das schon mit Glück zu tun, was Matthew damals geschehen war.

Seine blaugrauen Iriden starrten ins Feuer, fast so als könnten die Flammen ihm eine Antwort auf die Fragen geben die in seinem Kopf herum schwirrten oder ihm bildlich machen was Cassie meinte, denn vorstellen konnte er es sich nicht. Nicht, weil er es ihm nicht glaubte - sondern weil seine Vorstellungskraft über eine gewisse Grenze nicht hinaus ging; Gott sei Dank, denn eben diese fehlende Fantasie war es, die ihn schon von Anfang an immer vor schlimmen Bildern bewahrt hatte, die ihm ansonsten zweifelsohne im Kopf herumgespukt wären.

Seine gesunde Distanz, die er schaffte zu wahren angesichts dessen was seinem Mann in frühester Kindheit widerfahren war, war es, die ihn den Dunkelhaarigen noch nie anders hatte behandeln lassen nachdem er in das Geheimnis eingeweiht worden war, das Cassie mit sich herum schleppte. Matthew war für ihn nie zerbrechlicher gewesen als vorher, hatte sich in seinem Wert für ihn verändert oder war zu etwas geworden, das Clarence zerdenken musste, weil er ansonsten nicht mehr anders mit Cassie umzugehen wusste.

Der junge Mann, der nach außen hin nicht wirkte als hätte er all das je erlebt - sympathisch, gesellig, vor ihrer Beziehung selten ohne nächtliche Begleitung - war in seinen Augen nie ein anderer geworden, nachdem er Clarence eingeweiht hatte. Wäre das anders gewesen, hätte der Jäger je explizite Bilder vor Augen gehabt? - Vielleicht.

Es gab keine namenlosen Gesichter, keine Fratzen die ihn nachts verfolgten nachdem er die Augen geschlossen hatte und keine Träume die ihn heimsuchten, um seinen Umgang mit dem einstigen Söldner zu verderben… und doch - was all die Zeit so gut funktioniert hatte, wurde nun auf die Probe gestellt, als sein Wissen ein Gesicht bekam.

Ein Antlitz, das er kannte.

Clarence erinnerte sich an jede Falte in Nagis Gesicht, an jedes Haar, an jeden Blick der strengen Augen, die schon die ganze Welt und alles darüber hinaus gesehen hatten. War dieser Mann, dieser Unmensch dazu fähig weit schlimmere Dinge zu tun als jene, die er den Mitgliedern des Clans angetan hatte? - Vielleicht.

Sein Blick wanderte von den lodernden Flammen hinüber zu Matthews Arm, auf dem sich die gekratzten Striemen bereits dunkel von der fremden Haut abhoben und Clarence langte schließlich wortlos nach Cassies Handgelenk um ihn festzuhalten, als er ein weiters Mal drohte an sich herum zu kratzen.

Es fiel ihm schwer ihn anzusehen, so sehr schmerzte es den Blonden seinen Mann in solch einer Verfassung zu sehen. Weinend, wie ein zitterndes Bündel saß er da, aufgelöst in seinen Gedanken und Ängsten die Clarence noch nicht alle zuordnen konnte, da sich zwischen der Erkenntnis der fremden Worte diese abstruse Sorge des Jüngeren mischte, was Clarence nur davon halten möge. Nicht immer verstand er die Gedankengänge des Mannes, den er früher als Schnösel und Schürzenjäger betitelt hatte und der längst etwas anderes und so viel mehr für ihn geworden war als nur die Summe seiner Teile.

Abwechselnd blickte er zwischen den verweinten kandisfarbenen Iriden umher, suchte in ihnen einen Funken von… von etwas, von dem er selbst nicht wusste was es war. Nagi Tanka war ein Thema, mit dem er schon vor langer langer Zeit abgeschlossen hatte und das ihn emotional nicht mal dann wieder eingeholt hatte, als sie hier in Falconry Gardens angekommen waren und er von seiner Frau und seiner Tochter konfrontiert worden war.

In seinem Kopf herrschte Leere und gleichzeitig rauschten so viele Gedanken laut durch ihn hindurch, dass das Chaos beinahe unerträglich war. Doch zwischen all dem war Matthew, sein Mann, sein zerbrechliches Böckchen, das sich die Arme voller Striemen gekratzt und sein Gesicht mit eben solchen Tränen entstellt hatte, wie Clarence sie eigentlich gehofft hatte nie wieder an ihm zu sehen.

Noch immer hielt er Cassies Unterarm fest umgriffen und es dauerte noch ein paar Augenblicke während denen er versuchte seine innere Unruhe zu sortieren, bis er schließlich sachte den Jüngeren zu sich hinüber zog, um ihn vorsichtig in der entstandenen Kuhle zwischen Brust und Knien zu betten. Er verstand nicht annähernd all das, worum es ging; nichts vom schweigenden Volk, von dem namenlosen Mann der sie alle kannte oder was das genau für ein Buch war, das er Cassie gezeigt hatte. Doch was Claire verstand war, dass nichts, aber auch rein gar nichts auf der Welt war so schlimm wie das Gefühl mit seiner Angst und seinen Gedanken allein zu sein umgeben von Menschen und noch schlimmer sich einsam zu fühlen unter denen, die man liebte.

Doch Matthew war nichts von all dem.

Vorsichtig ließ er den Jüngeren schließlich los und schlang er seine Arme stattdessen um ihn, einen über seine Flanke gelegt und einen unter seiner Brust hindurch geschoben, den Dunkelhaarigen eng an seine Brust drückend und ihn an sich haltend so behütend wie es sonst vielleicht nur eine Mutter mit ihrem Säugling tat. Natürlich war sein Mann kein Kind mehr, aber aber er teilte sich eine Zerbrechlichkeit mit ihnen, ein und dasselbe gebrochene Herz, das man ihm damals verletzt und das ihn seitdem ein Leben lang begleitet hatte.

Ist schon gut“, wisperte Clarence schließlich, das erste Mal nach dieser langen Ewigkeit wieder leise seine Stimme erhebend, und hauchte ihm einen bestimmenden Kuss auf die Schläfe um seine Tränen fort zu küssen. Nicht, weil sie nicht angebracht waren - sondern weil es schlimmer war seinen Mann so zu sehen als sich all die Dinge anzuhören, die er ihm zu berichten hatte.

Er fühlte sich, als hätte sich all das Gesagte einen Weg in seinen Kopf gebahnt ohne richtig dort anzukommen, ohne dass es gesackt war. Wie unbeständige Festzen zogen die Gedanken durch seinen Kopf und hinterließen etwas in ihm, das Clarence nicht greifen oder begreifen konnte und vermutlich war es genau das, was so schwer machte zu definieren, was er fühlte. Die fehlende Greifbarkeit für etwas, das sich seiner Fantasie entzog und das aber auf seine Weise genau richtig war um einen halbwegs nüchternen Kopf zu behalten um das zu leisten, was gerade am dringendsten notwendig war: Ein klarer Gedanke, der sie davon abhielt dumme Dinge zu tun, die viel besser gelaufen wären wenn man sie schlau angegangen wäre.

Du weißt, dass ich jeden umbringen werde, der dir auch nur ein Haar krümmt. Das schließt die nicht aus, die in irgendwelche Pläne eingeweiht sind“, erhob er nach einer Weile wieder leise seine Stimme. Es mochte ihm damals missfallen haben, aber auch Sally Mitchell hatte aus solchen Gründen ihr Leben lassen müssten und seine Loyalität zu seinem Ehemann hörte nicht auf, nur weil sie hier in einer Stadt waren, wo man ihn kannte.

Vorsichtig streichelte er die fremde Flanke empor über Matthews Hals hinweg, strich ihm das dunkelbraune Haar hinters Ohr und mit den Fingern schließlich durch die dunklen Strähnen hindurch. Dick und samtig war sein Haar, als hätte es nicht wochenlang ohne irgendwelche Pflege in der Wildnis auskommen müssen und obwohl es länger war als er es in Erinnerung hatte, hatte sich weder das Gefühl auf seiner Haut verändert wenn er mit den Fingern hindurch kämmte, noch der Geruch.

Und du weißt, dass Nathan Abaelardus tot ist. Ich habe Nagi mit meinen eigenen Händen getötet und dafür gesorgt, dass nichts von ihm übrig bleibt, das durch irgendeine dunkle Macht oder schwarzen Zauber wieder zum Leben erweckt werden könnte. Er ist so tot wie man nur sein kann und nichts auf dieser Seite oder der anderen bringt ihn je wieder zurück.“

Vielleicht war es ein Trost für Matthew, vielleicht auch nicht. Clarence wusste es nicht. Aber alleine die Vorstellung, dass sich an diesem Punkt der Kreis eventuell vielleicht geschlossen hatte und er mit seinen Händen ein Kapitel beendet hatte, das so lange dunkel und zerstörerisch über seinem Mann gelegen hatte, erfüllte ihn posthum mit Genugtuung.

Sacht und unaufhörlich streichelte er über Cassies Schläfe und durch sein Haar hinweg, während er ihn mit einem Arm noch immer an seine Brust gedrückt hielt. Was er ihm anvertraut hatte, war noch immer nicht in voller Intensität bei ihm angekommen und womöglich würde es eine lange, wache Nacht lang dauern bis die kalte Realität auf ihn niedergeprasselt war und sie sein Bewusstsein unauslöschlich bis in die letzte Ritze mit dem Unglück erfüllt hatte, das sich gerade unaufhaltsam in ihr Leben schlich.

Aber Mo‘Ann ist schlau. Intelligent und gebildet. Wenn sie etwas weiß… dann weiß sie es nicht erst seit gestern. Und wenn dem so ist, hat sie über die Jahre die perfekte Maske aufgesetzt, die sie nicht für dich von jetzt auf gleich sinken lässt“, fasste er das Offensichtliche zusammen und half sich selbst mit seinen nüchternen Überlegungen, das Gesicht Nagi Tankas nicht tiefer in seine Erinnerung sinken und sich mit dem vermischen zu lassen, was er über Matthews frühere Erlebnisse wusste. „Dann brauchen wir einen Plan… und vielleicht einen solchen, der auch schon Nagi ausradiert hat. Vergiss nicht, dass wir hier genug Freunde haben, die ihn nicht besonders gut mochten - und die seine Frau vielleicht auch nicht besonders gerne mögen. Du bist jetzt nicht mehr alleine“, rief er ihm leise ins Gedächtnis, denn auch wenn Cassie sich mit all seinen Erinnerungen so fühlen mochte, durfte er nicht vergessen, dass er kein kleines Kind mehr war, das sich nicht gegen das wehren konnte was ihm widerfuhr. Er hatte Freunde, Verbündete - und einen Ehemann. Das war um Weiten mehr als Mo’Ann noch besaß.

Weich und warm hauchte er ihm einen weiteren Kuss auf die Schläfe und hielt ihn so behütend bei sich wie er nur konnte. Wenn er eines gelernt hatte, dann, dass er nicht gut im Reden sein musste wenn er für Matthew eine Stützte sein wollte; es ging darum einfach da zu sein, ihn anzunehmen und zu verstehen statt ihn einfach nur sich selbst offenbaren zu lassen und nicht zuletzt darum einander mit all dem zu respektieren was sie waren oder auch nicht.

Brummend betrachtete er im Schein der tanzenden Flammen seinen Mann. Clarence hatte einen Kloß im Hals, doch mehr noch als ihm damit Tränen abzuringen, schmerzte ihn der Klumpen, der sich auf seiner Brust anfühlte als hätte jemand einen Zentner Steine auf dem herzen abgeladen. Der gütige Mann war eine dunkle Figur, die ihm durch unbeschreibliche Taten in Erinnerung geblieben war und eben jener Person das Gesicht Nathans aufzusetzen ein Prozess, durch den sein Kopf mit schmerzhafter Gewalt hindurch gepresst wurde wie durch einen Fleischwolf, an dessen Ende die unschöne Wahrheit heraus bröckelte.


Matthew C. Sky

Was es hieß nicht alleine zu sein, was es bedeutete wirklich alles mit einem anderen Menschen teilen zu können und wie es sich anfühlte auch in den Momenten größter Schwäche einfach schwach sein zu dürfen - all das und noch viel mehr - hatte Matthew erst durch Clarence gelernt.

Er hatte viele Männer kennengelernt die sich für groß, gebildet und überlegen gehalten hatten. 

Riesen waren sie gewesen, ihm in jeder erdenklichen Hinsicht voraus und so mächtig, dass man ihnen nicht widersprechen wollte. 

Heute wusste er, dass diese Männer niemals wirklich groß gewesen waren, sie waren ihm nur so erschienen, weil er selbst so klein gewesen war. 

Le Rouge, der vielleicht sein Vater war, hatte ihn in Algebra unterrichtet, in verschiedenen Sprachen und Geographie, er hatte ihm beigebracht wie man mit Pfeil und Bogen umging und wie man ein Pferd so geschmeidig ritt, als sei man eins mit dem Tier. Er hatte ihm gezeigt wie man unsichtbar wurde, wie man las und wie man Waffen pflegte. 

Doch genau jener Mann hatte ihn auch geschlagen, seine Hände und Arme über offenes Feuer gehalten, ihn geschnitten, ihn gejagt und letztlich mit mehreren Pfeilen beinah tödlich verwundet. 

Zu vertrauen war etwas, dass Matthew nie gelernt hatte - und keiner der ach so gebildeten und einflussreichen Männer hatten es ihm beigebracht. 

Die Stille in der kleinen Wohnung war wie die Stille unter einem Leichentuch, so stellte es sich der Jüngere zumindest vor. Endgültig und schwer. Kratzig und hart. 

Er hatte Angst vor dem was nach der Stille kommen würde, denn dann erst würde er sehen was er mit seinen Worten angerichtet hatte. 

In den vergangenen Wochen und Monaten in denen Matthew allein gewesen war, hatte er viel Zeit gehabt um darüber nachzudenken was er erfahren hatte. 

Aber manche Dinge ließen sich nicht begreifen und für manche Taten gab es einfach auch keine Gerechtigkeit. 

Nun hatte er Clarence davon erzählt, hatte seine grausame Realität auch zu der des Mannes gemacht, den er liebte.

Jener griff nach seinem Handgelenk und zwang es zur Ruhe und dazu endlich damit aufzuhören sich zu kratzen. 

Es war die erste Berührung seit vielen Minuten und sie war bestimmend und hart. Matt presste die Lippen aufeinander und schwieg, den Blick abgewendet von dem Blonden. 

Seine Tränen waren fürs Erste versiegt, doch es war die Panik die sie ausgetrocknet hatte, als sei er ein kleines Tier auf der Flucht welchem selbst die leiseste Regung zum Verhängnis werden konnte. 

Wenn Clarence nun feststellte, dass er nicht mit dem Mann zusammen sein konnte, der unzählige Male und unter Zwang mit seinem Lehrmeister verkehrt hatte, dann würde ihre gemeinsame Zukunft von jetzt auf gleich ein Ende finden. 

Und selbst wenn der Blonde nicht jetzt diese Konsequenz zog, so würde er es später vielleicht tun. Später, wenn ihm klar wurde, dass er Matthew nicht mehr ansehen und anfassen konnte ohne daran zu denken, was Nagi Tanka mit ihm angestellt hatte.  

Wie versteinert saß Matthew neben Clarence und bis auf das unwillkürliche Zittern seiner Muskeln rührte sich der Dunkelhaarige nicht, so als könne er das Unabwendbare doch vereiteln, wenn er nur still genug ausharrte. 

Natürlich wusste er, dass das Unsinn war und das es nichts geben würde was er tun konnte um Clarence aufzuhalten, sollte dieser beschließen, dass nun Schluss mit dem Irrsinn war, den Matthew mit sich brachte. 

Dieser Ort war so etwas wie sein Zuhause und wenn Clarence wollte, dass das so blieb dann würde er entweder ohne Matthew hier bleiben oder Matthew musste vergessen. 

Würde Clarence das verlangen, würde er ihm sagen, dass sie entweder zusammen hier blieben oder Matthew alleine weiterziehen konnte… so würde er versuchen loszulassen. Er würde alles tun und alles probieren nur damit sie beide weiterhin zusammen sein konnten. 

Aber er wusste schon jetzt, dass er niemals vergeben und vergessen können würde. Nie.

Noch immer schwieg der Mann neben ihm und es kam dem Jüngeren vor wie Minuten und Stunden - quälend lange Augenblicke zwischen warten und bangen. 

Schließlich waren es keine Worte die das erdrückende Tuch zerschnitten, sondern eine Umarmung in die Matthew gezogen wurde und die sofort alle Dämme brechen ließ. 

Wie eine Welle überwältigte Matthew der Kummer und der Schmerz und zu gleich die unbegreifliche Dankbarkeit für Clarence‘ bloße Anwesenheit. Der Wildling wusste nicht welchen Wert er für Matthew besaß aber vielleicht konnte er erahnen wie bedeutsam es für den Jüngeren war nicht alleine zu sein. Die ersten Worte die ehrlich gesprochen wurden, waren beschwichtigend und beruhigend und wurden von einem festen Kuss begleitet.  

Widerstandslos ließ sich Cassiel zu dem Blonden ziehen und drängte sich sofort nähesuchend an ihn. 

Der junge Mann fühlte sich so heillos überfordert, so durcheinander, so ungenügend in jeder Hinsicht

Aber Clarence hielt ihn trotz allen Unglücks das er über sie brachte fest und brachte ihm die wichtigste aller Lektionen im Leben bei - ohne auch nur ein Wort zu sagen. 

Jedoch blieb es nicht bei dem stummen Zuspruch des Älteren, sondern schließlich fand er seine Stimme wieder

„Ist schon gut…“, sagte er leise jene hilflosen Worte die Matthew beruhigen sollten obgleich sie beide wussten, dass nichts gut war. 

Egal wohin sie gingen und egal was sie gedachten zutun, die Vergangenheit holte sie immer ein. 

Still harrten sie weiter auf dem Boden aus, zwei junge Männer gefangen in ihren eigenen Gedanken, bis der Blonde neuerlich das Wort erhob. Keine Floskel war es dieses Mal, kein Seelenpflaster für eine Wunde die sowieso nie aufhören würde zu bluten - sondern eine simple wie auch unumstößliche Tatsache. 

Du weißt, dass ich jeden umbringen werde, der dir auch nur ein Haar krümmt.“ - und ja, Matthew wusste das. Als sie in ihrem Lager eines nachts überraschend angegriffen worden waren, hatte hinterher kein einziger Angreifer mehr gelebt. Matthew hatte in jener Nacht keine gute Figur gemacht, denn im Nahkampf war er weit weniger überlegen als aus der Distanz… Clarence war es gewesen, der ihm sprichwörtlich den Hals gerettet hatte. Der Blonde konnte im Kampf ein Biest werden, unermüdlich, erbarmungslos, endgültig. Auch Sally Mitchell hatte das zu spüren bekommen und die Art wie Clarence nun mit ihm sprach war ruhig und überlegt. 

Er sagte diese Dinge nicht einfach daher, der Blonde rief Matthew die Fakten ins Gedächtnis zurück und scheute sich nicht die Dinge beim Namen zu nennen. 

Wenn es eine Konfrontation geben würde, würde Matt sich ihr nicht alleine stellen müssen. 

Erstmals seit Minuten regte sich der Dunkelhaarige nun etwas in der Umarmung und entspannte sich halbwegs. Sein Liebster streichelte bedächtig durch seinen Schopf, hielt ihn bei sich und spendete ihm das einzige was der Kleinere brauchte:

Die Gewissheit nicht alleine zu sein. 

Anders als er selbst, war der Größere dazu in der Lage die Dinge klar zu bedenken und zu formulieren. 

Der Mann der ihn fortgeholt und ihm unaussprechliche Dinge angetan hatte, dieser Mann war tot. 

Tot und fort. Ausgelöscht wie erkaltetes Feuer von dem nichts geblieben war als dunkler Ruß auf ihren Seelen. 

Und obgleich sein sicheres Ende nichts von all dem Leid und den Qualen ungeschehen machte, welches so vielen Menschen durch ihn angetan worden war, so machte die Gewissheit es für Matthew doch ein bisschen besser. 

Mehr noch als das war es die Beständigkeit seines Mannes die den Dunkelhaarigen etwas beruhigte. Seine Reaktion hätte von Unglauben bis über Wut reichen können, er hätte ihn offen anzweifeln können, er hätte laut und zornig werden können und er hätte gehen können - überfordert und sich uneins. Aber nichts davon tat der Bär, seine Stimme war nicht schneidend oder mahnend und auch nicht reserviert, so wie sie es früher gewesen war, wenn Matthew ihn verärgert hatte. 

Er sprach von Mo‘ Ann, die eine gebildete Frau war. Und er sprach davon nicht mehr alleine zu sein. Wenn sie etwas wusste, wenn sie in irgendeiner Art beteiligt gewesen war an den Untaten ihres Mannes… so würde sie dafür bezahlen - daran ließ der einstige Wildling keinen Zweifel aufkommen. 

Kaum merklich nickte Matthew an seiner Brust und drehte den Kopf leicht, um seinem Mann einen festen Kuss auf den Hals zu drücken. 

Er wusste, dass Clarence Zeit brauchen würde und er wusste auch, dass es noch nicht zu spät war dass der Blonde ihn verließ. Doch für den Moment stand er nicht auf, sondern sie blieben gemeinsam auf dem Boden sitzen. 

„Ich wollte… dich da nicht… m-mit reinziehen.“, sagte der Jüngere nach einer Weile und leckte sich über die salzig schmeckenden Lippen. 

Aber es ging um mehr als nur ihn selber, es ging um den Mann, den sein eigener Mann einst mit einem rostigen Nagel verglichen hatte. Es ging um jenen Dämon, der so vielen Seelen Leid zugefügt hatte, dass er verdient hätte hunderte Male zu sterben. 

Und es ging auch um sie beide. Darum wie und wo sie leben wollten - es Clarence nicht zu sagen wäre Verrat gewesen und wenn Matthew eines war, dann vollkommen loyal zu jenen die ihm nahestanden. Und niemand stand ihm näher als Clarence es tat. 

„Ich liebe dich, d-das weißt du, hm?“ er hob den Kopf aus der Umarmung und richtete sich wieder etwas auf. Seine Augen waren gerötet und glänzten, aber er weinte nicht mehr. Stattdessen blickte er Clarence mit einer Mischung aus Kummer und Hoffnung an. 

„Wir sollten… diese Dinge nicht besprechen müssen. Es s-sollte… schön werden, wenn wir uns wiedersehen.“, sagte er verdrießlich. Eine traurige Feststellung und doch konnten sie an dem was war nichts ändern. Jene Weichen hatten andere für sie gestellt - und das schon vor vielen Jahren. 

„Aber w-wenn es schon so s-sein muss wie es ist, wenn…“, er schluckte hart, sah kurz nach unten und schließlich ausweichend zur Seite, ehe er Clarence‘ Blick wieder auffing: „…wenn all diese Dinge passieren m-mussten… bin ich froh… d-dass sie mich zu dir geführt haben. Damals an d-diesen Baum… und ich bin froh, dass alles danach so… so gekommen ist, wie es jetzt ist. Ohne dich…“, sachte schüttelte Matthew den Kopf und presste kurz die Lippen aufeinander, ehe er sie wieder öffnete und den Satz neu begann. 

„Ich k-kann nicht gut alleine sein. Das weißt du. A-aber wenn ich eins gelernt habe, dann… dass es besser ist alleine zu sein als in der falschen Gesellschaft.“ - eine Lektion, die zweifelsfrei auch sein Mann verinnerlicht hatte. 

„Mit dir… war ich von Anfang an in… der richtigen Gesellschaft.   Dir v-verdanke ich alles und… und noch mehr. Und ich hoffe… ich hoffe so sehr, dass du weißt wie sehr ich dich liebe und das ich ohne d-dich nichts wäre.“

Egal wie die Sache ausging, egal was noch passieren würde, diese eine Wahrheit war längst unumstößlich geworden. 


Clarence B. Sky

Was für Matthew wie die Stille unter einem Leichentuch wirkte - nämlich endgültig und hart - wirkte für den Blonden nicht annähernd so bedrückend.

Es stimmte, kein Wort legte sich zeitweilens zwischen sie und das leise Knacken der Holzscheite im Ofen. Doch anstatt bedrohlich, wie etwa die Stille die herrschte bevor etwas angriff, das lange auf einen gelauert hatte, so wirkte die Ruhe auf Clarence eher vertrauensvoll und mitnichten wie etwas, das ihm Angst machte.

Was das anging, waren sie schon immer zwei sehr unterschiedliche Seelen gewesen. Cassie fürchtete die Stille, ertrug es nicht wenn Clarence ihm nicht antwortete und wenngleich er es früher nie zugegeben hätte, so hatte der Jüngere doch auch immer etwas Angst davor gehabt, dass der Blonde nach einer Trennung in einer der Siedlungen und Städte nicht zum verabredeten Treffpunkt zurück kam.

Doch der Jäger war anders. Die Stille war ihm zu einer Freundin geworden, die er noch aus alten Tagen kannte und die ihn schon immer begleitet hatte. Sie legte sich zwischen verschiedene Passagen von Musikstücken, wenn er mal wieder einen Fehler beim Klavierspiel gemacht hatte und sein Großvater müde geworden war, ihn jedes Mal der gleichen Fehler zu belehren. Sie herrschte auch über seine Wohnstube, während er spät am Abend die Kleider seiner Mutter sortierte und sie schließlich in Holzkisten auf dem Dach einlagerte, weil es keine Gail Sky mehr gab, die sie je tragen würde. Doch vor allem herrschte die Stille über dem Feuer und zwischen Nagi Tanka und ihm, wenige Tage nachdem seine Kinder gestorben und seine zerfledderten Fingerstümpfe in frische Stoffbahnen gewickelt worden waren.

Wenn ihn etwas ängstigte, dann war es nicht die Einsamkeit oder die Stille die ihm so vertraut waren wie anderen das Plätschern des Baches hinter dem eigenen Haus, sondern in dieser Stille ohne den Mann zu sein den er liebte.

Mit Matthew zu schweigen war etwas, das ihm zeigte nicht alleine zu sein, das die Einsamkeit vertrieb die früher stets mit der Abwesenheit von Stimmengewirr einher gegangen war und etwas, das zeigte, dass sie sich auch ohne Worte verstanden. Es musste nicht gesprochen werden zwischen Knacken der Holzscheite und dem leisen Rascheln ihrer Kleidung, als Cassie sich zu ihm drehte um ihm einen Kuss auf den Hals zu geben. So lange wie sie beieinander waren, wussten was der andere brauchte und sie sich hatten, würde alles immer in Ordnung sein. Ganz gleich was war oder eines Tages sein würde.

Du weißt… du hast mich da in nichts mit rein gezogen. Nagi alleine ist es… er ist es, der uns beiden das zumutet. Kein anderer sonst“, erhob Clarence nach einer Weile wieder die Stimme und rieb kurz nervös über sein eigenes Knie. An dem Finger seiner Hand steckte ein Ring, der gleiche wie auch Cassie ihn trug und der Zeichen ihrer schier endlosen Verbundenheit zueinander war. Kein Verleugnen ihrer Beziehung, ja nicht einmal der Absturz eines Zeppelins hatte sie dazu gebracht einen von ihnen zu verlieren und selbst die viermonatige Trennung, die hinter ihnen lag, hatte sie beide nicht an ihrer Ehe zweifeln lassen.

Die aufwendig gearbeiteten Ringe waren jedoch viel mehr als nur ein Versprechen einander zu gehören und in guten wie in schlechten Zeiten über den Dingen zu stehen, die sie bedrückten. Sie waren ein Symbol dafür, dass sie den gleichen Weg miteinander gehen würden und dass ihr Leben das gleiche war, ganz gleich welche Hürden sich ihnen auch auferlegen mochten. Einander Schuld zuzusprechen, im anderen etwas zu suchen das ihnen eine Absolution erteilte sich aus dieser Bindung zu lösen nur um einen Pfad einzuschlagen der vielleicht leichter war als der hiesige, all das gehörte nicht zu den Aspekten die sie einander geschworen hatten und wenn es nach Clarence ging, dann würde es das auch nie.

Sorgsam griff er nach Matthews Hand und hob sie an seine Lippen, um erst einen vorsichtigen Kuss auf den Ring am fremden Finger zu hauchen, doch schließlich zog er auch den ganzen Mann an seinem Arm zu sich heran. Die letzten Zentimeter zwischen ihnen überwindend, suchte und fand er die Lippen des Jüngeren und versiegelte sie nicht minder mit Liebe wie er auch den Ehering seines Partners mit seiner Wärme bedacht hatte, die nicht dadurch erlosch, nur weil es nicht mehr bequem war wie sie sich gebettet hatten.

Natürlich sollte es schön sein, wenn wir uns wiedersehen. Aber… du weißt, wie man so sagt - wo Licht ist, ist immer auch Schatten. Wäre alles okay, wären wir nicht so lange getrennt gewesen. Und würden wir in einer gerechten Welt leben, gäbe es keine Menschen wie Nagi.“

In einer gerechten Welt säßen sie längst auf der sonnigen Veranda in einem idyllischen, friedvollen Ort den sie ihr Zuhause nannten. Gabe würde sich mit den Hunden kabbeln und Lucy weiterhin am Bogenschießen verzweifeln, während Harper sie auslachte und Cordy neben ihrem Vater mit ihrer Puppe spielte.

Doch das Leben war nicht gerecht.

Es holte Jamie, Matthew und all die anderen Kinder. Es nahm einem jede Hoffnung, so wie Nathan Abaelardus einem das Recht auf ein normales Dasein in Frieden nahm.

Konnte Clarence sich vorstellen, dass sein Lehrmeister es war, der all die schrecklichen Dinge aus den Erzählungen seines Mannes getan hatte? Dass er es war, der den unschuldigen kleinen Jungen mit einem Wagen abgeholt und mit seinem Kutscher des Nachts am Boden festgehalten und misshandelt hatte?

Zum Glück nicht, denn ansonsten würde der Blonde zweifelsohne an seiner Fantasie zerbrechen.

Traute er es Nagi Tanka zu?

  • Definitiv.

Adrianna, die bis zu einem ganz bestimmten Tag niemals ein Wort darüber verloren hatte was geschehen war bevor sie auf den Clan getroffen war, hatte ähnliche Dinge über Nagi berichtet, wie sie sich auch mit den Erzählungen des Jüngeren deckten. Die Erinnerung an ihre Worte war es gewesen, die Clarence nach dem Besuch bei Jeyne letztlich in ihrer Villa darauf gebracht hatte welche Alpträume in der Vergangenheit seines damaligen Verlobten lauerten und die ihm begreiflich gemacht hatten, welche Angst und welche Unzulänglichkeit in der Brust des Dunkelhaarigen schlummerten, der sonst stets taff und frech daher redete.

Doch Nagi hatte nie auch nur ein einziges Wort über sie verloren. Nicht über die Rothaarige, noch über eine Farm. Manchmal, an guten Tagen, hatte er sich selbst als gütig bezeichnet - doch auf eine Weise, dass Claire es hätte mit dem gütigen Mann in Verbindung bringen können, den er aus Matthews Erzählungen kennengelernt hatte? - Eher nicht.

Nagi hatte andere Abgründe. Tiefe Kluften, die seine Seele spalteten und ihn zu einem Monster werden ließen, das mit einem Menschen nicht mal mehr entfernt etwas zu tun hatte. Er war ein Mensch, der sich von seiner besten Seite zeigte und hinter der Abgründe schlummerten, die man nur dann an ihm erkannte, wenn er sie bewusst nach außen präsentierte.

Nachdenklich und in sich versunken rieb Clarence mit den Finger über Matthews Ehering, den er ihm damals selbst angesteckt hatte. Immer wieder würde er sich dafür entscheiden seinen Weg mit den Jüngeren zu gehen und sein Leben mit ihm zu teilen, selbst wenn er rückblickend geahnt hätte, was einst auf sie zukommen würde.

Danke, du… du hättest mir davon nicht erzählen müssen. Mit ziemlicher Sicherheit wäre es einfacher gewesen es einfach für dich zu behalten und zu versuchen es zu verdrängen in der Hoffnung, dass es… funktioniert. Irgendwie…“, fasste er schließlich leise das offensichtliche zusammen. Sie hatten nie richtig darüber gesprochen ob die Stadt, in der sein Clan auf seine Rückkehr wartete, ihre Heimat sein sollte, ob sie planten hier zu bleiben oder was sie sich davon erhofften hier anzukommen. Clarence hatte es nicht mal selbst gewusst und würde man ihn fragen, er hätte immer wieder geantwortet, dass sein Ehemann sein Zuhause war und er keinen Ort der Welt brauchte, so lange Cassie bei ihm war - und das stimmte auch.

Und trotzdem spürte er eine Melancholie in sich aufkommen, wie man sie nur dann verspürte wenn man wusste, dass etwas ganz Essentielles einem gerade durch die Finger geronnen und nie mehr zurück kommen würde.

In jeder Straße würde Cassie ihn sehen, den gütigen Mann, die Fratze aus seinen Alpträumen. Er würde sich fragen, ob er vor jenem Schaufenster gestanden oder von jenem Teller gegessen hatte, ob der Bäcker ihn als einen guten Menschen empfunden hatte, was der Clan von Nagi hielt. Er würde in seiner Ehefrau, aber vor allem in dem Gesicht seiner Tochter immer den gütigen Mann vor Augen haben, der letztlich nie etwas anderes gewesen war als ein Monster und gleichzeitig würde dieser Ort hier niemals so richtig das sein, was er ursprünglich hätte sein können:

Ein neutrales Fleckchen Erde, das ihnen alleine gehörte. Völlig unverdorben, unüberschattet von dem was einst gewesen war. Eine heile Welt, in der Gabe eine neue Familie fand.

Es war in einem Gasthaus in Coral Valley gewesen, kurz vor ihrer Hochzeit, da hatte Cassie ihm von dem Leben erzählt, das er eines Tages mit ihm führen wollte. Von einem Hof mit Garten, ein wenig Land, mit Tieren und Kindern die glücklich waren. Nicht gleich, aber in zwei oder drei Jahren vielleicht hatte ihm Matthew prophezeit und so schön wie dieses Hirngespinst auch geklungen hatte, schon damals war ihm klar gewesen, dass es vermutlich niemals so weit kommen würde. Es war eine innere Eingebung, ein untrügliches Gefühl das ihm sagte, dass Fantasie und Hoffnung wichtig war um sich selbst zu erhalten - aber gewisse Wünsche würden nie in Erfüllung gehen, ganze gleich wie sehr man auch an sie glaubte.

Wir haben Nagis Frau vor uns und die Hydra auch nicht hinter uns gelassen. Es ist nach der Sache in Cascade Hill nichts vergleichbares mehr passiert, aber das muss nichts heißen… und was ist mit dieser Irren aus Coral Valley? Mit dieser Harriet, die die Bilder von Rouge dabei hatte? Ganz gleich wohin wir uns drehen und wenden, irgendwas holt uns immer ein“, versuchte er ihren Standpunkt klar heraus zu kristallisieren, doch es zeigte sich nur eins immer deutlicher: Egal wohin sie versuchten zu flüchten, am Ende waren sie doch immer umzingelt. Aus anderen Richtungen vielleicht und von anderen Feinden, doch das war einerlei.

Ich bin so müde, Cassie. Vom Weglaufen… und vom Schlafen in windschiefen Zelten. Von irgendwelchen Schatten, die…“ - Hilflos schüttelte er den Kopf und ließ seinen Satz unbeendet. Selbst Nagi Tanka streckte von der Hölle her seine kalten Krallen zu ihnen aus um sie zu holen, fast so als würden sie nicht mal vor den Toten Ruhe haben, als sei nicht mal das Sterben eine Option um endlich etwas Frieden zu finden.

Wenn wir hier nicht bleiben können… verstehe ich das, dann gehe ich mit dir überall hin, ganz gleich wo das sein mag. Wo du bist, da gehe ich auch hin. Das war schon immer so und wird immer so bleiben. Aber lass uns… lass uns gut überlegen was wir machen, Cassie. Lass uns nicht Hals über Kopf in Schwierigkeiten versinken, bis wir… irgendwann nichts mehr anderes kennen als das. Als das Weglaufen und Kämpfen, als Zelte und schmutzige Siedlungen, in denen wir versuchen was zu verscherbeln was wir gejagt haben“, bat er ihn leise, denn nichts anderes als das waren ihre gemeinsamen Anfänge gewesen. Sie hatten nichts gehabt, keinen Kupferling in der Tasche und nicht mehr als die Kleidung am eigenen Leib, als sie sich kennengelernt hatten. Von Job zu Job hatten sie sich gehangelt und Felle verkauft, hatten ihre Dienste angeboten oder versucht anderweitig Geld zu machen.

Nachdenklich streichelte er über die fremden Finger in seiner Hand und betrachtete die Buchstaben darauf. Lost Soul hatte sein Mann auf den Fingern stehen, Worte die Clarence früher nicht hatte lesen können und die ihn heute nicht weniger schmerzten als damals schon. Er wollte keine solche verlorene Seele sein die kein Zuhause kannte und sein Mann sollte auch keine solche bleiben.


Matthew C. Sky

 

Ich bin so müde, Cassie…“ kreisten die Worte seines Mannes in Matthews Kopf während er schweigend an Clarence lehnte. 

Er liebte diesen Mann so sehr, dass er sich manchmal fragte wie er früher ohne ihn gelebt hatte. 

Aber jemanden zu lieben hieß auch, eine Schwäche für jenen Menschen zu haben und wollte man es so betrachten, dann war Clarence Bartholomy Sky seine größte Schwäche. 

Die Umstände ihres Kennenlernens waren denkbar hässlich und denkbar ungünstig gewesen, aber sie hatten irgendwie das Beste draus gemacht und aus den wenigen Augenblicken Freude war eine Freundschaft entstanden und letztlich eine Liebe, so rein und pur, wie sie in ihrer Welt nur selten zu finden war. 

Nüchtern betrachtet brauchte der Blonde ihn nicht zum Überleben, er konnte auf sich aufpassen, er war ein geschickter Jäger, ein Überlebenskünstler und jemand der auch unter widrigen Umständen bestehen konnte. Und weiterhin nüchtern betrachtet brauchte auch Matthew den Wildling nicht. Er hatte ein Talent dafür sich mit schönen Worten so manche Türe zu öffnen und der rauen Welt zu entfliehen und kam es hart auf hart, dann war er ein erbitterter Gegner. 

Sie kamen beide zurecht und eventuell vielleicht wäre ihr Leben auch einfacher gewesen ohne jene Schwachstelle, die sich Liebe nannte und die dafür sorgte, dass man das Wohl des Anderen stets über das eigene stellte.

Als Clarence sagte, dass er müde war davonzulaufen, da war es Matthews erster Impuls um Verzeihung zu bitten. 

Dafür, dass seine Vergangenheit es war, die sie immerzu verfolgte und ebenfalls immerzu einholte. 

Harriet Greenwood, die angegeben hatte seine Schwester zu sein, die Hydra die in der Bevölkerung unter dem Namen Bruderschaft des Lichts weithin bekannt war, sein sadistischer Vater - der wahrscheinlich auch sein Lehrmeister gewesen war und nicht zuletzt der gütige Mann, der hier in Falconry allen unter Nagi Tanka bekannt war..All diese Gestalten, all diese Leute und Monster die nicht aufhörten ihn zu suchen… sie würden niemals weggehen, sie würden niemals nachlassen. Und sie alle gehörten mehr oder minder zu ihm, Matthew Reed und seit seiner Hochzeit gehörten sie zu Matthew Sky. 

Aber es war nicht der dunkelhaarige junge Mann der allein unter ihnen litt, sondern es traf auch Clarence. Als sei Matthew verflucht und jeder in seiner Nähe ebenso. 

Seine Mutter, Jamie, Brandon, Christopher… sie alle waren in seiner Gegenwart gestorben, lange vor ihrer Zeit und ohne, dass Matthew etwas für sie getan hatte. 

Es brachte niemandem Glück mit ihm befreundet zu sein, eine schmerzhafte Wahrheit die er seit Jahren in seinem Herzen versiegelt hielt und derer er sich gerade umso deutlicher bewusst wurde. 

Ohne ihn könnte Clarence aufhören wegzulaufen. 

Ohne ihn könnte Clarence hier sein Zuhause finden. 

Ohne ihn könnte Clarence das Leben leben für das er geschaffen war. Mit Freunden und Familie, mit einem Dach über dem Kopf und ein bisschen Land zum bewirtschaften. Er könnte frei sein. 

Der Jüngere öffnete den Mund um ihm genau das zu sagen, um ihm nahezulegen es gut sein zu lassen. Ihre Ehe, ihre Beziehung… es war ein süßer Traum gewesen den sie länger geträumt hatten als wahrscheinlich gewesen war, der aber ein Ende finden musste, wollten sie einander nicht im Wege stehen. 

Diese Gewissheit tat weh und doch war sie fest eingenistet in seinem Herzen. Doch statt auszusprechen was er fühlte, was ihn innerlich zerriss, schloss er den Mund wieder und schluckte seine Gedanken herunter bevor sie zu Worten werden konnten.

Ihm mochte nichts auf der Welt heilig sein. Sein Mann aber war es ihm und ihm vorzuschlagen sein Glück bei jemand anderem zu suchen wäre nur eines: Verrat an ihm und Verrat an ihrer Liebe. 

Die einfache Wahrheit war, dass er ohne Clarence nicht leben wollte und dass er lieber versuchen würde über alles Vergangene hinwegzusehen als den Blonden zu verlieren. 

Würde er ihm sagen wie er dachte, ihm vorschlagen sich zu trennen, dann würde der Blondschopf mit aller Vehemenz ihre Liebe verteidigen, würde ihn an seinen Schwur in der Kirche erinnern und ihm ins Gedächtnis rufen, dass weder Gefahren die vor ihnen lagen, noch Dämonen aus der Vergangenheit es schaffen würden sie zu entzweien. 

„Ich…bin auch müde geworden…immer wegzulaufen.“, sagte er schließlich und wusste um die Doppeldeutigkeit seiner Worte. Denn sich zu trennen wäre nichts anderes gewesen als ein Davonlaufen.  

Verdrießlich richtete sich Matthew wieder auf und wischte sich mit der freien Hand kurz über sein Gesicht. 

Sein Blick wanderte wieder hinüber zum Feuer und für eine Weile blickte er einfach nur in die Flammen und sah ihnen bei ihrem Festmahl zu. 

„Die Hydra…oder die Bruderschaft des Lichts…, Nagi Tanka, Rouge, Harriet, Sally…bis auf einen Namen, wurdest du…nur wegen mir in all das mit hineingezogen.“ 

Trotzdem suchte der Ältere seine Nähe, hatte ihn geküsst und umarmt und seine Hände gehalten. Trotzdem hielt er an ihm fest und Matthew wusste, das würde immer so sein. Clarence würde an seiner Seite sein so lange er lebte. Und jene Gewissheit stand in völligem Gegensatz zu dem Kummer und Schmerz der sich während der letzten Monate in seinem Herzen eingenistet hatte. 

„Ich will…dass das aufhört, ich hab es satt umherzuziehen, ich hab es satt verfolgt zu werden von einer Handvoll Leute die mir nichts bedeuten. Ich will mich nicht jede Nacht vorm Einschlafen fragen müssen, ob irgendjemand da draußen versuchen wird uns im Schlaf zu ermorden.“

In jenem Moment, während er in die Flammen blickte und sprach, sah Matthew nicht jung und vital aus, sondern erschöpft und abgekämpft. Nicht nur die letzten vier Monate hatten ihm zu viel abverlangt, sondern auch die Zeit davor. Und zum ersten Mal sah man Matthew die Strapazen wirklich an. Aber noch etwas sah man ihm an: die trotzige Entschlossenheit nicht aufzugeben. 

„Der Mann von dem ich dir erzählt habe, der deine Briefe hatte… er hieß Frank Doolin. Frank Doolin… der Name kam mir nicht bekannt vor, aber sein Gesicht schon. Als ich ihn gesehen habe wusste ich sofort wer er ist. Ich hatte ihn vor zwei Jahren schon mal gesehen. Damals… als Rouge mich einlud seinem Verein beizutreten. Er war ziemlich eifrig mit dabei als es darum ging mich wieder einzufangen“, er lachte kurz freudlos auf, noch immer in die Flammen sehend. 

„Frank Doolin kennt jedes Kind. Allerdings unter dem Namen Le Vert. Wie heißt es in dem Lied? ‚Der Grüne streift durchs Land blablabla, wendet ab die Gefahr?‘“ wieder lächelte er auf die selbe bittere Weise und zuckte die Schultern. „Na wie auch immer… ich hab ihn getötet. Frank Doolin streift nirgends mehr umher. Sicher wissen das seine verbliebenen Leute schon, aber ich hab nicht vor mich weiter vor ihnen hertreiben zu lassen wie ein Hase, der vor einer Schar Bluthunde flieht.“ 

Nachdenklich verstummte der junge Mann nun für einen langen Moment, sortierte seine Gedanken und Gefühle. Die letzten Monate hatte er viel Zeit gehabt zum Nachdenken und er hatte so manche Schlüsse gezogen von denen er überzeugt war es waren die richtigen - verifizieren musste er sie dennoch. 

„Ich hab mich gefragt, Claire… warum ich diese Leute anziehe. Diese… kranken, kaputten Leute und warum es nicht einfach vorbei sein kann, sondern immer neue auftauchen. Wie wahrscheinlich ist es, dass einem Menschen das passiert was mir passiert ist? Wie wahrscheinlich ist es, dass der Mann der mich damals geholt hat, dein Lehrmeister ist und wir zwei heiraten? Wie hoch ist… ist die Chance, dass ausgerechnet du mich an diesem Baum findest? Wie wahrscheinlich ist es, dass all das Zufall ist?“ - erst jetzt wandte Matthew sich wieder Clarence zu und blickte ihm in die Augen. 

„Ich glaube…, was dir und deinen Kindern passiert ist und das… mit mir… ist das Werk ein und derselben Leute. Ich weiß nicht warum und ich kann… es nicht beweisen, aber ich glaube Nagi Tanka war ein Teil der beschissenen Bruderschaft und ich glaube alles was passiert ist seit er mich aus Stillwaters Reach gekauft hat, ist seither…irgendeinem Plan gefolgt.“ - er leckte sich über die Lippen, zögerte kurz und sprach dann zügig weiter. 

„Wir wissen beide, dass es einfacher für dich wäre…wenn wir zwei…getrennte Wege gehen würden.“ - er hatte den Satz noch gar nicht richtig beendet, da öffnete Clarence schon den Mund um ihm ins Wort zu fallen. Hastig hob Matthew seine Hand und legte ihm zwei Finger an die Lippen, ihm weiterhin in die Augen sehend.

„Lass mich ausreden. Du weißt ich habe Recht wenn ich das sage. Aber ich weiß, dass ich nie wieder einen Menschen wie dich finden würde. In keinem Winkel der Welt würde jemand sein, der mich so liebt wie du es tust und den… den ich so sehr lieben könnte wie ich dich liebe. Also…also w-werde ich den Teufel tun und vorschlagen, dass wir uns trennen. Weil ich mich nicht trennen will. Du bist mein und ich bin dein. Für immer und noch länger. Und ich w-werde dich noch immer lieben… s-selbst wenn alle Wünsche sich erfüllt haben und alle Träume geträumt sind.“ - wisperte er und lächelte ein kleines melancholisches aber dennoch aufrichtiges Lächeln, welches auch seine Augen erreichte und seinen Blick weich und liebevoll machte. 

Schließ ließ Matthew die Hand sinken und beugte sich nach vorn zu seinem Mann um seine Lippen mit einem sanften Kuss zu bedenken, ein Kuss der seinen Worten Nachdruck verlieh.

„Wir laufen nicht mehr davon… wir holen uns Antworten, wir stellen uns der Vergangenheit auch, wenn es wehtut. Und wenn… es nichts mehr gibt was uns einholen kann, dann werden wir wissen, dass es sich gelohnt hat mit dem Wegrennen aufzuhören.“

Und in Falconry Gardens würden sie anfangen Antworten zu fordern. Mo‘Ann mochte in die Machenschaften ihres Mannes involviert gewesen sein oder auch nicht, aber etwas musste sie gewusst oder geahnt haben. Und selbst falls nicht, so musste es irgendwelche Aufzeichnungen geben. 

„Nichts was wir erfahren wird mir so sehr wehtun können, wie die zu späte Erkenntnis es verpasst zu haben, mit dir ein Zuhause aufgebaut zu haben. Ich habe… in meinem Leben viele Fehler gemacht, Claire. Aber diesen Fehler werde ich nicht machen.“  

Mit beiden Händen umfing er das Gesicht seinen Mannes, eine Geste die zwischen ihnen vollkommen natürlich war und die dennoch eine Innigkeit symbolisierte wie es sie nur selten zwischen zwei Menschen gab. Sanft kämmte Matthew mit den Fingern durch den gestutzten, blonden Bart und musterte das Antlitz des Größeren intensiv. So viel Zeit lag zwischen ihnen, so viele Erlebnisse, so viel Blut und so viel Verlust. 

Aber sie beide hatten einander nicht verloren. Sie beide waren noch da. Und so lange das so war, so lange bestand auch die Hoffnung darauf, dass alles gut werden würde.  

„W-wenn… du also noch immer willst…dann lass uns überlegen was wir tun. Lass uns… gemeinsam einen Plan machen wie wir an Antworten kommen und wie wir weitermachen.“ - Clarence war das beste was ihm jemals hätte passieren können und es spielte keine Rolle ob ihr Aufeinandertreffen Teil eines Plans der Bruderschaft gewesen war oder nicht. 

„Und wenn ich einen…ersten Vorschlag machen darf…dann wäre mein erster Planungswunsch, eine heiße Dusche mit dir und dass ich mich danach um meine Haare kümmere.“ - das Lächeln das diese Worte begleitete war zwar klein aber es vermisste die Melancholie der letzten Stunden und ersetzte sie durch eine vorsichtige, kecke Zuversicht. Ein Lächeln, welches ihm definitiv besser zu Gesicht stand als die vorangegangenen. 

„Meinst du, wir kriegen das hin?“


Clarence B. Sky

Die Erschöpfung, die Clarence so tief in den Knochen steckte, rührte nicht von ihrer Bindung her oder von dem ganzen Schund, den sie ständig anzogen. Es war nicht die Hydra, die ihn auslaugte, die Zusammenhänge zwischen Nagi und dem gütigen Mann oder die ominöse Harriet, von der sie nie wieder etwas gehört haben.

Was ihn so müde machte, war einzig der Gedanke daran und die Angst davor, in absehbarer Zeit schon wieder ein normales Bett und ein trockenes Dach einzutauschen gegen die Wildnis und eine Flucht, von der sie nicht wussten wohin sie sie führen sollte. Matthew fasste seine Bedenken schließlich treffend zusammen und Erleichterung machte sich in Clarence breit, dass sein Mann ihn nicht etwa missverstand und dachte, er wäre ihrer Ehe oder des Jüngeren müde geworden.

Seit Monaten schon taten sie nichts anderes als herumzuziehen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Auf eine Rettung aus Denver die nie kam, weil kein Hilfszeppelin die Absturzstelle je aufgesucht und gefunden hatte. Auf irgendwelche Fremden, welche die Route ausgerechnet und nachgereist waren, um die Trümmer zu suchen. Ja nicht mal Plünderer waren den Gerüchten um ein mögliches Wrack gefolgt, das potentiell voll von Wertgegenständen sein konnte die niemandem mehr gehörten und trotzdem waren sie auf sich alleine gestellt gewesen in einer Geisterstadt, die an vielen Tagen nicht mal ein Tier zu bieten hatte, das man jagen konnte.

Ihre Vorräte waren so schmal gewesen wie die Handgelenke der Kinder es irgendwann gewesen waren und selbst wenn aus Lagern aus lose zusammengewürfelten Decken irgendwann ein altes Motel mit Bettgestellen geworden war, waren es keine Matratzen gewesen, die sie hatten besser schlafen lassen. Die Angst verfolgt zu werden oder überfallen von den Einheimischen, die hatte sie in jeder Nacht verfolgt und hätte sich nicht immer jemand gefunden der nachts eine Wache auf der Straße übernahm, womöglich hätten sie selbst in dem doch recht sicher anmutenden Gebäude kein Auge zugetan.

Clarence brauchte nicht sofort ein Zuhause. Er brauchte keinen Platz an dem sie sich so wohl fühlten, dass sie beschlossen dort zu bleiben bis ans Ende ihrer Tage. Alles was er wollte waren ein paar Tage, friedvoll und in einem richtigen Bett mit richtigem Essen und einem richtigen Ofen - und Nächte, in denen sie beiden beieinander liegen konnten, ohne, dass jemand von ihnen draußen vor der Tür Wache halten musste. Er wollte neben Cassie einschlafen und aufwachen, wollte sich erholen von dem was war… und wieder zu Kräften kommen nach all den Sorgen, die er wegen Cassies vermeintlichem, potentiellen, aber nie bestätigten Tod gehabt hatte. Schon morgen oder übermorgen kopflos Mo’Ann zu überfallen, ohne Plan an dem sie sich orientierten und ohne Lösungen die sie für mögliche Probleme hatten, würde ihnen womöglich das letzte Quäntchen Kraft rauben das sie noch hatten und ihnen die allerletzte Ressource nehmen, die sie fernab von sich selbst besaßen: Nämlich Verbündete, einen halbwegs sicheren Ort und vor allem Indizien, die sich zweifelsohne in der Stadt finden lassen würden, zu der Nathan Abaelardus all die Jahre immer wieder zurück gekommen war.

In diesem Moment sah Matthew das erste Mal seit seiner Ankunft so erschöpft aus wie Clarence sich fühlte und noch während sein Mann nach vorn gelehnt in die tanzenden Flammen des Ofens starrte, so als könne er darin Antworten auf all ihre Fragen finden, legte der Blonde ihm eine Hand auf den Rücken, um sanft darüber hinweg zu kraulen.

Von dem Grünen und einem Lied sprach er, das Cassie ihn vor einiger Zeit mal vorgesungen hatte, ohne dass er sich jetzt noch daran erinnern konnte. Matthew war ganz empört gewesen, wie Clarence die Legenden um die Bruderschaft des Lichts und die zahllosen Kinderlieder um die sagenumwobene Bagage nicht kennen konnte - doch auf der anderen Seite konnte Cassie ihm vermutlich auch nicht eine einzige Zeile aus der Bibel fehlerfrei rezitieren und damit waren sie dann wohl quitt.

So viel lag ihm auf der Zunge was er sagen wollte, noch mehr noch sogar, als der Jüngere schließlich Zusammenhänge zwischen Nagi Tanka und der Bruderschaft des Lichts zog. Zwischen den Menschen, die Cassie letztlich durch den Wald und damit zu ihm getrieben hatten und dem Mann, der ihm die schlimmsten Jahre seiner Kindheit beschert, aber auch den Blonden aus dem Madman Forrest geführt hatte. Die Informationen, die sich an diesem einen Abend zwischen ihnen zusammentrugen - ganz gleich ob es um die Männer ging, die sie zweifelsohne miteinander verbanden, oder aber um Gabriel - überschlugen sich zunehmend in ihrer Masse und mit jedem Wort, das sein Mann sprach, schienen neue Aspekte und Zusammenhänge ans Licht zu kommen.

Doch unter all dem Chaos, das zwischen ihnen herrschte, war eines zunehmend offensichtlich:

All die Last trugen sie nicht alleine, sondern zusammen. Das würde auch immer so bleiben.

Die fremden Finger noch immer auf seinen Lippen, vergaß Clarence schließlich zur Gänze was er hatte sagen und dass er hatte beanstanden wollen, wie selbstverständlich Cassie ihre Eheschließung in die Wahrscheinlichkeit einreihte ihn im Wald zu finden und dass ihre Lebenslinien an Nagi Tanka zusammenliefen. Wenn Matthew eines niemals hinterfragen durfte, dann war es ihre Ehe - denn bei Gott, der kleine Taugenichts wusste wie steinig ihr Weg bis hierher gewesen und dass nichts an ihren Gefühlen füreinander selbstverständlich war.

Ruhelos kaute Clarence an seinen Lippen während der Jüngere auf ihn einsprach. In seinen kandisfarbenen Iriden erwachte langsam die Flamme der Euphorie und das Wissen darum, dass sie so ziemlich alles schon immer geschafft hatten, wenn sie die Dinge nur zu zweit angegangen waren statt alleine. Eine seichte Gänsehaut hatte sich auf seinen Armen breit gemacht und seine feinen hellen Haare unmerklich unter dem Pullover aufgestellt, während sich in Claires Magengrube eine Wärme konzentrierte, die er in den vergangenen Monaten so sehnlich vermisst hatte.

Weißt du, an wen du mich gerade erinnerst?“, hob er schließlich leise die brummende Stimme und knüpfte nicht etwa an den Fakten an, die Cassie eben miteinander verbunden hatte. Still musterte den Jüngeren, wenigstens für die Dauer eines kurzen Augenblicks, aus dessen Gesicht die Verdrossenheit zunehmend wieder gewichen war. „An den jungen Mann aus Coral Valley, der so voller Tatendrang ist. Der zu mir gesagt hat, wir sollten uns um die losen Enden unserer Vergangenheit kümmern, damit wir frei und ohne Altlast in eine gemeinsame Zukunft starten können.“

Damals waren sie noch zwei andere Männer gewesen. Weniger belastet wie heute, zweifelsohne blauäugiger. Sie hatten beide verdrängt was hinter ihnen lag und auch wenn Clarence seinem Partner lange verschwiegen hatte was mit ihm und seinem Clan war, so war Cassie doch auch nie besser gewesen. Verdrängt hatte er, dass die Bruderschaft ihn zweifelsohne suchte um den Tod von Rouge zu rächen.

Seitdem hatten viele neue Geheimnisse und Intrigen sie eingeholt, aber letztlich waren sie trotzdem dort, wo sie heute waren.

Du hast auch mal zu mir gesagt, dass wir zwar all die Menschen verloren haben, die uns genommen wurden… aber dass wir beide noch da sind, du und ich. Dass wir leben müssen bis wir herausfinden, ob wir sie irgendwann wiedersehen.“

Es war eine Sicht auf die Dinge, die ihn sehr berührt und die er dem übermütigen Torfkopf gar nicht zugetraut hatte. Matthew konnte ziemlich poetisch sein wenn man ihn denn ließ und eben jene Worte hatten dazu geführt, dass der blonde Christ zunehmend losgelassen hatte. Nicht sofort und komplett, aber nach und nach - bis zu jenem Punkt, an dem aus zwei unbeholfenen, verliebten Trotteln eine Einheit geworden war.

Sanft schmiegte er seine Wange in die Hand seines Mannes und spürte dem Kribbeln nach, das noch immer auf seinen Lippen herrschte. Wie sehr er Cassie liebte, dafür gab es keine Worte und noch weniger gab es eine Intrige, die sie dazu gebracht hatte einander zu heiraten. Es mochte genug Dinge geben, die kein Zufall waren wie etwa ihr Aufeinandertreffen, ihrer beider Erlebnisse mit Nagi Tanka oder dem gütigen Mann… aber ihre Gefühle füreinander, das war nichts das auch nur irgendjemand auf der ganzen Welt hätte planen können.

Aber all das gilt auch für Nagi und Rouge… und jetzt auch für diesen Frank Doolin. Sie haben uns nicht gebrochen und noch wichtiger: Sie haben uns nicht überlebt. Uns beide nicht“, fasste er zusammen was sie schon geschafft hatten. Es mochte ihnen vorgekommen sein wie eine abgeschlossene Sache die hinter ihnen lag, doch ganz offensichtlich war sie das nicht. Viel mehr war sie, vom neuen Blickpunkt aus, ein Triumph - ein Sieg über die Schatten, die mit ihren Fängen nach ihnen zu greifen drohten. „Ich weiß nicht, was Doolin für einer war. Aber wenn Nagi und der gütige Mann die gleiche Person sind… wird zumindest er kein einfacher Handlanger in der Bruderschaft gewesen sein. Das heißt, sie sind nicht unsterblich. Nicht unzerstörbar. Wir sind noch hier, aber er nicht. Und die beiden anderen Bastarde auch nicht. Wie viele sind aus deinem Kinderlied noch über, mh? Drei, vier? - Nichts, was wir nicht auch aus dem Weg räumen können.“

Sie hatten schon mehr geschafft, andere Gegner gehabt. Diese Leute mochten Macht haben und vernetzt sein, aber nicht gut genug um ihre eigenen Leute im direkten Kampf Mann gegen Mann zu schützen.

Kranke, kaputte Leute nannte Cassie sie, die immer wieder in seinem Leben auftauchten und von denen sich neue formierten um ihn einzuholen. Dabei vergaß er allerdings, dass auch Clarence mal so eine kranke, kaputte Gestalt gewesen war, die in sein Leben getreten war.

Ein warmes Lächeln stahl sich bei dieser Erkenntnis auf seine Lippen, denn sie bewies, dass nicht jedes Auftreten eines neuen Protagonisten im Leben des Matthew Reed auch gleichzusetzen war mit Verrat und einer Dunkelheit, über die man nicht mehr Herr wurde. Ganz im Gegenteil sogar, hatte jener einstig kaputte Kerl den Jüngeren mittlerweile zum phasenweise glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt gemacht und das war ein Sieg, den sich Clarence auch noch in zwanzig, dreißig Jahren auf die Flagge schreiben würde.

„Ich liebe dich, Matthew Sky. Ohne Zweifel wären wir ohneeinander oft besser dran. Aber wenn ich schon höre, dass du erst duschen und danach die Haare schneiden willst, dann weiß ich wieder, dass du ohne mich einfach nicht klar kommst im Leben. Welcher Psychopath schneidet sich bitte die Haare, wenn sein Nacken und seine Schultern vom Wasser kleben? Du wirst dich die ganze Nacht zu Tode kratzen weil es dich überall sticht“, kopfschüttelnd musste er alleine ob der Vorstellung kurz auflachen, ein Laut der gut tat und machte, dass sich die schweren Gewichte wenigstens ein klein wenig wieder von seinen Schultern hoben. Genau wie im Gesicht seines Mannes, blieb auch auf seinem eigenen schließlich ein warmes Lächeln zurück - erleichtert darüber, dass sie solche Gedanken zu zweit miteinander durchgehen konnten, weil sie doch noch hatten und glücklich darüber, dass Cassie es nicht als Option empfand ihn zu verlassen.

„Pläne schmieden ist keine deiner Stärken. Gut, dass du mich hast. Ich kümmer’ mich um dein Haar und wenn du willst, auch um den Rest von dir. Und um eine warme Dusche“, willigte er ein und erhob sich kurz darauf schwerfällig vom Boden. Doch bevor er auch Matthew eine helfende Hand reichte, kämmte er mit den Fingern durch die dunkle, wilde Mähne und beugte sich zu ihm hinab, um ihm einen innigen Kuss zu rauben.

„…ich bin eigentlich ganz froh, dass du dich so hast gehen lassen die letzten Monate. Dann hat auf deiner Reise wenigstens niemand gesehen, was für ein hübsches Kerlchen du bist, wenn du dich erstmal für mich rausputzt.


Matthew C. Sky

Es hätte sein können, dass Clarence nun mehr sagte, dass sie es eben nicht hinbekommen würden, weil ihm alles zu viel geworden war. Aber Matthew wusste so sicher wie er seinen Namen kannte, dass das nicht passieren würde. 

Clarence gehörte zu ihm und er gehörte zu Clarence und gar nichts würde daran etwas ändern. Vor etlichen Monaten hatte Matthew - damals noch in Coral Valley - davon geredet  die losen Enden ihrer Vergangenheit abzuschneiden, aber das hatten sie beide nicht getan. 

In ihrer Naivität hatten sie angenommen, dass sie die Altlasten zurücklassen konnten, kamen sie nur weit genug von ihnen weg. Doch spätestens nach den Ereignissen in Cascade Hill hätte ihnen beiden klar sein müssen, dass sich ihre Vergangenheit nicht abschütteln ließ. 

Aber es war einfacher gewesen so zutun als wäre das offensichtliche nicht wahr und irgendwann in der Zeit zwischen Coral Valley und jetzt hatten sie verlernt der Gefahr ins Gesicht zu blicken. Matthew hatte das Thema nicht angeschnitten aus Furcht davor, dass Clarence irgendwann die Nase voll haben würde von all den Problemen und Hürden, die Matthew mit sich brachte. 

Und während sie beide gut darin geworden waren das Wesentliche aus den Augen zu verlieren hatte Cassie immer mehr vergessen wie verdammt gut sie als Einheit waren und das er über alles mit Clarence reden konnte. Egal welche Hürden sie erwarten würden, der Blonde würde nicht abhauen und er würde auch nicht daran zweifeln, dass sie beide füreinander bestimmt waren. Denn das waren sie. 

Der Blick in den graublauen Augen seines Gegenübers wurde mit jedem Wort das Matthew sprach milder und wärmer und als er schließlich fragte ob Cassie wüsste an wen er den Blonden gerade erinnerte, da wusste Matthew, dass dies nicht der Auftakt zum nächsten ernsten Thema war. Also schüttelte er schmunzelnd den Kopf und wurde in seiner Zuversicht nicht enttäuscht, als Clarence mit der Sprache rausrückte. 

Matthew lachte kurz über die Antwort und wiederholte schließlich ketzerisch: 

„An einen jungen Mann den du aus Coral Valley kennst, hm?“ - natürlich wusste er wer gemeint war, aber seinen Mann ein wenig aufzuziehen ließ er sich nicht nehmen. 

„Wer mag das wohl gewesen sein? Er scheint dich beeindruckt zu haben, wenn du zwei Jahre später noch an ihn denkst.“ - aber der Größere ging nicht auf seine Albernheit ein, sondern erinnerte den Jüngeren daran, dass nicht nur viele ihrer Freunde und Mitglieder ihrer Familie fort waren - sondern auch ihre Feinde. Nagi, Ruby, Frank Doolin…. Sie waren tot und sie würden bald schon vergessen sein. Sie waren keine unbesiegbaren Götter, keine übernatürlichen Mächte gegen die sie keine Chance hatten. Auch wenn Rouge in jener Liste fehlte...Aus gutem Grund, über den er aber nun mehr nicht näher nachdenken wollte. Denn dieses Thema war nicht für den heutigen Abend bestimmt. . 

Sie waren Menschen und sie bluteten genauso wie jeder andere auch. 

Dass Clarence diese Worte gerade jetzt fand, ließ Matthew begreifen wie viel sie bereits erreicht hatten und gleichzeitig machte es ihm klar, dass Clarence und er eine Einheit waren. 

„Acht… es sind eigentlich acht. Wenn Nagi einer von ihnen war bleiben noch einige übrig. Zu viele für meinen Geschmack. Aber egsl wie viele es sind… es sind nicht  genug um gegen uns eine Chance zu haben.“ - seit seiner Ankunft hatte er Angst davor gehabt was ihn hier erwarten würde. Er hatte Angst gehabt, dass Clarence vielleicht mit ihnen abgeschlossen hatte, dass es ihm gesundheitlich schlecht ging und letztlich - als klar gewesen war, dass all diese Sorgen unbegründet gewesen waren - hatten ihn eben jene Erkenntnisse belastet, die er in den letzten Monaten gewonnen hatte und die Clarence fehlten. Die Furcht vor der Reaktion des Blonden, der Druck der auf seinen Schultern lastete… all das hatte dazu geführt, dass er angespannt und dünnhäutig gewesen war und… unbeabsichtigt ungerecht zu Clarence. 

Aber der Wildling war dennoch bei ihm. Er war bei ihm und würde es immer sein - und jene Erkenntnis und Gewissheit war wichtiger und größer als alle Furcht vor irgendwelchen Schatten der Vergangenheit. 

„Ich liebe dich auch, Clarence Sky.“ - erwiderte er ohne nachzudenken und war drauf und dran sich zu ihm zu lehnen um Clarence erneut zu küssen, doch stattdessen lachte er plötzlich auf, weil ausgerechnet sein Mann ihm etwas über Haare erzählte. 

Sein wilder Kauz, sein Bär. 

Und auch Clarence selbst musste lachen, ein Geräusch welches im Bauch des Dunkelhaarigen ein süßes und überbordendes Kribbeln auslöste. 

„Pläne schmieden ist keine deiner Stärken. Gut, dass du mich hast.“ - konstatierte der Blonde und lehnte sich damit sehr weit aus dem Fenster. 

Allerdings - und das musste Matthew zugeben - war es unbestreitbar gut, dass er ihn hatte. „Du hast mir noch nie die Haare geschnitten und ich bin nicht sicher ob ich dir so viel Geschicklichkeit zutraue.“ tat der junge Mann seine Zweifel offen kund. 

„Kümmere du dich um die Dusche… und dann werden wir sehen ob ich dich mit einer Schere an mich heranlasse.“ - Matthew war ein eitler Kerl, war es immer schon gewesen und auch die neuen Narben hatten daran nichts geändert. Insofern war es nicht verwunderlich, dass er auf den Vorschlag des Blonden nicht direkt mit einer Zusage reagierte sondern erstmal diplomatisch die Entscheidung in die Ferne schob. 

Der Wildling vergab Matthew sein Zaudern, kam auf die Beine, strich ihm durch das zu lange Haar und beugte sich schließlich zu ihm herab für einen liebevollen, innigen Kuss. 

Cassie schloss seine Augen sofort, reckte sich sehnsüchtig den Lippen entgegen und bedachte den Größeren mit einem warmen, liebevollen Blick als Clarence sich wieder aufrichtete. „Sei nicht so unverschämt. Ich hab mich nicht gehen lassen. Ich hab nur andere…Prioritäten gesetzt.“, rechtfertigte er sein etwas wildes  Erscheinungsbild. 

Mit Clarence‘ Hilfe kam er schließlich auch auf die Beine, doch statt den Anderen direkt gehen zu lassen, schmiegte er sich an ihn, verschränkte die Arme in seinem Nacken und drängte seinen Körper geschmeidig und eng gegen den Größeren. 

„Du hast gesagt… du kümmerst dich auch um den Rest von mir, wenn ich will.“, säuselte er samtig ins Ohr seines Mannes.  

„Und ich kann dir sagen, ich will…“ er küsste das Ohr seines Mannes. 

„Ich will, dass du dich um alles kümmerst. Zumindest um alles außer um meine Haare.“ - jetzt lächelte er frech und löste sich von dem Größeren. 

„Komm, machen wir das Wasser warm. Ich brauche Zeit mit dir… die brauche ich wirklich.“ 

Und das meinte er wirklich ernst. Sein Mann hatte ihm so unendlich sehr gefehlt, dass es dafür keine richtigen Worte gab. 


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