Falconry Gardens
29. Dezember 2210
Erstmal hier weg nicht nach Hause wollte Clarence, der sich verärgert anhörte als es Matthews Schuld, dass er nicht einfach mit ihm reden konnte.
Stattdessen vögelte er ihn lieber, denn zumindest darin waren sie beide gut und Matthew gab ein kurzes freudloses Schnauben von sich und lachte bitter.
„Richtig, zeig mir bloß nichts. Behalte alles schön für dich- bis zum richtigen Moment. Soll ich dir was verraten? Der richtige Moment war schon.“
Er schob sich an Clarence vorbei und folgte dem Flur zurück. Immerhin kannte er den Weg und brauchte Clarence gewiss nicht dafür.
In ihm keimte jäh der Wunsch diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen und einfach hinter sich zu lassen.
Warum auch sollte er in der Stadt bleiben? Wegen Clarence? Der hatte seine Aufgaben hier und sein Leben. Wegen der Hunde? Die hatten sich prächtig entwickelt und waren hier ebenso angekommen.
Wegen Cameron oder Adrianna? Auch die beiden brauchten ihn nicht. Und wegen sich selbst? Im Augenblick wollte er nicht mehr hier sein, im Augenblick wäre er lieber wieder allein im Nirgendwo.
Mit Clarence hinter sich stieg er die kleine schmale Treppe wieder hinunter in die Küche. Dem Geräuschpegel nach war es im Speisesaal mittlerweile so unruhig, dass das Essen vermutlich gleich beendet war. Dann würde es auf den Fluren und draußen nur so vor Kestrels wimmeln, doch im Augenblick war ihr Schleichweg noch sicher.
„Hey wie war’s? Ich hab Addy hochgeschickt, sie hat gefragt ob ich was weiß und…“, erklärte Alec, der nicht ahnen konnte wie die Sache geendet hatte.
„Es war großartig. Man sieht sich.“, entgegnete Matthew knapp und ohne ein Lächeln.
„Ähm… okay.“ - „Wo sind die Hunde?“ - Hinten irgendwo, laufen das Gelände ab. Über Nacht bleiben sie eigentlich immer hier und passen auf.“
Das war logisch, trotzdem fühlte sich auch das gerade falsch an. Es lag nicht an Falconry Gardens selbst, es lag an Clarence und daran wie er ihn angepampt hatte ohne überhaupt zu begreifen worum es ging.
„Dann noch einen schönen Abend.“, noch immer kein Lächeln. Hinter sich hörte er Alec an Clarence gewandt fragen ob alles in Ordnung war oder irgendwas nicht stimme. Sollte der Blonde darauf antworten, so konnte Matt es jedoch nicht verstehen.
Er war wütend und er wusste von sich selbst, dass Wut kein guter Ratgeber war, deshalb war es nur klug von ihm, dass er Clarence weiterhin anschwieg als sie letztlich wieder nebeneinander hergingen.
Mittlerweile wurde es von Minute zu Minute dunkler und die Schatten länger und schon bald waren sie nur noch schwarze, schweigende Gestalten in finsteren Gassen.
Hier und da leuchteten gelbe-rote Flecken auf dem feuchten Kopfsteinpflaster, nämlich dort wo warmes Licht von den Fenstern nach draußen fiel. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und machte die Straßen glitschig.
„Du wusstest wie viel mir an den Kindern liegt!“, platzte es jäh aus Matthew heraus, der noch nie gut darin gewesen war lange das Schweigespiel zu spielen. Darin war Clarence unangefochtene Nummer eins.
„Scheiße… du hast das verfickte Lager nicht gesehen.“ Jeder hätte gedacht, dass es keine Überlebenden gegeben hatte und ja, vielleicht hätte er explizit fragen sollen nachdem klar gewesen war, dass Clarence lebte. Immerhin konnten auch andere überlebt haben, wenn sein Mann es geschafft hatte.
Aber die Kombination aus scheinbarer Gewissheit und dem Unwillen des Blonden darüber zu reden, hatte ein düsteres Bild gezeichnet… welches er sich nicht im Detail hatte anschauen wollen. Noch nicht jedenfalls.
Man konnte Matthew in diesem Punkt Feigheit vorwerfen und zumindest in dieser Hinsicht würde der Dunkelhaarige auch nicht widersprechen. Der entscheidende Punkt jedoch war, dass Clarence ihm nicht mal einen groben Abriss der Geschehnisse hatte geben wollen. Von sich aus hatte er auch Cameron nicht erwähnt, ganz so als würde er nicht wissen, dass sein Schicksal für Matthew wichtig war.
„Egal… was rede ich überhaupt.“, warf er ein und schüttelte in der Dunkelheit knapp den Kopf.
„Ich hol… mir nur meine Tasche und dann schlafe ich besser woanders.“
Und sollte Familie Stogg kein Zimmer haben und es auch sonst nirgends ein freies Plätzchen geben, dann würde er eben in der Natur übernachten.
War das überzogen und albern? Sicherlich war es das irgendwie. Doch auf der anderen Seite war Matthew auch nicht für seine Weitsicht bekannt, zumindest nicht wenn er emotional aufgebracht war. Dann fehlte ihm - wie auch jetzt - die Möglichkeit sich in andere hineinzuversetzen und Dinge aus deren Standpunkt zu sehen.
Wäre dem anders gewesen, wäre ihm wahrscheinlich aufgefallen, dass seine Bemerkung im Zimmer Camerons durchaus unfair gewesen war.
Sie waren noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden zusammen und es war wenig Zeit für den Blonden gewesen ihm alles zu erzählen. So viel Wahrheit musste Matthew ihm zugestehen, aber gerade eben war er noch nicht in der Lage soweit zu denken.
Der richtige Moment nannte Matthew ihn, obwohl der Jüngere doch aus Erfahrung wusste, dass sein Mann dafür so viel Gefühl besaß wie eine Kuh fürs Schlittschuhlaufen.
Clarence hatte andere Talente. Er war gut im Fährtenlesen, im Mischen von Kräutermedizin. Er war weit besser im Zweikampf als er anderen erzählte und dann und wann überraschte er mit der Fähigkeit ein Instrument oder Spanisch zu sprechen, auch wenn er darüber noch nie ein Wort verloren hatte. Aber Taktgefühl, das war etwas das er nicht beherrschte - und anstatt es ihm beizubringen, hatte Clarence stattdessen gelernt einfach den Mund zu halten.
Cassie war diese Unfähigkeit schon früh auf den Keks gegangen. An manchen Tagen, weil er im Gespräch keine Antwort von seinem neuen Gefährten bekam und später, in der Zeit nach Coral Valley, war er ihm böse gewesen, weil der Blonde versäumt hatte ihn darüber aufzuklären, dass er seinem Clan überhaupt nicht entbunden war so wie gedacht.
Den richtigen Moment zu verpassen zog sich durch ihr gemeinsames Leben wie ein roter Faden und er endete nicht einfach durch den Absturz eines Zeppelins oder vier Monaten Trennung. Viele Dinge hatte er gelernt in ihrer Zeit miteinander, auch was das Zwischenmenschliche und ihren Alltag miteinander anging. Aber Cassie nicht auf die Palme zu treiben, das war vermutlich eine lebenslange Aufgabe, die er nie so ganz abschließen würde.
Er hatte noch versucht an dem Schloss des kleinen Tores herum zu rütteln, das auf den Hof und das Hintergelände führte, doch die Feuchtigkeit des Nieselregens ließ kaum zu, dass er auch nur ein einziges Blättchen des Zahlenschlosses in die richtige Stellung bekam, während Matthew mit großen Schritten den Heimweg antrat. Alecs Nachfrage, ob denn alles in Ordnung sei, hatte er nur mit einem kurzen ‚Halt die Klappe‘ quittiert und es schließlich aufgegeben die Hunde doch noch mit zurück zu nehmen - was ihm weh tat und ihm falsch vorkam, denn sie machten fünfzig Prozent ihrer ganzen Familie aus und hatten den Dunkelhaarigen genauso lange nicht gesehen.
Ohne die beiden war es gleich noch ein bisschen stiller zwischen ihnen, als Claire seinen Mann endlich wieder eingeholt hatte und doch dauerte es vergleichsweise nicht wirklich lange, bis sich die Stimme des Jüngeren zwischen ihnen erhob. Seine Worte spiegelten hörbar den Schmerz wider, der ihm jenen Stich ins Herz versetzt hatte, den man schon auf Camerons Bettkante sah. Ein Tonfall, der Clarence nicht weniger hart traf, denn egal wie es ihm selbst mit der Situation ging, sah er seinen Mann trotzdem nicht gerne so.
Sie waren noch nicht ganz bei der Steiltreppe angekommen, die sie vorhin schon mühselig erklommen hatten, aber wenigstens nah genug um sich wenigstens unter ein paar Dachsparren zu stellen und so vor dem Nieselregen zu schützen. Doch auch davon sah Matthew ab - genauso wie er auch davon absehen wollte, heute Nacht bei ihm zu bleiben.
„Du schläfst nicht wo anders“, bestimmte Clarence und auch wenn es seinem Mann vielleicht nicht passen wollte, weil Flucht immer einfacher war als einander auszuhalten, meinte er das so wie er es sagte. Schon bevor er überhaupt gesprochen hatte, hatte der Blonde aus einem urtümlichen Reflex heraus nach Cassies Handgelenk gegriffen und hielt ihn auf diese Weise bei sich; sie waren eindeutig besser darin sich zu lieben als miteinander zu streiten, aber das gab ihm keinen Freifahrtschein aus dieser Stadt heraus und zurück in das unbekannte Leben, das Cassie in den vergangenen Wochen ohne ihn geführt hatte.
Es lag ihm auf der Zunge seinem Mann an den Kopf zu werfen, dass dieser ihm genauso wenig über seinen Verbleib erzählt hatte wie er ihm über die Kinder oder generell ihre Reise nach Falconry Gardens, aber letztlich war das ein Argument bei dem sich die Katze selbst in den Schwanz biss, immerhin würde bei dieser Logik nie jemand den Anfang machen. Stattdessen standen er mit ihm im zunehmenden Nieselregen und musterte Matthew, der kaum einen halben Tag da war und schon wieder mit ihm stritt. Genau so, wie es am Morgen fast geschehen wäre.
„Wenn du den Gedanken nicht erträgst, dass ich heute Nacht bei dir liege, dann bringe ich dich runter in die Wohnung und schlafe heute Nacht hier oben beim Clan. Ich will nicht, dass du im Gasthaus schläfst. Du bist kein Gast, du bist mein Ehemann.“ - Cassie hatte besseres verdient als irgendeine Absteige und er sollte bloß nicht denken, dass er sich einfach klammheimlich von hier verpissen konnte, bevor am Morgen die Sonne aufging. Denn genau das befürchtete Clarence gerade, immerhin kannte er das Temperament des einstigen Söldners. Genau aus diesem Grund sah er auch davon ab das Handgelenk des Jüngeren loszulassen. „Ich hab lange gebraucht um zu lernen nicht vor dir wegzulaufen, wenn mir was nicht gefällt. Fang du jetzt nicht damit an, wo ich damit fertig bin.“
Es war unfair, dass Cassie ihm jedes Mal damit drohte sich ihm zu entziehen sobald ihm was gegen den Strich ging. Natürlich war es auch nicht fairer Matthew anzuschweigen was die Kinder anging, aber das machte das eine nicht besser als das andere.
„Ich weiß, wie viel dir an den Kindern liegt. Aber ich weiß nicht, ob es genauso viel ist wie mir an ihnen liegt. Lag“, korrigierte er sich und ließ widerwillig von Matthew ab, bevor er sachte den Kopf schüttelte. „Liegt.“ - Denn es hörte ja nicht auf, nur weil Gabe nicht mehr hier war. Oder weil Lucy sich verändert hatte. Das alles machte die Zeit nicht ungeschehen, die sie miteinander verbracht hatten und es machte auch nicht einfacher wie es nun weitergehen sollte.
Missmutig musterte er den zerschlissenen Mantel, den Cassie trug, und auf dem sich der feine Regel in Perlen abgesetzt hatte wie Tau auf einem Spinnennetz. Wenn der Torfkopf weiterhin so hitzköpfig im Regen durch die Stadt stampfte, holte er sich wahrscheinlich spätestens in zwei Tagen durch eine Grippe den Tod und dann hatten sie auch nichts gewonnen. Nur mit dem Unterschied, dass dann spät abends endlich Ruhe war in Falconry Gardens’ Gassen.
Brummend zog er Matthew den Schal etwas aus dem Nacken und legte es über sein Haar, damit er nicht durchnässter als nötig Zuhause ankam. Sie hatten keinen Zuber im Bad und würden ihn sonst vermutlich nur dann wieder warm bekommen, wenn sie ihn von allen Seiten über dem Ofen ausräucherten.
„Ich will nicht… hier in der Gosse über die Kinder streiten oder über Gabe reden. Das hat keiner verdient“, lenkte er nach einem kurzen Moment ein. Weder Lucy, noch der Junge, noch Cassie. „Und ich will mich nicht mit dir streiten. Wenn dir das hilft, dann denk dran, dass du einen Klotz geheiratet hast und den auch genauso wiederbekommst, jetzt wo du wieder da bist. Ich werd zu keinem Diamanten, nur weil wir eine halbe Ewigkeit getrennt waren.“
Dass Clarence nach seinem Handgelenk griff und Matthew auf diese Weise davon abhielt Distanz zu schaffen war etwas, dass sich nur der Blonde herausnehmen durfte.
Es war wie die anerzogene Schweigsamkeit des Schamanen, dass Matthew empfindlich auf eine Einschränkung seiner körperlichen Freiheit reagierte. Jeder andere hätte damit zu rechnen gehabt, dass sich Matthew energisch dem Griff entwinden würde und sein Recht auf Distanz wenn nötig sogar mit einem Faustschlag auf Nase oder Kinn einfordern würde.
Doch als Clarence nach seinem Handgelenk griff war es nur der Bruchteil einer Sekunde in der sich der Jüngere anspannte und aus Reflex heraus mehr Abstand suchen wollte. So wie auch Clarence gewisse Eigenarten nie loswerden würde, weil sie so fest in seinem Charakter verankert waren, dass sie fast schon zur eigenen DNA gehörten.
Unwillig lauschte der Dunkelhaarige den bestimmenden Worten seines Mannes der festlegte, dass er in dieser Stadt kein Gast war und ein Gasthaus deshalb nicht zur Debatte stand. „Ich hab Nächte schon würdeloser verbracht als in einem Gasthof.“, konterte er und stellte klar, dass es ihm durchaus ernst war. Tatsächlich war es das auch, zumindest bis zu dem Augenblick an dem Clarence anbot die Nacht beim Clan zu verbringen.
‚Klar, warum auch nicht. Du wohnst ja quasi da‘ schoss es Matthew durch den Kopf, doch er war klug genug diese Worte nicht auszusprechen.
Es waren nur Nuancen in der Stimme des Blonden und Matthew konnte selbst nicht sagen was genau es war, aber seine Wut ließ allmählich nach. Nicht weil er eine weitere einsame Nacht vor Augen hatte, sondern weil er tief in seinem Innersten gar keinen Streit mit Clarence wollte.
Er war monatelang durch die Wildnis geritten von einem Punkt auf der Landkarte zum Nächsten nur um wieder bei diesem Menschen zu sein und nun fiel ihnen beiden nichts besseres ein, als sich am ersten Tag ihres Wiedersehens zu streiten?
Die Erkenntnis wie dumm das Ganze war, hatte den Jüngeren fast besänftigt, da sagte Clarence etwas, dass derart ungeschickt und deplatziert bei Matthew ankam, dass dieser sofort seine Hand aus dem Griff des Blonden löste.
Der Wildling behauptete, dass ihm vielleicht mehr an den Kindern lag als Matthew und selbst wenn dem so sein sollte, so gab das dem Größeren noch lange kein Recht ihn über ihr Schicksal im Dunkeln zu lassen.
„Du weißt nicht ob…?“, den Satz brachte der Jüngere gar nicht zu Ende so unglaublich fand er die Unterstellung. Er funkelte Clarence an wie eine giftige Raubkatze die zu reizen beileibe keine kluge Idee war.
„Und wenn schon, Claire… von mir aus bedeuten sie dir mehr. Von mir aus bist du derjenige um den es hier geht. Scheiße…“ - er wischte sich den vermaledeiten Schal vom Kopf und ging einen Schritt von Clarence weg.
Er war es leid, er war müde, er war enttäuscht.
Wütend und mit sich ringend legte er den Kopf in den Nacken und blickte in den schwarzen Himmel empor. Noch nicht einmal Sterne gab es, die der Situation etwas halbwegs schönes verliehen hätten.
Er schloss die Augen und atmete tief durch, versuchte runterzukommen und die Sache nicht noch weiter hochkochen zu lassen als sie ohnehin schon war.
Aber es fiel ihm schwer. Es fiel ihm schwer hinzunehmen, dass Clarence offenbar davon ausging einfach alles damit zu entschuldigen ein Klotz zu sein, dass er glaubte den Kindern näher gestanden zu haben und dass er sich das Recht herausnahm zu bestimmen wann er welche Dinge Matthew erzählte.
„Ich komme hierher, in deine Heimat.“, begann der Dunkelhaarige bemüht ruhig.
„Ich habe keine Ahnung was dir in den letzten Monaten passiert ist. Ich weiß nichts über die anderen, ich weiß nicht wer noch lebt und wer nicht. Ich soll… warten, dass du mir alles erzählst. Dass du mich freundlich davon in Kenntnis setzt was gelaufen ist, nachdem ich aus Denver weg bin.“, fasste er zusammen wie er die Dinge wahrnahm. Dabei hielt er die Augen weiterhin geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Denn würde er Clarence nun ansehen würde er vielleicht nicht sachlich bleiben. Aber um Sachlichkeit war er ja gerade so bemüht.
„Du erwartest, dass ich die richtigen Fragen stelle, aber bitte nur zur richtigen Zeit - und wann das ist, dass bestimmst natürlich du. Du willst bestimmen wann wir über die vier Monate reden, wo ich schlafe und wann du mich deinen Leuten vorstellst. Aber so hab ich mir das Ganze nicht vorgestellt.“ - wahrlich, das hatte er nicht.
Erst jetzt öffnete der Dunkelhaarige wieder die Augen und sah zu seinem Mann. Als ein Klotz bezeichnete er sich und vielleicht war er das, vielleicht waren sie beide das.
Aber gegenwärtig konnte er das als Entschuldigung nicht respektieren. Noch nicht einmal die Wunde an seinem Arm hatte er ihm freiwillig gezeigt, hatte ein Geheimnis darum gemacht eigentlich Medizin gegen die Entzündung einnehmen zu müssen. Er hatte versäumt ihm zu sagen, dass man offensichtlich im Clan über ihre Ehe Bescheid wusste - ein nicht unerhebliches Detail, immerhin hatte er Adrianna und Cameron von Grace erzählt und war bis zum Schluss bei dieser Geschichte geblieben.
Aber darüber ärgerte er sich schon gar nicht, weil es müßig war.
„Ich schlaf heute Nacht woanders. Geh zum Clan oder in die Wohnung… ist deine Entscheidung. Aber entscheide du nicht für mich. Das hast du… heute schon zu oft getan.“
Und nun da er das gesagt hatte, setzte er sich wieder in Bewegung.
Den Matthew, der just in diesem Moment vor ihm stand, kannte Clarence nicht. Nicht etwa weil er sich verändert hatte, während sie fernab voneinander ihre Leben jeder für sich gelebt hatten, sondern weil er auf eine Art und Weise mit ihm sprach, die Claire nicht von seinem Mann kannte. Der aufbrausende junge Schnösel war ihm ein Begriff, jener, der das Herz auf der Zunge trug und in Wut vor sich her plapperte was ihn bedrückte. Der ihm manchmal aus Frust Sachen an den Kopf warf, nur um ihn zu verärgern oder der mit ihm schimpfte in der Hoffnung, beim Blonden stellte sich dadurch endlich ein Lerneffekt ein.
So ruhig und besonnen hatte er Matthew selten erlebt und aus einem unbestimmten Grund gefiel ihm das nicht. Vielleicht weil sein Mann ernst klang, zu ernst um den Streit zeitnah zu kitten; wahrscheinlicher aber noch, weil Cassie es klingen ließ, als wäre bei ihm gerade der Groschen gefallen der besagte, dass ihm nun klar geworden war es gar nicht mehr länger mit Clarence hier auszuhalten. Nach nur wenigen Stunden.
Schon während er sprach trat er von ihm weg und brachte eine Distanz zwischen sie, die dem Jäger nicht gefiel und die er eben schon versucht hatte zu unterbinden, indem er Cassie noch bei sich gehalten hatte. Es war nicht richtig sich nun wegen eines Streits entzweien zu lassen, nicht nachdem sie so lange getrennt gewesen waren… und auch sonst wäre es nie der richtige Weg gewesen. Trennung und Distanz hatten ihnen noch nie gut getan wenn sie nicht gut aufeinander zu sprechen waren, denn es schaffte Mauern und Gräben wo keine hingehörten und die man durch Reden hätte vermeiden können. Dinge, die er nicht etwa wusste weil er die Weisheit mit Löffeln gefressen hatte - sondern weil er nicht erst seit gestern sein Leben mit Matthew teilte und daraus gelernt hatte.
Doch nicht nur er selbst hatte aus ihrem Zusammensein Konsequenzen gezogen, sondern sein Mann ganz offensichtlich ebenso. Seine Ansprache tat dermaßen weh, dass sein Abgang dem Ganzen noch die Krone aufsetzte. So habe er sich das nicht vorgestellt ließ er ihn wissen, drehte sich einfach um und ging und für einen Moment fragte Clarence sich sogar, ob Matthew wirklich nur sauer auf ihn war oder er morgen früh auf dem Schreibtisch eine kleine Notiz mitsamt Ehering finden würde.
Nichts hielt sie hier beieinander. Nichts außer einem Versprechen und einem Stück Pergament mit dem Siegel von Coral Valley, das irgendjemand irgendwo in den Stadtbüchern verewigt hatte. Schon im nächsten Dorf wusste niemand wer sie waren und jenseits des Berges hätte Matthew schon morgen früh ein neues Leben, wenn er in der Nacht noch los ritt. Und morgen Abend einen neuen Mann oder eine neue Grace, wenn er es denn darauf anlegen würde.
Die Welt in der sie lebten war so wankelmütig und unbeständig, dass die einzig verlässliche Konstante sein Vertrauen in Matthew war und die Gefühle, die er für diesen Mann hegte. Einzugestehen ihn zu lieben war ihm damals nicht leicht gefallen aber trotzdem hatte er es getan. Nicht, weil er Angst davor hatte alleine zu sein - sondern weil er wusste, dass sein Leben hundertmal besser mit Cassie war als ohne ihn.
„Wir waren… nur noch ein paar Tagesmärsche von den ersten Dörfern um Falconry Gardens herum entfernt. Wir hatten nur noch einen Planwagen und ein paar wenige, trockene Vorräte. Es lag noch immer dieser gottverdammte Schnee… knietief sind wir da seit Tagen durchgewatet und haben nach Denver kaum noch was gefangen. Die Fallen sind leer geblieben und in den Siedlungen, in den wir waren, gab es wässrige Suppe. In dem einen Kaff hatten die solche Angst, wahrscheinlich weil sie dachten die große Gruppe frisst ihnen die Haare vom Kopf, dass sie versucht haben uns mit Sägespänen gestrecktes Brot unterzujubeln“, rief er seinem Mann nach, der es bevorzugte ihn hier mitten in der Gasse stehen zu lassen und ihm damit zeigte, dass er eigentlich kein nennenswertes Interesse daran hatte die Sache hier mit ihm zu klären. Mittlerweile waren aus dem Nieselregen fiese kleine Tropfen geworden, die ihm kalt gegen den kurz geschorenen Nacken prasselten. Ein weiterer Nachteil wenn man kein langes Haar mehr hatte.
„Ich hab Spuren gefunden… von einem Puma, der uns verfolgt hat. Von einem verfickten Berglöwen“, er schnaufte bitter ob er Ironie, die dahinter steckte. „Zwei Tage lang hat uns das Vieh schon verfolgt. Ein Mal hab ich ihn zu Gesicht bekommen in der Nacht, als er um unser Lager geschlichen ist. Ein abgemagertes, klappriges Ding aber groß wie ein kleiner Schrank. Hab versucht ihn zu schießen, aber ihn nicht erwischt. Die Kinder wussten, dass sie sich nicht von der Gruppe entfernen sollen. Weder am Tag, noch in der Nacht. Als wir Halt gemacht haben um unser Lager aufzubauen, am dritten Tag… hat Lucy jemandem Bescheid gesagt, dass sie mit Gabe hinter dem Planwagen verschwindet um auszutreten. Ich denke…“ - Nein, eigentlich wusste er nicht was er denken sollte. Er hatte lange versucht seine Gedanken zu ordnen und war zu keinem Ergebnis gekommen, da würde er das an diesem Abend auch nicht schaffen.
„Die beiden waren noch keine zwei Sekunden hinter dem Ding, da hat sie angefangen zu schreien.“
Clarence seufzte schwer und fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht, wischte sich mit einem Fingerknöchel die Augen trocken und kämmte sich kurz durch den Bart um sich zu ordnen. Lucy hatte stundenlang geschrien. Stundenlang, die halbe Nacht hindurch. Es war das grausamste Geräusch das er je gehört hatte, sogar ein bisschen grausamer vielleicht als damals, wo er als Junge im Hühnerstall gehockt hatte um die Nacht über zuhören zu müssen, wie man seine Eltern schändete und ausnahm.
Selbst jetzt überkam ihn bei der Erinnerung daran eine Gänsehaut, die ihm wie ein kühles Frösteln durch den Leib fuhr und ihn die Arme vor der Brust verschränken ließ, um sich im Regen an sich selbst zu wärmen. Einen Moment starrte er an Matthew vorbei in die Nacht, den Weg an der Häuserfassade entlang und fragte sich ob es anders gekommen wäre, wenn sie den Baum in fünf Metern Entfernung genommen hätten anstelle des Wagens. Oder ob es einen Unterschied gemacht hätte, sich hinter einem Stein hinzuhocken oder schnell einen kleinen Schneehaufen aufzutürmen. Fragen, auf die er keine Antwort bekommen würde.
„Ich bin dazwischen gegangen, damit das Vieh von Gabe ablässt und…“, er holte Luft doch stockte kopfschüttelnd, denn das Ende dieser Geschichte war keine Pointe oder der Höhepunkt einer Erzählung. Sie wussten beide was so ein Puma mit seiner Beute machte und sie wussten, wie hoch die Chance für einen kleinen Jungen gegen ein solches Raubtier wohl war.
Ziellos ließ Clarence seinen Blick schweifen und nagte an seiner Unterlippe. Der Puma hatte krank ausgesehen und Clarence wunderte es nicht im geringsten, dass seine Wunde nicht viel besser wurde, selbst wenn er seine Tabletten regelmäßig nahm und sich die eiternden Stellen ausbrennen ließ. Das schlimmste daran waren aber nicht die Schmerzen, sondern wenn er seinen Arm betrachtete jedes Mal an Lucy und an das denken zu müssen, was geschehen war.
„Als ich eben meinte… als ich meinte, dass ich nicht weiß ob uns gleich viel an den Kindern liegt, meinte ich das nicht als Angriff. Ich hab es gesagt, weil Gabe… weil er ein paar Tage, bevor das passiert ist… weil er gefragt hat, ob er und Lucy nicht in Falconry Gardens bleiben können. Bei uns… in Falconry Gardens“, konkretisierte er und blickte nun erstmals wieder zurück zu Matthew. Er wusste nicht, ob das reichte damit sein Mann verstand was er meinte, aber Cassie war nicht auf den Kopf gefallen.
„Ich dachte du bist hier und ich hab ihm gesagt, ich muss das mit dir besprechen, dass ich sowas nicht alleine entscheiden kann. Aber… ich hab darüber nachgedacht und ich… konnte mir das vorstellen. Ich konnte mir das… sehr gut vorstellen“, fasste er in wenigen Worten ernüchtert seine Gedanken zusammen. Er war traurig und das ganze war kein Thema für eine regennasse Gasse. Aber es war auch kein Thema, das man streitend vor sich hin durch die ganze Stadt trug. „Wenn ich dir also gesagt hätte, dass Lucy hier ist, hättest ich dir von Gabe erzählen müssen… und wenn ich dir von der Wunde an meinem Arm erzählt hätte, hätte ich dir auch erzählen müssen was mit ihm passiert ist. Und ich frage dich: Wann… Wann ist der richtige Moment für sowas? Bei den Stoggs? Oder wenn du müde endlich das erste Mal seit Wochen in einem richtigen Bett liegst? Beim Frühstück nachmittags oder wenn Alec dabei ist?“
Er wusste keine Antwort darauf, wann der richtige Moment für sowas war. Womöglich war er wirklich einfach schlecht darin ihn abzupassen oder übersah ihn einfach mit Absicht, auch das war möglich. Es ersparte einem jedenfalls unangenehme Gespräche und es ersparte einem Matthews unglückliches Gesicht, das er nicht ertrug.
Matthew hatte genug von alledem, von den Erklärungen seines Mannes die keine waren, dem vermaledeiten Regen und von der Kälte des Abends und vor allem von der Kälte zwischen ihnen beiden.
Also war er losgelaufen, nicht stürmisch und eilig wie man es von jemandem erwarten würde der kopflos war, sondern mit ruhigen, festen Schritten. Weit kam er aber nicht, da holte ihn die Stimme des Blonden ein und veranlasste ihn zum stehenbleiben.
„Wir waren… nur noch ein paar Tagesmärsche von den ersten Dörfern um Falconry Gardens herum entfernt…“
hörte er ihn über den Regen hinweg rufen und es waren die ersten Worte einer ganzen Reihe weiterer… Worte die mit jedem Satz düsterer wurden.
Matthew, dem der Regen mittlerweile von den Haarspitzen tropfte, war in der Gasse einfach stehengeblieben ohne sich wieder nach Clarence umzudrehen.
Zuerst hatte er vermieden ihn anzusehen, weil er nicht wusste was kommen würde und er nicht vorhatte sich Ausreden oder Vertröstungen anzuhören die keinen Sinn machten. Wenig später drehte sich Matthew nicht herum, weil er weinte und weil er das Gefühl hatte weder atmen noch klar denken zu können.
Hatte er sich vorhin noch gefühlt als hätte man ihn in den Magen geboxt, fühlte er sich jetzt wie unter Geröll fixiert. Sein Herz schlug nicht schneller und es hatte ihn natürlich niemand geschlagen, trotzdem fühlte er sich wie unter einer Tonne Stein begraben, unfähig zu atmen, unfähig sich zu orientieren. Die Vorstellung was passiert war, was dem kleinen Jungen widerfahren war, war derart grausam, dass Matthew wie gelähmt war.
Er fühlte sich regelrecht versteinert und alles was er gerade eben noch an Wut und Enttäuschung gespürt hatte, war mit einem Mal vollkommen bedeutungslos geworden.
Er hätte sich zu Clarence umgedreht, wenn er denn nur gekonnt hätte aber irgendwie konnte er nicht.
Jede Sehne seines Körpers war bis zum Zerreißen gespannt und er vergaß überdies sogar zu atmen - und zwar so lange bis seine Brust schmerzte.
Mit dem ersten neuen Atemzug fiel schließlich auch seine Reglosigkeit von Matthew ab und er drehte sich langsam zu Clarence herum. Der Blonde war nur eine dunkle Gestalt, kaum mehr als ein Umriss aber für Matthew reichte es aus um zu sehen wie gebrochen er eigentlich war.
Es ging nicht um körperliche Wunden, um aufgerissene Haut und lädierte Muskeln. Es ging nicht um verletzte Eitelkeit und darum wer wem welche Informationen vorenthielt. Clarence war innen drin zerbrochen.
Und als Matthew das erkannte, setzte er sich in Bewegung und überwand die von ihm geschaffene Distanz um eben jenen Mann fest zu umarmen, der da verlassen im Regen stand.
Die berechtigte Frage nach dem richtigen Moment blieb unbeantwortet, zumindest für den Augenblick.
Sie wussten beide was es bedeutete jemanden zu verlieren, aber Clarence wusste besser als Matthew was es hieß ein Kind zu Grabe zu tragen und jener erneute Verlust war etwas, dass einen Menschen- gleich wie stark - wirklich zerstören konnte.
Matthew dachte an den kleinen Jungen, blondgelockt und keck. Zuerst war er schüchtern gewesen, aber er war schnell aufgetaut und hatte die trostlose Dunkelheit ihrer Lage aufgehellt. Er war schüchtern gewesen - aber auf eine gesunde Art und vor allem war er neugierig gewesen. Es gab nicht viel das seinen wachen, glitzernden Augen entgangen war. Zu sagen, Matthew hätte den Kleinen gemocht wäre eine schreckliche Untertreibung gewesen und es hätte… keine Konstellation gegeben, in der er Gabriels Wunsch ausgeschlagen hätte.
Um es mit Clarence‘ Worten zu sagen: er hätte es sich sehr gut vorstellen können.
Aber es gab ihn nicht mehr und das Loch, dass sein Verlust hinterließ war schmerzhaft und klaffend. Doch der Junge war fort, keine zweite Chance würde es für ihn geben.
„Ich hätte es… mir auch vorstellen können. Ich hab… es mir schon in Denver vorgestellt.“, brach Matthew schließlich das Schweigen, wobei seine Stimme tonlos und deprimiert klang. Nach einem weiteren Moment der Stille hob er endlich wieder den Kopf und betrachtete den Mann vor sich.
Matt fühlte sich macht- und kraftlos und gleichzeitig versuchte er sich zu sagen, dass das nun mal das Leben war und er es ja irgendwie schon geahnt hatte. Aber stimmte das?
Ja, vielleicht schon. Nur besser machte es das nicht.
Mit beiden Händen umfing er schließlich das bärtige Gesicht seines Mannes und nötigte ihn dazu ihn ebenso anzusehen.
„Nichts davon wäre… in einer gerechten Welt passiert.“, hielt er fest, die Stimme ernst und bestimmt während in seinen Augen Tränen schimmerten.
„Aber du hast diese Welt nicht gemacht und dich trifft… keine Schuld, hörst du? Keine.“
Der Dunkelhaarige ließ keinen Zweifel daran offen, dass das was er sagte stimmte und auch wenn Clarence nicht gesagt hatte sich schuldig zu fühlen so wusste Cassie dennoch, dass er es tat.
„Und… für manche Geschichten… gibt es keinen richtigen Moment, sondern immer nur den falschen.“, beantwortete er letztlich doch noch die Frage des Größeren. Auf seinen Wangen hatten sich Tränen mit Regen vermischt, trotzdem hielt er den Blickkontakt aufrecht.
„Lass uns… nach Hause gehen. Und dann… erzählst du mir alles. Was aus den anderen geworden ist und…wie es Lucy geht. “ - dringender noch als zu Cameron hätten sie das Mädchen besuchen sollen, doch der heutige Abend war zu weit fortgeschritten um noch zu ihr zu gehen.
Morgen allerdings, im Licht des neuen Tages würden sie das nachholen. „Gehen wir.“