Zuhause
29. Dezember 2210
Es dauerte gefühlt ewig, bis Clarence ihm die Frage nach Kain und Abel beantwortete - zu sehr war er mit der Tür beschäftigt, die sich nicht ganz so leicht öffnen ließ.
Die Antwort die Matthew schließlich bekam, war nicht die Antwort mit der er gerechnet hatte und so war es wenig verwunderlich, dass dem Dunkelhaarigen ein überraschtes und freudiges „Was? Sie leben?“ über die Lippen kam.
Wo sie waren und wie es ihnen ging… davon berichtete Clarence ihm in groben Zügen, während er Matthew an die Hand nahm und ihn hinter sich herzog.
Die Diele war nicht sehr breit, aber lang. Eine dünne Jacke war der einzige einsame Bewohner dieses Raumes und sie hing verlassen in der Garderobe. Lange Zeit sich umzusehen hatte der Dunkelhaarige jedoch nicht, denn kaum hatten sie sich ihrer Schuhe entledigt zog Clarence ihn schon weiter. Der Wohnraum der sich an den Flur anschloss war größer als Matthew erwartet hatte und in der Luft schwebte der Geruch von getrockneten Kräutern und Holz.
Aufmerksam ließ der junge Mann den Blick schweifen und erkannte schnell, dass man sich in diesen Räumen zwar gelegentlich aufgehalten, aber nicht wirklich hier gewohnt hatte.
Auf dem Tisch befanden sich diverse Pergamente, Federhalter und mindestens zwei Tintenfässchen wie er auf den ersten Blick ausmachte. Eine heruntergebrannte Kerze rundete das Bild des leicht chaotischen Tisches ab. Und natürlich stand ein Sessel am Fenster - wie Clarence es gern hatte.
In der Küche hingen diverse, zu Bündeln zusammengefasste, Pflanzen und Kräuter. Die meisten waren schon durchgetrocknet und warteten darauf, dass der Blonde sie weiterverarbeitete, was bisher aber nicht passiert war.
Der Raum war nicht riesig, aber deutlich größer als ihr Wohnzimmer auf der Harper Cordelia.
Matthew ließ den Blick über die Küchenzeile und den Ofen schweifen, über einen weiteren Tisch und auch über das Bett, welches am anderen Ende des Raumes stand, neben einem großen Schrank.
Die Wohnung strahlte jenes Flair aus, wie es Zimmern zu eigen war in denen man sich nur gelegentlich aufhielt. Es war einigermaßen ordentlich, es war sauber aber es war nicht belebt.
Es gab wenige private Dinge zu entdecken, nichts was darauf hinwies, dass Clarence hier lebte - abgesehen von den Kräuterbündeln vielleicht.
Eine zerwühlte Decke auf dem Boden vor dem Bett zeugte von der Schlafstätte der Hunde, die jedoch nicht hier waren - sondern wahrscheinlich in ihrer Hütte, die ihnen die Jungs gebaut hatten. Welche Jungs auch immer…
Matthew, der seit seinem Aufbruch aus Denver keinerlei Normalität mehr erlebt hatte, war mit dem Nest welches Clarence ihnen geschaffen hatte, überfordert.
Aber es war nicht nur die Wohnung, sondern alles was seit ihrem Aufeinandertreffen passiert war. Clarence, der so verändert schien, die Stadt die er nicht kannte, die seinem Mann aber umso vertrauter war. Und natürlich die Ereignisse die sie nicht zusammen durchlitten hatten.
„Ich… es ist… absolut okay so. Viel mehr als bloß okay sogar.“ Er schenkte Clarence ein Lächeln dem man seine Unsicherheit nur ansah, kannte man ihn wirklich gut.
„Du hast dir… richtig Gedanken gemacht.“, man konnte sehen, dass der Blonde mit der Auswahl des Hauses nichts dem Zufall überlassen hatte und obwohl er nicht hatte wissen können, dass sie beide einander wiedersehen würden, hatte er sich um diesen Rückzugsort gekümmert. Ihn gesucht, ihn gefunden und über Monate hinweg nicht aufgegeben.
„Wenn ich ein bisschen… ein bisschen komisch bin, tut mir das leid. Es ist nur….“, er lächelte verlegen und brach den Blickkontakt kurz ab um sich nochmal in dem Raum umzusehen, ehe er wieder in Clarence‘ Gesicht schaute.
„Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich hier bin. Mit dir. Nach so langer Zeit… ich hab es mir lange vorgestellt aber jetzt hier zu sein ist… es fühlt sich nicht richtig real an.“
Wieder lächelte er vage und unsicher.
„Wenn es in Ordnung für dich ist, würde ich mich gern kurz frisch machen und aus den nassen Klamotten raus.“,
Vorhin war er so aufgeregt gewesen, dass er die Kälte gar nicht bemerkt hatte, aber mittlerweile war ihm richtig kalt.
Obwohl Matthew es weder verlangt noch erwartet hatte, ließ es sich der Blonde nicht nehmen, sich sofort um warmes Wasser zu kümmern. Er befeuerte den Ofen mit trockenen Scheiten während Matthew langsam in dem Zimmer umherging. Dabei bewegte er sich leise und mit eben jener angeborenen Eleganz die er schon immer zu eigen gehabt hatte, allerdings wohnte seinen Schritten auch eine gewisse Zögerlichkeit und Vorsicht inne.
Vor dem Badezimmer blieb er schließlich stehen und besah sich auch diesen Raum. Es gab ein niedliches Buntglasfenster durch welches das Tageslicht in farbigen Streifen hindurchfiel, ein Regal mit frischen Handtüchern, eine Toilette und einen Spiegel samt Ablagemöglichkeit.
Einen Zuber gab es nicht, aber die Möglichkeit sich zu duschen und natürlich eine Waschmuschel aus Keramik in die man Wasser geben konnte.
Es dauerte nicht lange bis das Wasser im Topf warm geworden war und Clarence es ihm brachte, um ihn dann in dem kleinen aber vollkommen ausreichenden Badezimmer allein zu lassen.
Matthew goss etwas von dem heißen Wasser zu dem kalten, dass er schon in das Waschbecken eingelassen hatte. Feine Schwaden Dampf kräuselten sich neckisch in der Luft während der Dunkelhaarige anfing sich zu entkleiden.
Unter dem dunkelgrünen Mantel trug er einen schwarzen Pullover. Der Pullover und auch die Hose waren klitschnass und als er beides abgestreift hatte warf er einen kurzen Blick in den Spiegel. Sein Oberkörper schimmerte vom Regen und seine blasse Haut verunzierten frische Narben.
Auf seiner rechten Seite prangten rötliche Male, im Halbkreis angeordnet und mit einem Durchmesser, größer als eine Handbreit. Die selben Narben hatte er auch auf dem Rücken, wodurch sich das Bild vervollständigte und kein Zweifel mehr daran blieb, was die Narben verursacht hatte.
Ebenfalls auf der rechten Seite am Rücken, umrahmt vom Halbkreis, befanden sich zwei kleinere Narben untereinander, eine davon war weniger gut verheilt und an den Enden fransig.
Sein linker Oberschenkel wies die selbe kreisförmige Narbe auf wie seine Taille es tat, auch diese Wunden waren verheilt aber das Gewebe rings herum war trotzdem noch gerötet.
Cassiel drehte den Oberkörper ein wenig seitlich und musterte kurz die Narben auf seinem Rücken, die er in der Form mangels Spiegel selbst noch nicht gesehen hatte.
„Ach Scheiße…“, kommentierte er den Anblick ehe er seine Begutachtung abschloss und sich daran machte sich zu waschen.
Das warme Wasser tat so unglaublich gut, dass Matthew sich beinah schon verwöhnt fühlte und den fehlenden Zuber nicht im Geringsten vermisste.
Das restliche warme Wasser nutze er schließlich um sich die Haare zu waschen, ein weiterer Luxus den er so seit Monaten nicht mehr hatte nutzen können.
Nach nur etwa fünfzehn Minuten war der junge Mann fertig und verließ das Badezimmer wieder. Er trug ein Handtuch um die Hüften und hatte die feuchten Haare wieder zu einem losen Knoten zusammengefasst.
Mit nackten Füßen tappte er zur Küche um den leeren Wassertopf abzustellen. Mittlerweile hatte sich die Temperatur in dem Raum deutlich erhöht, was angenehm war und zum ersten Mal seit Monaten war die Kälte aus Matthews Knochen vertrieben worden.
„Ich weiß, es ist schon ziemlich hell. Meinst du, wir haben trotzdem noch etwas Zeit uns hinzulegen? Oder bist du… willst du nicht?“
Er lehnte sich abwartend, noch immer unsicher, gegen die Küchenzeile und stützte sich mit den Händen hinter sich auf der Ablage ab - den Blick zu Clarence gerichtet.
Ihn hier zu sehen war noch immer surreal und würde es wahrscheinlich auch noch eine Weile bleiben.
Aber bei Gott, war er froh, wieder bei ihm zu sein.
So oft schon hatte Clarence sich vorgestellt wie es wohl sein würde, wenn er die überschaulichen vier Wände mit Matthew bewohnen würde. Wie es wäre wenn sein Mann hier wäre, wie er morgens mit zerwühlten Haaren noch etwas im Bett liegen blieb weil er gerne länger schlief als Clarence. Wie er sich einen von den zu weiten Pullovern seines Bären überzog und mit schlabbrigem Oberteil vor dem Schreibtisch stand, heißen Kaffee in der Hand und ihn zum Abkühlen etwas pustend, während er aus dem Fenster auf die Straße schaute um zu erspähen, wer bereits wach und auf den Beinen war. Er würde im Vorbeigehen den Kopf von Kain oder Abel kraulen und die beiden schon mal in den kleinen Hof laufen lassen damit sie sich bewegten und dann, wenn er befand dass er endlich wach genug war, würde er vielleicht zu Clarence unter die Dusche kommen. Weil es schön war einander zu haben und weil es noch schöner war, wenn man dabei nackt und eng aneinander geschmiegt sein konnte.
Und nun war er hier, aber so normal wie seine Vorstellungen gewesen waren, so wenig Normalität hatte in der kleinen Wohnung seitdem Einzug gehalten - weil ohne Cassie einfach nichts normal war.
Nichts kochen, nicht richtig im Bett schlafen, nicht mal anständig im Sessel entspannen hatte er geschafft. Nicht nur, weil das alles alleine nur halb so viel Spaß machte, sondern weil es sich ohne seinen Mann nicht richtig anfühlte in einer Wohnung, die er mit ihm zusammen zum Übergang hatte bewohnen wollen wie ein kleines Nest. Wie einen kleinen Kokon, an dem sie kein Übel dieser Welt mehr würde einholen oder verletzen können, geschweige denn entzweien.
Dass es für Cassie hier ‚viel mehr als bloß okay‘ war, ließ ihm ungehört einen kleinen Stein vom Herzen fallen; immerhin wäre nichts schlimmer gewesen als den Jüngeren so kurz nach seiner Ankunft schon direkt zu enttäuschen, auch wenn ihm klar war, dass es im Moment viel wichtigere Dinge für sie beide gab als ein Dach über dem Kopf oder wie der andere aussah.
Trotzdem stand er vor dem Spiegel und versuchte sich abermals mit ein paar Tropfen Wasser die ungebändigten Haare glatt zu streichen, kaum dass Cassie im Bad verschwunden war und heißes Wasser von ihm bekommen hatte.
Nicht nur für den bis vor knapp einer Stunde noch Verschollenen war es seltsam was gerade passierte, sondern auch Clarence fiel es schwer einfach so an das anzuknüpfen, was sie vor vier Monaten auf Eis gelegt hatten. Nicht, weil er seinen Mann nicht mehr wollte oder ihn als tot und beendet abgeschrieben hatte - sondern weil er noch immer nichts von alledem wusste, was in den letzten Wochen geschehen war.
‚Ich war unterwegs zu dir‘, das hatte Cassie ihm eben noch im Gasthaus geantwortet auf die Frage, wo um alles in der Welt er gewesen war. Eine Antwort, die so wenig darüber aussagte was tatsächlich geschehen war und die dem Blonden trotzdem mehr als genug verriet - denn wenn Matthew hätte reden wollen, hätte er wenigstens grob angedeutet was passiert war, anstatt ihn zu schonen.
Sie waren schon immer Meister darin gewesen sich zu vertrösten, einander im Dunkeln zu lassen was diverse Details anbelangte oder - zumindest in Claires Fall - auch manchmal einfach nicht mehr zu reden, wenn man dadurch nur unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen konnte.
Einander zu erzählen was einen bewegte, seine Gedanken laut auszusprechen oder Dinge auszudiskutieren… sich düstere Geheimnisse anzuvertrauen… das hatte Clarence mit Hilfe seines Mannes erst lernen und schätzen müssen und er hoffte nicht, dass sie das in den vergangenen Wochen wieder verlernt hatten.
Wirr und eilig rollte Claire indes die Pergamente auf den Tischen zusammen um Ordnung zu schaffen und warf auf die Holzstapel eben jene ganze Arbeit, die er sich zum Glück umsonst gemacht hatte. Briefe, Notizen, Listen mit Namen von Leuten, von denen er bereits Antwort erhalten hatte oder nicht - all das landete zum Verbrennen neben dem Ofen, bevor er die Landkarte mit Markierungen für seine geplante Reise zurück in den Westen in die Schublade des Schreibtisches stopfte. Lediglich die Gazetten der Metropolen, die er Mo‘Ann abgeschwatzt und aus den Rippen geleiert hatte, fanden ihren Platz auf dem Tischchen neben dem Sessel, falls Cassie sie lesen wollte - zusammen mit einer feinen goldenen Lesebrille, die ihm die Arbeit der letzten Wochen leider deutlich erleichtert hatte.
Claire war gerade dabei das Essen aus dem Weidenkorb umzuräumen und mit Tellern abzudecken, damit es bis zum Nachmittag nicht vertrocknete, als sein Mann aus dem Bad zurück kam und sich mit - so schien es ihm - gebührendem Abstand an der Küchenzeile anlehnte.
„Ich würde mein letztes Hemd hergeben für eine Mütze Schlaf. Ich hab nich mehr richtig geschlafen, seit…“, nachdenklich legte er die letzte Abdeckung auf und schob die Schüssel etwas von sich, während er zurück zu Matthew blickte, der den Großteil seiner Sachen abgelegt hatte. Es war eigentümlich aber schön wieder einen Menschen neben sich zu haben, der mit solch einer Selbstverständlichkeit halbnackt aus dem Bad kam und sich zu einem gesellte, dass man die Vertrautheit in jeder Sekunde spüren konnte. „Mhh… seit du weg bist nicht mehr. Mir egal wie hell es ist, ich würd mich auch mit dir hinlegen, wenn die Sonne direkt überm Bett auf- und untergehen würde.“
So gut und kräftig wie sich Cassie bei ihrer Umarmung durch die Kleidung hinweg angefühlt hatte, so gut sah er auch aus. Er war nicht besonders in die Breite und natürlich schon gar nicht in die Höhe gegangen, aber er war definierter als er ihn in Erinnerung hatte. Entweder das, oder die lange Trennung hatte ihm solches Kopfkino verursacht, dass er schon gar nicht mehr wusste wie gut und muskulös sein Mann schon immer ausgesehen hatte.
In zögerndes Kauen auf seiner Unterlippe war Clarence verfallen und je länger er ihn musterte, fielen ihm außer der definierten Silhouette seines Mannes zunehmend auch die feinen Narben auf, die zwar verheilt aber trotzdem noch frisch auf seiner Haut regelrecht leuchteten. Der Jäger kannte jeden Zentimeter von Cassies Körper, er hatte ihn Tage und Nächte hinweg studiert wie keinen anderen und so dauerte es schließlich auch nicht lange, bis sein Blick auf die weitaus größeren und prägnanteren Narben fiel, die einem auch nicht dann entgangen wären, würde man den jungen Mann zum allerersten Mal erblicken.
Schweigend ließ er die Hände von der Arbeitsplatte sinken und machte einen Schritt zurück und um Cassie herum, um mehr von den halbrunden Narben einfangen zu können, sie sich mit der Rückseite zu einem großflächigen Oval zusammenschlossen. Man musste kein Arzt sein um zu erkennen was für Narben das waren und das zunehmende Weichen der eben noch rosigen Gesichtsfarbe des Schamanen bezeugte, dass auch ihm es nicht schwer fiel, in diesem Moment eins und eins zusammen zu zählen.
„Dreh dich“, forderte er ihn monoton auf und winkte ihm kurz mit einer Hand gen Küchenfenster, damit er seine Kehrseite von der Arbeitsplatte weg bewegte und gleichzeitig weiter ins Licht, wo er ihn besser betrachten konnte. Der Typ, der es gewagt hatte mit seinem Mann aufzubrechen und nicht mal nach halber Strecke zu verlieren, mochte sich nicht daran erinnern können was geschehen oder welches Monster über sie hergefallen war - aber Clarence hatte seine Wunden gesehen und es hatte ihm gereicht um zu wissen, warum die Leute von Anfang an begonnen hatten ihm einzureden, dass Matthew tot sein musste.
Wortlos legte er eine Hand auf Cassies Schulter ab, damit er sich nicht von ihm weg drehen konnte, und löste mit der anderen Hand das Handtuch von der Hüfte seines Mannes. Lautlos fiel es zu Boden und schon eine kurze Inspektion reichte aus, um darunter auch das volle Ausmaß am Oberschenkel zu erkennen, das der vernarbten Wunde an der fremden Taille in nichts nachstand.
„Du siehst aus… als hättest du auch nicht besonders gut auf dich aufgepasst“, brummte Clarence leise und voller Vorwurf - doch nicht etwa weil er enttäuscht von Cassie war, sondern voller Vorwurf weil ihm das der Dunkelhaarige vorhin noch vorgeworfen hatte, obwohl er selbst doch gar nicht besser war.
„Hast du Schmerzen?“ - Ihm selbst tat es jedenfalls in jeder Faser seines Leibes weh ihn so zu sehen und auch wenn die Bisswunden gut verheilt und trocken aussahen, stach es ihn so tief ins Herz, dass er für einen Moment vergaß zu atmen.
Tief holte er Luft und seufzte, von einem Leid geplagt, mit dem er noch eben im Gasthaus der Stoggs nicht gerechnet hatte. Er wusste, dass es Cassie nicht mehr so schlecht gehen konnte wenn er es denn bis hierhin geschafft hatte auf einem Pferd. Er konnte laufen, atmen, reden und sehen, vier der wichtigsten Attribute die Claire sich erhofft hatte und zwei mehr, als Cassie in Cascade Hill City zustande gebracht hatte. Das war ein guter Schnitt und trotzdem machte er sich Sorgen, dass sein Mann noch weitere Dinge vor ihm verbarg, die sich seiner Sicht vielleicht entzogen.
„Was ist noch passiert, hast du sonst noch Verletzungen? Ich schwöre dir… ich lasse dich nie wieder alleine vor die Tür, immer passiert irgendeine Scheiße wenn man dich aus den Augen lässt.“
Zu hören, dass Clarence sich unter allen Umständen mit ihm noch ein bisschen hinlegen würde ließ Matthew lächeln.
Es war kein Wunder, dass der Blonde seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen hatte - immerhin wusste Cassie noch von früher, wie unruhig Clarence‘ Nächte in der Regel waren.
Erst mit der Zeit hatte sich das geändert, wenn sie eng aneinandergeschmiegt eingeschlafen waren.
Und vielleicht würde es ab sofort wieder so sein.
Matthew hoffte es.
Vertraut fühlte sich auch der musternde Blick des Größeren an, der von oben nach unten über ihn glitt. Aufmerksam und ernst, wie die Augen eines strengen Lehrers.
Er hatte sich nicht bemüht, die Narben irgendwie zu verbergen, denn sie waren so augenfällig, dass das ohnehin nichts gebracht hätte. Und obwohl sich zwischen ihnen im Augenblick alles etwas komisch anfühlte, so war er noch immer Clarence’ Mann und sich vor ihm zu verbergen wäre absolut falsch gewesen. Er würde selbst stocksauer sein, würde der Blonde ihm Wunden und Narben verheimlichen.
Der Blick seines Mannes drückte dessen Kummer, Sorge aber auch Verärgerung aus und nichts davon konnte Matthew ihm verübeln.
Auf die Bitte hin sich zu drehen, löste er sich von der Küchenzeile und ging näher zum Fenster damit sein Mann ihn besser begutachten konnte. Was er sah reichte ihm aber nicht und als würde er wissen, dass es noch mehr zu erblicken gab als nur die Male auf seinem Oberkörper und den Armen, löste er das Handtuch von Mathews Hüften und legte damit auch noch jene Narben an seinem Oberschenkel frei. Sie glichen denen an seiner Taille und das Gesicht des Älteren verdüsterte sich nochmals.
Die Worte, dass er augenscheinlich nicht gut auf sich aufgepasst hatte, hatte Matthew vorhin selbst gebraucht und nun nutzte Clarence sie als Revanche.
„Ich hab’s versucht.“, entgegnete der Dunkelhaarige wahrheitsgemäß und zunächst recht knapp, ehe er weitersprach.
„Es war…chaotisch, unübersichtlich… und alles ging viel zu schnell. Ich weiß nicht ob… ob es Zeichen gab die wir übersehen haben, aber ich glaube nicht. Wir waren nicht…nicht leichtsinnig.“, die gesamte Reise über waren sie auf ihr Ziel fokussiert, sie hatten bei Dämmerung gerastet, hatten abwechselnd Nachtwache gehalten, hatten ihre Vortäte klug rationiert.
„Cam ist…“, er schüttelte den Kopf. Den jungen Mann hatte es als erstes erwischt, er war angegriffen und übel zugerichtet worden.
Einen Moment schwieg der Dunkelhaarige und blickte betreten zur Seite. Er hatte versucht ihn zu retten, seine Wunden zu versorgen und das Ding von ihm weg zu bekommen. Er hatte sein Bestes gegeben und es hatte nicht gereicht, das war die bittere Wahrheit.
„Mittlerweile tut es kaum noch weh.“, wechselte Matthew das Thema und beantwortete die Frage des Blonden.
Das stimmte sogar weitestgehend, dabei waren nicht alle Tage gleich. Manchmal schien das Narbengewebe empfindlicher zu sein, manchmal taten ihm die Knochen darunter weh und wiederum an einem anderen Tag spürte er die Wunden gar nicht.
„Mehr hab ich nicht vorzuweisen, von wundgescheuerten Knöcheln mal abgesehen. Und… sei unbesorgt was meine Sehnsucht nach Ausflügen angeht… Ich hab nicht vor allein vor die Tür zu gehen. So schnell jedenfalls nicht.“
Die Trennung die hinter ihnen lag, hatte vieles von der selbstverständlich geglaubten Vertrautheit ausradiert, so schien es.
Kein Tag war vergangen an dem Cassie nicht an Clarence gedacht hatte. Er hatte ihn in jedem einzelnen Augenblick schmerzlich vermisst und nun da er wieder bei Clarence war hatte er Angst, dass die vergangenen Monate ewig zwischen ihnen stehen würden.
Noch immer etwas unsicher blickte Matthew Clarence ins Gesicht und machte erst einen Schritt rückwärts von ihm fort, bevor er zögerlich die Hand nach ihm ausstreckte und mit den Fingern den Handrücken des Blonden streifte.
Es war zunächst nur der Hauch einer Berührung, doch sofort ergriff Matt ein Gefühl von Vertrautheit und Nähe und Liebe. So lange hatte er ihn vermisst und nun stand er hier vor ihm und war so verdammt zögerlich. Er kannte diesen Mann seit Jahren, hatte mit ihm geweint und mit ihm gelacht, hatte mit ihm gestritten und sich wieder versöhnt. Vor seinem Aufbruch in Denver waren sie sich so nah gewesen und jetzt? Matthew ärgerte sich über seine eigene vermaledeite Zögerlichkeit. Sie ganz zu überwinden brauchte wahrscheinlich Zeit - das galt für sie beide - aber würde Clarence nicht mehr an sie glauben, hätte er diesen Ort nicht für sie gesucht und wochenlang an ihm festgehalten. Und was Cassiel betraf, so war der Gedanke an ein Wiedersehen alles was ihn aufrecht erhalten hatte. Sich der Unnötigkeit seines Haderns bewusst werdend, wurde aus dem vorsichtigen Streifen der fremden Hand schließlich ein sanfter Griff. Zärtlich ja, jedoch ohne Scheu. Behutsam schlossen sich seine Finger um die von Clarence und er zog ihn mit sich in Richtung Bett.
„Komm, wir legen uns hin.“ - es war nicht Müdigkeit die Matthew zu der Schlafstätte trieb, sondern das schlichte aber unbändige Bedürfnis nach Nähe und Normalität.
Der Wildling, dessen Haare viel kürzer waren als bei ihrem Abschied und viel gebändigter, sah so erschöpft aus wie auch Matthew sich fühlte.
Am Fußende des Bettes blieb Cassie stehen und blickte nach kurzer Musterung von Kissen und Decke zu Clarence auf. Es gab zwei Kissen und zwei Decken, wovon eine hoffentlich ungenutzt bleiben würde, weil sie eigentlich eh immer unter einer schliefen.
Alles was er in dieser Wohnung sah, war ein Ausdruck der Liebe seitens des Größeren und Matthew nahm es auch als solches wahr.
„Danke, dass du überlebt hast.“ sagte er unverwandt, wobei seine Stimme hörbar belegt von Emotionen klang.
Das Herz des Dunkelhaarigen schlug schnell und kräftig in seiner Brust, er war aufgeregt obgleich er das nicht sein sollte, denn es würde sie immer mehr verbinden als trennen wie er wusste.
Kurz schlossen sich seine Finger noch einmal fester um die Hand des Größeren, dann löste er den Griff schließlich wieder und folgte der Bitte seines Mannes, sich auf die rechte Bettseite zu legen. Warum, dass wusste er freilich nicht genau, wenngleich er ahnte, dass die Verletzung an der Schulter die sich Clarence beim Absturz zugezogen hatte noch immer nicht ganz kuriert war und er deshalb auf dieser Seite nicht liegen konnte.
Als seine Finger über die weiße Bettwäsche strichen fühlte sich diese etwas fest an, Zeichen dafür, dass sie frisch gewaschen und im Wind getrocknet war.
Und so roch sie auch, als Matthew sich erst setzte und schließlich bis zur Brust unter der Decke verschwand. Ganz legte er sich jedoch nicht hin, sondern blieb mit dem Rücken am Kopfteil lehnen, den Blick aufmerksam auf Clarence gerichtet.
„Du hast mich gesehen… jetzt möchte ich dich sehen.“ erklärte er das Offensichtliche und wartete, dass Clarence seine Sachen ablegte.
Traurig, mitgenommen und blass betrachtete Clarence sich die Narben an Oberschenkel und Taille seines Mannes. Seines Mannes, den er damals hatte eigentlich nicht gehen lassen wollen und den er besser mit Gewalt bei sich behalten hätte, denn dann hätte er diese Verletzungen vielleicht nie erleiden müssen, die ihn nun zierten.
Dabei tat es ihm weniger um ihn selbst weh, immerhin war Cassie für ihn schon immer ein verdammt schöner Kerl gewesen - egal ob mit oder ohne Narben, mit oder ohne bunten Bildern unter der Haut, mit oder ohne den Schrammen, die sein Gesicht mittlerweile zierten.
Aber es tat ihm um Matthew leid, von dem Claire wusste dass er es nicht mochte, derart gezeichnet zu sein.
Die Wunden sahen nicht mehr frisch aus und schienen verheilt, zumindest was die offensichtlichen Verschorfungen anging, die man hätte erwarten können. Doch die Naben an sich, die eines Tages sicher glatter und blasser sein würden, prangerten noch immer in tiefstem Rot auf seiner blassen Haut und glichen dabei einem Mahnmal das sie in Claires Augen beide zu beschwören schien, sich bloß nie wieder so lange und so weit entfernt voneinander zu trennen.
Wer hatte ihn versorgt, wenn nicht Cameron? Wer hatte ihm saubere Verbände angelegt, sich für ihn um Essen und sauberes Wasser gekümmert und versucht seine Schmerzen zu lindern, wenn niemand bei ihm gewesen war?
So viele offene Fragen lagen ihm auf der Zunge, weit mehr als er an diesem Morgen würde stellen können und vielleicht sogar noch mehr, als sie sich in den ersten Tagen würden beantworten können. Er wollte sich nicht vorstellen durch welches Martyrium Matthew gegangen war, nur um zu ihm zurück zu kommen und wie elendig er sich dabei gefühlt haben musste, immer im ungewissen, ob sich diese Qual überhaupt lohnte oder ob er an einen Ort zurück kehrte, über den sich Tod und Leere gelegt hatten.
„…ich lasse dich auch so schnell nicht alleine irgendwo hin oder überhaupt wieder weg von hier“, entgegnete Clarence leise nach einem schweren Seufzen und betrachtete sich die tiefen Vernarbungen der Bisswunden abermals. Er hatte sich nicht mal annähernd getraut einen Finger an sie zu legen, obwohl ihm sonst immer stark daran gelegen war seinen Mann ganz genau zu inspizieren - und sicher würde es auch noch eine ganze Weile dauern, bis er den respektvollen Sicherheitsabstand überbrückte.
„Und ich… gehe auch so schnell nirgendwo hin. Da muss schon jemand kommen und mich an den Füßen voran durch die Tür über den Hof tragen, dass ich mich von hier entferne.“
Er wusste nicht mal, ob er heute noch zum Haupthaus zurück wollte um die Hunde zu holen oder jemandem davon zu berichten, dass er die kommenden Tage seiner Arbeit nicht mehr nachgehen würde. Er wollte keine Adrianna an der Tür haben, die klopfte um Cassie zu begrüßen oder jemanden, der ihn befragen wollte wegen Cameron - wobei der Blonde sich noch immer nicht sicher war, ob sein Mann von dessen Überleben wusste oder nicht. Sollte er ihm davon berichten?
Vielleicht - aber dann würde Matthew im schlimmsten Fall gleich zu ihm wollen anstatt bei Clarence zu bleiben und das war etwas, das er im Moment am allerwenigsten wollte.
Als würde er ahnen, dass er seinen Bären von düsteren Gedanken ablenken muss, legte er zögerlich die Finger um seine Hand und zog ihn hinüber zum Bett das so jungfräulich dalag, wie es schon seit Anmieten der Wohnung war. Es waren Decken und Kissen, in denen er sich alleine nicht wohl fühlte, weshalb er es nie genutzt hatte um hier zu übernachten und trotzdem oder… gerade deshalb war es umso schöner anzusehen, wie Matthew kurz mit den Fingern über die weiße Wäsche strich, nur um kurz darauf darunter zu verschwinden. Fast so wie damals auf der Harper Cordelia, als sie ihr offiziell erstes gemeinsames Ehebett eingeweiht hatten.
Wie er so dort saß, unter der Decke verschwunden und ihn aufmerksam auffordernd sich auch zu entkleiden, kam Clarence trotz aller Anspannung und fehlender Normalität nicht umhin mit einem mal kurz aufzulachen, auch wenn ihm eigentlich nicht danach war.
„Hat ein bisschen was von einer Hochzeitsnacht in meiner Heimat. Findest du nicht?“, merkte er an und schüttelte ob der verschriebenen Komik den Kopf, den die ganze Situation hier hatte. Die Angst sich anzufassen, diese Anspannung in der Luft, dieses unsichere Herumgetanze umeinander… und schließlich, dass man sich jetzt auch noch einander zeigen musste was man hatte, einer nach dem anderen. Selbst dann, wenn es nur Verbände und Narben waren statt dem, was unter der Unterwäsche lag.
Unsicher räusperte er sich und zögerte schließlich doch nicht länger sich aus dem Pullover zu schälen der einst dem Jüngeren gehört und der ihm früher nicht gepasst hatte, als sie in Denver noch zusammen gewesen waren. Doch Zeiten änderten sich, vor allem wenn man nicht wusste ob der eigene Ehemann noch lebte oder nicht.
Etwas ungelenk schälte er sich aus dem Stoff, die linke Schulter durch das lederne Geschirr eingeschränkt, das das Gelenk an Ort und Stelle halten sollte, damit es hoffentlich verheilte und wieder etwas belastbarer wurde. Es war ein ähnliches Prinzip wie sie es damals schon in Denver versucht nur nicht konsequent genug angewandt hatten, da er beweglich hatte sein müssen um sich nützlich zu machen und Clarence mochte es heute nicht lieber als damals, das sah man ihm auch deutlich an.
Anfangs hatte er sich daran noch wund gescheuert und deshalb seinen Arm bis hoch zur Schulter einbandagiert, mittlerweile zierte nur noch seinen Unterarm bis zum Ellenbogen ein dicker Verband, der sich gut unter Ärmeln und Jacken verbergen ließ. Seine Narben im Gesicht waren längst verheilt und hatten nicht annähernd so lange gebraucht wie der Rest seines Körpers, der sich lange Zeit sehr schwer damit getan hatte eben jene Infektion zu bekämpfen, die man der Wunde unter dem Verband heute nicht mehr ansehen konnte.
„Im Gegensatz zu dir sehe ich nicht aus wie ein angekautes Häppchen auf einer Vorspeisenplatte, da muss ich dich leider enttäuschen. Das war es schon“, fasste er grob zusammen und zum Beweis, dass er sonst nichts zu verbergen hatte, drehte er sich kurz vorm Bett als auch die Hose ihren Weg auf den Boden gefunden hatte, damit Cassie seine Rückseite genauso gut betrachten konnte. Es war seltsam, wie schnell sich die Dinge immer wieder zwischen ihnen änderten und doch immer gleich blieben - mal präsentierten sie sich einander gegenseitig um sich einzuheizen, manchmal einfach nur um sicher zu gehen, dass sie nicht noch irgendwo lebensgefährliche Verletzungen voreinander versteckten. Es war ein ewiger Kreislauf dem sie nicht entkamen und der sie doch schon so oft gerettet hatte, damit sie einander immer wieder zusammenflicken und füreinander heilen und genesen konnten.
„Zufrieden?“, wollte er wissen und zog den letzten Vorhang in der Nähe des Bettes zu, der vorne zur Straße hin zeigte und verbarg sie so endgültig vor neugierigen Blicken, um ihre Privatsphäre später vor neugierigen Besuchern zu schützen, sollte es sich jemand erdreisten tatsächlich anzuklopfen und nach den Neuigkeiten des Tages zu fragen.
Erst dann setzte er sich zu Cassie aufs Bett und rutschte etwas an ihn heran. Doch nicht etwa auch an das Kopfteil des Bettes gelehnt, sondern ihm gegenüber zugewandt, ihn abermals aus der Nähe musternd wie einen verschollenen Schatz, der endlich wieder aufgetaucht war.
„Ich hab dich so sehr vermisst“, wisperte er nach einer kurzen Pause leise und zog zaghaft die weiße Decke etwas von Cassies Brust hinab. Es war warm genug um sich nicht zu verbergen und er wollte seinen Ehemann ansehen - richtig ansehen, so wie es ihm gebührte als Mann, den Matthew fast mal wieder zum Witwer gemacht hatte.
„Ich würde vorschlagen… damit es nicht mehr so seltsam ist… geben wir uns jetzt einen Kuss und dann lädst du mich unter die Decke ein, damit endlich alles wieder so ist wie es sein sollte. Klingt das gut oder hast du was dagegen einzuwenden?“
Als Clarence‘ kurzes Gelächter plötzlich den Raum erfüllte, war das Geräusch vollkommen unerwartet für Matthew.
Seinen Mann hier und jetzt lachen zu hören und sei es nur kurz, war etwas womit der Jüngere nicht gerechnet hatte und was ihm so plötzlich das Herz wärmte, wie ein Sonnenstrahl der sich unerwartet durch eine winterliche Wolkendecke brach.
Matthews Gesicht erhellte sich und er stimmte dem Blondschopf unumwunden zu.
„Ja… so stelle ich mir das vor in deiner Heimat. Fehlt nur noch das Gemeindeoberhaupt vor der Türe, das darauf acht gibt, dass die Ehe auch vollzogen wird.“
Cassie hatte keine Ahnung ob das wirklich so war, aber den Fanatikern wurde dergleichen und noch viel verrückteres Zeug nachgesagt.
Der kurze Moment unverhoffter Heiterkeit hatte jedoch leider keinen Bestand, denn als Clarence begann sich zu entkleiden konnte Matthew auch erstmals erkennen, wie viel Muskelmasse der einstige Hüne verloren hatte.
Er war noch immer athletisch und gut gebaut, doch er hatte sichtlich an Breite verloren und war weniger kompakt.
Ging es Clarence nicht gut, neigte er dazu schnell abzubauen und andersherum tendierte er ebenso schnell dazu ein Bäuchlein anzusetzen, fühlte er sich wohl und die Bewegung fehlte. All das kannte Matthew schon, trotzdem tat es ihm weh, Clarence so zu sehen und zu wissen, dass sein Mann schlimmes durchlitten haben musste.
Es lagen keine guten Zeiten hinter ihm, man sah es ihm an. Aber man sah es nicht nur an seinen Narben, die Matthew in seinem Gesicht und am Hals ausmachte, sondern vor allem in seinen Augen.
Dass der Hüne herumflachste und Matthews Anblick mit dem eines angeknabberten Häppchens verglich, täuschte den Jüngeren nicht darüber hinweg, dass die Narben seines Mannes zwar weniger auffällig waren, aber die Wunden selbst damals nicht weniger lebensbedrohlich.
Und als sein Mann endete mit den Worten „…das war es schon.“, huschte der Blick des Kleineren kurz dem bandagierten Unterarm über den Clarence kein Wort verlor.
Es wäre ein leichtes gewesen den Blonden auf den Verband hinzuweisen und sich einen Blick darunter zu erbitten, aber ein Verband hatte ja eine Funktion und einen Sinn.
Ihn nun zu lösen würde nur dazu führen, dass man das was unter ihm lag neu versorgen und dann frisch abdecken musste. Und wahrlich, im Augenblick hatten sie andere Dinge als Wundversorgung nötig.
„Später zeigst du mir was unter der Binde ist.“ - keine Frage, kein Wunsch sondern eine Feststellung an der Matthew keinen Zweifel ließ, dass es genau so kommen würde.
Clarence widersprach ihm nicht was das anging, zog den letzten Vorhang neben dem Bett zu und gesellte sich dann auf die Matratze. Statt neben ihn zu kommen bezog er jedoch erstmal Stellung am gegenüberliegenden Ende des Bettes wo er sich anlehnte und Matthew musterte.
Der Jüngere erwiderte seinen Blick, wobei er nicht sicher schien wie es nun weiterging.
Ein wenig unsicher fing er an, an der Bettdecke zu zupfen und zu nesteln bis Clarence selbige ein Stück von ihm wegzog und Matthews Brust entblößte.
Es war ein eigentümlicher Moment. Merkwürdig, weil Clarence Vergleich mit der Hochzeitszeremonie bei den Verrückten schon wieder zu passen schien.
Und als hätte der Blonde seine Gedanken irgendwie aufgeschnappt, brach er sein Schweigen und damit auch den Bann aus fragwürdigem Zaudern.
Sein Vorschlag sich einfach einen Kuss zu geben und damit den seltsamen Eiertanz zu beenden den sie umeinander vollführten, war so direkt und trocken, so absurd und ohne Scheu, dass Matthew zu lachen anfing noch ehe er sich dessen überhaupt bewusst wurde.
Die Wortwahl seines Mannes traf den Nagel auf den Kopf und machte, dass ein beachtlicher Teil der betretenen Distanz einfach so dahinschmolz wie Schnee an einem ersten warmen Frühlingstag.
Noch immer lächelnd lehnte sich Matthew nach vorne, stützte sich mit beiden Händen neben sich ab und beugte sich zu dem Blondschopf um ihn ohne zu zögern zu küssen.
Es war ihr erster richtiger Kuss seit über sechzehn Wochen und Matthew schloss überwältigt von dem Gefühl der Erlösung die Augen. Das surreale Gefühl zu träumen wich der Erkenntnis es wirklich geschafft zu haben.
Sie waren beide noch hier, hatten sich beide durch beschissene Zeiten gekämpft, hatten gelitten und Blut und Tränen gegeben… aber sie waren noch da.
Ohne den Kuss zu lösen schaffte es Matthew sich soweit aufzustützen, dass er ein Bein anwinkeln und unter sich bringen konnte, sodass er beide Hände wieder frei hatte. Sehnsüchtig und ohne die absurde Zurückhaltung der ungefähr letzten neunzig Minuten, legte er die Hände an Clarence’ Wangen, das Gesicht des Wildlings umrahmend wie er es schon hunderte Male getan hatte und hoffentlich noch hunderte Male tun würde.
Behutsam nahmen seine Finger ihr Tun auf, als er begann durch den goldblonden Bart zu kraulen. Kürzer und mehr in Form war selbiger als noch vor vier Monaten, aber das Gefühl unter Matthews Händen war das selbe. Und sein flatterndes Herz überschlug sich nicht etwa vor Angst und Unsicherheit, sondern vor Euphorie und Liebe.
„Ich hab dich auch so sehr vermisst.“, flüsterte der Dunkelhaarige gegen den eben noch geküssten Mund, den zu spüren das Schönste auf der ganzen Welt war.
Als er die Augen wieder aufschlug, lag in seinen Iriden ein verräterischer Glanz, aber es spiegelte sich auch jenes Glücksgefühl wider, dass auch sein Herz so rasen ließ.
„Und jetzt… hör auf zu trödeln und komm endlich zu mir unter die Decke.“
Dank dem Kuss befand er sich streng genommen selbst nicht mehr darunter, aber dieser Umstand ließ sich zum Glück schnell wieder ändern. Allerdings nur mit Clarence neben sich, statt ihm gegenüber.
Der Blonde ließ sich zum Glück auch nicht zweimal einladen, sondern folgte der Aufforderung des Jüngeren nur allzu bereitwillig. Und als er endlich seinen Platz eingenommen hatte, dauerte es kaum länger als wenige Sekunden, bis sich Matthew an ihn schmiegte, die Hand auf Clarence‘ Brust ablegte und behutsam über die Haut strich, den Blonden dabei nicht aus den Augen lassend.
Der Moment, in dem der junge Mann vor ihm kurz auflachte nur um wenige Sekunden später zu ihm zu krabbeln und ihn zu küssen, war einer der schönsten Augenblicke der letzten sechzehn Wochen - gleich hinter Cassies Ankunft in Falconry Gardens vor nicht mal zwei Stunden. Der Kuss, den sein Ehemann ihm schenkte, war so erlösend, dass er sich fast vorkam wie eine der Prinzessinnen aus den Märchen der Alten, die aus dem Schlaf der ewigen Verdammnis wach geküsst wurde… und das, obwohl Cassie doch sonst seine Brinsessin war.
Hinter geschlossenen Augen schmiegte er sanft sein Gesicht in die ihn umrahmenden Hände des Jüngeren und lehnte sich dem zarten Kuss entgegen, der nicht zurückhaltend und doch keusch seine Lippen benetzte. Keine wilde Leidenschaft war es die sie ritt, nicht das alles verzehrende Verlangen das sie schon oft alles um sie herum hatte vergessen lassen und doch war es eine der schönsten Liebkosungen, die er je in seinem Leben erhalten hatte und die sich nicht mal halbwegs so trocken war, wie sich der Vorschlag dafür angehört hatte.
Mit einem zufriedenen Schmunzeln auf den Lippen leckte sich Clarence über selbige, kaum dass sie sich wieder voneinander gelöst hatten, um betrachtete sich zufrieden seinen Mann, der sich gleich wieder viel weniger fremd anfühlte als eben noch. Auch ließ er sich kein zweites Mal bitten, damit er schließlich zu Cassie unter die Decke schlüpfte und in die noch starren Laken sinken ließ. Die Bettwäsche war nicht eingelebt, genau wie der Rest der Wohnung und doch zweifelte Clarence nicht daran, dass sich das in den kommenden Tagen schnell ändern würde.
„Mhhh…“, brummte er leise, ein Geräusch das auf abstruse Weise sowohl Wohlwollen ausdrückte als auch Unsicherheit darüber, was er nach all der Zeit von der ungewohnten Situation halten sollte. Vorsichtig wühlte er sich mit den Schultern etwas tiefer ins Bett und reckte nach kurzem Zögern seinen gesunden Arm unter seinem Mann hindurch, ihn enger an sich ziehend und bei sich behaltend damit der Jüngere bloß nicht daran zweifelte, ob er ihm so nah sein durfte oder nicht - denn ganz offensichtlich gab es noch immer ein Manko, das das Kuscheln eigentlich unmöglich machte:
„Du bist ja noch immer eiskalt. Ich weiß nicht, ob empfindliche Wenigkeit damit tatsächlich Schlaf findet“, bemerkte er anprangernd und beobachtete die fremden Finger, wie sie mit kühlen Spitzen über seine Brust streichelten. „Soll ich dich lieber in einen dicken Pullover packen? Oder geht es?“
Schon jetzt wusste er, dass Cassie auf jedes Kleidungsstück dieser Welt verzichten würde wenn er sich stattdessen am Blonden wärmen konnte. Aber fragen musste man ja mal und sei es nur, um den Eindruck eines waschechten Gentleman zu hinterlassen.
Doch statt seinem Angebot Taten folgen zu lassen, rutschte er ein klein wenig weiter auf die Seite und dem Dunkelhaarigen entgegen; gerade weit genug um ihm etwas zugewandt zu sein, aber nicht so ausladend, dass sein Mann die wohlige Position an seiner Seite verlassen musste.
Mit wachem Blick musterte er aus nächster Nähe das fremde Antlitz, verfolgte jedes der vertrauten Fältchen, jedes Haar und jede feine vernarbte Unebenheit, die Matthew sich in der Zeit mit ihm zugezogen hatte. Noch immer war er so schön wie zur Zeit ihres Kennenlernens und vielleicht sogar noch etwas schöner geworden mit jeder Sorgenfalte, in der Clarence erkannte, wie sehr sein Mann ihn liebte und sich um ihn kümmerte.
„Weißt du…“, begann er zögernd und seufzte kurz, so als müsse er über die folgenden Worte nachdenken und sich erst nochmal genau Gedanken darüber machen. Dabei schob er einen Fuß über Cassies Knöchel hinweg und zog ihn langsam zu sich - so weit, bis er den Schenkel seines Ehemannes erfolgreich als Geißel zwischen seinen eigenen Beinen genommen hatte und sich mit leisem Rascheln der Bettdecke sorgsam mit ihm verknoten konnte.
„Dir ist schon klar, dass ich dich ausschlafen lasse… und danach kontrollieren muss, ob unter deiner Shorts auch alles heil geblieben ist. Wenn du mich nachher auswickeln willst weil dir das so nicht reicht, dann muss ich auch ganz genau arbeiten und härtere Saiten aufziehen.“
Was er sagte klang nach Humor und war doch bitterernst gemeint, das wusste Cassie sicher zu deuten und trotzdem hatte seine Überlegung in seinem Kopf noch mehr Sinn gemacht als laut ausgesprochen. Ohne ihren Esprit von vor einem halben Jahr, unter dem sie die Finger nicht voneinander hatten lassen können, klag sein Versuch zu flirten regelrecht plump und er wusste nicht ob es an den Monaten lag die zwischen ihnen lagen, der Müdigkeit oder ob er es ganz einfach verlernt hatte, wie man mit dem eigenen Ehemann einen eindeutig zweideutigen Flirt führte.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit war einfach Letzteres der Fall.
Trotzdem ließ er sich nicht beirren Cassie nahe zu sein und begann vorsichtig damit, mit den Fingerspitzen über seine Flanke hinweg zu streicheln. Selbst jetzt, die Vorhänge zugezogen und mit keiner anderen Lichtquelle außer dem flackernden Feuer hinter dem kleinen Ofenglas, konnte man die Bissmale dunkel von seiner Haut empor strahlen sehen, sodass seine Finger sich mit gebührendem Abstand zu den grobschlächtigen Narben bewegen konnten.
„Erzählst du mir nachher, was passiert ist und wo du gewesen bist?“, wollte er leise wissen, nachdem für einen Moment nichts anderes außer dem leisen Prasseln des Feuers zwischen ihnen gelegen hatte. Wohlig warm war die Wohnung mittlerweile geworden und unter der Bettdecke, mit Cassies Schenkel zwischen den seinen, wurde es Clarence gleich noch mal viel wärmer. Doch obwohl er müde war fiel es ihm schwer nun einfach die Augen zuzumachen und zu schlafen, viel zu aufregend war all das, was in den vergangenen zwei Stunden geschehen war.
Die plötzliche Nähe zueinander war einerseits ungewohnt und fühlte sich andererseits vertraut und richtig an.
Matthew ließ den Größeren nicht aus den Augen, fast so als würde er befürchten, dass er verschwinden könnte würde Matthew auch nur einen Moment nicht auf ihn achten. Und wahrlich, wenn das hier ein Traum war, dann würde er es nicht überleben aufzuwachen und festzustellen, dass Clarence fort war. Also wandte er den Blick nicht ab, sondern musterte den Blonden intensiv und voller Aufmerksamkeit und zu gleich schien er ungläubig, ihm wieder so nah zu sein.
Mit den Fingern streichelte Matthew sacht über die Brust des Wildlings, wobei er vorsichtiger war als er es vermutlich hätte sein müssen.
„Ich brauche keinen Pullover. So wie es gerade ist, ist es perfekt.“, er schenkte Clarence ein kleines Lächeln, dann hob er die Hand und legte sie sanft auf der Wange des Blonden ab um behutsam über seinen Bart zu streicheln.
Wochenlang hatte er sich gequält, war sicher gewesen, dass er Clarence nie wieder sehen würde. Und nun lag er mit ihm in diesem fremden Bett und er konnte seine Haut auf der eigenen spüren.
Es gab nichts besseres für den Moment.
Behutsam nahm Clarence schließlich seinen Schenkel gefangen und entlockte dem Jüngeren ein weiteres kurzes, amüsiertes Auflachen mit seiner Bemerkung.
„Du bist so ein Quatschkopf, Clarence Sky.“, entgegnete er lächelnd und tippte dem Größeren mit dem Zeigefinger geben die Stirn.
Aber gleichzeitig schmiegte er sich der zärtlichen Berührung des Blonden entgegen. Die Zeit die verstrichen war änderte nichts an der Liebe zueinander und auch wenn sie gerade erst dabei waren wieder richtig warm miteinander zu werden, so hoffte Cassiel, dass ihre Sehnsucht nacheinander nicht erloschen war.
Seine war es jedenfalls nicht.
Und würde Clarence beschließen, dass er jetzt einen Blick unter Matthews Shorts werfen wollte, würde der Jüngere ihn gewähren lassen. Und mehr noch als das, sich das selbe recht beim Blondschopf einfordern.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, hm? Wenn das so ist, werde ich auch noch genauer nachsehen müssen.“
Seine Worte klangen amüsiert und sein Lächeln war es auch, doch der Ausdruck in seinen dunkelbraunen Augen zeigte neben Erheiterung durchaus noch etwas anderes. Sich die Lippen mit der Zungenspitze befeuchtend rutschte er noch ein bisschen näher an Clarence heran und gab ihm einen verliebten, sanften Kuss.
„Ich erzähl dir alles was du hören willst. Aber du musst mir versprechen, dass gleiche zutun.“
Er musterte Clarence erneut und setzte mit dem Zeigefinger hauchzart auf eine der parallel verlaufenden Narben an, die Clarence ins Gesicht gezeichnet worden waren.
Behutsam folgte er der Linie und blickte schließlich wieder in die Augen des Wildlings.
„Es ist so viel passiert.“, flüsterte Cassie und wusste, dass Clarence ihm in dieser Hinsicht nicht widersprechen würde. Sie hatten beide viel erlebt und zumindest Matthew konnte mit Sicherheit sagen, dass die wenigsten Erlebnisse seit ihrer Trennung gut gewesen waren.
„Es ist so….“, nun lächelte er wieder „… unglaublich, dass wir wieder zusammen sind. Ich hab es mir… immer gewünscht und ich hab dich so… unglaublich vermisst. Dich jetzt vor mir zu sehen ist… noch viel schöner als ich es mir vorstellen konnte.“
Zärtlich ließ er die Fingerspitzen über Clarence‘ Hals gleiten. Sie tanzten behutsam über das Schlüsselbein hinweg und wanderten federleicht wieder hinunter zur Brust des Blonden. Dort verloren sie sich beim behutsamen Tanz um eine der rosigen Knospen.
Unsicher hob er den Blick vom zarten Rosa und richtete ihn wieder in das Antlitz des Größeren. Die Zeit die zwischen ihnen lag, stand nun mehr auch zwischen ihnen.
Doch wie Clarence zuvor schon einen beachtlichen Teil der Distanz zwischen ihnen ausgemerzt hatte, in dem er vorgeschlagen hatte sich einfach zu küssen, so hoffte auch Matthew darauf, jene Vertrautheit wieder heraufbeschwören zu können, von der sie beide vor über sechzehn Wochen beseelt gewesen waren.
Cassie schlug die Augen nieder, stupste sacht mit der Nase gegen die seines Mannes und nahm die Gegenwart und das ganze Sein des Blonden mit allen Sinnen wahr.
Vorsichtig suchte er die Lippen des Wildlings und hauchte einen zarten, liebevollen Kuss darauf. Und als er spürte, dass seine Liebkosung erwidert wurde, öffnete Matthew seine Lippen einen winzigen Spalt breit und ließ die Spitze seiner Zunge zärtlich über den so unsäglich vermissten Mund seines Mannes streichen.
Sein Herz hämmerte dabei so kräftig in seiner Brust, dass er das Pochen selbst hören konnte.
Behutsam benetzte er Clarence‘ Lippen erneut, wagte sich vor auf ein Terrain welches nicht unbekannt war - sich aber nach all der Zeit irgendwie doch so anfühlte.
Doch noch etwas anderes fühlte Cassie während des Kusses: das vertraute, brennende Prickeln auf seiner Haut und das ziehende Kribbeln in seinem Bauch, welches nur die Nähe zu Clarence hervorzurufen vermochte.
„Ich will nicht einschlafen und aufwachen… um festzustellen, dass all das hier nur ein Traum war.“, wisperte er und öffnete die Augen wieder, jedoch ohne auf Distanz zu gehen. Noch immer waren ihre Lippen so dicht beieinander, dass er die Wärme des fremden Atems spüren konnte und wenn es nach Matthew ging, würde sich daran auch nichts ändern.
Hier zu liegen mit Matthew war etwas, das ihm gestern Abend noch nicht möglich erschienen war. Den fremden Atem auf seiner Haut zu spüren, Cassies Duft in der Nase zu haben und seine weiche, warme Stimme zu hören - all das war nichts weiter gewesen als eine Erinnerung. Schön zwar, aber nichts, das die Zeit ihm noch ein weiteres Mal schenken würde.
Nachdem der Dunkelhaarige am dreizehnten diesen Monats nicht durch die Tore der Stadt gekommen war, hatte Clarence mit dem Gedanken an seine Ehe abgeschlossen. Diese Erkenntnis war nicht etwa plötzlich und unerwartet gewesen, sondern fast die logische Konsequenz auf die zurückliegenden Wochen, in denen man ihm genau das herunter gebetet hatte:
Matthew kam nicht zurück. Matthew war tot.
Eine tiefe Leere hatte seitdem von ihm Besitz ergriffen und es gab nichts und niemanden, der ihn davon aufheitern konnte. Keine Ablenkung, kein Spaziergang mit den Hunden und kein noch so schöner Sonnenschein war in der Lage gewesen ihn von dem zu kurieren, was ihn von innen heraus aufzufressen drohte.
Er wusste, auf jeden Abend würde ein neuer Tag folgen und trotzdem war es ihm unmöglich erschienen eine neue Woche, einen neuen Monat oder gar das neue Jahr, das bald anstand, ganz alleine ohne seinen Mann zu begehen.
Clarence hatte sich auf ein Leben zu zweit eingestellt und so unmöglich wie ihre Verbindung ihm am Anfang noch erschienen war, so unvorstellbar war nun ein Leben ohne den Jüngeren für ihn geworden.
In eben jener größten Not, die sich in den zurückliegenden zwei Wochen bei ihm eingeschlichen hatte, schien sein Böckchen die verzweifelten Stoßgebete erhört zu haben in denen der Bär immer wieder darum gefleht hatte, man möge ihm seinen Geliebten zurück schicken. Ganz egal durch welche Macht oder welches übermächtige Wesen ihn erhörte, es war ihm egal gewesen, so lange das Ergebnis seines Flehens nur das gleiche war und ihm seinen Mann zurück brachte.
Und hier war er, eingekehrt und bei dem Blonden angemeldet in den frühesten Morgenstunden, zur Zeit eines Wahrnehmungszustandes während dem Claire dachte, die Worte von Rookie wären nichts anderes als einer der wirren Fieberträume, die ihn in den vergangenen Monaten so oft heimgesucht hatten.
Doch wenn er träumte, dann wollte er nie wieder erwachen.
Dann wollte er das amüsierte Lachen des Jüngeren hören bis Cassie die Luft dafür ausging, wollte den fremden Schenkel zwischen seinen gefangen halten bis er seine eigenen Füße nicht mehr spürte und ihn bei sich in diesem Bett behalten, ihn küssend und auf sich spürend, bis sie miteinander und den Laken unter sich verwachsen waren.
Einen Quatschkopf nannte Cassie ihn und doch war er für ihn nie genug Clown gewesen, um sich von dem blonden Verrückten fern zu halten. Auch jetzt waren die weichen warmen Lippen des Jüngeren auf seinen eine solch willkommene Abwechslung von den vergangenen Wochen, dass Clarence im ersten Moment fast vergaß den Kuss zu erwidern, so sehr fühlte er sich aus der Übung geraten und beinahe von all der Nähe, die ihm widerfuhr, etwas überfordert - doch zum Glück auf eine gute Weise, die ihn nicht vor seinem Mann zurück schrecken ließ.
Sein Mund prickelte von dem zarten und fast keuschen Kuss, während er die kandisfarbenen Iriden seines Mannes nicht aus den Augen ließ, mit denen er die Narben in Claires Gesicht musterte und mit den Fingerspitzen nach fuhr. Die Distanz, die im Gasthof noch zwischen ihnen gelegen hatte, hatte sich längst zu einem Großteil verloren und trotzdem war es noch immer seltsam einem anderen Menschen wieder so nahe zu sein und derart intim berührt zu werden. Sein Gesicht, sein Haar, der Rest von ihm - all das waren Dinge, die er Fremde niemals anfassen lassen würde und die Cassie dafür umso mehr gehörten. Wenn er ihn erkunden wollte, dann durfte er das tun uns wenn er wissen wollte was hinter dem Blonden lag, dann würde dieser ihn nicht anlügen.
„Ich versprech‘s“, entgegnete er Matthew leise und betrachtete ihn mit ernstem Blick, während seine eigenen Fingerkuppen noch immer die Narben an der fremden Flanke entlang fuhren. „Ich erzähle dir alles, was du wissen willst.“
Er spürte wie uneben die Haut um die einzelnen Abdrücke der Zahnreihen war und wie sie sich zu Narben empor hoben, die so grobschlächtig und monströs waren, wie auch der Angriff zweifelsohne gewesen war, den sein Mann über sich hatte ergehen lassen müssen.
Vielleicht waren sie nicht so sanft miteinander wegen der Zeit und der Distanz die zwischen ihnen lag, ging es Claire durch den Kopf, sondern wegen der schlimmen Dinge, die ihnen ganz offensichtlich widerfahren waren. Wunden und Schmerzen hatten ihnen beiden die Zeit ohneeinander nicht leicht gemacht. Hatten sie bis zu einem Punkt gebracht an dem sie glaubten unter der Last ihres Zustands zu zerbrechen und jede Berührung, jeder unüberlegte grobe Griff am Körper des anderen könnte das Zünglein an der Waage sein, das sie nun doch noch zum zersplittern brachte, dachte er sich. Jede falsche Handhabung könnte der Auslöser sein um diesen schönen Traum zum Platzen zu bringen, in dem sie sich befanden.
Ob sein Mann genauso fühlte wusste er nicht und doch war Cassies Streicheln mit den Fingerspitzen so sanft, dass sie ihm augenblicklich eine Gänsehaut auf die Brust zauberten und auch seine rosige Knospen sachte hart werden ließ, obwohl so wenig und doch so viel zwischen ihnen geschah, als sich die Lippen des Jüngeren erneut auf seine legten.
Schon immer hatte es nicht viele Worte benötigt um einander zu finden und auch wenn es ungewohnt war, so zögerte Clarence keine Sekunde, die Lippen für seinen Mann einen Spalt breit zu öffnen und ihn neugierig mit seiner Zungenspitze in Empfang zu nehmen. Eine zarte Berührung nur war es, die sich kurz zwischen sie legte und die fast genauso schnell wieder vorbei war, wie sie sich angebahnt hatte. Trotzdem kam es ihm vor wie eine Ewigkeit währen der sie sich schmeckten und Cassies Bart sachte über seine Lippen kratzte, ihn einladend sich in dem Gefühl zu verlieren und die Augen zu schließen, damit nichts seine Sinne benetzte außer dieser so vertraute junge Mann in diesem fremden Bett.
Raunend kaute Clarence für einen Moment auf seiner feucht geküssten Unterlippe und spürte dem prickelnden Gefühl nach, das die Bartstoppeln auf seinem Lippenrot hinterlassen hatten. Es war verrückt wie einsam und verlassen er sich die letzten Wochen gefühlt hatte, unfähig an einem anderen Menschen Freude zu finden, wenn sein Mann nicht bei ihm war. Und doch benötigte es nur wenige Augenblicke und einen einzigen Kuss, um all die kleinen Feuer in ihm wieder zu entfachen, die er als gelöscht und völlig eingefroren gewähnt hatte.
„Wenn das hier ein Traum wäre…“, wisperte er leise und schüttelte den Kopf, schließlich von der Narbe an Cassies Flanke ablassend und ihm stattdessen mit den Fingernägeln sachte über den Rücken kraulend, „…dann wären wir irgendwo in der Sonne, wo es schön ist. Dann wären wir beide braungebrannt statt vom Winter käseweiß und ich wäre breit wie ein Schrank, bereit dich über meine Schultern zu werfen und dich in den Wald zu verschleppen, dahin wo du hin gehörst.“
Grob zusammengefasst -aber nicht explizit auf den Punkt gebracht- wären sie wohl an so einem schönen Ort wie damals in ihrem Traum der Vetala und nicht etwa im regnerischen Falconry Gardens, müde und abgeschlagen und umzingelt von tausend fremden Menschen, die sie alle sowieso nicht interessierten.
„Das hier ist kein Traum und wenn doch, dann kommen wir einfach immer wieder hierher zurück, sobald wir wieder eingeschlafen sind. Dann warte ich hier im Bett auf dich, beim warmen Feuer und beim nächsten Mal mit Kain und Abel im Gepäck“, schlug er vor und hielt das für gar keinen so schlechten Plan, denn seine sonstigen Träume waren alles andere als so warm und schön wie dieser hier, wenn es denn einer war. „Aber wenn wir uns das nächste Mal hier treffen, hätte ich gerne etwas weniger Regen, falls du das einrichten kannst. Ich könnte nämlich schwören, dass du den hierher mitgebracht hast. In meinen Träumen regnet es sonst nicht.“
Das war fast schon etwas frevelhaft, aber sie beide waren in letzter Zeit sicher schon vom einen oder anderen Alptraum heimgesucht worden; es war seinem Mann also verziehen, dass er schlechtes Wetter mit an diesen sonst sehr schönen Ort brachte und auf der anderen Seite war es gar nicht so schlecht, denn durch den vielen Regen war es gemeinsam im warmen Bett noch gleich etwas schöner als sonst.
„Mhh… bist du denn schon so müde?“, wollte der blonde Bär schließlich leise von Cassie wissen, den warmen Atem des Jüngeren auf den eigenen Lippen und ihm so nah, dass ein Blatt Papier nur schwer zwischen sie passte. Seine Brust kribbelte noch immer von den zärtlichen Streicheleinheiten, die bis eben auf ihr gelegen hatte, und Claires Hand hob sich vom fremden Rücken hinauf an die Wange des Jüngeren um mit dem Daumen zärtlich die Lippen seines Mannes entlang zu fahren, bevor er die wenige Distanz überbrückte um ihn erneut mit einem sanften Kuss zu bedenken. Er selbst war schon müde seitdem Matthew ihn in Denver verlassen hatte - doch gerade jetzt, wo der erlösende Schlaf in Reichweite gerückt war, hielt ihn das prickelnde Kribbeln in seiner Brust und auf seinen Lippen so wach, dass er an nichts anderes mehr denken konnte.
Matthew kannte Schmerzen. Kannte sie in all ihrer scheußlichen Diversität.
Körperliche Pein, seelisches Leid. Er wusste wie es sich anfühlte geschlagen oder verbrannt zu werden, wie kalt und spitz sich eine Messersklinge anfühlte, die einem in Haut und Fleisch schnitt.
Er wusste was es hieß erniedrigt zu werden und verschachert, ausgeliefert zu sein und so viel Angst zu haben, dass man die Furcht auf der Zunge schmeckte.
Und obgleich er all jene Facetten kannte, so hatte ihm in der Vergangenheit nichts mehr mit Panik und Leid erfüllt wie der Verlust geliebter Menschen.
Sein Bruder, seine Mutter, Jamie Flynn.
Clarence.
Seit den Geschehnissen auf einer bestimmten nebligen Insel, auf der Matthew seinen leblosen Mann aus einem mit Leichen übersäten Baum geschnitten hatte, hatte er eine ganz neue Form von Schmerz kennengelernt.
Eine derart allumfassende, zerstörerische Verzweiflung, dass sie Matthew die Luft zum Atmen genommen hatte.
Sein Mann, dass hatte er sofort gewusst als er in sein lebloses Antlitz geschaut hatte, war nicht ein weiteres Kettenglied in der endlosen Reihe von Schicksalsschlägen und Pein.
Er war das Letzte. Nach ihm würde nichts mehr sein, nach ihm würde niemand mehr kommen.
Da war keine Leere in ihm gewesen, sondern nur überwältigender Schmerz, so heiß und siedend wie kochendes Wasser - nur das man es nicht über seine Haut goss, sondern in ihn hinein.
Dass Clarence damals überlebt hatte war der einzige Grund warum auch Matthew heute noch lebte und seit jenem Vorfall hatten sich die Gefühle zu dem Blonden und Matthews Art sie zu zeigen nochmals deutlich geändert.
Jenes Ereignis hatte dem Jüngeren unmissverständlich vor Augen geführt, dass er ohne Clarence nicht würde sein können. Wenn sie beide nicht das gemeinsame Leben führen konnten, dass sie sich ausmalten… weil Clarence verstarb, dann würde es für Matthew kein zweites Seelenheil geben. Keine zweite Chance.
Auf ihrer Reise hatte Cassiel den Blonden noch ein weiteres Mal tot gewähnt und auch dieses Ereignis hatte Wunden in seinem Innersten gerissen die niemals verschwinden würden. Seine Angst ihn zu verlieren war - zurück in Denver - schließlich zur scheinbar unumkehrbaren Realität geworden.
Dieses Mal würden sie nicht aus einem Traum erwachen.
Dieses Mal würde er Clarence nicht wieder gesund pflegen.
Dieses Mal war der Verlust unwiderruflich.
Matthew schloss seine Augen als Clarence ihn erneut küsste und für einen Moment gelang es ihm, die Kontrolle zu behalten, doch der Augenblick verstrich und die Gefühle überwältigten ihn mit solcher Gewalt, dass der Jüngere den Kuss löste und schmerzgeplagt aufschluchzte.
Das Gesicht vergrub er fest in Clarence‘ Halsbeuge und klammerte sich mit der freien Hand an seine Flanke.
„Hör auf das zu sagen!“, brachte er energisch und schluchzend hervor, noch immer das Gesicht an die warme Haut seines Mannes gepresst. Matthews Stimme klang verzweifelt und ein seichtes Zittern hatte von ihm Besitz ergriffen.
„Das hier darf kein Traum sein. Ich w-will mich nicht in Träumen m-mit dir treffen! I-ich kann nicht leben ohne d-dich!“, der Gefühlsausbruch kam so heftig über ihn, dass Matthew nicht in der Lage war sich zu beruhigen.
All das Gerede von Träumen in denen sie zusammen waren, von schönem Wetter, von Kain und Abel.
All das würde Wahrheit werden, weil sie wirklich wieder zusammen waren, doch das zu begreifen fiel dem Dunkelhaarigen unglaublich schwer.
„Es….g-gibt keine T-Träume f-für mich, wenn du n-nicht da bist.” flüsterte er verzweifelt und küsste Clarence‘ Halsbeuge fest. So fest, wie er es im Traum niemals würde tun können ohne zu erwachen.
Mit fest zusammengekniffenen Augen wartete er darauf, dass irgendetwas passieren würde. Dass die Wärme des Blonden weichen würde, dass sein Geruch verschwinden würde oder das seichte Pulsieren an seinem Hals.
Aber Clarence löste sich nicht in Luft auf, er blieb.
Blieb wahrhaftig bestehen.
Langsam löste sich Cassiel von der Halsbeuge des Blonden, legte den Kopf schweigend halb auf dessen Brust ab und die Hand an jene Stelle, an der er das Herz des Hünen klopfen spürte. Er hatte so unaussprechliche Angst, dass das was sie hatten vorbei sein könnte noch ehe sie alle Träume geträumt hatten die ein gemeinsames Leben bereithielt. Durch einen dummen Fehler, durch Unachtsamkeit, durch Krankheit… nichts auf dieser Welt war gewiss. Außer, dass er ohne Clarence nichts gutes mehr in der Welt finden würde.
Es dauerte eine kleine Weile bis Matthew seine Stimme wiederfand, wobei seine Worte leise jedoch klar waren.
„Ich war in Denver, Claire. Ich war in unserem Lager und es war… es war nichts mehr da. Die Leute die mich gefunden haben… denen ich mein Leben verdanke… haben mir erzählt was passiert ist. Und sie… hatten etwas… etwas von dir und ich w-wusste… du w-würdest es niemals z-zurücklassen.“
Kurz schmiegte er die Wange fester gegen Clarence‘ Brust, dann löste er sich von dem Blonden und erhob sich vom Bett ohne ihn noch einmal anzusehen.
Nicht weil er wütend war, nicht weil er ihn nicht ansehen wollte… sondern weil er wusste, es würde neue Tränen heraufbeschwören, wenn er Clarence nun ansah und dieser auch nur halb so elend dreinblickte wie Matthew sich fühlte.
Beinah lautlos tappte er im Halbdunkel durch den Raum, verschwand kurz im Flur und kehrte mit der Umhängetasche zurück, die er bei seiner Ankunft schon dabei gehabt hatte.
In de Tasche befand sich kaum etwas persönliches, weil nahezu alle persönlichen Gegenstände mittlerweile unwiederbringlich weg waren.
Gestohlen, vergessen, zerstört.
Noch immer ohne ein Wort zu sagen steuerte er den nahen Tisch an, legte die Tasche darauf ab und förderte erst den zerschlissenen und blutigen Pullover zu Tage der einst Clarence gehört hatte und den er beim Angriff der Bestie getragen hatte und schließlich einen Gegenstand, den Clarence vermutlich schon vermisst hatte.
Ein Buch, mit abgewetztem Ledereinband und einem simplen Kreuz in der Mitte.
Kurz strich Matthew über das Buch, erst dann sah er wieder zu Clarence und ging langsam wieder zu ihm.
Er setzte sich, zögerte kurz und schlüpfte dann doch wieder unter die die Bettdecke. Die Bibel legte er auf die Decke, auf Clarence‘ Schoß.
„Sie haben die Toten bestattet, sagten sie. Verbrannt… und ihre Habseligkeiten bewahrt. Und als ich… die hier gesehen hab, d-da war f-für mich klar…“, Matthew presste die Lippen aufeinander und suchte scheu den Blick seines Liebsten.
„Hätte ich… geahnt, dass du noch lebst… ich w-wäre sofort hergekommen. Dann w-wärst du nicht so einsam gewesen. I-ich wollte… dich nicht im Stich lassen. Niemals wollte ich das.., es tut mir… so leid, dass ich nicht bei dir war.“
Eben noch in einem zarten Kuss verbunden, nahm die Stimmung in ihrem noch frischen und fremden Bett eine jähe Wendung, mit der Clarence nicht gerechnet hatte. Obwohl die Morgen ihnen unerwartet so viel Beständigkeit für ihr Leben zurück gegeben hatte indem Matthew zu ihm zurück gekehrt war, fühlte sich ihr Umgang miteinander dafür umso unsicherer an. Als wäre jedes Wort eines zu viel oder zu wenig. Als müsse man vorsichtig sein wie der andere reagierte, weil sich in vier Monaten viel ändern konnte. Weil sich Menschen in vier Monaten ändern konnten.
So wie der Dunkelhaarige unsicher darüber war in wie weit er sich körperlich seinem Mann wieder annähern durfte, zeigte sich auch nun dem blonden Bären einmal mehr, dass es nicht immer leicht war die richtigen Worte zu finden. Er wusste, dass Cassie ein Mensch war, der nach außen hin weit emotionaler reagierte als er selbst, der sich meistens zurück zog und stiller wurde, wenn er mit Gefühlen zu kämpfen hatte. Clarence war kein Mensch für emotionale Ausbrüche, weder für die leisen, noch für die lauten - und in den ersten zwei Jahren ihrer Reise miteinander, noch lange vor ihrem ersten Kuss, hatte er lange gebraucht um zu lernen wann Cassie was brauchte, wenn es ihm nicht gut ging.
Manchmal war es Ruhe und ein Zuhörer, ein anderes Mal Bestätigung oder aber ein Partner, der mit ihm diskutierte und ihm Kontra gab, bis er sich beruhigt hatte. An anderen Tagen hatte Cassie einen Gesprächspartner gesucht der mit ihm herum alberte und wenn er den Jäger trotz mehreren Sticheleien nicht dazu bekommen hatte mit ihm herumzublödeln, dann war schlechte Laune zwischen ihnen gewesen. Manchmal so lange, bis Claire ihn angegangen und danach alleine im Wald verschwunden war, fernab des Weges auf dem sie eigentlich zusammen liefen. Und manchmal hatte Clarence als Reaktion einfach entschieden etwas dummes zu tun um sich selbst abzuregen, wie zum Beispiel alleine nach Wildschweinen jagen oder auf alte morsche Bäume klettern, die ihn augenscheinlich gar nicht tragen würden.
So unterschiedlich wie ihre Leben in der Vergangenheit verlaufen waren, so unterschiedlich gingen sie heute mit ihren Problemen und Gefühlen um. Doch eben diese Unterschiede waren es, die sie nie auseinander gebracht, sondern immer weiter zusammengeschweißt hatten.
Sie akzeptierten einander wie sie waren, mit allen Schwächen, allen Narben und jeder Wunde, die auf ihrer Seele lag. Clarence wusste nicht wie es war verkauft und benutzt zu werden, noch wusste Matthew wie es war, seine Kinder zu verlieren. Doch sie beide wussten wie es war diejenigen Menschen an den Tod zu verlieren, die man am meisten liebte und die einem die Familie und damit die ganze Welt waren. Sie beide wussten wie es sein würde, wenn der andere wirklich verstarb.
Es war keine irrationale Angst die ihnen im Nacken saß, sondern eine ganz reelle; das Leben war bislang mit ihnen erbarmungslos umgegangen und ihr kurzes Glück von Liebe womöglich nichts anderes als ein kurzer Lichtstrahl zwischen den dunklen Wolken, die sich am Horizont ihrer Zukunft bereits wieder zuzogen um Finsternis über ihr Dasein zu legen.
So schnell wie eben jene Wolken bei Cassie heraufzogen, sah der Blonde sie dieses Mal nicht kommen und verstand im ersten Moment nicht, wo der plötzliche Ausbruch seines Mannes herkam. Sie waren wieder zusammen, nach all der Zeit, völlig unerwartet und fernab von allem, was Clarence jemals wieder für möglich zu halten schien. Das Gefühl dieser unsäglichen Erleichterung nahm ihn so sehr ein, dass er sich fühlte, als habe jemand ein mehr als zentnerschweres Gewicht von seiner Brust genommen, damit sein Herz endlich wieder Platz hatte um zu schlagen - und doch schien Matthew trotz ihres Wiedersehens weiterhin getrieben von den Ängsten der vergangenen Monate, anstatt sich davon frei zu sagen und vollends darauf einzulassen, was sie nun wieder hatten und vor allem nun wieder haben konnten.
Schweigend lauschte er der plötzlich energisch gewordenen Stimme seines Mannes, hörte den mal lauteren und mal leiseren Worten nach im Versuch zu verstehen, was den Dunkelhaarigen derart antrieb und noch immer im Verborgenen zu hetzen schien.
Davon, dass nichts mehr da war sprach er, davon was in ihrem Lager in Denver passiert war und was sie gefunden hatten in dem alten Motel, aus dem sie schließlich nach mehreren Tagen mit einem unwohligen Gefühl aufgebrochen waren als ganze Gruppe und vergleichsweise gesittet, auch wenn die Stimmung recht angespannt gewesen war.
Fremde hatten Cassie gefunden und gerettet, erzählt was passiert war und ihm ihn ihrem alten Lager etwas gegeben das er zurückgelassen hatte, obwohl er ihre Sachen alle verräumt und in den neuen Unterschlupf verfrachtet hatte.
Clarence verstand nichts mehr und er konnte auch keinen klaren Gedanken mehr fassen, als sein Mann ein zerfetztes und von Blut verschmiertes Stück Stoff aus seiner Tasche hervor zog, das er schließlich als den Pullover erkannte, den er in der Nacht heimlich ganz unten in Cassies Tasche gestopft hatte. Drei Tage lang hatte er das Ding damals getragen, damit es nach ihm roch und damit er seinem Böckchen etwas mitgeben konnte, das ihm nachts hoffentlich das Gefühl verlieh, sein Bär läge bei ihm - und nun war es stattdessen zu einem Mahnmal dessen geworden, was über seinen Mann und Cameron herein gebrochen war.
Doch das, was schließlich seine Aufmerksamkeit endgültig auf sich zog und was er erst erkannte als Matthew wieder näher an das Bett heran trat, ließ ihn selbst den blutverschmierten Pullover wieder vergessen. Augenblicklich setzte er sich im Bett auf, wobei an seinem Hals und seiner Brust die Tränen seines Mannes im Ofenfeuer schimmerten, doch auch diese waren zur Unwichtigkeit verblasst. Claire starrte das Buch in Cassies Hand an, das sein Mann zu ihm hinüber trug und auf seinem Schoß ablegte als wäre es das normalste der Welt ihm seine Bibel aus der Tasche zu zaubern, ganz so als hätte er sie im Pullover eingewickelt vor Matthews Aufbruch mit in seine Tasche gestopft.
„W-Woher hast du… wie…“, stammelte er perplex und stierte weiter dem alten abgegriffenen Buch mit einem Blick entgegen, als befürchtete er einen gefährlichen Fluch darauf der dazu führte, dass sich die Seiten zu spitzen Reißzähnen aufklappten und ihn auffressen würden. Seit Monaten kämpfte er mit dem Verlust dieser Habseligkeit, die eines seiner wertvollsten Besitztümer war, wenngleich sie für einen Händler wohl keine zwei Kupferlinge wert war. Doch selbst jetzt, zurück auf seinem Schoß und von keiner einzigen Schramme übersäht als wäre die Bibel niemals weg gewesen, überkam ihn augenblicklich auch die unwillkürliche Angst nicht alles an ihr wieder so zurückzuerhalten, wie sie ihm abhanden gekommen war. „Hast du… ist… s-sind…“
Weder einen klaren Satz, noch einen klaren Gedanken konnte er in diesem Moment fassen und auch wenn er vermutlich gerade genau so ein schlechter Hüter seiner eigenen Besitztümer war wie auch ein schlechter Ehemann, weil er die Ängste seines Mannes mit dem Gerede über Träume noch befeuert hatte, musste er trotzdem seine eigenen überwinden indem er die letzten Seiten der Bibel aufschlug und nach der losen Verklebung der Rückwand sah. Die Wahrscheinlichkeit, dass Cassie ihm das Buch aushändigte ohne ihn vorzuwarnen dass das Wichtigste fehlte, war äußerst gering - und doch schien sie Clarence so greifbar, dass seine Finger unmerklich zitterten als er sie hinter dem bereits rissigen Papier eintauchte und dahinter den kleinen Stapel Fotografien ertastete, der Clarence die ganze Welt und noch ein bisschen mehr bedeutete.
Vorsichtig bettete er die Bilder auf der wieder zugeschlagenen Bibel und wischte sie etwas auseinander um zu kontrollieren, dass auch keines fehlte. Da war sein kleiner Lockenkopf mit den Pausbäckchen und der Blüte im Haar, ein Foto seiner einstigen Ehefrau und ein weiteres, das er Harriet in Coral Valley stibitzt hatte. Und schließlich seine missmutig dreinblickende Motte, die heute genauso wie damals nicht zu wissen schien was sie von dem Apparat halten sollte, der gerade auf sie gerichtet wurde.
Obwohl es nur Papier mit Farbe war, hatte der Verlust dieser Bilder ihn nicht weniger geschmerzt als die Ungewissheit darüber, ob Matthew noch lebte oder nicht. Er erinnerte sich schon lange nicht mehr ganz genau an die Stimmen seiner Kinder, daran wie ihr Lachen klang, wie sie rochen wenn man sie in den Arm nahm oder was sie murmelten, während sie abends einschliefen. Aber jetzt, nach all den Jahren, hatte er auch endgültig vergessen sollen wie sie genau ausgesehen hatten und das war ein Verlust, mit dem er in Denver nicht gerechnet hatte, nachdem sie doch selbst den Absturz des Zeppelins so tapfer überlebt hatten.
„Du hast… du hast meine Mädchen… zurück nach Hause g-gebracht…“
Unfähig zu begreifen war gerade geschehen war betrachtete er sich seine Cordy, die bis über beide Ohren strahlte so als wäre sie nicht weniger froh wie ihr Vater, dass sie endlich wieder dort war wo sie hingehörte.
Lautlos lösten sich ein paar Tränen von seiner Wange und Clarence musste ein paar Mal blinzeln, damit er seine Kinder wieder mit ungetrübtem Blick betrachten konnte. Die Hoffnung, dass er seine Sachen je wieder zurück bekam, hatte er schon aufgegeben als sie ihm abhanden gekommen waren - ganz im Gegensatz zu seinem unerschütterlichen und anhaltenden Glauben daran, dass sein Mann früher oder später wenigstens bis zu ihrem Hochzeitstag in Falconry Gardens auftauchen würde.
„Ich war… in der Stadt unterwegs und hab nach n-neuen Lagern gesucht, als ich in eine Unterkunft geplatzt bin. D-Die beiden waren… nicht erfreut über ungebetenen Besuch und ich glaube… -mh“, er schüttelte kurz den Kopf um sich selbst zu unterbrechen, denn es war irrelevant was er glaubte und keine Geschichte, die er Matthew zwischen Tür und Angel berichten wollte.
„Die beiden waren nicht gut drauf und schneller als ich was unternehmen konnte…hatte ich schon ein Messer am Hals.“
Er deutete auf eben jene Stelle, die leider bis heute noch nicht verblasst war und auch wenn er Glück gehabt hatte und der Schnitt im Gemenge nicht tief genug gegangen war um ihn umzubringen, hatte man keine Sekunde gezögert es zu versuchen und hätte es sicher auch geschafft, wenn er nicht eingelenkt hätte.
„…jedenfalls hab ich meine wichtigsten Sachen und d-das, was von… von unserem G-Geld noch übrig war… immer mitgenommen, falls in der Gruppe jemand a-auf… auf dumme Gedanken kommt. Ich hab versucht mich… freizukaufen, um guten Willen zu zeigen… und zu zeigen, dass ich keine Bedrohung bin. Und dann… sind mir die Lichter ausgegangen. Als ich wieder wach geworden bin… hab ich gemerkt, dass sie nichts durchsucht, sondern einfach a-alles mitgenommen haben…“
Betreten blickte er auf seinen Schoß hinab und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, bevor er mit den Fingern vorsichtig über Cordys Abbild hinweg strich.
„Das Geld war mir nie so wichtig… d-das weißt du. Aber es t-tut mir leid, dass es weg ist. Du hast hart dafür gearbeitet“, murmelte er leise und traute sich nicht, zu seinem Mann hinüber zu blicken. Cassie hatte vor dem Abflug in Rio Nosalida die eine Hälfte auf seine eigene Tasche und die andere Hälfte auf Claires Rucksack aufgeteilt und nun war beides weg, als wäre es niemals da gewesen. „G-Gott weiß, was passiert ist… dass meine Sachen wieder im alten Lager gelandet sind. Wir waren lange nicht mehr dort, als ich ausgeraubt wurde. Aber… a-aber…“
Aber wäre die Bibel nicht dort gelandet, wäre sie nie von diesen unbekannten Fremden gefunden worden, die schließlich seinen Mann gerettet hatten. Und so furchtbar die Vorstellung auch gewesen sein mochte, dass Clarence in diesem abgebrannten Haus gewesen war um dort sein Ende zu finden, hatte dieses Erlebnis doch dazu geführt, die Mädchen zurück zu Matthew zu führen - und dadurch am Ende zurück zu Clarence.
„Dass du Harper und Cordy m-mitgenommen hast, anstatt… sie einfach d-da zu lassen… bedeutet mir alles“ , wisperte er leise und wagte es erstmalig den Blick von seinen Kindern zu lösen, um wieder zu seinem Mann zu sehen. „Alles.“