Falconry Gardens
Grey Eagle Inn
29. Dezember 2210

Grau. Die Welt war Grau geworden.
Ihre Farben schmutzig und verwaschen. Die Bäume waren kahl, die Felsen schroff und nackt, nur manche noch mit einer Kruste aus hartem Schnee bedeckt.
Die Nacht war gekommen und mit ihr frischer Schnee, der mittlerweile, der Morgen dämmerte bereits herauf, jedoch in Regen übergegangen war.
In den letzten Wochen hatte es viel geregnet, der Boden war vollgesogen wie ein riesiger Schwamm und bei jedem Schritt sank man ein bisschen in die Erde ein.
Es würde ein gutes Jahr für die Bauern werden.
Ein gutes Jahr für alle.
„Glaub dem alten Caspar, wenn er’s sagt! Ein gutes Jahr steht uns allen bevor!“
Auf den alten Caspar mochte das zutreffen, hatte Matthew ihn doch für ein paar scheinbar unbedeutende Auskünfte mit einem Duzend Golddulden beschenkt.
„Oh nein, Junge… Sir, ‘s kann ich nicht annehmen!“ - hatte er gesagt und die knorrigen Hände zu Matthew gestreckt, damit jener die Münzen wieder an sich nahm.
Doch das war nicht passiert und Caspar, der nicht gesehen aber dafür gehört hatte wie Matthew davonging, hatte ihm etwas hinterhergerufen von dem Matthew mittlerweile überzeugt war, dass es stimmte.
„Ich hoffe du findest was du suchst, Junge! Mögen die Götter dich segnen!“
Ob er nun den Segen der Götter hatte oder benötigte, darüber bildete sich der Dunkelhaarige kein Urteil.
Frank Doolin hatte ihm während seiner letzten Stunden jedenfalls das Gegenteil entgegen gebrüllt - nämlich, dass er verflucht war.
Und vielleicht hatte der arme Frank, der eher unter dem Namen
Le Vert bekannt gewesen war, damit näher an der Wahrheit gelegen als Caspar.
Wochen bevor der Winter aufgegeben hatte, hatte sein Leben auf Messers Schneide gestanden und er hatte nicht geglaubt, dass es für ihn nochmal einen Frühling geben würde. Und auch jetzt in der verwaschenen Tristesse der regnerischen Dämmerung, fühlte sich der junge Mann meilenweit von seinem Ziel entfernt.
Dabei war er ihm heute näher als seit Monaten und jeder Schritt schmälerte die noch bestehende Distanz.
Unter den wachsamen Augen eines wilden Falken, von denen es in der Gegend viele gab, lenkte er den namenlosen jungen Hengst den gewundenen, steinigen Pfad empor. Der Regen trommelte in stetigem Rhythmus auf sie hernieder und obwohl es kalt war, sprach die Tatsache, dass es Regen und eben kein Schnee war dafür, dass der Winter auf dem Rückzug war.
„Just a perfect day… Drink Sangria in the park…“ stimmte Matthew an. Seine Stimme klang kratzig und so morsch wie die Bäume hier oben aussahen. Er räusperte sich.
Viel geredet hatte er in den letzten Wochen nicht und nun kam ihm der Klang seiner eigenen Stimme fremd und unwirklich vor.
Das Pferd auf dem er saß gab ein unwilliges Schnauben von sich und legte die Ohren an. In den vergangenen Monaten hatte Matthew das Tier meistens so gesehen und er ging mittlerweile davon aus, dass schlecht gelaunt die Standardeinstellung seines vierbeinigen Begleiters war, den er im Geiste manchmal Trigger oder Mister Moody nannte.
Das Pferd hatte eine interessante Fellzeichnung, blaue Augen die immer streitlustig dreinblickten und das Gemüt eines Pulverfasses.
„Hör erstmal zu bevor du urteilst. Das Lied ist nicht so übel. Ich fang nochmal an.“
Er räusperte sich erneut und begann wieder:
„Just a perfect day, drink sangria in the park.
And then later, when it gets dark we go home…“
Matthew wusste, dass Falconry Gardens nicht mehr weit war, doch nicht mehr weit war ziemlich relativ, wenn man deshalb seit fast achtundvierzig Stunden keine richtige Pause mehr gemacht hatte.
Dem Pferd schien das nichts auszumachen, es war ein stattliches Tier mit Narben am Hals und an den Flanken, die zu besagen schienen, dass Flucht nicht so sein Ding war. Trittsicher setzte es stetig und verlässlich ein Bein vor das andere, wich Unebenheiten aus und manövrierte sie beide sicher über den felsigen Weg. Matthew summte die Melodie die ihm im Kopf herumspukte um die Monotonie und die aufkommende Müdigkeit in Schach zu halten.
Nebelschwaden kräuselten sich zwischen den Felsen und knorrigen Baumstämmen entlang. Wie lautloses Wasser bewegte er sich fort, kroch einen Findling empor und verschlang ihn schließlich.
Der Regen wurde stärker und es dauerte nicht lange da klebte dem jungen Mann seine Kleidung pitschnass am Körper.
„Just a perfect day… Problems all left alone.
Weekenders on our own, it‘s such fun…“, sang er lauter gegen das Prasseln an.
Der Grey Eagel war eine Bergkette die das Territorium der American Kestrel im Norden auf natürliche Weise begrenzte und außerdem als natürlicher Schutzwall fungierte.
Es gab zwar Pfade die hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter führten, doch sie waren schmal und verwaschen. Eine größere Gruppe würde nie unbemerkt herunter und auch nur in die Nähe der Stadt kommen.
Anders Matthew, der allein reiste und sich an die Einsamkeit doch nie gewöhnte.
Mit jeder Minute gewann der neue Tag mehr die Oberhand über die Nacht und fahle Strahlen von Licht durchbrachen die zähe Wolkenmasse. Der prasselnde Regen wurde weniger und verblasste schließlich zu feinem Niesel.
Mit Schwung erklomm der braun-goldene Hengst eine letzte Anhöhe, genau in dem Moment als die Wolkendecke endgültig aufbrach und den Blick auf blassblauen Himmel freigab.
Eine Windbö erfasste die graue Mähne des Pferdes und bauschte sie ebenso auf wie den dunkelgrünen Mantel Matthews. Die schwarzen Haare trug er zu einem Knoten zusammengefasst, doch in den losen Strähnen verfing sich der Wind ebenso und blies sie kalt aus seiner Stirn. Sie hatten den höchsten Punkt des Pfades erreicht und unter ihnen breitete sich die Ebene mit ihren Feldern und die Stadt aus wie ein Teppich. Rauchschwaden stiegen aus den Schornsteinen einiger Gebäude auf und in manchen Häusern brannte schon Licht.
Noch schlief ein Großteil der Stadt und einen Moment lang betrachtete Matthew Falconry Gardens vollkommen reglos.
Dort unten irgendwo war sein Mann.
Dort unten wartete er auf ihn, gegen jede Wahrscheinlichkeit seiner Rückkehr. Er trotzte dem, was andere zu wissen meinten. Hoffte auf seine Rückkehr die nicht selbstverständlich war, nicht nach allem was passiert war.
Woher er das wusste? Weil Clarence mindestens zwei Briefe geschrieben hatte. Und woher wusste er das?
Der gute alte Frank hatte sie gehabt und nun waren sie in Matthews Besitz übergegangen, wie einige andere Dinge des Grünen auch. Allen voran eine Erkenntnis, die ihm ohne den Vorfall mit Cameron versagt geblieben wäre.
Er dachte an eine Zeile in einem der Briefe, die er bei sich trug.
‚Deine Familie wartet in Falconry Gardens auf dich.‘
Seine Familie. Es kam ihm wie Äonen vor seit sie sich getrennt hatten und jeder weitere Augenblick fühlte sich zunehmend unerträglich an.
Dennoch regte er sich für mehrere Minuten nicht, sondern blickte auf die ruhende Stadt, versuchte sich einzuprägen was er sah, versuchte sich Clarence in einem der Häuser vorzustellen.
Schließlich besann er sich und drängte die Schenkel behutsam gegen den Pferdebauch, eine vorsichtige Bewegung die das Tier trotzdem dazu veranlasste mit dem Schweif zu schlagen und es den Kopf hochwerfen ließ. Die Ohren dabei mürrisch angelegt. Es unternahm keinen ernsthaften Versuch Matthew abzubuckeln, drohte ihm aber unmissverständlich genau damit.
Und Matthew wusste aus leidlicher Erfahrung, wollte der Kerl ihn abwerfen, er würde es schaffen.
Schließlich setzte sich der Junghengst dennoch in Bewegung, den schmalen Pfad hinab und er war dabei so trittsicher und verlässlich wie jeden Tag in den letzten Monaten, geriet kein einziges Mal ins Rutschen oder Stolpern.
Je flacher der Abstieg wurde umso zügiger wurden seine Schritte, bis aus dem Trab schließlich Galopp wurde und die nackten Felsen zunehmend von Grün umrahmt oder bedeckt wurden, die knorrigen Krüppelbäume Gesellschaft von aufrechten Nadel- und Laubbäumen bekamen und aus blassgelben Moosflechten grüne flauschige Kissen wurden. Gestrüpp wurde zu Sträuchern und Farn und der abschüssige Pfad zu einem breiten Weg.
So fragil der Frieden zwischen Reiter und Pferd auch war, ihre Bewegungen waren eins, wie ein Pfeil flog das Tier durch die Dämmerung, seine Hufe donnerten über den Boden in großen, raumgreifenden Sätzen.
Matthew machte sich nicht die Mühe leise zu sein, er wollte nicht heimlich an den Patrouillen vorbeischlüpfen wie ein Dieb oder Meuchelmörder.
Die erste Barriere auf die er schließlich traf, bestand aus einem mit Stacheldraht und einem Graben gesicherten Zaun. Es führte eine Brücke über die Furche in der große angespitzte Pflöcke standen und alles aufspießten was das Pech hatte hinein zu stürzen.
Links und rechts von der Brücke ragten Holztürme empor und schon von weiten rief eine Stimme ihm zu er solle abbremsen, sich langsam nähern und nichts Dummes versuchen.
Vor der Brücke noch kamen ihm zwei Jäger entgegen, weitere vier standen in Zweiergruppen auf den Türmen.
Einer der Männer versuchte nach den Zügeln des Pferdes zu langen, doch dieses schnappte wütend nach den grapschenden Fingern und versuchte nachzusetzen. Matthew hinderte den Hengst an einer weiteren Attacke und die Jäger unternahmen ihrerseits keinen weiteren Versuch das Tier zu halten.
„Wer bist du und was willst du?“, wollte einer wissen und Matt, der genau wusste wer er war und was er hier wollte antworte ohne zu zögern: „Mein Name ist Matthew Sky und man sucht nach mir.“ und noch bevor der Groschen bei den anderen fiel fügte er ohne falsche Zurückhaltug oder Unsicherheit an:
„Clarence Sky ist mein Mann.“
Regnerisch und beinahe unwirklich waren die vergangenen Wochen gewesen. Fast ein ganzes Jahr lang hatte Winter geherrscht und selbst die zarten Plustemperaturen waren nun mehr, als man ertragen konnte. Sie alle hatten schon längere Frostmonate hinter sich gebracht… oder wenigstens diejenigen, deren Alter etwa schon im zweistelligen Bereich lag. Trotzdem war nach fast sechs Jahren Sommer der plötzliche Umschwung wie ein Schlag ins Gesicht gewesen.
Obwohl man in Falconry Gardens vertraut war mit kalten Monaten, war das zurückliegende Jahr ungewohnt eisig gewesen und selbst jetzt, die Sonne schon lange wieder im Nacken, waren die Gipfel des Grey Eagle noch immer von dickem Schnee gesäumt. Wie weiße Zipfelmützen hatten sie sich über das Gebirge gelegt, nötigten der Flora und Fauna auf noch ein wenig weiter zu schlafen und gerade in den frühen Morgenstunden sorgten aufgewirbelte Böen dafür, dass aus den Bergen noch immer kalter Wind hinab ins Tal wehte, der einem das Blut in den Knochen gefrieren lassen konnte.
Der Frost, der sonst vor Sonnenaufgang noch auf den grünen Halmen der Wiesen und zarten Pflänzchen der Vorgärten lag, ließ heute vergebens auf sich warten und so wie es aussah war heute der erste Tag seit langem, an dem man sich fast schon wieder wie im Frühling fühlte. Über den Berggipfeln lugte bereits das erste Morgenrot über die Schneedecke, tauchte sie in satte Farben und gab einen groben Vorgeschmack darauf wie schön es hier war, wenn man sich auf ein überschauliches Kleinstadtleben einlassen konnte.
Dort wo im Sommer des Nachts warmes Kerzenlicht aus den Laternen brannte, herrschte noch immer tiefste Dunkelheit auf den Straßen der Ortschaft. Der Preis von Wachs war, wie jeden Winter, in unbezahlbare Höhe geschnellt und nur wer klug war, hatte sich schon im Herbst einen Vorrat angeschafft. Hier und da brannte jetzt schon schmales Licht in den Wohnstuben und hinter manch zugezogenen Vorhängen erahnte man die Silhouette der Bewohner. Männer, die sich den Nachtrock von den Schultern streiften um sich für die Arbeit anzukleiden oder Frauen, die bereits mit den ersten putzmunteren Kindern zu kämpfen hatten, die einfach nicht durchschlafen wollten. Manchmal half keine heiße Milch und kein Tee um die Kleinsten zum Schlafen zu bewegen und bei anderen würde selbst das laute Krähen des Hahns nicht dazu beitragen, dass man als eingefleischte Schlafmütze das warme Bett verließ, bevor es dringend nötig wurde.
So unterschiedlich wie die Menschen in Falconry Gardens ihren Tagesanbruch begingen, waren auch die müden Minen der gähnenden Jäger zu interpretieren, die fast als einzige bereits auf den Straßen unterwegs waren. Während den einen die Müdigkeit in dunklen Ringen ins Gesicht geschrieben stand - Zeichen dafür, wie lang und dunkel die Nacht und der Dienst am Wehr gewesen waren - konnte man auf den anderen Wangen noch die zerknitterten Falten erkennen, welche das weiche Kopfkissen dort hinterlassen hatte.
Dem Schichtwechsel fieberte man entgegen oder man verfluchte ihn, dazwischen gab es meistens nur wenig auf das man sich freuen konnte und so monoton wie der Dienst am Tor auch war, so voller Unglauben blickten die überraschten Minen der Jäger auf den Fremden hinab, der unten vor ihren Pforten auf Einlass wartete.
Ein hagerer Typ mittleren Alters mit braunem, zerzausten Haar, hatte sich auf die Holzbarrikade vor sich aufgestützt und blickte voller Argwohn auf den Fremden hinab, der mit seinem Pferd dort stand wie eine dunkle Gestalt, die man eher jemandem austreiben als in die Stadt einlassen sollte.
Eine andere Jägerin, die jemand Rookie rief, hatte sich vom benachbarten Turm die hölzerne alte Leiter hinab gelassen und hielt noch immer Abstand zu der Szenerie, die sich zwischen dem ersten Weg und dem Schutzgraben bot.
Es war eine eigentümliche Stimmung, die sich zwischen die einander entgegengestellten Fronten gelegt hatte und auch wenn man den müden Minen vor allem Vorsicht ansah, so sah ein wachsamer Beobachter doch vor allem eins:
Das Entsetzen jener darüber, dass gerade jemand von den Toten wieder auferstanden war.
Ryan, der Rookie mit einem wortlosen Handwedeln dazu gebracht hatte hoch zum alten Rathaus zu laufen und Liv zu holen, musterte den Fremden mittlerweile zum gefühlt dritten Mal von Kopf bis Fuß und schüttelte abwehrend den Kopf, als sein Kumpane einen weiteren Versuch unternehmen wollte nach den Zügeln zu greifen.
„Lass den Gaul, das Vieh rammt dich unangespitzt in den Grund“, fasste er seine Sicht der Dinge zusammen und trat einen großzügigen Schritt beiseite, um dem Ungetüm und seinem Reiter Platz zu machen. Ein Pferd hatte er schon seit sicher sechs Monaten nicht mehr gesehen, das letzte Mal als ein anderer Reisender durch die Stadt gekommen war. Wie auch überall sonst waren es auch in Falconry Gardens die Tiere, die zumeist als erstes dem Schlachter zum Opfer fielen wenn der Winter zu lang und zu hart wurde. Selbst als die Karawane mit Überlebenden und Verletzten aus Denver zurück gekommen war, hatten Rinder die Planwägen hinter sich her gezogen - jedenfalls jene Wägen, die man nicht hatte zurück lassen müssen auf der Reise.
„Geh, bis hinter die Zäune. Liv wird dich abholen.“ - Seinem Tonfall höre man an, dass Ryan oftmals Befehle zu erteilen hatte, aber ganz sicher nicht dauerhaft das Sagen über andere hatte und das war ihm auch ganz recht so, denn auf diese Weise kam er nicht in die Bredouille, früh morgens das Frühstück verlassen zu müssen so wie ihre Chefin das wohl gerade tun musste. Mit diesem Matthew wollte er alleine schon deshalb gerade nicht tauschen, das sah man ihm an, doch auch in seiner eigenen Haut schien Ryan sich nicht mehr besonders wohl zu fühlen, nun da die Toten wieder auferstanden waren und zwischen den Lebenden wandelten.
Keine einzige der fremden Bewegungen blieben den wachen Blicken der fünf Männer verborgen und wo der junge Mann unten am Weg vorsichtig war, sah man manch anderem an, auch weniger von der Ankunft des fremden Reiters zu halten. Einer schlug zu einem lautlosen Takt seine blecherne Kaffeetasse gegen die Bande, fast so als könne er den Fremden damit bewegen sein Gesicht zu ihm empor zu heben um dadurch einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen, wobei die beiden Männer auf dem anderen Turm gegenüber unverständlich aber nicht leise miteinander in eiligen Worten tuschelten.
Es war kein Geheimnis wer zum Namen Matthew Sky gehörte oder zu wem Matthew Sky gehörte, doch so wenig wie die Toten in die lebendige Kleinstadt passten, passte ein verloren gegangener Typ zu Clarence Sky. Es war ein Bildnis, das alleine schon in der Vorstellung so unpassend war, dass man es eine geraume Weile als schlechten Witz von Barclay und Sky abgetan hatte und Adrianna als geheime Komplizin dieser Verschwörung gewähnt hatte - denn alles andere schien so unmöglich zu sein wie Schnee im Hochsommer. Aber auch das hatte man schon erlebt und vielleicht sollte man gerade deshalb niemals nie sagen.
Eine unangenehme Stille hatte sich über die Pforten der Stadt gelegt, in der eine erneute Windbö durch die Straßen wehte und dabei die frühlingshaften Blüten in den Vorgärten sachte hin und her wiegen ließ. Der Graben mit seinem Holzpfählen und den hohen Zäunen schien genauso wenig um die idyllisch anmutende kleine Stadt zu passen wie die kleine Meute aus Jägern sich kontrastreich von der märchenhaften Kulisse der Morgenröte auf den schneebedeckten Berggipfeln abhob, doch vielleicht war genau das der Widerspruch, der Falconry Gardens im Gegensatz zu vielen anderen kleinen Städten so lange hatte überleben lassen.
Und vielleicht war auch genau das der Widerspruch, der Clarence Sky erlaubte einen Mann mit hierher zu bringen, dessen Name sich in die Köpfe der Jäger eingebrannt hatte wie die legende eines Spukgespenstes.
„Es ist gut jetzt, Rookie. Halt einfach die Klappe und hör auf, dich ständig zu entschuldigen. Schlimm genug, dass du mich vom Essen abhältst“, hallten genervte Worte durch die entfernten Gassen und schienen alleine dadurch schon immer lauter zu werden, weil die Stadt noch so leise im Schlafen lag. „Nein, ich will nicht, dass du mir irgendwelches Essen hinterher trägst, irgendwas für mich hältst oder ständig dieses ‚Sorry, Sorry‘ in mein Ohr murmelst. Ich will einfach nur, dass du endlich still bist. Was ist daran so schwer zu verstehen?“
Erste Vögel zwitscherten von den Dächern, putzten sich das bunte Federkleid oder verließen ihren Stammplatz um wie winzige Schatten von einem Dach zum anderen zu fliegen, doch selbst ihnen schien der kalte Wind aus den Gipfeln noch zu kühl zu sein, um jetzt schon zu erwachen.
Ganz anders ging es da Liv, die - kaum um die letzte Ecke gebogen und Rookie hinter sich her trabend - wie angewurzelt stehen blieb als sie sah, dass hinter den Pforten zu ihrer schlafenden Stadt tatsächlich jemand mit einem Pferd stand und wartete.
Einem Pferd, das Hufabdrücke im nassen Boden hinterließ als wäre es bereits wieder Hochsommer, so als brauche man keinen Hunger und keine lange Reise zu fürchten und als wäre es das normalste der Welt, um solch eine Uhrzeit irgendwo aufzuschlagen und nach Einlass zu fordern.
‚Du wirst schon sehen. Matthew wird kommen. Zu Fuß oder besser noch… auf einem Pferd, das traue ich ihm zu. Er ist dickköpfiger als ich. Er wird hier her finden, ganz gleich in welchem Zustand das sein mag‘, das hatte Clarence ihr immer wieder gepredigt als sie ihm gesagt hatte, er solle endlich seine Hirngespinste aufgeben und wieder weiter machen, wie ein richtiger Kerl das machen würde. Aber wie es nun den Anschein machte, hatte Sky doch mehr Gespür bewiesen als sie selbst.
„Na der Typ hat Eier... - Halt das“, drückte sie der Blonden nun doch ihren Becher in die Hand, obwohl sie noch zuvor betont hatte dies nicht zu wollen und für den Bruchteil einer Sekunde legte sich ein siegessicheres Grinsen über Rookies Lippen, bevor sie zu spät nach dem Becher griff und dieser beinahe im Dreck gelandet wäre. Aber eben zum Glück auch nur beinahe.
Wirsch raffte Liv ihren Mantel vorne zusammen, mit dem sie ihren Schlafanzug bedeckt hatte um etwas tageslichttauglicher auszusehen, und hielt ähnlich wie zuvor Ryan etwas Abstand während sie mit dem Fremden sprach - denn sicher war sicher und man konnte niemandem trauen, der offensichtlich Geld an der Hand hatte.
„Du siehst klatschnass aus. Kann sein, dass ich eine trockene Stube und einen heißen Kaffee für dich organisieren kann, wenn du dich mir als der ausweisen kannst, der du vorgibst zu sein… und womöglich lasse ich deinen Mann dann dorthin holen, wenn du hier keinen Aufstand machst.“
Zumindest würde sie von Clarence einen erwarten, denn der war nicht minder dickköpfig wie der Mann, den er Liv beschrieben hatte.

Aufmerksam und angespannt beobachtete Matthew die fremden Gestalten, deren undankbare Aufgabe es war um diese Uhrzeit hier Wache zu schieben.
Ihre Reaktionen auf ihn waren am ehesten mit dem Wort verblüfft zu beschreiben und Matthew konnte es ihnen nicht verübeln.
Mehr als vier Monate war es her, dass er sich in Denver zusammen mit Cameron von der Gruppe verabschiedet hatte und mehr als drei Monate lag der Angriff im Schneesturm auf sie beide zurück, von dem er nicht wusste, ob Cameron ihn überlebt hatte.
Da Clarence Briefe geschrieben hatte, hatte er sicher von ihm erzählt und ebenso sicher hatte man ihm gesagt, dass es Matthew Sky wahrscheinlich nicht geschafft hatte. Punkt.
Zunächst hatte man das nur gedacht, später in kleiner Runde auch formuliert und letztlich hatte man es Clarence gegenüber ausgesprochen.
Obgleich er nicht dabei gewesen war, war Matthew sich ziemlich sicher, dass es so oder so ähnlich gelaufen war und nun war er hier - ein totgeglaubter Fremder, dessen Auftauchen bewies, dass Clarence sich nicht geirrt hatte.
Oder die Verwunderung rührte daher, dass er Clarence als seinen Mann bezeichnet und ihnen damit vielleicht ein noch immer gut gehütetes Geheimnis offenbart hatte.
Sich als Clarence‘ Mann vorzustellen war Matthew ganz bewusst und ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen und anders als noch in Denver, hatte er auch keine Sorge mehr darum ob er Clarence‘ Ruf damit schädigte oder nicht.
Jeder der mit ihrer Beziehung nicht klarkam konnte ihm das gern ins Gesicht sagen und sich dann verpissen.
Die Zeiten des Versteckspiels waren ein für allemal vorbei.
Auch deshalb trug er seinen Ehering offen sichtbar am Ringfinger und nicht etwa in einer Tasche oder an einer Kette um den Hals.
Der Anweisung des Wachpostens folgend, lenkte Matthew das Pferd über die Brücke, wobei der Hengst die Ohren angelegt hielt und unruhig schnaubte.
„Wer ist Liv? Holt Clarence, er wird euch bestätigen wer ich bin.“, insistierte Matt, aber der andere zuckte bloß die Schultern. Regeln waren Regeln. Und es gab offenkundig eine Befehlskette die zu missachten nicht in Frage kam.
Also hieß es warten… ein Umstand der weder Pferd noch Reiter gefiel. Die Nässe war ihm längst bis auf die Haut gekrochen und nun da er nicht mehr in Bewegung war, fing er an richtig zu frieren.
Allmählich wurde der dunkle Himmel von Osten her immer heller und zum kühlen Blassblau mischten sich Farben wie Lila und Gelb. Hier, unmittelbar hinter der Barrikade, war Falconry Gardens nicht sehr dicht besiedelt, trotzdem konnte man schon hier erahnen, dass die Stadt wohlhabend war. Der Boden war gepflastert und die wenigen Häuser die er schon sehen konnte wirkten gepflegt.
Es dauerte nur wenige Minuten bis diejenige eintraf, die offenkundig im Moment das Sagen hatte. Liv trug einen langen, dicken Mantel der trotzdem nicht verbergen konnte wie schlank sie darunter war.
Matthew ließ sie nicht aus den Augen und stellte auch bei ihr fest, dass ihre Reaktion die selbe war wie schon bei den anderen.
Sie war überrascht, sie war irritiert, sie schien ungläubig.
Mit zügigen Schritten setzte sie sich nach kurzem Innehalten wieder in Bewegung, kam auf ihn zu und blickte zu ihm empor. Sie tat ihren Job, so viel war Matthew klar, trotzdem konnte er seine Ungeduld langsam nicht mehr verbergen.
„Mich ausweisen? Echt gute Idee.“, wiederholte er ironisch und mahnte sich sogleich selbst, jetzt bloß keinen Ärger anzuzetteln.
„Sorry, meine Geburtsurkunde habe ich grade verlegt.
Aber ich verspreche, wenn einfach jemand nach Clarence schickt, wird er euch bestätigen wer ich bin.“
Er wollte keinen Kaffee und auch keine trockene Stube. Im Moment gab es nur eine Sache die er wirklich wollte und je länger es dauerte bis er Clarence wiedersah umso unruhiger wurde er.
Trotzdem mühte er sich ein Lächeln ab, schwang sich endlich vom Rücken des Pferdes und zeigte damit, dass er durchaus so etwas wie Anstand besaß.
Mit der einen Hand langte er nach den Zügeln, die andere hielt er Liv entgegen. Die junge Frau ergriff sie und sie schüttelten sich kurz aber kräftig die Hände.
„Tut mir leid… ich bin… schon eine Weile unterwegs. Kaffee und ein trockener Platz hört sich gut an.“ - ausgewiesen hatte er sich freilich trotzdem noch nicht und weil ihm das gerade bewusst wurde und er nicht unnötig weitere Zeit vergeuden wollte, schob er die Ärmel des Mantels zurück und zeigte die Bilder auf seinen Unterarmen.
„Claire hat die Motive bestimmt beschrieben, hm? Ich hab noch mehr und ich zeig dir jede einzelne Linie wenn es sein muss, aber wir können uns das alles ersparen, wenn ihr einfach Clarence informiert.
Er hat… Briefe geschrieben. Zwei davon haben mich erreicht. Also bin ich hergekommen. Wäre damals alles nach Plan verlaufen, würden wir alle jetzt nicht hier rumstehen. Wobei… ihr wahrscheinlich schon, nichts für ungut.“, er lächelte kurz, dann wurde er wieder ernst.
„Ich war mit Cameron auf dem Weg hierher als wir angegriffen wurden und… lebt Cameron noch?“
Liv schien mittlerweile entschieden zu haben, dass der Fremde wahrscheinlich wirklich das Gespenst war, welches er vorgab zu sein. Sie wechselte einen Blick mit Ryan und deutete dann die Straße hinab.
„Okay, das reicht mir vorerst. Den Rest erzählst du mir bei einer Tasse Kaffee. Und dann schauen wir, wie es weitergeht.“ - diese Formulierung gefiel Matthew überhaupt nicht und sein erster Impuls war es, ihr zu sagen, dass sie verdammt nochmal einfach auf ihn hören und seinen Mann holen sollte. Aber er biss sich auf die Zunge, nickte und setzte sich mit ihr gemeinsam in Bewegung.
Das Pferd täuschte einen Biss nach seinem Mantel an, überlegte es sich aber im letzten Moment nochmal anders.

Liv hatte in Falconry Gardens schon viele Menschen ein- und ausgehen sehen. Nicht jeden davon kontrollierte sie persönlich, noch bekam sie mit wie diese Menschen hießen oder wer sie waren. Manch einen kannte man nur vorm Sehen. Bauern aus den umliegenden Dörfern etwa, die zum Handeln oder für persönliche Besuche in die Stadt kamen oder Angehörige der hiesigen Bewohner, die einmal im Jahr vorbei schauten.
Aber Matthew Sky war eben nicht jeder und schon alleine dieser Umstand machte es nicht verwunderlich, dass man ihn abfing und genau unter die Lupe nahm.
Es war nicht so, dass sie zu Clarence ein besonders enges Verhältnis pflegte oder sich größere Sorgen um ihn machte, als es notwendig wäre. Aber es lag offen auf der Hand, dass es ihm seit dem offiziellen Verschwinden dieses Mannes nicht gut gegangen war und Clarence in den letzten Jahren seines Verschollen-Seins zu etwas geworden war, das man so nicht von ihm kannte.
Überhaupt lag vieles im Dunklen was zwischen seinem Aufbruch und seiner Wiederankunft lag. Liv konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als er Schulter an Schulter mit Nagi durch die Tore gegangen war in eine ungewisse Zukunft, aus der ihr Anführer mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zurück kehren wurde. Die Stimmung damals war schlecht gewesen und es hatte einige Wochen gebraucht, bis sich die Leute wieder beruhigt hatten.
Monate und schließlich fast schon Jahre waren ins Land gezogen, ohne, dass man von den beiden je wieder etwas gehört hatte. Und dann war er plötzlich wieder hier gewesen, aufrecht mit den Zügeln in der Hand auf dem Planwagen sitzend, obwohl man ihm angesehen hatte, dass er dafür eigentlich gar keine Kraft mehr hatte. Aber Sky war ein eitler Dickschädel und irgendwie konnte sie es ihm nicht übel nehmen, dass er im Krankenwagen liegend hatte hier ankommen wollen, so wie manch anderer es sicher in solch einem Zustand getan hätte.
Unverständlich murmelte die junge Frau etwas vor sich hin, das trotz der Stille des frühen Morgens nicht zu verstehen war, und gab der Blonden hinter sich schließlich einen Wink, die jedoch mit dem Befehl ganz offensichtlich nichts anzufangen wusste. Unsicher deutete sie mit dem Gefäß in der Hand den gepflasterten Weg hinauf von dem sie eben beide gekommen waren, mit der wortlosen Frage in den Augen ob sie dort die Tasse für Liv auffüllen lassen sollte oder was nun ihre genaue Order sein sollte.
„Himmel, Rookie… du sollst Sky suchen und zu den Stoggs bringen.“
„Ich… was? Nee, das mach ich nicht“, schüttelte die Kleine erschrocken den Kopf und fügte angesichts dem Augenverdrehen ihrer Vorgesetzten an: „Der… ich meine, der macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich… ich hab letztens gehört, wie Alec ihn zum Essen rufen wollte und er gerade… und… ich bin… ich…“
Verloren stammelte sie eine Ausrede nach der anderen aneinander, traf bei Liv jedoch offensichtlich auf taube Ohren. Unsicher rang sie sich ein unmotiviertes Lächeln ab und machte Anstalten Liv ihre Tasse wieder in die Hand zu drücken, bevor sie begriff, dass das nicht notwendig war und sie schließlich von alleine auf dem Absatz kehrt machte, um den Rückweg anzutreten.
Es dauerte einen Moment den Liv abwartete bis die junge Frau außer Hörweite war, bevor sie sich wieder an Matthew wandte:
„Claire…“, begann sie in einem Tonfall, der unterschwellig voller Fragen ob dieses Frauennamens war, die sie jedoch nicht alle aussprach, „…hat schon das ein oder andere Mal erwähnt, dass du ein loses Mundwerk hast. Das alleine reicht eigentlich schon aus um dich zu identifizieren, du kannst den Rest von dir also gerne angekleidet lassen. Ich bin Liv - diejenige, die als erstes erfährt wenn hier irgendwas komisches in der Stadt passiert. Aber das hast du dir sicher schon gedacht.“
Mit einem Nicken in die andere Richtung des Weges am Ortseingang, setzte sie sich langsam in Bewegung um den ungeplanten Besucher zum Gasthaus der Familie Stogg zu führen. Für gewöhnlich wurde noch keine Bewirtung um so eine Zeit angeboten, aber so wie sie Leona und ihren Mann kannte, würde sie den beiden schon irgendwie ein Heißgetränk und eine Platte mit Essbarem aus den Rippen leiern können - oder wenigstens einen Platz am heißen Feuer im Gastraum, damit Matthew sich etwas aufwärmen konnte.
„Das Mädchen ist Elaine, sie ist Neuling bei uns. Muss ein bisschen schikaniert werden um sich ein Fell anzulegen, die ist noch ein bisschen zu weich um den Job zu machen. Aber das wird noch“, erklärte sie ungefragt den Teils groben Umgang mit der Blonden und zuckte abtuend mit den Schultern. Durch diese Schule hatten sie alle durch gemusst und das war so auch gut gewesen, immerhin nahm draußen in der Wildnis auch niemand auf einen Rücksicht, wenn die Zeiten rau und die Tage lang wurden.
Eine weile ging sie schweigend neben dem Größeren und seinem schlecht gelaunten Pferd her, das sie immer mal wieder von der Seite her musterte. Das Tier wirkte nicht wie ein Gaul, den man auf einer Reise zum Freund gewann und so wie es immer wieder die Ohren anlegte wagte sie zu bezweifeln, dass es jeden auf seinen Rücken aufsteigen ließ. Umso besser also, dass sie dahingehend keine Ambitionen verspürte, das Pferd zu tätscheln.
„Naja, also eigentlich dachten wir ja, dass du ziemlich tot und irgendwo am verrotten bist“, sprach sie aus heiterem Himmel schließlich genau das laut aus, was eigentlich kein Geheimnis war und das man sich hier in der Stadt schon seit längerem ganz offen erzählte. „Dementsprechend ist es jetzt irgendwie komisch, dass du hier stehst - darauf hat sich um ehrlich zu sein keiner vorbereitet, weil wir nicht dachten, das könnte passieren. Aber da wurde ich wieder mal eines besseren belehrt.“
Ihr war es unangenehm so vorbereitet zu sein, Liv war kein Mensch dafür, ohne einen Plan in irgendwas hinein zu geraten. Aber so war es nun eben und das einzige was ihr blieb war abermals ihren Mantel fröstelnd um sich zu ziehen, um die unangenehme Stimmung etwas zu überspielen.
„Keine Ahnung wo Clarence ist, Elaine wird den schon finden. Wir sehen zu, dass du bis dahin nicht im Kalten stehst, sonst kann ich mir von… deinem Mann sicher was anhören. - Hier hoch“, lotste sie ihn an einer Treppe, die eine Abkürzung gewesen wäre, vorbei und mit dem Pferd die nahe Seitenstraße hoch, die ansteigend zwischen nun enger stehenden Häusern mit hölzerner Fassade entlang lief.
Über einer zweiflügeligen Tür mit Steinstufen, hing ein sich im Wind wiegendes und leise knarrendes Schild, auf dem ein grauer Berg mit weißen Gipfeln abgebildet war und der die Unterschrift „INN“ trug. Das Gasthaus war nichts besonderes, kleine Zimmer mit einem Gemeinschaftsbad und einem Schankraum aus Stein und Holz mit einem warmen, großen Kamin, dessen Lodern man schon von hier durch die gläsernen Verschläge der Tür erkannte - doch die Besitzer und die Gäste waren es, die den Laden jeden Abend zu einer Art zweitem Wohnzimmer werden ließen, in dem man sich gerne aufhielt.
„Du kannst dein Pferd da vorne anbinden“, deutete sie auf einen Zaun neben dem Gasthof und zog gleichzeitig an einer eisernen Kette neben dem verblassten Bildnis eines Bettes, woraufhin lautes Glockenläuten in den hinteren Räumlichkeiten erklang.

Liv war also diejenige, die hier das Sagen hatte sobald sich irgendetwas unübliches ereignete.
Und Matthew war so ein unübliches Ereignis.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann offenbarte die junge Frau frei heraus, dass ihn hier alle für tot gehalten hatten.
„Mhm, hätte an eurer Stelle wahrscheinlich auch nicht auf mich gesetzt.“, erwiderte er tonlos.
Man hatte ihn schon ziemlich oft totgeglaubt, irgendwie zog sich das durch sein Leben wie ein roter Faden.
„Sah zwischendurch auch nicht danach aus als würde ich es hierher schaffen.“ - wieder breitete sich eine angespannte Stille zwischen ihnen aus, die nur unterbrochen wurde von dem Geräusch der Hufe auf den Pflastersteinen.
Dass sie auf die Frage nach Cameron geschwiegen hatte legte die Vermutung nahe, dass es der andere nicht geschafft hatte.
In dem Durcheinander des Angriffs, der mitten in der Nacht und bei stärkstem Schneesturm erfolgt war, hatten sie sich schnell aus den Augen verloren. Und in den Minuten und Stunden danach… war Matthew drauf und dran gewesen elendig zu krepieren. Er hatte nach Cameron gerufen, zumindest eine Zeit lang aber er hatte nie eine Antwort erhalten. Aber hatte er überhaupt gerufen? Sicher war er sich heute nicht mehr, vielleicht hatte er das auch nur in seinem Kopf getan.
Matthew, der nie viele Freunde gehabt hatte, ließ die fehlende Antwort im Raum stehen, presste die Lippen aufeinander und versuchte, die Sache nüchtern zu sehen.
Er hatte Cameron nicht lange gekannt aber er hatte ihn gemocht. Und zwar aufrichtig und nicht auf diese oberflächliche Art und Weise wie er die meisten Menschen mochte, wenn er denn überhaupt jemanden leiden konnte.
Unter anderen Umständen, hätten sie sich länger gekannt, hätten sie gute Freunde werden können. Richtig gute.
Die Dunkelheit und die Tatsache, dass sie ohnehin mehr schwiegen als sprachen, machte die Betroffenheit die Matt bei dem Gedanken an Cameron’s Tod verspürte für Liv unsichtbar.
Die junge Frau deutete einen Weg hinauf und Matthew blieb kurz stehen, die Straße empor sehend.
Die Häuser die sich den Weg hinauf drängten waren allesamt gepflegt und ordentlich. In manchen Stuben brannte bereits Licht, die meisten Fenster waren jedoch noch dunkel.
Falconry Gardens entpuppte sich mehr und mehr zu einer pittoresken Kleinstadt, der man ihren Wohlstand durchaus ansah - jedoch ohne prunkvoll zu sein.
Ein beschaulicher Ort der trotz des regnerischen Morgens schon jetzt einen gewissen Charme besaß.
„Ist nett hier.“, bemerkte er und setzte sich wieder in Bewegung, wobei das Pferd ihm mit erhobenem Kopf folgte.
Er hatte erwartet, dass man ihn ins Zentrum der Stadt brachte, in die Gemeindehalle oder dergleichen und nicht zu einem Gasthaus welches um diese Zeit sowieso nicht geöffnet hatte.
Aber Liv lotste ihn genau dorthin. Matthew sah das Gebäude zweifelnd an, blickte dann zu der jungen Frau und wieder zurück. „Die Kneipe hat jetzt schon auf?“ - nicht das er an der Richtigkeit ihrer Entscheidung rütteln wollte, etwas merkwürdig fand er ihre Wahl dennoch.
Ohne darauf zu warten was sie erwiderte brachte er den gescheckten Hengst zu dem Zaun auf den die junge Frau gedeutet hatte. Die Zügel schlang er nur lose einmal um das Holz und auch nur, um der Ordnung Genüge zutun.
In den letzten Monaten hatte er sich auf das übellaunige Biest von Pferd verlassen können, es hatte sich nie aus dem Staub gemacht und falls es eines Tages beschloss das Weite zu suchen, dann würde kein Zügel es daran hindern.
Obgleich der Morgen jung war, dauerte es nur wenige Augenblicke bis sich die Tür zur Gaststube öffnete.
Die Tür knarrte leise und die Frau die sie geöffnet hatte blickte ihnen aus munteren Augen entgegen.
Sie war locker zwanzig Jahre älter als Matthew, trug ihr rotes Haar offen über die Schultern wallend. Durchzogen waren die leichten Locken von weißen Strähnen.
„Guten Morgen.“ begrüßte sie die unerwarteten Besucher, erkundigte sich kurz bei Liv was denn der Grund ihres Erscheinens war und blickte erst dann zu Matthew, den sie kurz aber eingehend musterte.
„Für ein Gespenst sieht der Knabe sehr lebendig aus.“, stellte sie nüchtern fest, wieder an Liv gewandt.
„Noch jedenfalls. Kommt beide rein bevor ihr euch da draußen noch den Tod holt.“ - sie öffnete die Tür zur Gänze und ließ beide eintreten, wobei sie Matthew abermals musterte.
„Mein Name ist Leona Stogg.“, stellte sie sich vor und Matthew schüttelte ihr kurz die dargebotene Hand.
„Freut mich, Ma‘m. Tut mir leid, dass wir Sie stören. Ich wollte eigentlich nur zu…“ - Zu Clarence, nicht wahr? Es gibt kaum jemanden der in den letzten Monaten nicht zumindest deinen Namen gehört hat.“, fiel sie ihm ins Wort.
„Aber keiner hat damit gerechnet, dass es dich noch gibt.“
Das war nun schon das zweite mal binnen weniger Minuten, dass man ihm sagte nicht mit ihm gerechnet zu haben.
„Nun… es gibt mich noch.“, konterte Matthew ein wenig ratlos und blickte sich in der Stube um.
Es war ein uriges Gasthaus ohne viel Schnickschnack, ein Haus welches dem Blauer Hund nicht unähnlich war.
„Gut. Sehr gut. Das freut mich für dich. Kommt ihr beiden, kommt und setzt euch. Ich bringe euch einen Kaffee.“
Obgleich Leona ihnen einen Platz anbot, setzte Matthew sich nicht. Unruhig tigerte er lieber in dem Gastraum auf und ab und spähte immer wieder aus den Fenstern hinaus in die Dunkelheit.
Erst als man ihm einen Pott Kaffee brachte nahm er schließlich an einem der Tische Platz, wobei er permanent unruhig mit einem Knie wippte und nur gelegentlich einen Schluck Kaffee nahm.
„Warum dauert das so lange?“, fragte er die junge Frau nach ein paar Minuten schließlich. Sie saß ihm gegenüber aber er blickte sie trotzdem nicht an. Seine Augen hatten sich nämlich auf die Türschwelle hinter ihrem Rücken geheftet und ließen jene keine Sekunde unbewacht.
Wie lange sie letztlich schon hier waren konnte Matthew nicht sagen, es kam ihm auf jeden Fall viel zu lange vor.
Frischer Regen prasselte schon minutenlang hörbar gegen die Scheiben der Gaststube als es an der zweiflügeligen Tür jäh schellte. Leona öffnete die Tür, schwere Schritte waren in der Diele zu hören und die Stimme der älteren Frau die leise irgendetwas sagte.
Der Mann der zu den Schritten gehörte brauchte nicht erst vom Flur in den Gastraum treten um von Matthew erkannt zu werden.
Schon seine wenigen Schritte verrieten Clarence.
Matthew, der die ganze Zeit voller Nervosität gewesen war, es aber fertiggebracht hatte sich doch ziemlich gut zusammen zu reißen, sah nun mit solch einem erwartungsvollen Blick gen Durchgang, dass man das Gefühl der Überwältigung überdeutlich in seinen Augen ablesen konnte. Er stand auf, noch ehe Clarence im Türrahmen aufgetaucht war, umrundete den Tisch und wartete. Noch nie in seinem ganzen Leben hatten sich Sekunden so lang angefühlt, doch auch jene Zeit verging und schließlich trat sein Mann aus dem Flur und zur Schwelle des Schankraumes.
Schmal war er geworden - das sah Matt sofort- , seiner blonden Wallemähne war er beraubt und er trug einen von Matthews Pullovern.
Aber bei Gott… es war Clarence. Die Liebe seines Lebens, der Mensch ohne den nichts etwas bedeutete.
Die Augen des Jüngeren füllten sich binnen Sekundenbruchteilen mit Tränen und Matthew hatte keine Chance sie zurückzudrängen.
Dieser Mann hatte ihm so unsagbar gefehlt und das in jeder einzelnen Minute, seit sie sich in Denver getrennt hatten.
Er brauchte Clarence wie die Luft zum Atmen, ohne ihn konnte er keinen Moment lang glücklich sein, keine Nacht gut schlafen, kein Essen genießen.
Die schönsten Augenblicke waren zur Bedeutungslosigkeit verdammt, wenn Clarence nicht bei ihm war.
So vieles war ihm bisher durch den Kopf gegangen, so viele Fragen, so viele ‚was ist wenn…?‘
Aber nun da er den Blonden sah, da er ihn leibhaftig vor sich sehen konnte… da war kein Platz mehr für Fragen oder Zögern. Seine zitternden Beine setzten sich in Bewegung und noch bevor Matthew irgendetwas sagen konnte, durchquerte er schon den Raum und fiel Clarence buchstäblich um den Hals.
„Es war eine Scheiß-Idee sich zu trennen!“ kam es ihm unwirsch über die Lippen, fast schon einem Vorwurf gleich.
„Hör bloß nie wieder auf mich, wenn ich je wieder etwas in der Richtung vorschlage! Du hast mir so gefehlt. So unbeschreiblich sehr….“
Für Stunden schon wälzte er sich unruhig von einer Seite auf die andere. Es gab keine Nacht, keine Tageszeit und kein Wetter, bei dem er einigermaßen ruhig schlafen konnte, so lange er alleine in seinem Bett lag. Selbst das neue Bettzeug hatte wenig Erfolg gebracht und auch das neue Fenster in seinem Zimmer würde nicht helfen, das wusste er.
Brummend wälzte sich Clarence auf die andere Seite und wühlte sich selbst zurecht, damit das Leder seines Schultergurts nicht unter ihm drückte. Sein Arm tat noch immer weh, war aber nichts im Vergleich zu seiner Hand in der seit Wochen schon ein drückender Schmerz wütete. Wie Krämpfe fühlte es sich in seinen Fingern an, die Tag für Tag versuchte neue Zeilen zu produzieren für Briefe, die er nach Neujahr auf seiner Reise gen Westen verteilen wollte auf der imaginären Route, die zwischen hier und Denver lag. Und wofür? - Für nichts, vermutlich.
Die Wochen waren ins Land gegangen und kein einziges Überlebenszeichen war von seinem Mann gekommen. Kein Brief, kein Fetzen, nicht mal ein Gerücht darüber, dass man ihn irgendwo gesehen haben könne. Er bekam keine positiven Antworten auf seine schriftlichen Gesuche bei fremden Clans und Städten - wenn er denn überhaupt eine Antwort bekam, denn die meisten seiner Anfragen waren seit jeher auf taube Ohren gestoßen.
Und schließlich, als wäre es das normalste der Welt, dass die Erde sich weiter drehte, war Dezember gekommen.
Noch zwei Wochen, dann ist er wieder da, hatte sich der Blonde gesagt. Und dann: Noch eine Woche, dann steht er vor den Toren.
Denn Cassie würde es nicht wagen, ihren ersten Hochzeitstag zu verpassen. Niemals würde er sich das wagen.
Er hatte sich Dienst am Zaun eintragen lassen, hatte die Nachtwache schon lange vor dem eigentlichen Schichtwechsel abgelöst, hatte in die Ferne gestarrt und war um die Stadt gelaufen. Er hatte gewartet und gehofft, voller Vorfreude und Anspannung, hatte die Berge rundherum beobachtet, ob Matthew mit einem Spiegel oder einem Stück Glas Lichtzeichen gab, um sich anzumelden. Es war Mittag geworden, Rookie hatte ihnen Essen an den Zaun gebracht das Claire wie immer nicht angerührt hatte, dann war es Nachmittag geworden und dann war die nächste Schicht zur Ablösung erschienen, doch Clarence hatte seinen Platz nicht verlassen. Weil Cassie Falconry Garden erreichen würde, wenigstens an ihrem Hochzeitstag.
Und dann war es Mitternacht geworden und der Tag war vorüber gewesen. Einfach so, weil es das normalste der Welt war, dass die verfluchte Erde sich einfach weiter drehte anstatt stehen zu bleiben und seinen verdammten Schmerz zu teilen.
Clarence predigte seit Monaten jedem, ob er es hören wollte oder nicht, dass Matthew schon wiederkommen würde. Er war dickköpfig und konnte sich durchbeißen wenn es darauf ankam, er war einfallsreich und es war nicht das erste Mal, dass er in einer schwierigen Situation war, in der es ums Überleben ging. Und er hatte den Antrieb zu Clarence zurück zu kommen, jedenfalls glaubte der Bär das.
Hatte es geglaubt.
Denn er würde es nie laut aussprechen, doch seit Cassie an ihrem Hochzeitstag nicht zu ihm zurück gekehrt war, begann Claires feste Überzeugung zum ersten Mal zu bröckeln, dass er noch lebte.
Trotzdem weiterhin aufbrechen zu wollen gen Westen, weitere Briefe zu verteilen, Leute zu befragen und seinen Mann zu suchen, war seitdem eher eine Trotzreaktion auf die Realität, die mittlerweile auch bei ihm schmerzhaft angekommen war. Seit Cassies Aufbruch in Denver hatte er weder schlafen noch essen können und seit ihr Hochzeitstag einfach verstrichen war wie jeder andere Tag, fühlte er sich jeden Morgen aufs neue wie durch den Fleischwolf gedreht.
Ein leises, vorsichtiges Geräusch an seiner Tür war es schließlich, das ihn die Decke wieder von seinem Kopf zurück schlagen ließ. Erst als es zu einem lauteren Klopfen wurde, bat er die Person herein - und Rookies zusammenhangsloses Gestammel war das erste seit einigen Wochen, was seinen Blutdruck so weit in die Höhe trieb, dass Claire dachte ihm müsse gleich das Herz aus der Brust springen.
In seinen Ohren hörte er sein Blut rauschen und Clarence‘ Mund war schlagartig trocken geworden wie die Wüste um Poison Ivy. Es war nicht witzig, mit solch einem derben Scherz so früh am Morgen geweckt zu werden. Doch noch bevor ihm die junge Frau eine bereits schon brennende Lampe in die Hand gedrückt hatte, stellte sie klar, dass es keinesfalls eine Aktion war um ihn damit aufzuziehen.
Eine kurze Zeit nur hatte es gebraucht bis Clarence so weit war das große Haupthaus des Clans zu verlassen und den Weg in die Stadt hinab zu schreiten, doch es war ihm vorgekommen wie eine kleine Ewigkeit etwas sauberes zum Anziehen zu finden, seine ungebändigten Haare mit etwas Wasser zu richten und sich kurz die Zähne zu putzen, wenigstens des Anstands halber. Wie in den unzähligen Nächten davor, hatte er auch in dieser Nacht kein Auge zugetan, wovon seine Augenringe und das eingefallene Gesicht sprachen. Doch davon merkte er im Augenblick nicht mehr das geringste, so stark pochte ihm noch immer das Herz in der Brust, dass es beinahe schon weh tat vor Aufregung.
An dunklen Fenstern, vom Regen bedeckten Frühlingsblumen und ersten munteren Vögeln auf raren Straßenlaternen hastete er vorbei, bis es schließlich erst das Pferd vorm Gasthof der Stoggs war, das ihn nicht mehr an Rookies Geschichte zweifeln ließ.
Cassie, hier, in Falconry Gardens… genau damit hatte er seit zwei Wochen nicht mehr gerechnet und nun traf ihn das Unerwartete so hart, dass er kaum noch ein Wort über die Lippen bekam, als Leona ihm die Tür zum Schankvorraum öffnete und ihn fragte, was er denn mit der brennenden Laterne wollte so kurz vor Tagesanbruch.
Verwirrt darüber, dass er in seiner Überforderung das Ding einfach mit durch die ganze Stadt geschleppt hatte, ließ er die Öllampe bei der Rothaarigen und ließ sich von ihr hinüber zu den Schiebetüren lotsen, hinter denen sich der Gastraum vor ihm eröffnete. Warmes Licht flackerte bereits aus dem Kamin, eine kleine Flamme nur die darauf schließen ließ dass er noch nicht lange brannte, aber stark genug um nach kurzem Schweifenlassen des Blicks eben jene Gestalt zu erhaschen, die bereits mit großen Schritten auf ihn zugeeilt kam.
Völlig überfordert und unfähig zu begreifen, was gerade geschah, spürte er eine feste und vertraute Umarmung um seinen Leib und brauchte einen Moment um wirklich zu verstehen, was hier passierte. Eben hatte er noch in seinem Bett gelegen, wie fast jeden Morgen wenn die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war - und nun war er vom Regen nass bis auf die Knochen und stand bei den Stoggs im Gasthof, zu einer Uhrzeit zu der Leona und ihr Mann einem normalerweise den Hals umdrehten, wenn man an ihre Tür klopfte.
Was das einer seiner wirren Träume? War er doch eingeschlafen und hatte wieder Fieber bekommen, dass er sich solche irren Fantasien zusammen reimte?
Aus einem unsinnigen Reflex heraus schob er den Unterarm zwischen ihre Körper und drängte das, was sich als sein Mann ausgab und nichts weiter sein konnte als der Geist eines Toten, kurz von sich, die Finger tief in Matthews Kleidung versunken um ihn daran zu hindern von ihm Abstand zu nehmen oder jenen zu verringern. Es lag ihm auf der Zunge, dass das nicht der Matthew Sky sein konnte den er suchte, dass sich jemand einen irren Komplott gegen ihn erlaubte oder Cassies Identität gestohlen hatte, um an was-auch-immer heranzukommen. Er sah ganz anders aus als er Clarence verlassen hatte so… stattlich. So ganz anders als Claire sich ohne ihn fühlte, seitdem er gegangen und einfach verschwunden war.
„Wo warst du?“, wollte er perplex wissen und musterte ihn ruhelos, beinahe verschreckt. Sein Mund war noch immer so trocken, dass er schwören könnte, man verstand ihn kaum und wenn er sich nicht zusammenriss, würde ihm das Herz gleich sicher aus der Brust springen, so hart schlug es ihm bis zu den Ohren. „Wo zur Hölle bist du gewesen??“
Abermals musterte er die fremde Gestalt in der unbekannten Kleidung, mit dem zusammengeknoteten Haar und dem gepflegten Bart, der so vorher noch nicht da gewesen war. Er fühlte sich stark an… gut genährt und gestählt von einer Anreise zu Pferd die Clarence vorausgeahnt und doch nicht mehr erwartet hatte, jedenfalls nicht mehr, nachdem so viel Zeit verstrichen war.
Überwältigt von dem, was hier geschah, ließ er Cassies Kleidung los und klopfte kurz Brust und Schultern des Jüngeren mit der Hand ab, ganz so als könne er sich doch noch wie ein echtes Gespenst in Luft auflösen, wenn man ihn nur fest genug berührte.
Doch er tat es nicht und erst als Clarence das begriff, zog er den Dunkelhaarigen zurück an sich heran und in eine solch feste Umarmung dass es sich anfühlte, als würde er ihn nie wieder loslassen können. Nicht in diesem Leben jedenfalls.

So viele Emotionen fluteten sein Herz und seine Gedanken, dass Matthew unfähig war sie zu sortieren.
Er war hergekommen in dem Wissen, Clarence hier zu finden und obwohl er mit jedem Tag seinem Ziel näher gekommen war, fühlte sich der Augenblick der Umarmung unwirklich an.
Er begriff die Bedeutung ihres Wiedersehens und begriff sie doch wieder nicht.
Monate waren sie nicht beieinander gewesen, hatten sich irgendwann im August getrennt und sich versprochen, in ungefähr vier Wochen wieder beisammen zu sein.
„Mach dir nicht immer solche Sorgen, Blondie. Ich find‘ immer wieder zu dir zurück. Außerdem: Cameron kennt den Weg und so weit ist es nun auch wieder nicht.“
Motiviert hatte er geklungen, sich seiner Sache sicher.
Aber er hatte sich auf fatale Weise geirrt und wochenlang in dem Glauben gelebt, dass die Gruppe - und allen voran Clarence - tot war.
Und dieser Schmerz hatte ihn aufgefressen und ihn gleichzeitig motiviert weiterzumachen.
Zumindest für eine Weile, bis ihm ein Vögelchen namens Frank gezwitschert hatte, dass Clarence sehr wohl noch lebte. Und seither hatte der Dunkelhaarige keinen Tag mehr verstreichen lassen ohne duzende Meilen zurückzulegen.
Er hatte Zeit gehabt sich ihr Wiedersehen auszumalen, sich vorgestellt was er sagen und tun würde. Und er hatte sich überlegt, wie wohl Clarence’ Reaktion aussehen mochte.
Geistreiche und liebevolle erste Worte hatte er in seiner Fantasie formuliert, aber je näher er Falconry Gardens gekommen war umso unrealistischer kam ihm alles vor.
Vielleicht wartete Clarence gar nicht mehr auf ihn, vielleicht war er weitergezogen, vielleicht hatte er - konfrontiert mit den Gegebenheiten - sein Leben neu ausgerichtet.
So viele Fragen und Gedanken hatte er sich gemacht, sich so viele Szenarien ausgemalt… doch in keinem hatte Clarence ihn am Unterarm gepackt und von sich geschoben.
Irritiert ob der unfreiwilligen Distanz, welche er dank dem festen Griff weder erweitern noch schmälern konnte, sah Matthew in ein Gesicht, in dem eine Emotion vollkommen klar vorherrschte: heillose Überforderung.
Die Ringe unter Clarence‘ Augen waren tief, sein Blick verständnislos und voller Kummer. Er sah ihn an wie einen Fremden, beinahe schon ablehnend - so als würde er ihn nicht erkennen.
Matthew blinzelte die Tränen aus seinen Augen und hielt der wohl eingehendsten Musterung seines bisherigen Lebens stand. Den Impuls sich dem Griff zu entwenden und Clarence erneut zu umarmen, rang er nieder. Stattdessen schluckte er schwer und schwieg, betrachtete sich das Gesicht seines Liebsten mit zunehmender Sorge und neu aufkeimendem Kummer.
Als er den Blonden verlassen hatte, war er in guter körperlicher Verfassung gewesen, ihre Wunden vom Absturz waren größtenteils verheilt und das Problem der knappen Nahrungsmittel war beseitigt worden.
Aber der junge Mann der ihn jetzt gerade ansah… ihm fehlte der schelmische Glanz in den Augen, auf seinem Gesicht waren Narben die Matthew nicht kannte, seine Schultern waren schmal und er wirkte wie ein trostloser, gebrochener Mann. Der Kummer der letzten Wochen stand ihm ins Gesicht geschrieben und die Erkenntnis, dass er dafür verantwortlich war, versetzte Matthews Herz einen scharfen Stich.
„Wo warst du?“ brach der Blonde endlich sein Schweigen, schien aber noch immer ungläubig.
Wie oft hatte er sich in der vergangenen Zeit anhören müssen, dass Matthew nicht zurückkam?
Wie oft hatte er trotzig behauptet, er wisse, dass sie sich irrten?
So wie Matthew seinen Mann kannte, hatte er nie aufgehört die anderen zu belehren - aber seine bekümmerten Augen verrieten ihm auch noch eine andere Wahrheit.
Nämlich die, dass seine Hoffnung irgendwann erloschen war. Und an die Stelle von ihr war maßlose Verzweiflung getreten und ein Schmerz, der schlimmer in Clarence gewütet hatte als eine Krankheit.
Cassie legte den Kopf schief, presste die Lippen aufeinander und betrachtete Clarence mit einer Mischung aus Schmerz und Hoffnung im Blick.
Sie hatten sich nicht verloren, nicht wirklich jedenfalls und nun waren sie wieder zusammen und alles würde gut werden. Wieder fragte Clarence wo er gewesen war und dieses Mal antwortete Matthew ihm, mit einer Stimme die belegt und leise klang.
„Ich war unterwegs zu dir.“ brachte er traurig hervor und hoffte, dass Clarence endlich verstand, dass er wirklich hier war. Er war kein Geist, er war kein Traum.
Gegen jede Wahrscheinlichkeit, gegen jede Aussicht auf ein Wiedersehen: er war zurückgekommen und sie waren wieder vereint.
Es dauerte noch einen kleinen Augenblick, aber endlich erlöste Clarence seinen Mann von der quälenden Distanz, die sich einfach nicht richtig anfühlte. Matthews zitternde Knie fühlten sich an als würden sie gleich ihren Dienst versagen, doch sie wagten es nicht nachzugeben. Ohne längeres Zaudern nahm der Blondschopf ihn in die Arme und machte den Jüngeren damit unweigerlich zum glücklichsten Menschen der Welt.
Die geschaffene Distanz wurde beherzt überbrückt und Matthew fand sich endlich in einer festen und energischen Umarmung wider, die er so dringend benötigt hatte.
All die Zeit über war er nicht er selbst gewesen, hatte funktioniert, hatte existiert… aber erst Clarence machte ihn heil. Und er brauchte nichts weiter tun als da zu sein.
Schniefend vergrub Matthew das Gesicht in der Halsbeuge des Größeren, schloss die Augen weil hinter seinen Lidern Tränen der Erleichterung brannten und wusste doch, dass er sie nicht würde bändigen können.
„Es tut mir so leid.“ flüsterte er, ohne sich zu lösen oder den Kopf zu heben.
„Ich dachte du wärst tot… und als ich erfuhr, dass du lebst, bin ich so schnell hergekommen wie ich konnte.“
Er hatte sich beeilt, war manchmal Tag und Nacht auf den Beinen gewesen um noch ein paar Meilen mehr zu schaffen. Aber nun da er sah wie sehr sein Verschwinden Clarence zugesetzt hatte, fühlte er sich dennoch mitschuldig. Liebevoll hauchte er einen Kuss auf Clarence‘ Hals - eine vertraute Geste die viel zu lange nicht mehr zwischen ihnen stattgefunden hatte.
„Lass dich ansehen, hm?“ Mit leisem Räuspern hob er den Kopf schließlich und lehnte sich in der Umarmung zurück. Er blickte hinauf in Clarence’ Gesicht und legte behutsam eine Hand auf seine unversehrte Wange.
Die Narben auf der anderen Gesichtshälfte waren verheilt, aber dennoch unübersehbar.
„Du siehst aus… als hättest du nicht besonders gut auf dich aufgepasst.“, sagte er leise und lächelte traurig.
„Ab jetzt mach‘ ich das wieder.“ und dann, weil er sich dem Versprechen so deutlich entsann und es Clarence wieder und wieder geben würde, bis an das Ende all seiner Tage fügte er an:
„Ich hab doch versprochen, dass ich immer zu dir zurückfinde.“
Und wahrlich, das würde er.
Unwirklich und von der Realität entrückt fühlte es sich noch immer an, dass er vor Sonnenaufgang bei den Stoggs im Gasthaus stand und seinen Mann in den Armen hielt. Seinen Ehemann, für dessen Rückkehr er so lange gebetet und selbst im Krankenbett schon gearbeitet hatte - auch wenn es nicht besonders viel war, ein Dutzend Briefe und noch mehr hinaus in die Welt zu schicken. Doch dafür, wie es ihm gesundheitlich noch vor ein paar Wochen gegangen war, war es eine ganze Menge und das einzige was er hatte tun können, denn er musste Jaylynn Recht geben: Einen so langen Marsch hinaus in die Welt gen Denver überstand er noch nicht, dafür war sein Leib zu schwach und sein Dickschädel zu getrübt, um jetzt schon vernünftige Entscheidungen treffen zu können.
Trotzdem war er wach genug um zu begreifen, was just in diesem Augenblick geschah. Warmer Atem schlug sich vertraut und herbeigesehnt auf seine Halsbeuge nieder und warme Lippen, süßer als alles was er je zuvor in seinem Leben gekostet hatte, hauchten ihm einen beinahe schüchternen aber weichen Kuss auf seine vom Regen noch nasse Haut.
Je länger er Cassie in seinen Armen hielt, umso tiefer sickerte die unumstößliche Erkenntnis tiefer in ihn ein, dass er hier war und auch hier bleiben würde. Doch es war nicht einfach, so früh am Morgen schon so viele Informationen auf einmal zu verarbeiten.
Davon, dass er zu ihm unterwegs gewesen war, sprach Matthew - und davon, dass er gedacht hatte, Clarence sei tot und dass es anscheinend eine geraume Weile gebraucht hatte, bis ihn die Wahrheit erreicht hatte. Aber warum hatte sein Mann davon ausgehen sollen, dass er nicht mehr lebte? Wieso hatte er nicht - aller Realität zum Trotz, so wie der Blonde - daran geglaubt, dass es ein Wiedersehen gab, ganz gleich was andere sagten?
Obwohl er natürlich nur einen Bruchteil dessen kannte, was seinem Mann in den vergangenen Monaten widerfahren war, schmerzte es ihn, sich so wenig Vertrauen gegenüber zu sehen. Sie hatten schon viel mehr durchgestanden als eine Trennung im Winter und trotzdem hatten sie nie aufgehört nacheinander zu suchen. Doch Cassie… schien genau das getan zu haben, wenigstens für eine gewisse Zeit.
Holprig räusperte sich Clarence, spürte wie trocken sein Hals noch immer war.
„Schon gut“, murmelte er leise auf Cassies Entschuldigung hin, doch seine Stimme brach ihm weg und ließ sich nur schwer wieder beruhigen.
Während sich der Jüngere in seiner Umarmung etwas zurücklehnte, konnte Clarence aus den Augenwinkeln erkennen, dass Liv sich von ihrem Platz erhoben hatte um sich in Stille zurück zu ziehen. Sie hatte ihren Job getan und sichergestellt, dass weder der Fremde Unruhe stiftete, noch Clarence ihn als einen Betrüger enttarnte und damit war ihr Job getan - für den Moment jedenfalls. Das konnte ihm aber nur recht sein, denn der Blonde war bekanntermaßen noch nie ein Freund von Publikum oder Zuschauern gewesen wenn es darum ging, Emotionen zur Schau zu stellen. Außerdem - und das war Fakt - würde Cassie sich noch früh genug mit dem Clan und seinen Leuten auseinander setzen müssen… damit mussten sie heute in diesem Moment noch nicht gleich beginnen.
Die vertrauten Finger in seinem Gesicht fühlten sich fremd an, so lange hatte ihn keiner mehr auf solch eine intime Weise berührt und wäre es nicht Cassie, der ihm in diesem Moment so nah war, sicher wäre der Ältere vor Schreck ein Stück fort gewichen.
Ein weiteres Mal musterte er Matthew aus nächster Nähe, sicher auch nicht das letzte Mal am heutigen Tag, und versuchte sich jedes Detail einzuprägen und nach neuen Merkwürdigkeiten zu suchen, die ihm noch nicht bekannt waren. In den blaugrauen Iriden des Jägers lagen Schmerz und Trauer, während sein Mann leise zu ihm flüsterte mit Worten, die liebevoll und vertraut gemeint waren doch sich nach all dem, was er erlebt hatte, eher anfühlten wie eine Anklage statt Trost.
„Ich hab so gut auf mich und den Rest aufgepasst, wie es ging. Mehr konnte ich nicht tun“, wisperte er leise, doch in seiner Stimme lag der Tonfall eines Reisenden, der die schlimmen Erlebnisse angenommen hatte als das, was sie waren. Als Erinnerungen, an denen er nicht mehr rütteln konnte. Als Fehler und Versäumnisse, die er sich geleistet hatte oder auch nicht - und als Entscheidungen, die er in besagten Momenten vielleicht auch nicht besser oder anders hätte treffen können.
„Ich hätte… dich hier gut gebrauchen können, weißt du? Als meinen Mann… und meinen Freund.“
Nicht halb so viel Vorwurf lag in seiner Stimme, wie er ihm in den letzten Wochen verspürt hatte und je länger er Cassie ansah, umso schwerer fiel es dem Blonden wirklich sauer auf ihn zu sein. Trotzdem wühlte das plötzliche Erscheinen seines Partners Emotionen in ihm auf, die er zum Teil schon verarbeitet geglaubt hatte; doch auf der anderen Seite nahm ihm jede Sekunde, jeder Atemzug zunehmend die Last und die Schmerzen, die so lange auf seinem Herz gelegen hatten wie ein schwerer Stein.
Abermals räusperte er sich leise und fand schließlich wenigstens einen Teil seiner Stimme wieder, den er schon fast verloren geglaubt hatte.
„Gut siehst du aus“, war das nächste, was der Blonde bemerkte und hob seine Hände an das vertraute Gesicht des Dunkelhaarigen, das durch den länger gewordenen Bart älter und markanter wirkte, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Vorsichtig - so als brauche es eine Erlaubnis - legte er erst nach kurzem Zögern die Hände auf Cassies Wangen und betrachtete sich das Bild aus bereits bekannten Narben und neuen Komponenten. Cassies hatte, bis auf ihren Deal ob dem Kauf der Welpen damals, sein Haar nie lang getragen, sodass der Anblick gewöhnungsbedürftig war aber durchaus etwas, das dem Bären von Mann gut gefiel.
Schweigend fuhr er mit den Daumen die Lippen des Jüngeren nach, so als müsse er sich jedes neue Detail erst einprägen, schlug einen Bogen hinauf zu Cassies Nase und schließlich zu seinen Augenbrauen, die er mit den Fingern so vorsichtig nachfuhr wie man ganz heimlich ein Ölgemälde berührte, weil die Neugierde einen dazu trieb erfahren zu wollen, ob man die einzelnen Pinselstriche unter der Fingerkuppe spüren konnte. Doch schließlich waren es die Wangen des Kleineren, denen er sich erneut widmete, um die leisen Tränen des Jüngeren hinfort zu wischen.
„Warst du lange unterwegs? Wo wir das Pferd unterstellen können weiß ich noch nicht, aber ich hab in der Stadt was gefunden für uns beide. Du musst müde sein und frieren, oder nicht?“, wahrscheinlich war er die letzten zwei oder drei Tage einfach durchgeritten, zutrauen würde Clarence es ihm und so nass wie die Wege draußen waren, war auch Cassie spürbar geworden.
Mit weniger Zögern als noch zuvor, löste Claire die Hände vom Antlitz seines Mannes, nur um sie kurz darauf durch den geöffneten Mantel zu schieben und hinab bis an den Saum von Matthews Pullover, unter den sich seine Fingerspitzen neckisch schoben. Es war schon früher zeitig eine Marotte von ihm geworden auf diese Weise Nähe zum Jüngeren zu suchen und selbst jetzt, nach all den Monaten Trennung und Schmerz hatte sich diese Angewohnheit nicht verloren - auch wenn er in den vergangenen Wochen schon zu viel Tränen vergossen hatte, um just in diesem Augenblick noch welche aufbringen zu können.
„Wie geht‘s dir?“, fasste er all die Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, in drei kurzen Worten zusammen und musterte ihn aufmerksam, damit er den Blonden bloß nicht anlog. „Wir können Leona fragen, ob sie uns was zu Essen einpackt und dann gehen wir dich aufwärmen. Was hältst du davon?“

Er hätte ihn hier gut gebrauchen können… Worte, die Matthew ungeahnten Schmerz bereiteten, denn sie machten deutlich wie sehr der Blonde gelitten hatte.
Der Dunkelhaarige hatte seine Gründe gehabt weshalb er nicht gleich nach Falconry Gardens gekommen war - aber befreiten ihn diese Gründe von der Schuld, nicht für Clarence da gewesen zu sein?
Betreten senkte er den Blick, wobei einzelne neue Tränen von seinen Wangen und nach unten fielen.
„Ich wäre gern an deiner Seite gewesen…“, wisperte er kläglich, wusste aber, dass diese Worte es nicht besser machten.
Was passiert war und was Clarence erlebt hatte, dass hatte er ohne Matthews Beistand ertragen müssen und der Jüngere wünschte sich mehr denn je, dass er schneller hier gewesen wäre.
Ganz behutsam berührte Clarence schließlich sein Gesicht und Matthew schmiegte sich den Fingern augenblicklich entgegen. Es glich einer Erlösung endlich wieder die Nähe seines Liebsten zu spüren und gleichzeitig fühlte sich alles so fragil an. Die letzten Monate standen zwischen ihnen, was passiert war ließ sich im Nachhinein nicht mehr gemeinsam erleben und in der Konsequenz trugen sie weiterhin ihre Last allein.
Matthew sehnte sich unglaublich sehr nach seinem Mann.
Er wollte wissen was ihm widerfahren war, wollte ihn ansehen und sich ein Bild von dem machen, was unter seiner Kleidung lag.
Gleichzeitig aber fürchtete er sich vor der Zaghaftigkeit die Clarence ihm entgegenbrachte. Es schien, als würde der Blonde nicht sicher sein ob Matthew echt war und wenn er echt war, wie er reagieren sollte.
Die Unsicherheit des Blonden tat Cassiel weh, denn ihre Beziehung war längst über jene Vorsicht erhaben gewesen. Doch nun war alles anders und auch wenn er hoffte, dass mit der Zeit alles wieder in Ordnung kam, so war die aktuelle Situation befremdlich und schwer zu ertragen.
„Ich fühl mich aber nicht gut…“, entgegnete er auf das Kompliment. „Ich hätte… bei dir sein sollen. Ich hätte nie weggehen dürfen…“, er zögerte kurz und ließ den Blick weiter zu Boden gerichtet.
„Du hast mir so gefehlt.“
Seit ihrer Trennung in Denver war kein Tag vergangen an dem er nicht an Clarence gedacht hatte. In jedem wachen Moment hatte er ihn vermisst, seine Nähe, seine Stimme, seine bloße Anwesenheit und Nähe. Ihn tot zu wähnen war die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen und der einzige Grund warum er noch lebte war der Gedanke an Rache gewesen. Wochen der Einsamkeit und der Verzweiflung, der Hilflosigkeit und des Überlebenskampfes lagen hinter ihm auch wenn man ihm das augenscheinlich nicht ansah.
Unsicher hob er den Blick schließlich wieder als der Andere ihn wissen ließ, dass er in der Stadt ein Plätzchen für sie beide gefunden hatte - seines vermeintlichen Todes zum Trotz. Das sah Clarence ähnlich, berührte Cassiel aber dennoch so sehr, dass neue Tränen heraufdrängen.
„Du bist so… verrückt.“, brachte der Dunkelhaarige hervor und lächelte schwach trotz der Tränen, was ihn ungeachtet seines verwegenen Äußeren jung und verletzlich aussehen ließ. Nähesuchend drängte er sich reflexartig an den Größeren als dessen Finger sich ungefragt unter sein Oberteil schoben, so wie sie es immer schon gern getan hatten.
Die Nähe zu ihm fühlte sich so heilsam an, dass der junge Mann keine Worte dafür fand und mehr denn je wollte er mit ihm an einen geschützten, warmen Ort der ihnen die Möglichkeit bot einander zu erzählen was passiert war aber auch einfach Ruhe zu finden.
„Essen und aufwärmen… klingt ziemlich perfekt.“, das tat es wirklich. Aber wichtiger noch als das war ihm, dass sie zusammen blieben.
„Du kommst mit mir, oder? Und du bleibst doch auch? Ich will nicht… ohne dich kann ich nicht….“, fahrig schüttelte er den Kopf über sich selbst und fing schließlich nochmal von vorne an. „Wir waren so lange getrennt , ich glaube ich überlebe keine einzige weitere Minute ohne dich.“
Dass Liv längst gegangen war und sich auch Leona umsichtig diskret zurückgezogen hatte spielte keine Rolle bei der Deutlichkeit seiner Wortwahl. Matthew hätte die Formulierung auch dann nicht anders gewählt wären sie noch zugegen. Die Meinung anderer war ihm noch nie besonders wichtig gewesen und die zurückliegenden Monate hatten ihm ein für allemal bewiesen, dass nichts und niemand so wichtig war wie Clarence.
Er schämte sich nicht für seine Liebe zu ihm und er schämte sich auch nicht dafür sie zu zeigen.
Die Angst, sich erneut zu trennen - und sei es auch nur für wenige Stunden - nahm ihm Clarence zum Glück umgehend und pflanzte damit den ersten puren Glücksmoment seit Monaten in Cassiels Herz. Erleichtert drängte er sich kurz noch fester gegen den Größeren ehe sie sich voneinander lösten.
Draußen wartete noch immer das Pferd auf die Rückkehr Matthews und zeigte wie stets deutlich seinen Unmut über die gesamte Situation.
Leona hatte sich damit einverstanden erklärt das Pferd über Nacht auf ihrem Hof zu dulden - und so hatten sie es hinter das Gasthaus verbracht, auf ein kleines Fleckchen umzäunte Wiese wo bereits ein Esel und zwei Schafe standen.
Mittlerweile war die Dämmerung dem Morgen und die Wolken einem zart blauen Himmel gewichen.
Es war noch früh genug als das die beschaulichen Straßen und Gassen weitestgehend menschenleer waren, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis das Leben hier erwachte.
Die Stadt selber war erstaunlich aufgeräumt, Armut schien es nicht zu geben - zumindest trafen sie nirgends auf Bettler oder Obdachlose und selbst herumstreunende Tiere - wie Hunde oder Füchse - sah Matthew nicht.
Clarence lotste sie mit der Selbstverständlichkeit eines Einheimischen durch die Stadt, wo sich die Häuser irgendwann zunehmend aneinander drängten. Aus vielen freistehenden Gebäuden wurden größere Bauten. Kneipen, Läden für Bekleidung, Büchsenmacher und Schmiede.
An vielen Fassaden prangte das Wappen der American Kestrels.
„Ich hab mir diesen Ort ganz anders vorgestellt.“ sagte Matthew und blieb vor einem freistehenden Haus mit weißer Fassade stehen, bei dem dunkle Holzbalken unverputzt und sichtbar waren. „Irgendwie weniger… friedlich.“
Coral Valley war eine laute Metropole, wo immer irgendwo etwas los war - doch der Teil Falconry Gardens durch den sie bisher gegangen waren, schien noch zu schlafen und es herrschte eine friedvolle Ruhe, die nur vom Gesang der Vögel ergänzt wurde.
Er drückte die Hand seines Mannes, die er nicht losgelassen hatte seit er das Pferd in sein vorläufiges Quartier geführt hatte und sah zu ihm auf. Clarence wirkte müde und erschöpft und… fertig. Nicht von letzter Nacht, nicht weil er einen harten Tag gehabt hatte… sondern weil die letzten Monate und Wochen derart an ihm genagt hatten, dass der Kummer drohte ihn aufzuzehren.
„Ist es noch weit?“ wollte er schließlich wissen, nicht ahnend, dass das Haus vor dem er stand auch ihren Rückzugsort beherbergte. Über ein kleines Tor betraten sie das Grundstück und den Vorgarten, in dem im Frühling und Sommer sicher die schönsten Blumen blühten.
Das Gebäude schien keine offizielle Herberge zu sein und auch keine Bar, es war ein privates Wohnhaus mit einem kleinen Anbau zu dem Clarence ihn führte und für dessen Tür er einen Schlüssel besaß.
Matthew blickte sich nochmal aufmerksam um, so surreal kam ihm alles vor. Es gab eine Bank neben der Tür und an einem Haken hingen zwei Halsbänder und Leinen die er aber nicht kannte.
‚Kain und Abel.‘ dachte er sich, doch dann, weil das nicht sein konnte ‚Sie sind tot, mach dich nicht lächerlich.‘ aber waren sie tot? Wer ihn hatte glauben lassen, dass Clarence Denver nie verlassen hatte, hatte vielleicht auch die zwei Hunde in das perfide Bild mit eingewoben.
„Claire?“, Matthew zögerte kurz mit seiner Frage, denn er scheute die Antwort. „Kain und Abel… sind sie…?“
Als sie wieder hinaus an die frische Morgenluft getreten waren, fühlte Clarence zum ersten Mal seit Monaten was es hieß, dass mit jedem Tag auch eine neue Chance anbrach. Die Last, die sich sonst über seine Schultern legte wenn er daran dachte einen weiteren Morgen begehen zu müssen, wog heute deutlich leichter als sonst und auch das unkomplizierte Abkommen mit Mrs. Stogg bezüglich der Unterbringung des Pferdes machte es um einiges leichter, sich nicht schon im Morgengrauen den Kopf zerbrechen zu müssen.
Mit einem tiefen Atemzug ließ Clarence den Blick über den Horizont und den hellblauen Himmel schweifen, der sich hinter den Wolken Bahn brach. Die schneebedeckten Gipfel der umliegenden Berge waren noch immer in zartes orange-rot getaucht und die langsam erblühenden Wiesen am Fuße des Grey Eagle satt und grün, doch nichts von alledem erwärmte sein Herz so sehr wie das Antlitz des Mannes, der mit gemächlichen Schritten neben ihm ging.
Bis zuletzt hatte er vorsichtig mit den Fingern die Tränen von Cassies Gesicht gewischt, ihn betrachtend und dann und wann sachte nickend um ihm die Angst zu nehmen, dass er nicht gleich wieder verschwinden würde und obwohl sich das erste Erstaunen und der erste Schreck um den Anblick des anderen längst gelegt hatte, fühlte es sich noch immer nicht real an, mit seinem so lange vermissten Mann durch eben jene Straßen zu schlendern, durch die Clarence sicher schon hunderte Male gegangen war.
Dann und wann drückte er vorsichtig Matthews Hand, so als müsse er spüren dass der Kerl ihn wirklich noch festhielt statt plötzlich unter seinen Fingern verschwunden zu sein, doch bei keinem einzigen seiner beginnend zweifelnden Versuche wurde er enttäuscht - und machte es dem Blonden damit langsam einfacher zu begreifen, dass keiner bald an sein Zimmer klopfen und ihn aus tiefen Träumen erwecken würde.
Ein seichtes Schmunzeln legte sich über seine Lippen während Cassie auf ihrem Weg möglichst viele Eindrücke in sich aufsaugte, die Häuser bis zu den Dachgiebeln musterte und sich an den Schildern der Läden satt sah.
„Dass es hier nicht okay ist, hab ich nie gesagt“, stellte Claire nach kurzem Abwägen fest und folgte dem Blick seines Mannes durch die Fensterscheiben und an den Fassaden der Häuser entlang. Die meisten Gebäude der Innenstadt waren saniert oder wenigstens auf neuestem Stand gehalten, ein Aufwand der sich in den vergangenen Jahren, während Clarence nicht hier gewesen war, auch langsam in die Vorstadt verlagert hatte. Die Geschäfte liefen gut und die Leute waren einigermaßen zufrieden hier, was sich auch in ihrer Art zu leben widerspiegelte.
„Ich meinte nur, dass… ach, egal.“ - Wirsch schüttelte er den Kopf, denn seine ursprüngliche Abneigung wegen des Clans wieder herzukommen, hatten sie damals lange und oft genug durchgekaut. Wie so oft im Leben war es nun ganz anders gekommen, sodass sie nun doch in Falconry Gardens standen… und das sogar gemeinsam, den vergangenen Wochen und dem Gerede der Leute völlig zum Trotz.
„Es ist okay hier. - Gut hier“, korrigierte er sich und schlenderte in gemächlichen Schritten mit Matthew über die gepflasterten Wege, vorbei an Fenstern deren Verschläge sich zunehmend öffneten um das Tageslicht in die Wohnungen einzulassen. Sein Mann sollte nicht das Gefühl haben, er fühle sich hier nicht wohl oder verschweige ihm irgendwelche düsteren Geheimnisse über die Stadt, vor denen man ihn schützen musste. „Es gibt immer viel zu tun, damit das so bleibt. War nicht immer So friedlich hier. Aber die Mühe lohnt sich wie man sieht.“
An einer Backstube, an dem sie vorbei kamen, öffnete sich schon die erste Ladentür um kurz nach ihrem Vorbeigehen davor zu kehren, ganz so als habe man nur auf die ersten Sonnenstrahlen gewartet, um der Stadt endlich das tägliche Leben neu einzuhauchen. Es mochte von außen abschreckend sein auf die Ortschaft einzutreffen, vorbei an den hohen Zäunen und dem Clan. Doch wer sich hier anständig benahm, der konnte auch ein anständiges Leben führen - was man auch daran merkte, dass in den letzten Jahren immer mehr neue Bewohner dazu gekommen waren.
Einen großen Weidenkorb von Leona in der anderen Hand, musste er schließlich die Hand des Dunkelhaarigen doch widerwillig loslassen um das Grundstück zu betreten, vor dem sie zum Stehen gekommen waren. Das Eisentor, das im gleichen Braunton gestrichen war wie die freiliegenden Holzbalken zwischen der hellen Hausfassade, quietschte unpassend schrill durch den friedlichen Morgen. Das Geräusch hatte Clarence in den vergangenen Wochen selbst mit Öl und Waylon nicht ersticken können, doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt und am Ende war es ja doch nichts anderes als eine kostenlose Alarmanlage, wenn man versuchte es positiv zu sehen.
Es klirrte leise im Korb, als Claire ihn kurz neben sich abstellte, während er die aus dunklem Holz gefertigte Eingangstür mit Rundbogen aufsperrte und kurz an der Klinke rüttelte, weil das Schloss mal wieder klemmte. Feinheiten, an die er sich längst gewöhnt hatte und die seinem Mann hoffentlich bald genauso selbstverständlich über die Finger gehen würden wie ihm - vorausgesetzt Matthew fühlte sich hier wohl und wollte überhaupt bleiben.
„Kain und Abel sind… sind…“, abermals zog er die Tür an der Klinke kurz zu sich und kämpfte mit dem Schloss, bis es schließlich unter seinem energischen zutun nachgab. Im Augenblick hätte es wohl kaum etwas schlimmeres geben können als vor versperrten Toren sitzen zu bleiben nachdem Clarence sich ständig ausgemalt hatte wie es sein würde, Cassie endlich nach Hause zu holen; das Glück war ihm heute jedoch ganz offensichtlich besonders hold, sodass Cassie sich später nicht auf der Bank neben der Tür ausschlafen musste.
„Die sind wohlauf. Wieder wohlauf. Kain hat ein bisschen was abgekriegt, aber wir haben ihn wieder hinbekommen. Alle beide bekommen so viel vom Tisch zugesteckt, dass die ihr bestes Leben führen. Sogar eine…“
Erst als er sich wieder dem Jüngeren zugewandt hatte erkannte er, dass Matthew bei seiner Frage das Schlimmste erwartet zu haben schien. Doch was das anging, konnte Claire ihm zum Glück die Angst nehmen.
„Die Jungs haben ihnen sogar eine kleine Hütte für den Hof beim Clan gebaut. Es geht ihnen wirklich wirklich gut. Allen beiden. Und jetzt komm rein.“
Auffordernd hielt er Cassie die Hand entgegen und zog ihn zu sich über die Türschwelle in den kleinen Flur, wo Haken und Schuhbank noch leer waren und von nichts anderem bestückt als einer dünnen Jacke, die Clarence meistens überwarf wenn er mit Kain und Abel seine Runde ging.
Die Tür zum Wohnraum stand offen und gab den Blick frei auf das Fenster vor der Bank von draußen und unterm Fenster einem kleiner Schreibtisch, der übersäht war von unsortierten Pergamentstapeln, Tinte und Federhaltern, mit denen Clarence bis heute noch immer auf Kriegsfuß stand. Besonders aufgeräumt wirkte es nicht, aber ordentlich hatte es auf der Harper Cordelia und in ihren Lagern schon nach nur zwei Stunden auch nicht mehr ausgesehen und darüber hinaus hatte er in den vergangenen zwei Wochen auch kaum noch mit seinem Mann gerechnet - ein Umstand der ihm nun natürlich übel mitspielte was den ersten Eindruck anging.
Den Grundriss des Anbaus, den man von außen schon in seiner langgehenden Größe erwartet hatte, fand sich auch wider, als er Matthew schließlich nach Ablegen der Schuhe an der Hand hinter sich her in den Wohnraum zog. Es war zwar kein riesiges Haus, trotzdem beherbergte die Wohnung genug Platz um sich mit zwei großen Hunden bequem zu bewegen und es trotzdem wohnlich miteinander zu haben. Hinter der Wand, die an den kleinen Flur grenzte, stand ein kleiner Esstisch mit zwei Stühlen und weiteren unsortierten Pergamenten, während eine einfache aber ordentliche Küchenzeile sich über die Ecke unter den Fenstern entlang zog. Frisch gebrühter Tee von gestern stand noch auf der Arbeitsfläche, abgedeckt mit einem Tuch, und daneben ein paar Gläser eingekochtes Obst, das Clarence mit Appetit gekauft und dann doch nicht gegessen hatte. Und neben der Spüle, hochkant angelehnt an die Wand zum trocknen, Wasser- und Futternapf ihrer beiden Lieblinge.
Obwohl die Wohnung noch nicht von den abbrechenden Sonnenstrahlen des Tages durchflutet war, leuchteten einem weiße Laken und Kissen hell aus dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers entgegen, an dessen Fußende auf dem Boden zerwühlte Decken und ein zerkauter Lederball lagen. Oft schon hatte ihnen Clarence abends beim Schlafen zugesehen, während er in der Ecke im Sessel saß und versuchte eines der wenigen Bücher aus dem Regal daneben zu lesen.
Bislang hatte er immer darauf verzichtet die Wohnung mit weiterem als dem zu bestücken, was eh schon so möbliert gewesen war und auch der große Einbauschrank, der sich neben dem Bett über den Rest der Wand zog reichte aus, um dort genug Kleidung und Tand unterzubringen, den man so hatte. Zum vollen Glück würde wohl lediglich ein Zuber im Bad fehlen, das man über die Tür zwischen Schrank und Küche erreichte - aber was hatte ihn ein heißes Bad interessiert, wenn er nicht mal seinen Mann hier bei sich in der Wohnung gehabt hatte?
„Wie findest du’s, ist es okay so? Wir müssen hier nicht bleiben wenn es dir nicht gefällt, aber ich dachte es wäre schön einen Ort zu haben, wo man…“, Clarence unterbrach sich kurz und versuchte die richtigen Worte zu finden, denn angemietet hatte er die Wohnung ja damals, um hier mit seinem Mann zu leben. Irgendwann war es zu vier Wänden geworden die er als Rückzugsort genutzt hatte, um hier ungestört zu arbeiten und nicht ständig von den Leuten aus dem Clan gestört zu werden und irgendwann war es zu eben jener Wohnung geworden, in der er niemals mit seinem Mann wohnen würde, weil der vermutlich tot war.
Und nun… war er hier.
„Ich dachte es wäre schön einen Ort zu haben, wo wir erstmal zuhause sind, bis wir was richtiges haben.“