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Zuhause

29. Dezember 2210


Clarence B. Sky

„Der Berg ist ein ziemliches Miststück. Außer uns, wenn wir zu Fuß nach Norden wollen, nimmt kaum jemand die Pfade da oben. Ist aber immer der schnellste Weg um voran zu kommen, selbst dann, wenn man sich ein bisschen was frei räumen muss“, bestätigte Alec dem Neuankömmling und nippte munter an seinem Kaffee, auch wenn es eigentlich schon fast wieder dunkel draußen wurde. Die allgemeine Frühstücks-Stimmung war ihm nicht entgangen und dass er eben jene eigentlich ganz muckelig fand, obwohl es schon lange nach 17 Uhr war, war dem Langhaarigen durchaus anzusehen. 

„Mh…“, schluckte er den nächsten Schlüfer hinab, bevor er antwortete: „Mir ist hier gar nichts zu verdanken. Ich hab nur mitbekommen, dass das ältere Ehepaar über ein paar Mieteinnahmen dankbar wäre, weil bei dem Schnee die Händler ausbleiben. Wenn das Wetter jetzt wieder besser wird, findet sich nicht so schnell was passendes.“

„‚Mitbekommen‘. Annabell hat dir doch bestimmt in den Ohren gelegen, dass ihre Großeltern die Kohle brauchen, und du hast den Retter in Not gespielt.“

Ein kurzes Schweigen legte sich zwischen sie, während dem Alec ein paar Sekunden länger nach der passenden Antwort suchte, als es gut für ihn wäre.

„Nein?… Ich meine… Nein, so war das nicht. Sie hat es erwähnt. Beiläufig. Außerdem ist das doch egal. Meinst du nicht, es ist mir viel mehr anzurechnen, dass ich da direkt an dich und deinen Mann gedacht habe, anstatt irgendwelche Einreisenden am Zaun hierher zu lotsen?“

Er deutete auf Matt, so als wäre er die Erklärung für alle ungelösten Rätsel - und zumindest bei einigen mochte das zweifelsohne auch stimmen.

Abwägend musterte Clarence den anderen Jäger, während er sich eine weitere Gabel Rührei hinter die Zahnreihen beförderte, bevor er den still-schreienden Blick seines besagten Ehemannes auffing und tonlos die Augen verdrehte. Matthew mochte nicht für alles ein feines Gespür haben, aber dafür hatte er eine umso spitzere Art ihn auf eben die Unzulänglichkeiten hinzuweisen, die er eben doch mitbekam.

„Barclay könnte es wesentlich besser gehen, wenn der Typ sich nicht immer selbst so unglaublich bemitleiden würde“, zeigte sich einmal mehr, dass trotz dem Erlebten seine Beziehung zu Cameron noch immer nicht gekittet war und dabei schüttelte er missbilligend den Kopf, wofür Alec ihn mit dem Ellenbogen anstieß, damit er sich etwas zusammenriss - immerhin waren die vergangenen Wochen mit dem Blonden auch kein Zuckerschlecken gewesen.

„Cameron hat es ziemlich übel erwischt. Wie auch immer er das geschafft hat, aber unser Suchtrupp hat ihn noch halb lebendig mitten in der Eiswüste aufgegabelt als wir die Absturzstelle eures Zeppelins gesucht haben. Er ist über‘n Berg, aber kommt nicht so richtig in die Pötte. Genauso wie der Kandidat hier, hat Cam es nicht so gut weg gesteckt, dass er dich verloren hat.“

Verloren war dabei noch freundlich ausgedrückt aber wohl der beste Begriff für das was geschehen war, denn ob tot oder verschollen war nicht abzusehen gewesen. Genauso, wie Cameron der eine aus einer Million gewesen war, der das Massaker überlebt hatte, hatte ja auch der verschollene Mister Sky 2.0 irgendein Schlupfloch gefunden haben können um sich den Hals noch rechtzeitig aus der Schlinge zu ziehen.

„Ich sag dir, wenn er dich sieht, springt er sicher aus dem Bett wie neu geboren. Er redet immer in den höchsten Tönen von dir, also… die Erwartungen sind jetzt echt hoch, darauf kannst du dich schon mal gefasst machen.“

Clarence, der weder Lust auf hohe Erwartungen hatte, noch darauf überhaupt irgendjemandem außer Adrianna und Cameron über den Weg zu laufen wenn sie beim Clan waren, nahm also den Themenwechsel hin zu Falken und Pergament nur gerne an - hätte sein Mann nicht noch bessere Augen als ein Greifvogel, wodurch er sogar vom Themenwechsel schon wieder zu einem anderen Thema wechselte.

Mich hochgezogenen Brauen wandte er sich nach hinten und hielt Ausschau danach, was Cassie meinen könnte, und winkte unumwunden ab.

„Das sind Rosmarin und Thymian. Die waren schon beim Einzug hier, aber wir dürfen die gern zum Kochen nehmen, wenn wir wollen“, erklärte er Matthew die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett, wohl wissend, dass sein Mann es generell nicht so mit Kräutern und Pflanzen hatte. Unschuldig wie eh und je biss er von seinem Brot ab, als wäre anständige Nahrungsaufnahme neuerdings gleichzusetzen mit einem Friedensvertrag - doch genauso stechend wie Matthews Blicke waren, wenn es ums Essen ging, konnten seine Blicke auch töten, wenn man ihn als Bär absichtlich falsch verstand.

Für einen kurzen Moment versuchte er dem vielsagenden Stieren seines Mannes Stand zu halten, spürte aber schnell, dass die Situation nur eskalieren würde, wenn er nicht rechtzeitig die Reißleine zog.

Missgestimmt brummte er und warf das Brot zurück auf seinen Teller, als er sich zu allen Überfluss auch noch von Alec einen auffordernden Blick einfing seine Pillen endlich zu nehmen anstatt es einfach gut sein zu lassen. Die beiden waren in Kombination ja hartnäckiger als eine Zecke die sich im hohen Gras festgesaugt hatte und für einen Moment fragte er sich, womit er das nur verdient hatte.

„Der Quacksalber hat die mir gedreht und dem hier eingebläut, er soll sicherstellen, dass ich die brav einnehme. Einen ganz - tollen - Job  macht Alec da“, lobte er ihn sarkastisch und langte widerwillig nach dem Glas, um sich unter dem wachen Blick des dunkelhaarigen Jägers zwei der weißen Tabletten herauszufischen.

Dass er damit noch immer nicht erklärt hatte, wofür die eigentlich waren, entging seinem wachen Wächter nicht; Alec mochte ihn die vergangenen zwei Jahre zwar nicht gesehen haben, aber er kannte Clarence noch aus der Zeit davor gut genug und manche Menschen veränderten sich nie. Genauso wie der Blonde es nie tun würde.

„Er soll noch immer Antibiotika wegen der Bisswunde nehmen. Es war zwischenzeitlich mal besser und das Fieber wieder weg, aber als die Dinger abgesetzt waren, hat es sich gleich wieder entzündet und ihn umgehauen. Keine Ahnung was das Vieh hatte, aber Rotz ist richtig hartnäckig.“


Matthew C. Sky

„Was? Nein… besser hier hat keiner irgendwelche besonderen Erwartungen. Ich hab nichts anderes getan als alle die hier sind. Ich hab… überlebt und der Rest ist egal.“

Wenn Matthew eine Schwäche hatte von der er wusste, dann war es die Unfähigkeit Lob oder Anerkennung anzunehmen. Nicht mal nur vorrangig weil er es nicht gewohnt war, sondern weil er Schwierigkeiten damit hatte, nette Worte richtig einzuordnen. Erwartungen konnte man enttäuschen… und im Enttäuschen war er unfreiwillig gut seiner Ansicht nach - was es nicht besser machte. 

Und noch dazu kam, dass er es nicht gewöhnt war, dass irgendjemand seine ehrliche Wertschätzung zum Ausdruck brachte, wobei die Betonung auf ehrlich lag. Durch seine Verbindung zu Le Rouge hatte er schnell gelernt Speichellecker von Leuten zu unterscheiden, die es wirklich ernst meinten - und davon gab es verdammt wenige.

Ob man nun wirklich große Erwartungen in Bezug auf seine Person hegte, das wusste Matthew nicht zu sagen. Aber was er ganz sicher wusste war, dass ihm die Vorstellung nicht behagte. Clarence hatte ihm vorhin schon gesagt, dass der Andere erzählt hatte Matthew habe ihm das Leben gerettet. Aber da hatte er dieser Geschichte nicht allzu viel Bedeutung beigemessen. 

„Ich bin… einfach froh, dass er es geschafft hat. Es war… unübersichtlich da draußen und… ziemlich knapp.“, schloss der junge Mann und hatte nicht vor näher auf das Erlebte einzugehen. Sie hatten einen Fehler gemacht der ihnen beiden fast das Leben gekostet hatte und es war nichts Rühmliches daran, wenn man um sein Leben kämpfte - das tat jede einzelne Kreatur auf der Welt.

Dass es Clarence jedoch mit seiner Erklärung in Bezug auf die Kräuter offensichtlich auf die Spitze treiben wollte, gefiel Matthew überhaupt nicht und irgendetwas in seinem Blick schien den Blonden zu warnen, jetzt besser schnell die Kurve zu bekommen. Er hatte nicht all das auf sich genommen nur damit sein Mann ihm jetzt wichtige Details zu seiner Gesundheit verschwieg. 

Und tatsächlich lenkte der Wildling ein, allerdings versuchte er erst das Wichtigste wegzulassen... .

Eine Marotte die Matthew schon von ihm kannte - deshalb aber noch lange nicht mochte. Es bedurfte tatsächlich Alec damit Matthew genaueres über die Verletzung erfuhr. 

„Eine Bisswunde?“ - wiederholte er überrascht und blickte von Alec zu Clarence, der es bisher leider versäumt hatte ihn über die Ereignisse aufzuklären, nachdem sie sich getrennt hatten. „Was für ein Tier? Und wieso hast du die Pillen abgesetzt, wenn sie dir geholfen haben?“ - Fragen, die er vielleicht nicht hätte jetzt stellen sollen. Aber andrerseits war Dank Alec die Chance groß, dass er überhaupt Antworten bekam. 

Unstet strich er sich durch den Bart und seufzte verdrießlich. „Vermutlich habt ihr schon versucht sie auszubrennen?“ - die Idee war naheliegend, aber er stellte die Frage trotzdem um ganz sicher zu gehen. Wenig überraschend wurde die Frage bejaht und Matt nickte - nicht verwundert. 

„Zeig her.“, forderte er schließlich seinen Mann auf und blickte ihm direkt ins Gesicht. Gott, wie er diesen Menschen liebte und Gott… wie stur dieser Kerl doch sein konnte, wenn es darum ging so zutun als sei er unverwundbar. 

„Los jetzt… mach schon. Alec hat bestimmt auch noch paar Narben zu bieten… und wenn wir uns alle gegenseitig unsere Kriegswunden gezeigt und die Geschichten dazu erzählt haben, kennen wir einander gleich viel besser. Also mach. Zeig her.“, drängte er und auch wenn seine Worte flapsig klangen so war es ihm vollkommen ernst. 

So ernst, dass dem Blonden letztlich keine andere Wahl blieb als den Verband zu lösen, welcher seinen linken Unterarm bedeckte. Was darunter zum Vorschein kam spottete allerdings jeder Beschreibung und versetzte Matthew einen heftigen Stich ins Herz. 

Er zog die Brauen zusammen und hob den Blick nach mehreren Sekunden völliger Stille, wieder gen Clarence. In seinem Gesicht lag Kummer und ein schmerzlicher Ausdruck als sei es seine eigene Wunde. 

„Verdammt, Sky … wann wolltest du mir das zeigen?“, fragte er und klang geschockt und vorwurfsvoll zu gleich. 

Die großflächige Wunde war mehrheitlich geschlossen, doch noch nicht vollständig vernarbt. An den Rändern war sie uneben und dank der Tätowierung schwarz-bläulich verfärbt. Das Schlimmste aber waren nicht die Ränder, sondern etwa münzgroße, offene Stellen. Dort nässte das Gewebe und war eitrig - wie man sehr gut an den gelblichen Flecken der Kompresse erkennen konnte. Direkt um die offenen Stellen war das Fleisch glänzend und geschwollen und eindeutig entzündet. So mies wie der Arm jetzt aussah, konnte er sich vorstellen wie übel zugerichtet Clarence gewesen sein musste und das erklärte auch, warum Alec es so genau genommen hatte was die Tabletten anging. „Fuck…“, viel mehr als das schien Matthew zu dem Anblick nicht einzufallen, denn er wendete schließlich den Blick ab, fuhr sich kurz durch die Haare und blickte an Clarence vorbei. 

Zu Rosmarin und Thymian. Vollidiot. 

 „Du wirst diese Pillen nehmen, jeden verdammten Tag so lange wie es sein muss. Und wenn sie ausgehen besorg ich neue und wenn der Arzt sagt du brauchst andere, dann nimmst du andere. Ich bin nicht über den gottverdammten Berg geritten, damit du an einer verfluchten Blutvergiftung Hops gehst.“ - und bei Gott, Matthew erkannte eine beginnende Sepsis wenn er sie sah. 

Dass er fluchte und selbst den Heiligen Vater mit in seine Schimpftirade einflocht, mochte für Clarence‘ Ohren wie schrecklicher Frevel klingen - aber besser war es, er beschwerte sich darüber nicht. 

„Wann hat sich das zum letzten Mal ein Arzt angesehen, hm? Vielleicht statten wir dem gleich einen Besuch ab, sobald wir bei Cameron waren. Schlimmer als das, kann es bei ihm ja fast nicht aussehen… hoffe ich.“ 


Clarence B. Sky

Was Clarence nach dem Anmieten der kleinen Wohnung sowohl genossen wie auch belastet hatte, war die absolute Stille gewesen.

Das erste Mal seit Monaten gab es kein Stimmengewirr im Hintergrund, niemand der Lärm verursachte, keine Geräusche wie raschelnde Kleidung oder das Knarren des Planwagens. Niemand schrie, weinte oder schluchzte.

An manchen Tagen der letzten Woche hatte er nicht mal den Ofen entzündet um das Prasseln des Feuers nicht hören zu müssen. Das einzige, was die Wohnstube erfüllt hatte, war dann und wann das Seufzen und Schmatzen der Hunde gewesen und das Kratzen von Stift über Pergament, wenn er einen neuen Brief für Matthew begonnen hatte.

Diese Stille, die er in den vergangenen Monaten vermisst hatte, hatte ihm unheimlich gut getan. Niemand kam in die Wohnung und redete auf ihn ein oder verlangte etwas von ihm und wenn er nicht wollte, musste er nicht mal die Tür öffnen. Doch was er hier gefunden hatte war nicht nur Ruhe und Erholung von anderen Menschen gewesen, sondern auch Einsamkeit - und zwar von jener Sorte, wie sie eigentlich niemandem besonders gut tat.

Viel zu viel Zeit hatte er hier bekommen um darüber nachzudenken was seinem Mann wohl geschehen sein mochte, falls er es nicht geschafft hatte der Bestie zu entkommen, die er von Cameron fort gelockt hatte. Seine eigene Bisswunde war nur ein kleines Abbild dessen was die beiden jungen Männer überfallen hatte und er selbst hatte schon genug Probleme und auch Schmerzen damit. Wie sollte es Matthew da gehen, wenn das Vieh, das Cameron halb zerlegt hatte, auch seinen Mann nicht verschont hatte? Wie sollte ein Mensch schwer verletzt da draußen überleben, wenn er nicht wie Cameron wie durch ein Wunder gefunden und versorgt wurde?

Was es hieß, dass Cassie nach dem Angriff nicht mehr gefunden geschweige denn irgendwo lebendig wieder aufgetaucht war, wusste Clarence nur zu gut - auch wenn er es lange Zeit zu verdrängen versucht hatte. Nicht nur einmal hatte er an diesem Tisch, auf genau dem Stuhl wo er jetzt saß, stundenlang um den Menschen geweint der ihm einfach alles bedeutete und den er nicht mal wieder zurück bekommen würde, um ihn wenigstens anständig zu beerdigen. Stattdessen lagen seine Überreste irgendwo verstreut in der Eiswüste, falls überhaupt noch etwas von ihm übrig geblieben war… denn auch das wagte Clarence zu bezweifeln, genauso wie er die Rückkehr seines Mannes bezweifelt hatte. 

Als Matthew überrascht das Wort Bisswunde wiederholte, fing er kurz den Blick seines Mannes auf, doch scheute diesen regelrecht, indem er seinen eigenen aus dem Fenster wandern ließ. Clarence hatte seinen dunkelhaarigen Schnösel mehr als alles andere auf der Welt vermisst, doch just in diesem Moment der Konfrontation wünschte er sich fast in die einsame Stille der Wohnung zurück, wenn auch nur ein bisschen.

Nicht nur Cassies Blick, auch den von Alec konnte er auf sich spüren und wusste schon jetzt, dass die beiden sich blendend verstehen würden. Jetzt hatte sowohl der eine als auch der andere endlich einen Verbündeten gegen ihn und schließlich war es ausgerechnet ihr Besucher derjenige, der sich einen finsteren Blick vom Blonden einfing - einfach schon deshalb, weil er ihm so furchtbar illoyal in den Rücken gefallen war.

Letztlich bleib ihm nichts anderes übrig als herzuzeigen so wie Cassie es von ihm verlangte und wie es als Ehemann auch durchaus sein gutes Recht war, immerhin würde Clarence es nicht anders handhaben, wenn sein Böckchen versuchen würde ihm gegenüber eine Verletzung herunter zu spielen. Trotzdem war es eben jener Ausdruck schmerzlichen Kummers in den kandisfarbenen Iriden, vor dem Clarence sich die ganze Zeit so sehr gefürchtet hatte und der ihm nun unverblümt entgegen schlug auf eine Weise, die ihn noch mehr schmerzte als sein Arm selbst.

Ein Blick, jener Blick, mit dem er auch die bereits verheilten Narben der Bisswunden an Matthews Körper betrachtet hatte.

Kein Murren und kein Brummen drang über seine Lippen, als der Jüngere ihm mit einer Schimpftirade entgegen schlug, die mit allen Wassern gewaschen war. Nicht mal seine blasphemische Ader konnte er dabei zurück halten, als ob es irgendwas besser machen oder die Dringlichkeit seiner Worte besonders unterstreichen würde, wenn er wild herum fluchte; das Kind war bereits in den Brunnen gefallen und anders, als es für seinen Mann den Anschein machen mochte, waren die nässenden Stellen ja auch schon deutlich kleiner geworden, als sie noch bei Ankunft gewesen waren.

Dennoch benötigte es keine zweite Standpauke, damit Clarence letztlich nach den beiden Pillen langte, die er neben den Teller geworfen hatte, und sich diese kommentarlos einverleibte. Es war kein Akt der puren Freude oder der Einsicht, die dabei aus ihm sprach, sondern vielmehr der Unwillen Matthew noch weiter aufzuregen als er sich eh schon hinein steigerte.

„Na, ich seh‘ schon… du hast dich hier in die allerbesten Hände begeben“, überbrückte Alec die unangenehme Stille, die sich über den Tisch gelegt hatte, und nickte Matt dabei anerkennend zu. „Keine Sorge, der Arzt hat regelmäßig nach ihm geschaut… dafür habe ich gesorgt. Der ist wegen Adriannas Stumpf ein paar Mal da gewesen und wegen Cams wankender Motivation. Der einzige, der sich schwer damit tut ein braver Patient zu sein und seine Medikamente einzunehmen, ist dieser Held hier.“

Er wusste nur zu gut wie dickköpfig der Blonde sein konnte und wie eisern er zu schweigen wusste, wenn ihm etwas missfiel; zumindest letzteres war eine Marotte die sein Freund sich erst unter dem Einfluss von seinem Lehrer angewöhnt hatte, denn noch zu seiner Ankunft in Falconry vor vielen Jahren, war er nicht so gewesen.

Trotzdem blieb Clarence dem Jüngeren in alter Manier eine weitere Erklärung schuldig. Nicht, weil er seinem Mann etwas zu verweigern hatte oder meinte, dass der einstige Söldner die Wahrheit nicht ertrug… sondern weil ihm schlicht und ergreifend die Worte dazu fehlten. Genauso wie schon den ganzen Morgen, als er überlegt hatte wie er einen Anfang finden sollte, aber es am Ende doch gelassen hatte weiter einen zu suchen.

„Wie weit bist du mit deinem Kaffee? Ich glaube, deine Tasse müsste fast leer sein.“

„Hab dich nicht so“, versuchte Alec einzulenken und die aufziehenden dunklen Wolken umzulenken, die Clarence’ sonniges Gemüt zu überschatten drohten, doch so wie der Blonde ihn von der Seite her anfunkelte, schien es fast kein grober Witz mehr zu sein. Aber eben nur fast.

„Na gut… aber ihr habt nach der langen Zeit auch besseres zu tun als Leute zu bewirtschaften, das verstehe ich. Danke trotzdem.“

Hilflos gestikulierte er gen Matthew, ein untrügliches Zeichen dafür sendend, dass mit der Laune des Einsiedlers derzeit nicht zu scherzen war und trank letztlich in einem Zug den guten Kaffee noch aus, bevor man ihn wegschütten musste.

„Soll ich… Cameron irgendwas ausrichten? Soll ich ihn darauf vorbereiten, dass ihr ihn demnächst überfallt? Ich glaube es hat sich noch niemand getraut ihm was zu sagen. Addy weiß schon, dass du wieder da bist, das hat sich beim Frühstück ziemlich schnell herum gesprochen als Liv wieder da war.“

„Nein. Lass ihm die… Überraschung. Ich denke, das wird ihm gefallen. - Außer du hast einen Einwand“, wollte Claire von seinem Mann wissen, dem die Laune gerade vermutlich nicht nach Überraschungsparty stand, der aber heute und die kommenden Tage sicher noch genug damit überfallen werden würde, so lange wie er auf sich hatte warten lassen. „Nicht, dass ich spaß daran hätte Barclay zu überraschen. Aber es schadet ihm sicher nicht.“


Matthew C. Sky

Allen Widerstand aufgebend beobachtete Matthew schließlich, wie Clarence die Pillen einnahm und mit einem Schluck Kaffee runterspülte. 

Er wusste aus leidlicher Erfahrung, dass der Blonde ein anstrengender Patient sein konnte. Einer, der es immer besser wusste. Einer, der meinte er brauche sich nicht schonen, er müsse sich nicht ausruhen. 

Dazu kam, dass Clarence unheimlich streng zu sich war und wenn etwas nicht lief wie gewünscht, dann schlug seine Laune die schlimmste Talfahrt ein. 

Dass Alec in dieser Phase bei ihm geblieben war und sichergestellt hatte, dass Clarence nicht noch mehr seiner Gesundheit zu Grabe trug, war etwas das Matthew dem Fremden hoch anrechnete. 

In diesem Zuge war es nicht fair ihn nun mehr oder weniger rauszuschmeissen, so wie Clarence es tat. 

Trotzdem intervenierte Matthew nicht, denn vielleicht brauchten sie beide gerade wirklich mehr Zeit zu zweit. Was hinter ihnen beiden lag ließ sich nicht in wenigen Stunden besprechen und was für Ängste sie ausgestanden hatten ließ sich auch nicht einfach ausradieren. 

Was auch immer zu Clarence‘ Verletzungen geführt hatte, es hatte ihm nicht nur körperlich wehgetan… und gerade jetzt schien es so, als wäre nicht der richtige Augenblick dafür um darüber zu reden. 

„Nein, nein… warn ihn nicht vor. Wir brechen gleich auf und sehen nach ihm.“ Matthew warf einen letzten Blick auf Clarence’ Arm, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Freund seines Mannes, der sich anschickte sie beide wieder allein zu lassen - dank Clarence, der mitunter schrecklich unhöflich sein konnte. 

„Ich bring dich mit zur Tür, Sekunde.“, mit diesen Worten erhob sich auch Matthew, während Alec sich bereits in den Flur begab. Doch statt ihm direkt zu folgen, umrundete Cassiel den Tisch und suchte die Nähe zu seinem Mann. Behutsam und doch auf vertraute Art und Weise legte von hinten einen Arm über Clarence’ Schulter und drückte ihn mit sanfter Bestimmtheit nach hinten zu sich. Mit der flachen Hand streichelte er liebevoll über Clarence’ Brust und beugte sich dann zu ihm herab um ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu geben. 

„Ich mach dann deinen Verband frisch, gib mir zwei Minuten.“ - er liebte diesen Mann mehr als sein Augenlicht, mehr als sein Leben und Clarence sollte das zu keiner Sekunde anzweifeln oder vergessen. 

Viel zu viele Wochen der Einsamkeit lagen zwischen ihnen als das Matthew auch nur eine Minute mit Clarence streiten wollte. Natürlich war er in Sorge, natürlich war er wütend ob der Unvernunft des Blonden und seiner Sturheit. 

Aber er kannte ihn… und er wusste, dass Clarence‘ Schweigen einen Grund hatte und er es nicht tat um ihn auszuschließen oder weil er der Meinung war, es ginge ihn nichts an. 

Es war nur eine kurze und kleine Geste der Zuneigung, aber sie offenbarte mit welcher Innigkeit Matthew den Blonden liebte und das er - verärgert oder nicht - immer an seiner Seite sein würde. Sich von ihm zu lösen und sei es auch nur kurz, fiel Matthew nicht leicht - trotzdem folgte er Alec schließlich nach, der im Flur gewartet hatte. 

Nun öffnete er die Tür und trat hinaus in den hübschen, adretten Garten der im Licht des heraufziehenden Abends noch idyllischer aussah. 

„Hey…“, setzte Matthew an, der nicht wollte, dass Alec einfach so ging, nachdem er sich in den letzten Wochen um Clarence‘ Wohl bemüht hatte. 

„…was ich noch sagen wollte, also…“, kurz zögerte er, bevor er sich einen Ruck gab und entschied, dass es unsinnig war um den heißen Brei herumzureden.  

„Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast. Ich weiß er kann stur sein und… anstrengend. Aber er ist tatsächlich alles was für mich zählt und ich hab das Gefühl, dass er noch da ist verdanke ich dir.“ - wahrscheinlich war Alec nicht der einzige Freund des Blonden und wahrscheinlich auch nicht der einzige der sich um ihn gekümmert hatte. Aber definitiv stand er Clarence nahe, hatte sich nicht abwimmeln lassen und hatte nicht das Handtuch geworfen wenn Clarence anstrengend geworden war. 

Das bedeutete, er hatte Courage und das war eine Kombination die es Matthew leicht machte ihn zu respektieren.

„Also… nochmals danke. Und tut mir leid wegen eben. Er meint es nicht so, es ist einfach… ach was soll’s, schätze du kennst das von ihm.“, nun lächelte der Jüngere und zuckte die Schultern, es aufgebend dem Anderen etwas zu erklären, dass er ohnehin schon wusste.

Alec wäre nicht Clarence‘ Freund, würde er ihn nicht kennen. Und Clarence wiederum hätte ihn nicht hereingebeten, stünden sie einander nicht nahe. 


Clarence B. Sky

Obwohl Cassie noch keinen ganzen Tag in Falconry Gardens war, schickte er sich bereits dazu an ihren ersten gemeinsamen Besuch zur Tür zu bringen und so sehr Clarence geneigt war das als überflüssig zu empfinden, so schön  fand er die Geste seines Mannes auch. Er war nicht blöd, natürlich wollte Cassie irgendwas mit Alec besprechen, aber das spielte just in diesem Augenblick gar keine Rolle.

Noch bis heute in den frühen Morgenstunden hatte der Blonde nicht mehr daran geglaubt, dass sein Ehemann überhaupt jemals den Weg zurück zu ihm finden würde - weil er sich die Radieschen von unten betrachtete, wenn denn überhaupt irgendwas von ihm übrig geblieben war, das es bis unter die Erde geschafft hatte. Doch statt zu ewiger Einsamkeit verdammt zu sein, war er heute neben dem verschollenen Taugenichts aufgewacht, hatte mehr oder weniger mit ihm gefrühstückt, hatte seine Lippen nach all der Zeit erneut geschmeckt und nun brachte Cassie den anderen Jäger auch noch an die Tür, so als wäre es das normalste der Welt wieder da zu sein und ihren Besuch zu verabschieden.

Obwohl es genug Gründe gab um auf ihn sauer zu sein, ihn mit einem bösen Blick zu strafen und ihn zu schimpfen für das, was er unter dem Verband vor seinem Mann verheimlicht hatte, zeigte Matthew ihm abermals auf wofür Clarence ihn so sehr liebte. Nicht etwa für sein gutes Aussehen, für seinen Charme oder seine Schlagfertigkeit - sondern dafür ihn völlig ohne Worte zu beschwichtigen, ganz gleich wie tief Claire in Gedanken sein oder seiner inneren Tristesse auch nachhängen mochte.

Es war diese eine sanfte Umarmung, ganz ohne jedweden Kommentar, die ihn wissen ließ, dass alles in Ordnung war und dass es okay war er selbst zu sein: Nämlich dickköpfig, schweigsam und nicht selten so unsensibel wie nun, wo er Alec einfach aus der Wohnung komplimentierte.

Ein leises, zustimmendes Brummen drang aus seiner Brust über die sein Mann ihn streichelte und Claire legte seine Hand behutsam auf Cassies Arm ab, ihn wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde länger bei sich behaltend. Es war nichts was von ihnen beiden thematisiert wurde, womit Matthew sich schmückte oder ihn neckte, aber auch ohne es laut auszusprechen wussten sie beide, dass es dem Dunkelhaarigen schon immer leicht gefallen war, seinen wilden Bären zu zähmen. Heute natürlich noch deutlich leichter als früher, aber gerade das war es, was ihn nicht dagegen aufbegehren ließ seinen Mann für die Dauer weniger Minuten an Alec zu entbehren.

„Ich liebe dich. Deshalb geb ich dir sogar drei, wenn du willst“, tätschelte er ihm sanft den Arm und entließ den Jüngeren schließlich aus der innigen Umarmung, die sie hoffentlich wieder fortsetzten, sobald sie ihre Zweisamkeit zurück hatten. Vielleicht betonte er zu viel, dass er keinen Drang hatte Cameron zu besuchen, vielleicht nölte er deshalb zu wenig herum. Aber Fakt war: Er hatte ein solches Defizit an seinem Mann, dass jede weitere Minute ohne ihn fast noch mehr schmerzte als die zurückliegenden vier Monate zusammen. Drei Minuten waren dementsprechend schon eine ganze Menge und wenn es sein musste, schaute er dafür sogar auf die Uhr und zählte die Sekunden mit; er war ein gütiger Mann, aber eben nicht gütig genug, um sein gutes Recht mit Matthew zusammen zu sein länger zu unterbrechen als nötig.

Sie mochten neue Narben hinzu gewonnen haben und Wunden, die mal mehr, mal weniger verheilt waren. Ihre Erlebnisse taten nicht weniger weh als die Trennung selbst und doch wusste Clarence, dass genauso wie sein Arm zum Teil schon verheilt war - wenn auch wulstig und unansehnlich - und so wie die Flanke und der Oberschenkel des Jüngeren langsam weniger schmerzten, auch die tiefen Furchen in ihrer Erinnerung bald verblassen würden, die jetzt noch weh taten. Das war schon immer so gewesen und würde auch immer so sein, ganz egal ob man es wollte oder nicht.

Mit einem leisen Seufzen ließ er sich im Stuhl zurück sinken und schob den noch halb vollen Teller leise von sich, griff stattdessen nach dem Kaffee und blickte aus dem Fenster neben sich, hinter dem er Alec vor der Tür stehend erblickte, wie er mit dem Fensterrahmen diskutierte. Obgleich Cassie die Tür zum Flur offen gelassen hatte, konnte man drinnen kaum ein Wort verstehen; acht Pfoten tapperten hektisch über den Dielenboden und folgten Matthew aufgeregt, der von Abel und Kain genauso vermisst worden war wie von seinem Ehemann.

„Mhh“, winkte Alec derweil beschwichtigend ab und schüttelte den Kopf, immerhin bedurfte es keiner Erklärung seitens Matt für seinen Mann, der manchmal etwas anders war als all die anderen Kinder. „Er ist nun mal wie er ist. Kein Grund sich zu entschuldigen. Und da du wohl die letzte Zeit auf ihn acht gegeben hast… sind wir wohl sowas wie quitt, denk ich.“

Der Dunkelhaarige zuckte mit den Schultern, immerhin wusch eine Hand die andere und gerade was Sky anging, brauchte dieser manchmal etwas mehr Aufsicht, als der Blonde je zugeben würde. Weder Hilfe anzunehmen, noch seine eigenen Grenzen zu erkennen waren zwei seiner größten Talente und doch hatte er dafür viele andere. Nicht jeder hier gestand ihm diese zu, doch ihm abzusprechen begabt und ein guter Freund zu sein, wurde ihm auch nicht gerecht. Nicht dem Jäger jedenfalls, den Alec kannte.

„Er hat ein bisschen was erzählt von euch und ich bin froh, dass er jemanden wie dich gefunden hat. Ehrlich. Und ein bisschen bin ich auch froh darüber, dass er jetzt dadurch nicht mehr mein Problem ist, nun wo du wieder da bist“ - freundschaftlich klopfte er Matt auf die Schulter, ihm mit dem Sturkopf alle Kraft und alles Glück dieser Welt wünschend. Denn der Jüngere hatte recht, der Kerl konnte verdammt anstrengend sein und deshalb konnte er auch alle guten Wünsche dieser Welt gebrauchen.

„Wenn ihr heute noch zu Cameron wollt, werde ich ab halb sechs die Türwache fürs Essen ablösen und lasse euch rein. Dann gibt es keine großen Diskussionen und ihr werdet unten nicht länger aufgehalten als nötig. Jeder weiß ja, dass du vermisst wirst. Vermisst wurdest“, korrigierte er sich und ein ehrliches Lächeln breitete sich dabei auf seinem Gesicht aus. „Das spart euch ein bisschen den Tumult und warnt Cameron nicht sofort vor, falls er oben was davon hören sollte.“


Matthew C. Sky

Alec war auf den ersten Blick ein netter Kerl und seine offene Art machte es schwer sich vorzustellen, wie er sich mit Clarence hatte anfreunden können. Denn der Blonde war, was Offenheit anging, ja von einem anderen Schlag. 

Aber was auch immer zu ihrer Freundschaft geführt hatte, sie war innig genug um auch nach längerer Abwesenheit noch Bestand zu haben und das war weder selbstverständlich noch üblich in einer Welt wie der ihren. 

Das kurze Klopfen auf seinen Arm quittierte Matthew scheinbar gar nicht und ließ sich augenscheinlich davon auch nicht irritieren. Wahrscheinlich hätte aber Clarence den flüchtigen Moment der Anspannung wahrgenommen, welche durch den unerwarteten Körperkontakt zu Stande gekommen war. 

Matthew kannte den Mann vor sich praktisch nicht und als jemand der früh gelernt hatte, dass Misstrauen einem das Leben retten konnte, war er selbst niemand der schnell Freundschaften schloss - sondern lieber nur so tat als ob. 

„Oh man… will ich wissen was er erzählt hat? Wahrscheinlich lieber nicht, hm?“ - die Vorstellung, dass Clarence von ihm berichtet hatte machte Matthew tatsächlich etwas verlegen, weshalb er zügig das Thema wechselte. 

„Wir besuchen Cam‘ auf jeden Fall heute noch. Ich bin froh, dass er’s geschafft hat. Er und Adrianna…“, was mit dem Rest passiert war wusste er nicht. Clarence hatte kein Wort über die Kinder verloren die Matthew direkt nach dem Absturz gerettet hatte und die ihm ziemlich ans Herz gewachsen waren. Vielleicht hätte er Alec nach ihnen fragen können und sogar eine Antwort erhalten - aber lieber besprach er solche Dinge in Ruhe mit Clarence. 

Den Gedanken an Gabe und Lucy verdrängend widmete er sich wieder Alec. „Wir sehen uns also später und danke nochmal für deine Hilfe.“, er lächelte dem Größeren zu und dieser erwiderte die Geste mit einem Nicken. Dann hob er die Hand, spähte durch das Fenster ob er Clarence dahinter sah und hob die Hand erneut zur Verabschiedung. 

„Kein Problem, hab ich gern gemacht. Bis nachher also… gegen halb sechs.“ erwiderte der Jäger und Matthew nickte knapp zur Bestätigung. 

Alec verließ das Grundstück mit beschwingten Schritten. Er ging wie jemand der Selbstbewusstsein im richtigen Maß besaß und der sich in seiner Umgebung sicher fühlte. Vermutlich war er schon sein halbes Leben in dieser Stadt. Einen Moment blickte Matthew ihm nach und fragte sich selbst ob dieser Ort auch sein Zuhause sein könnte. 

Er hatte noch nicht viel von Falconry Gardens gesehen und es war schwer sich vorzustellen irgendwann einmal wirklich und gänzlich irgendwo anzukommen. 

Zuhause zu sein war ihm nicht vertraut. 

Schließlich verwarf Matthew seine Gedanken, schloss die Tür und ging den Flur zurück. Kain und Abel hatten ihn nicht aus den Augen gelassen und er streichelte beiden im Vorbeigehen über ihre Köpfe. 

„Und? Wie viele Minuten habe ich gebraucht?“, fragte er Clarence scherzhaft, bevor er wieder ernster wurde. 

„Wo hast du frisches Verbandszeug, hm?“

Wie es sich herausstellte, hatte sein Mann selbiges im Badezimmer verstaut und obwohl Matthew erst wenige Stunden überhaupt in der Stadt war, durchsuchte er das Bad als wäre es schon immer sein eigenes gewesen. 

Als er alles zusammen hatte kehrte er zurück an den Tisch, schob seinen Teller und den des Blonden zur Seite und betrachtete schweigend den Arm. 

Die offenen Stellen sahen entzündlich und böse aus und er hatte eine vage Vorstellung davon wie die Wunde ausgesehen haben musste als sie frisch war. 

„Das tat sicher höllisch weh…“, kommentierte er nach einer Weile und hob den Blick in das Gesicht des Blonden. 

„Wenn du… bereit bist mir zu erzählen was passiert ist, würd ich die Geschichte gern hören. Bis dahin… werde ich mich einfach nur um dich kümmern und mich in Geduld üben.“ - Geduld war keine seiner Stärken, dass wussten sie beide. Aber für Clarence würde er sein Bestes geben. 

Vorsichtig tauchte er schließlich ein ausgekochtes Leinentuch in die Schüssel mit warmem Wasser, wrang es aus und tupfte behutsam über den malträtierten Unterarm des Wildlings. 

Vorsichtig entfernte er Reste von Wundwasser und Eiter, darauf bedacht die offenen Stellen nicht erneut zum bluten zu bringen. 

„Alec macht nachher Wachablösung…“, stellte Cassiel schließlich zusammenhanglos fest und ohne den Blick zu heben. 

„Gegen halb sechs hat er gemeint…“ vorsichtig und zugleich akribisch verstrich er einen dünnen Film Salbe auf dem narbigen Gewebe und eine silbrige Paste auf den offenen Stellen. Man musste kein Genie sein um zu wissen, dass diese Art von Verletzung ein viel zu hohes Potential besaß sich zu entzünden. Und einmal entzündet würde man schnell dem Fieber erliegen können welches unweigerlich mit der Infektion einherging. Es waren schon Männer wegen deutlich kleineren Verletzungen zu Tode gekommen - so viel war sicher. Dass Clarence noch lebte war also wieder einmal unverschämtes Glück. 

Etwas, dass Matthew nicht gedachte nochmal herauszufordern. Gewissenhaft deckte er den Unterarm mit einer frischen Kompresse ab, bevor er Clarence anwies den Arm zu heben damit er ihn frisch einbinden konnte. 

Den Blonden zu verarzten war etwas, in dem Matthew Übung hatte und der Wildling tat gut daran nicht zu protestieren. 

„Aber bis dahin…ist noch ein bisschen Zeit, wenn ich das richtig sehe.“, ergriff der Jüngere wieder das Wort, während er das Ende des Verbands fixierte, in dem er es unter die bereits gewickelten Bahnen steckte. Erst jetzt sah er wieder in das Gesicht seines Mannes und schenkte ihm ein zaghaftes, verliebtes Lächeln. 

„Zeit genug mir einen Kuss zu geben jedenfalls allemal. Wie sieht’s also aus, hm?“


Clarence B. Sky

Als Alec sich schließlich auf den Weg machte, konnte er selbst in der Wohnung noch das Quietschen des Hoftors vernehmen, das sich einfach nicht ölen lassen wollte. Immerhin – so dachte sich der Blonde mittlerweile jedenfalls – warnte es einen rechtzeitig vor störendem Besuch vor; zumindest dann wenn man es hörte, was heute ja eindeutig nicht der Fall gewesen war. Ansonsten hätte er die Vorhänge schneller wieder zu gezogen, als Alec es durch den Garten geschafft hatte.

Obwohl er nicht gerade behaupten konnte keinen Dank für den anderen Jäger zu empfinden, weil er ihm die vergangenen Wochen zu verlässlich Gesellschaft geleistet hatte, konnte Clarence auch nicht groß behaupten ihn noch länger um sich haben zu wollen, nun wo sein Ehemann wieder da war. Wenn er die Wahl hatte zwischen Matthew und irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt, wusste er immer wen er ohne zu zögern wählen würde. Selbst dann, wenn die andere Partei versuchte ihn mit Schokotorte zu locken.

„Ich hab nicht mitgezählt. Aber ich glaube, es waren zu viele“, entgegnete er seinem Mann in gespielt missbilligendem Ton, immerhin war Zeit unheimlich wertvoll. Sie hatten in den vergangenen vier Monaten keine miteinander gehabt und nun, wo sie wieder vereint waren, zählte jede Minute – auch wenn sie nur durch zwei Meter und eine Wand voneinander getrennt wurden.

Ein paar Sekunden mehr oder weniger waren jedoch nichts im Vergleich zu dem, was hinter ihnen lag… genau so wie die Erlebnisse, die jeder für sich ohne den anderen gemacht hatte. Noch immer war Clarence nicht ganz darüber hinweg gekommen, an der Flanke und dem Oberschenkel seines Mannes zwar nicht die gleichen, aber ganz ähnliche Wunden wie seine eigene entdeckt zu haben; besser als es ihm lieb war, konnte er sich dadurch in den Jüngeren hinein versetzen und auf der anderen Seite schmerze es ihn fast noch mehr zu wissen, dass es Cassie da nicht anders mit ihm ging. Nur zu gerne hätte er es ihm erspart ich so um sein Bärchen zu sorgen und ihn mit eben jenem verletzten Blick anzusehen, den er ihm vorhin über den Tisch hinweg zugeworfen hatte, auf dem noch immer seine nur halb verzehrte Portion neben dem blitzeblanken Teller des Jüngeren stand.

Zu oft schon hatte Matthew ihm Schrammen, Platzwunden und Blessuren versorgt, als dass er Angst davor haben könnte was ihn erwartete. Obwohl er nur wenigen vertraute, würde er selbst sein ganzes Leben in Cassies Hände legen und hatte es zweifelsohne schon das ein oder andere Mal getan.

„Ich bin mir sicher, es tat nicht mehr und nicht weniger weh als deins“, brachte er Cassie in einem kurzen Anfall fehlender Ironie entgegen, immerhin brauchte der Jüngere nicht auf die Idee kommen irgendetwas von seinen eigenen Verletzungen beim Blonden herab zu spielen, nur um ihm sein Kopfkino angenehmer zu machen. Ohne Gegenwehr ließ er sich in die fähigen Hände seines Gegenübers nehmen und betrachtete ihn dabei, wie er konzentriert und bekümmert auf den gezeichneten Arm des Jägers hinab blickte.

Kummer stand Cassie einfach nicht. Das hatte er noch nie und würde es nie, ganz gleich wie oft er ihn auf den Zügen seines Mannes auch noch sehen musste. Die kleine Sorgenfalte, die Matthew zwischen den Brauen hatte und die in den vergangenen zwei Jahren auch eher tiefer geworden war statt sich zurück zu bilden, zeichnete sich auch jetzt wieder auf seinem hübschen Gesicht ab als der Blonde im Reflex die Hand zur Faust ballte, kaum dass der feuchte Lappen auf die offenen Stellen auf kam, um sie damit auszuwaschen. Selbst nach all den Wochen war es nicht angenehm geworden wenn jemand daran herum werkelte, aber wenn er daran zurück dachte wie es mal gewesen war, wollte er sich besser nicht beklagen. So lange er nicht mehr septisch auf einem Planwagen quer durch die Walachei gezogen wurde, war alles in bester Ordnung.

„Alec… mh-hm“, wiederholte er schließlich dünn, als Cassie sein Bestes gab ihn auch bloß keine Sekunde mit einer kleinen Pause zu schonen und seufzte schließlich geplagt, als die kühlende Salbe auf der uneben verheilten Umgebung verteilt wurde. Hier und das waren die kleineren Wülste verhärtet und nicht selten hatte der Arzt in den vergangenen Tagen manche davon eröffnet, da sie sich erneut mit Eiter gefüllt und unter den Narben gewuchert hatten. ‚Ich weiß nicht, ob Tollwut nicht doch besser gewesen wäre‘, hörte er noch heute Adrianna zynisch neben sich murmeln, während sie ihn in dicke Decken einpackte und sich anschließend an seine Seite legte, um seinem Schüttelfrost endlich Herr zu werden. Es waren nur zwei oder drei Tage gewesen, an denen es ihm so schlecht gegangen war bevor sie Falconry Gardens schließlich erreicht hatten, aber das dämliche Gerumpel hinten auf dem Wagen war ihm vorgekommen wie eine gottverdammte Ewigkeit.

Als Clarence noch einen Moment seinen Gedanken nachhing, hatte Matthew längst das Ende der Binde unter den gewickelten Bahnen fixiert und es dauerte einen Moment, bis der Blonde den Blick seines Mannes einfing, der ihn erwartungsvoll und in eben jener Manier anschaute, die er so sehr an ihm liebte. Obwohl sie so lange voneinander getrennt gewesen waren, hatte Cassie weder seine Wirkung auf ihn, noch sein gutes Aussehen verloren und bei Gott, vor allem für letzteres war Claire so unheimlich dankbar, dass es ihm fast schon etwas unangenehm war.

„Sieh mich bloß nicht so an. Sonst komme ich noch auf die Idee dir zu zeigen, was ich in den paar Minuten noch alles mit dir erledigen kann.“ – Ein neckendes Schmunzeln hatte sich auf seine Lippen gelegt und noch immer musterte Clarence den Jüngeren aus der Nähe. Ein Blick, der Aufschluss darüber gab, dass er noch immer nicht so ganz glauben konnte, dass sein Ehemann wieder da war – und dass sich an seinen Gefühlen für ihn in all der Zeit nicht das geringste verändert hatte.

Vorsichtig hob er die Hände an die Wangen des Jüngeren und kraulte sachte durch seinen herausgewachsenen Bart, der ihm auf furchtbar verwegene Weise mindestens genauso gut stand wie das gepflegte und frisch rasierte Äußere des wohlduftenden Schnösels, der Cassie sein konnte.

„Ich glaube nicht, dass ich… mhh. Ich bin nicht gut darin solche Geschichten zu erzählen. Und ich weiß nicht, ob ich… jemals die richtigen Worte dafür finden werde. Aber du weißt schon, dass du mir deine Geschichte noch genauso schuldig bist. Oder? Sie wird mit Citadell Pass und einer Bibel in einem abgebrannten Lager wohl kaum schon erzählt sein“, tadelte er ihn leise und fuhr dabei vorsichtig mit seinem Daumen das geschwungene Lippenrot des Jüngeren nach, das noch immer genauso gut schmeckte, wie er es vom Winter in Denver noch in Erinnerung hatte. Cassie hatte recht, ein bisschen Zeit hatten sie beide noch und auch wenn es nicht ausreichen würde um all das zu tun worauf sie miteinander Lust hatten, würden die paar Minuten wenigstens für das nötigste herhalten müssen.

Mit einem leisen Brummen in der Kehle lehnte er sich seinem Mann entgegen und schenkte ihm einen festen aber warmen Kuss, der nur gering Auskunft darüber zu geben vermochte wie sehr er diesen Mann verliebt hatte. Hoffentlich war Matthew klar, dass – wenn es nach dem Blonden ging – sie diese Wohnung gar nicht mehr verlassen würden und statt von einem Fresskorb nur von Luft und Liebe lebten, bis das echte Leben sie irgendwann wieder einholte; aber leider war die Realität kein Wunschkonzert und alles, was ihm blieb, war sich einen zweiten Kuss von Cassie zu holen, dieses Mal länger und inniger noch als sein Vorgänger.


Matthew C. Sky

Clarence‘ Wunden zu versorgen war etwas, mit dem der Jüngere vertraut war und was er wie eh und je mit großer Gewissenhaftigkeit tat. 

Die Verletzung erinnerte Matthew an seine eigene Wunden und an die Erlebnisse die damit einhergingen. 

Niemals hätte er die Tage nach dem Angriff ohne Hilfe überlebt, obwohl er die Attacke überstanden hatte und wahrscheinlich war das bei Clarence auch der Fall. Sie lebten beide noch, weil im richtigen Moment die richtigen Menschen aufgetaucht waren. 

Aber jene Lebensretter waren nicht die Menschen, die sie wirklich brauchten, denn niemand konnte einander den anderen ersetzen. 

Wenn es nach Matthew ging, so brauchten sie niemanden in ihrem Leben so lange sie einander hatten und so wie Clarence ihn ansah wusste er, dass es dem Blonden genauso ging. Zärtlich umfing jener seine Wangen und Cassiel schmiegte sich den kosenden Fingern hauchzart entgegen. Er hatte so lange darauf gewartet jenen Mann wieder zu spüren und ihm nah zu sein und es war kein Tag vergangen an dem er sich nicht genau nach jener Art des Zusammenseins gesehnt hatte. 

Sie teilten weit mehr als nur die Erinnerungen vergangener Abenteuer und es war mehr zwischen ihnen als Gewohnheit. 

So oft schon hätten sie einander aufgeben oder ersetzen können, doch keiner von ihnen hatte beschlossen, ein Leben ohne den anderen führen zu wollen. 

Clarence hätte keine Briefe schreiben müssen um mit Matthew in Kontakt zu treten und Matthew wiederum… wäre er einfach nicht gekommen, so hätte der Blonde ihn schlicht für tot gehalten. Sie wären auseinandergegangen ohne sich rechtfertigen zu müssen. Still und leise, einfach so. Auf zu neuen Ufern, ungebunden sein und nochmal neu anfangen. Sie hätten es gekonnt und wären dabei nicht einmal in die Verlegenheit gekommen sich bei irgendwem rechtfertigen zu müssen. 

Aber das hatten sie beide nicht gewollt und allein deswegen saßen sie nun hier beieinander und Matthew fühlte sich so geborgen wie seit vielen Wochen nicht mehr. 

Einen Moment lang erwiderte der Dunkelhaarige den Blick des Anderen aus ruhigen Augen, dann senkte er die Lider und sperrte alles aus, außer dem Gefühl der warmen Hände auf seinen Wangen. 

„Du musst nicht gut darin sein… nur ehrlich. Ehrlich ist… gut genug.“  - was auch immer genau passiert war, Matthew wollte es erfahren. Nicht jetzt in dieser Minute, wenn Clarence noch nicht bereit war, aber irgendwann. 

Matthew hielt die Augen geschlossen als der Bär seine Lippen nachzeichnete und ihn gleichzeitig daran erinnerte, dass auch er ihm noch Antworten schuldete. 

„Du hast recht… wir reden darüber, aber nicht heute.“ Erst jetzt öffnete er seine Augen wieder und blickte dem Blonden ins Gesicht. Er sah verändert aus, gezeichnet von Erlebnissen über die er nicht sprechen wollte - aber trotz all dem was unausgesprochen zwischen ihnen stand erkannte Matthew in dem Mann vor sich vor allem seinen Mann

Den Mann, den er mehr liebte als irgendetwas sonst und ohne den er nicht würde leben wollen. 

Deshalb - und weil er wusste wie schwer es war manche Erlebnisse in Worte zu fassen - respektierte Matthew sein Schweigen. Wichtiger als das was hinter ihnen lag war ohnehin das Jetzt und Hier und die Zukunft. 

Schließlich beugte sich der Blonde zu ihm und versiegelte die Lippen die er eben noch nachgezeichnet hatte mit einem festen Kuss. Das tiefe Brummen aus der Kehle des Bären verursachte ein warmes Kribbeln in Matthews Bauch und er seufzte leise in den ersten Kuss, die Augen wieder schließend. Wie dringend er ihn gebraucht hatte würde er nie in Worte fassen können. Unwillig die innige Verbindung wieder aufzugeben lehnte sich der Jüngere den süßen Lippen seines Mannes entgegen, der es tatsächlich dennoch wagte den Kuss viel zu schnell wieder zu lösen als dem Jüngeren lieb war. 

Zum Glück für den Bären ließ der zweite Kuss nicht lange auf sich warten und auch dieses Mal seufzte Cassiel sehnsüchtig. Sein Bauch kribbelte wie bei ihrem allerersten Kuss damals am Lagerfeuer und ein warmes Gefühl durchfuhr ihn, ließ ihn ungewollt erröten und ihn sich leicht und wohlig fühlen. 

Behutsam öffnete er seine Lippen als stilles Angebot und Einladung an Clarence sich mehr zu holen. 

Seit Monaten hatte sich Matthew nicht besser gefühlt als in diesem Augenblick in dem er sich mit Clarence über den Küchentisch hinweg küsste - und es war eine Schande, dass sie nicht ewig einfach hier bleiben konnten. 

Schließlich war es Matthew der den Kuss der Vernunft wegen wieder löste, sich ein Stück zurücklehnte und seufzte. Er schmeckte Clarence noch auf seinen Lippen und  doch sehnte er sich schon wieder nach einer Fortführung ihrer Zärtlichkeit miteinander. 

„Du machst mich fertig Clarence Sky.“, sagte er auf eine Weise lächelnd die vielsagender kaum hätte sein können. Dann räusperte er sich kurz und deutete schließlich auf den Teller, die Prioritäten neu ordnend. 

„Komm schon, iss auf und dann zieh dich an und wir brechen auf. Je eher wir unterwegs sind umso eher sind wir wieder zurück und müssen nirgends mehr hin.“

Eine Logik die so bestechend war, dass noch nicht einmal Clarence der alte Brummbär etwas dagegen sagen konnte. 


Clarence B. Sky

In der kleinen Wohnung herrschte das sachte Knistern des Ofenfeuers vor, das Clarence aufgrund ihrer Pläne nicht weiter mit Holz genährt hatte, und gedämpftes Vogelgezwitscher von dem Baum im Hof vor der Tür. Es war nur leise und trotzdem überschatteten ihre leisen Küsse die ganze viel zu schnelle Welt, die von draußen auf sie einzustürmen drohte.

Hauchzart seufzte Matthew in den Kuss, ein erstes und schließlich auch noch ein zweites Mal und machte damit deutlich, wie dringend nicht nur Clarence diese Nähe zueinander wieder brauchte.

Es war manchmal seltsam wenn man sich vorstellte wie es früher zwischen ihnen gewesen war. So distanziert und manchmal kühl, darauf bedacht sich nicht mehr zu berühren als nötig, obwohl man doch eigentlich so unglaublich intime Dinge miteinander tat. Cassie war gut darin gewesen ihn auf Distanz zu halten und irgendwann hatte der Jäger gelernt zu verinnerlichen, was sich normalerweise völlig seinem Verständnis entzog.

Zu ihrer beider Glück war es dem Älteren deutlich einfacher gefallen all das schnell wieder zu vergessen, was Matthew ihm so nachdrücklich eingebläut hatte. Als hätten sie sich nie nach etwas anderem gesehnt oder eine andere Beziehung zueinander gehabt. Als wäre es schon immer ihre Bestimmung gewesen einander so zu lieben, so vollkommen, dass es sich sofort viel richtiger angefühlt hatte einander nahe zu sein als auch nur noch einen einzigen Tag länger voneinander getrennt.

Seitdem sie beschlossen hatten dem großen Unbenannten einen Namen zu geben und sich füreinander zu entscheiden statt nur miteinander in die gleiche Richtung zu geben, hatte es keinen einzigen Tag gegeben an dem er Matthew nicht bei sich haben wollte. Selbst jede hauchzarte Berührung war so kostbar, dass sie den Blonden selbst aus den dunkelsten Gedanken hervor locken konnte und ein einziger Kuss reichte aus um auch in diesem Moment wieder dafür zu sorgen, dass Claire eigentlich nirgendwo hin wollte. Denn hier, genau hier, waren sie gerade richtig; er brauchte keinen anderen Menschen der ihm die wertvolle Zeit mit seinem Ehemann stahl und das, was er ganz besonders brauchte um endlich wieder zu spüren dass sein Mann zurück war, würden sie garantiert nicht außerhalb der vier Wände hier erledigen können.

Nur zart hatte Cassie seine Lippen für ihn geöffnet, doch gerade genug um wenigstens mit der eigenen nach der Zungenspitze des Jüngeren zu haschen und sie sanft anzustupsen. Das sachte Spiel ihrer Zungen, hatte er nicht selten an einsamen Abenden vermisst. Es war das Zusammenspiel aus Locken und sich entziehen, aus schmecken und spüren das er so sehr mochte und das ihm nicht selten schnell den Verstand raubte und sich ihn auf ganz besondere Weise nach dem Jüngeren sehnen ließ, wenn er ihnen die gemeinsame Zeit dafür einräumte.

Doch sein Mann war ein strenger Meister wenn es darum ging sich in Beherrschung zu üben. Genauso wie er sich unter den Fingern des Jägers verlieren und dabei selbst vergessen konnte, schaffte er es als einziger von ihnen beiden selbst dem zartesten Keim von Sehnsucht einen eisernen Riegel vorzuschieben und sie zur Besinnung zu bringen, auch wenn Clarence dort eigentlich gar nicht hin wollte.

Raunend seufzte der Bär, der schon jetzt einen gewissen Gefallen an ihrem eigentlich nur wenige Augenblicke anhaltenden Kuss gefunden hatte, und leckte sich sehnsüchtig über die Lippen, auf denen er den Jüngeren noch schmecken konnte. Auf Cassies Wangen hatte sich eine zarte Röte abgezeichnet, die dem Bären nicht entging – immerhin hatte er schon immer ein gutes Auge für sein Böckchen besessen, ansonsten würde es ihm wohl kaum so vertrauen.

Ist das so, ja?“, wollte er wie zur Bestätigung leise von seinem Mann wissen und musterte ihn sachte, dabei hatte er ja nicht mal großartig etwas getan um ihn so aus der Fassung zu bringen. Das einzige, was sich damit ein Mal mehr bewies, war, welche unberechenbare Wirkung sie aufeinander hatten und dass eine derart lange Trennung ihnen beiden einfach nicht gut tat, ganz gleich wie es ihnen währenddessen ergangen sein mochte.

Ein vielsagendes Schmunzeln spiegelte sich auch in seinem eigenen Gesicht wider, immerhin brauchte er nicht nachfragen womit er ihn fertig machte, nur um es zu wissen. Clarence wusste es einfach – und Matthew wusste, dass der Größere sich gerade ganz andere Dinge ganz dringend einverleiben wollte anstatt des kalt gewordenen Rühreis.

„Ich hoffe du weißt, dass ich noch nie unehrlich zu dir war. Und weil das so ist, sage ich dir jetzt eins:

Wenn du dafür sorgst, dass dein Besuch bei Barclay sich unnötig in die Länge zieht… dann zeige ich dir noch mitten auf seinem Krankenbett wie sehr du mir gefehlt hast. Und das ist keine Drohung – das ist ein Versprechen“, stellte er seinem Mann klar, immerhin war auch die Geduld eines sonst sehr besonnen Bären irgendwann zu Ende.

Verdrießlich seufzend erhob er sich schließlich aber doch von seinem Stuhl – immerhin hatte Cassie recht, je schneller sie unterwegs waren, umso früher würden sie wieder zurück sein – und blieb hinter dem Stuhl seines Mannes kurz stehen, bevor er sich zu ihm hinab beugte und sich trotz allem noch einen weiteren Kuss von ihm stibitzte, die Hände auf Cassies Schultern aufgelegt.

„Und mir wird schlecht von den Tabletten, deshalb bekomme ich morgens und abends nicht viel davon runter, wenn ich sie nehme. Aber du kannst noch ein bisschen vertragen, also iss ruhig. Ich lasse mir Platz für heute Nacht und den Kuchen, den Mrs Stogg uns eingepackt hat.“

Ein weiterer Kuss fand sich auf Cassies Schläfe ein, erst danach ließ Clarence von seinem Mann ab um sich im Bad weiter fertig zu machen – gerade genug um adretter auszusehen als in den frühen Stunden heute Morgen, jedoch nicht anständig genug um damit mehr Zeit zu verplempern als nötig.


Matthew C. Sky

So wie Clarence ihn ansah und schmunzelte und scheinheilig nachfragte ob es wirklich an dem war, dass er Matthew verrückt machte, offenbarte dem Jüngeren ganz genau, dass der Blonde um seine Lage wusste. 

In den vergangenen Monaten hatte Matt weitaus mehr vermisst als die innige Zweisamkeit, die intimen Nächte und verdorbenen Trainings die sie miteinander verlebt hatten. 

Aber all diese Dinge hatten ihm durchaus auch gefehlt, wenngleich nicht vorrangig. Nun aber, da sie beide wieder zusammen waren und keiner von ihnen an einer Amnesie oder an noch lebensbedrohlichen Verletzungen litt, war die Sehnsucht nach körperlicher Nähe etwas, dass mehr und mehr in dem dunkelhaarigen jungen Mann aufkeimte. 

Die Angst, Clarence könne tot oder für immer verschollen sein, war dahin und mit jener Erleichterung ging etwas einher, was der Bär sicher nicht zu Unrecht als Gier nach ihm identifiziert hätte. 

Früher hätte er seine Bedürfnisse anders gestillt, in Gasthäusern, mit leichten Mädchen oder den Töchtern von Landwirten oder Müllern… er hätte Zerstreuung gesucht und gefunden. Doch jene Zeiten waren vorbei, weil es nur noch einen Menschen gab der seine Lust wirklich anfachen und auch befriedigen konnte. Und jener Mann saß vor ihm.  

Matthew verdrängte seine unschicklichen Gedanken bestmöglich und lächelte ein undurchsichtiges Lächeln, welches ihn verwegen und wissend und zugleich rätselhaft wirken ließ. Noch nie hatte sich der einstige Söldner gern in die Karten schauen lassen und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Wenn Clarence auch Recht mit der Annahme hatte, dass er sich nach ihm verzehrte - so konnte der Jüngere sich meistens doch zurückhalten und die Karte der Überlegenheit spielen. Wenn auch nur zum Schein. 

„Als ob du je etwas Unanständiges in der Gegenwart von Cam tun würdest. Ich glaube so sehr kannst du mich gar nicht vermissen.“, konterte er sonnig und von der Drohung unberührt. 

Aufmerksam beobachtete er seinen Mann wie er sich erhob und zu ihm kam und unwillkürlich dachte der Jüngere daran, dass er - Wunden hin oder her - ein Raubtier vor sich hatte. 

Sein Mann mochte nicht in allerbester Verfassung sein, aber seinen Appetit hatte der Bär deshalb noch lange nicht verloren. Geschmeidig umrundete der Blonde den Tisch, kam hinter seinen Stuhl und klaubte sich noch einen Kuss von seinen Lippen. 

Hätte es der Blonde nun darauf angelegt… wahrscheinlich hätte er die Selbstbeherrschung seines jüngeren Partners zum Einsturz gebracht, doch er versuchte es nicht und ersparte ihnen damit beiden weiteren Zeitverlust. 

„Okay… dann musst du zwischendurch umso mehr essen. Du hast abgenommen… ein bisschen was musst du wieder auf die Rippen kriegen.“ - die Erwähnung der Tabletten brachten Matthew endgültig wieder zur Raison und vertrieb jenen Anflug von Sehnsucht nach Intimität wieder. 

„Ich bekomm nichts mehr runter, bin pappsatt.“

Da das stimmte und das Rührei aber zu schade war um es wegzuschmeißen, teilte er die kleine übriggebliebene Portion zwischen den Hunden auf, nachdem Clarence ihn schließlich kurz allein gelassen hatte um sich ausgehfertig zu machen. 

Als der Blonde aus dem Bad kam hatte Cassiel die Spuren ihres späten Frühstücks weitestgehend beseitigt, das Geschirr abgewaschen und zum Trocknen auf die Arbeitsplatte neben dem Ofen gelegt. Außerdem hatte er ihr Bett aufgeschüttelt, das Laken glatt gezogen und eines der Fenster angekippt um frische Luft hereinzulassen. 

„Ich warte schon draußen auf dich!“ rief er gen Badezimmer, just in dem Moment als Clarence die Tür öffnete und herauskam. „Oder wir gehen zusammen raus.“, korrigierte sich Matthew schmunzelnd selbst und folgte dem Flur zur kleinen Garderobe wo er sich Schuhe und Mantel anzog.

Kain und Abel waren die ersten die hinaus in den Garten stürmten, kurz balgten sie miteinander bevor sie ihre beiden Herrchen freudig anbellten. 

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hatte Matthew Zeit, seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Schweigend ließ er den Blick über den Garten schweifen. Die meisten Sträucher und Büsche waren noch kahl und dort wo im Sommer bunte Stauden blühten, ragte das Grün nur zaghaft aus der Erde. Aber Matt konnte sich vorstellen wie es hier im Frühling oder Sommer aussehen würde und er verstand, weshalb Clarence jenen Ort für sie ausgesucht hatte und nicht einfach irgendwo ein Zimmer in einem Gasthof gemietet hatte. 

Dieser Ort strahlte etwas friedliches aus, so als wäre man nicht mitten in einer Stadt sondern ganz für sich. 

Der Abendhimmel hatte mittlerweile die Farbe von Gold angenommen, die Wolken hatten sich irgendwann im Laufe des Tages verzogen und das Licht spiegelte sich in den zahlreichen Pfützen wider. Vögel zwitscherten friedlich als könnten sie damit den Winter endgültig vertreiben - und vielleicht gelang es ihnen ja wirklich. 

Tief atmete der Dunkelhaarige durch und lauschte auf die Geräusche der Stadt und der Natur die trotz der vielen Menschen ganz nah schien. 

„Es ist… schön hier.“, fasste Matthew schließlich zusammen und blickte zu Clarence dem er all das hier zu verdanken hatte. „Hast du gut ausgesucht, Blondie.“, er lächelte, dann ging er langsam vor in Richtung des quietschenden Tores, wobei er sich im Gehen wieder nach umdrehte und ihn aufforderte „Los alter Mann, beeil dich! Ich komme zu spät zu meinem Freund!“


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