American Kestrel - Camerons Zimmer
29. Dezember 2210
Mit der Selbstverständlichkeiten eines Ortskundigen bewegte sich Clarence durch die Stadt und führte Matthew durch die Gassen und Straßen. Einmal die Nebengasse hinter sich gelassen offenbarte sich Falconry Gardens durchaus als belebt und geschäftig.
Aber selbst als sie auf Passanten trafen, unternahm Clarence keine Anstalten Matthews Hand loszulassen.
Selbstsicher schlenderte er mit dem Dunkelhaarigen an den Geschäften und kleinen Büdchen vorbei, wobei Matthew keinen Hehl daraus machte sich für die Auslagen sehr zu interessieren.
Mehr noch als für die verschiedenen Güter interessierte er sich aber für die ruchlosen Pläne seines Mannes, der unumwunden klarstellte, dass er heute Abend weder Kleidung noch Schnickschnack brauchen würde.
„Klingt verheißungsvoll… sicher, dass du halten kannst was du hier andeutest? Nicht, dass du Erwartungen schürst die du nachher nicht halten kannst, alter Mann.“ , konterte er süffisant und frech - sich der Provokation durchaus bewusst.
Ohne die Orientierung zu verlieren ließ sich Matthew immer weiter durch die Stadt führen und folgte Clarence schließlich eine steile Treppe hinauf.
Kain und Abel waren fit und agil und schienen kein Problem zu haben die Stufen zu erklimmen. Das Tempo welches die Hunde vorlegten war jedoch straff genug sodass sowohl Clarence als auch Matthew etwas außer Puste waren, als sie oben angekommen waren.
„Mo’Ann… gibt sie dir…die Schuld an seinem Tod?“, wollte Matthew wissen und folgte der Weisung des Bären und der Hunde nach rechts.
„Ich meine… was will sie von dir? Wissen wie er gestorben ist? Und ihre Tochter… hat sie versucht… naja… was ich eigentlich wissen will ist, hast du Konsequenzen zu fürchten?“ - er wusste nicht wie der Clan derartige Vorkommnisse regelte. Gab es eine Art Prozess, würde es eine offizielle Untersuchung zu dem Fall geben oder nahm man die Geschichte des Blonden an und hin?
All diese Fragen geisterten Matthew im Kopf herum, denn die Antwort würde mit darüber entscheiden wie ihre Zukunft aussah. Und wo sie stattfinden würde.
Angespannt sah Matthew zu seinem Mann empor und blickte schließlich zu dem riesigen Gebäude am Ende des Weges, da er auf seine Fragen jetzt wohl keine Antwort bekam.
Das Clangebäude war eine Blockhütte wie die Alten sie gebaut hatten. Umgeben von einem prunkvollen Tor und einem Zaun konnte man nicht einfach so auf das Gelände stolpern. Das Anwesen schmiegte sich nicht nur an den Berg, es schien in ihn hineingebaut und es wirkte einerseits imposant wie auch bedrohlich.
Die Alten hatten den Platz auf dem das Gebäude stand der Natur förmlich abgerungen und seither trotzte es den Gewalten. „Wow. Dezent würd ich sagen.“ sein Flachsen war typisch für den jungen Mann, aber man konnte ihm ansehen, dass er wirklich beeindruckt war.
„Ich war noch nie in einem Clangebäude. Das sieht riesig aus…“ - ob riesig oder nicht - sie wurden schnell von weiteren Hunden bemerkt und kurz darauf auch von Alec dazu angehalten zügig reinzukommen.
Kain und Abel mussten sie hier nicht länger an der Leine führen und so wie die beiden sich benahmen war deutlich, dass sie hier mittlerweile ebenso zuhause waren wie sie es auf der Harper Cordelia gewesen waren.
Schnell und sicheren Schrittes lotste Clarence ihn durch das Gebäude das im Inneren mit Holz vertäfelt war und den altehrwürdigen Charakter von außen auch innen wieder aufgriff.
Der Boden war ausgelegt mit einem dicken Teppich, der ihre Schritte dämpfte. Von irgendwo hörte man Stimmen und das Klappern von Geschirr, die Luft roch unterschwellig nach Harz und Politur - vordergründig jedoch nach Essen.
„Ist es eigentlich verboten, dass ich hier bin?“ - erkundigte sich der Dunkelhaarige flüsternd und reichlich zu spät, immerhin war er ja nun schon im Gebäude.
Aber egal wie die Antwort aussehen mochte, jetzt gab es kein zurück mehr. Clarence führte ihn durch die Küche und zu einer kleinen Treppe in einer Nische. Die steinernen Stufen waren abgewetzt und matt.
Oben angekommen öffnete sich der Weg in einen breiten Flur. Beide Seiten waren mit dunklen, hölzernen Türen flankiert und Tageslicht fiel von oben durch ein langes Fenster in der Decke hinein. Auch hier lag wieder ein dicker Teppich aus der ähnlich gemustert war wie der unten.
Auf den ersten Blick sahen alle Türen gleich aus, doch während sie schweigend den Flur entlanggingen fiel Matthew auf, dass an allen verzierten Türen andere Motive eingearbeitet waren. Vögel aller Arten, aber auch diverse florale Abbildungen waren zu sehen.
An der letzten Tür auf der rechten Seite blieb der Blonde stehen und klopfte kurz aber kräftig an das Holz.
„Keiner Zuhause.“ tönte es unmotiviert und lustlos aus dem Zimmer dahinter. „Hab doch gesagt es ist keiner hier.“, setzte die Stimme nach, als die Tür trotz der Abweisung geöffnet wurde.
„Dann haben wir uns wohl im Zimmer geirrt. Ich suche den schlechtesten Routenplaner der Welt, wo find ich den?“, fragte Matthew in den Raum und sicherte sich damit schlagartig die Aufmerksamkeit des Anderen.
Cameron saß in seinem Bett und hatte offensichtlich aus dem Fenster gesehen. Das Zimmer war aufgeräumt aber nicht kahl, Pflanzen und Figuren zierten diverse Ablageflächen, außerdem Schmuck und Klimmbimm.
Clarence schloss die Tür hinter ihnen und Matthew trat richtig in den Raum und erst jetzt schien der Groschen bei Cameron so richtig zu fallen.
„Du lebst!“ rief er überrascht aus und setzte sich im Bett weiter auf, die Arme ausstreckend.
Ohne unnütz Zeit verstreichen zu lassen überwand Matthew die paar Schritte zum Bett, setzte sich auf die Kante und umarmte den Dunkelhaarigen, dessen Haar ein bisschen strubbeliger war als er es von ihm gewöhnt war.
Einige Augenblicke sagte keiner von ihnen etwas, dann war es Cameron der das Schweigen zuerst wieder brach.
„Alter… du lebst.“, wiederholte er mit einer Stimme die ein bisschen brüchig klang und Matthew umarmte ihn fester.
„Da sind wir schon zwei, hm? Mit Claire und Addy sogar vier.“ - und auch wenn seine Stimme noch gefasst klang, so schimmerten seine dunklen Augen doch verdächtig…
Lautlos schloss Clarence die schwere Tür hinter sich und war in diesem Moment fast schon froh, dass Barclay keine zwei funktionierenden Beine hatte um aufzuspringen und in seinem Zimmer herumzudoktern. Irgendwie fühlte der Blonde sich fehl am Platz, wie ein Kind das daneben Stand, wenn das Elternteil einen alten Freund wiedersah und man in der ersten Sekunde schon wusste, dass diese Person einem nicht suspekt war. Dann war es einem sogar zu viel dem Fremden zur Begrüßung die Hand zu schütteln und man blieb lieber still - verschreckt und Unwillens ein weiteres Wort mit dem Fremden zu wechseln aus Angst, es wurde als Zuneigung verkannt und man selbst noch mehr ins Geschehen verwickelt.
Kurz blieb Claire im Raum stehen und murmelte sich etwas Unverständliches in den gestutzten Bart, bevor er sich den Platz am Schreibtisch neben dem Fenster als den Seinen auserkor und sich widerwillig auf den Stuhl sinken ließ. Am liebsten hätte er Cassie einfach hier abgeladen und hätte die Zeit auf seinem Zimmer oder unten bei Alec ausgesessen, doch dafür würde sein Mann ihn garantiert später einen Kopf kürzer machen und das konnte der Blonde wahrlich nicht gebrauchen.
Reichlich bewegt und mit Kehlen, die so trocken wurden wie die Augen der beiden verloren geglaubten Kumpanen nass, fielen sich Cameron und Matthew in die Arme und noch während er seinen Mann dabei beobachtete musste er sich unweigerlich fragen, womit er das nur verdient hatte. Schon in Denver war abzusehen gewesen, dass sich die beiden besser verstanden als es Clarence lieb gewesen wäre, aber auf der anderen Seite gab es auch keinen einigermaßen erwachsen klingenden Standpunkt der ihm das Recht dazu gegeben hätte, seinem Mann den Umgang mit dem Kerl zu verbieten. Ja, nicht mal einen einigermaßen erwachsen klingenden Standpunkt hatte es gegeben seinen eigenen Ehemann bei sich zu behalten anstatt ihn mit Barclay raus in die Eiswüste ziehen zu lassen, aber wo das geendet war, hatte man ja am Ende gesehen.
Ob er wohl aus dem Erlebten wenigstens jetzt irgendeinen guten Grund spinnen konnte, warum es nicht sinnvoll war ihren Krankenbesuch länger als dem Anstand halber nötig abzuhalten?
Unglaublich lange hielten die beiden sich im Arm, während Claire dann und wann einen Blick auf die kleine Uhr warf, die Cameron auf seinem Schreibtisch stehen hatte.
„Ich hab echt nich gedacht, dass ich dich je noch mal wiedersehe. Ich meine… beim letzten Mal war nicht mehr viel von dir übrig. Und von mir auch nicht“, fasste Cam eben jene Gedanken zusammen, die ihm schon seit Wochen durch den Kopf gingen. Erst jetzt, nach einer halben kleinen Ewigkeit, entließ er seinen Marschkameraden wieder aus der Umarmung, hielt ihn dafür aber fest an beiden Schultern bei sich. Mit noch immer vor Unglaube großen Augen musterte er ihn, vom Scheitel bis hinab an der Bettkante vorbei zur Sohle, nur um sicher zu gehen dass es auch wirklich Matthew war der vor ihm saß und nicht etwa eine verrückte Fata Morgana, weil er träumte oder Sky ihm beim Reinkommen heimlich irgendwelche Kräuter untergejubelt hatte.
„Gut siehst du aus, Sonnenschein. Naja, ein bisschen verwildert vielleicht. Eine Rasur und ein Bad würden dir ganz gut tun, aber ich verzeih dir dein ungepflegtes Auftreten. Bei der nächsten Audienz erwarte ich das aber wieder anders.“
Lautstark schniefte Cameron und räusperte sich kurz um Fassung ringend. Man konnte ihm ansehen, dass mit der Wiedersehensfreude nicht nur die guten Dinge wieder hoch kamen, die sie miteinander erlebt hatten, sondern vor allem auch das bisschen Erinnerung was ihm noch davon geblieben war, wie es mit ihnen ein Ende genommen hatte.
„Junge, Junge…“, verlieh er seiner Fassungslosigkeit Ausdruck und schüttelte heilfroh darüber den Kopf, dass ihrer aller Befürchtung sich nicht bewahrheitet hatte. „Sky, warum haben wir hier nichts zum Anstoßen? Wir müssen doch feiern, dass Matti wieder da ist? Guck mal da im Schrank!“
Gestikulierend winkte er Clarence hinter sein Bett, das mit dem Kopfteil und einer Seite in der Zimmerecke stand, die sich danach in einen großzügigen Einbauschrank verlor. Ein gequältes Seufzen drang dabei über die Lippen des Blonden, der dem Wink des Jüngeren folgte ohne aufzumuntern - denn mit einem hatte Barclay recht: So richtig begossen hatte Cassies Rückkehr noch keiner; ein ziemliches Unding wenn man ihn fragte, immerhin waren nicht viele Leute dafür bekannt, von den Toten wieder aufzustehen.
Geschmeidig öffneten sich die Türen des Schrankes vor ihm und offenbarten auf den Innenseiten zahlreiche feine Zeichnungen von leicht bekleideten Damen. Tatsächlich nicht mal besonders geschmacklos, wie Clarence feststellte, sondern eher wie aus der Feder von Zeichnern, die ein besonders gutes Auge für Ästhetik besaßen, um den fast unschuldigen Anreiz der Schönheiten einzufangen, die hier Modell gestanden hatten. Dass Cameron eine derartige Sammelleidenschaft besaß, wunderte Clarence nicht; genauso wenig wie Matthew es früher gewesen war, war auch Barclay kein Kostverächter und selbst wenn man es ihm zumuten würde, so war er nicht dafür bekannt die Herzen vieler Mädchen zu brechen, sondern behandelte sie sogar einigermaßen anständig.
„…‚nett‘…“, versuchte er das Gesehene in seiner Erinnerung schnell wieder in Vergessenheit geraten zu lassen und schaute sich kurz in dem geordneten Wust aus Kleidung und Kram um, den Cameron im Laufe der Zeit angehäuft hatte. In der hintersten untersten Ecke fand er schließlich eine Holzkiste aus dem Moonkeepers, in der sich fein säuberlich Flaschen wie Perlen an einer Kette aneinander schmiegten und zog drei der hausgebrauten Biere heraus, wovon er zwei zu Cameron und seinem Mann um die Ecke reichte.
Verwildert nannte Cameron ihn, womit er noch nicht einmal wirklich Unrecht hatte wie Matthew einräumen musste.
„Naja, du sahst auch schon mal besser aus. Nicht viel… aber immerhin.“, konterte er der frechen Bemerkung die allerdings nicht böse gemeint war.
„Ich hab versucht dich wiederzufinden… aber ich hab nichts mehr von dir gehört und ich hatte die Orientierung verloren als mich das Vieh…“, er winkte ab und schüttelte den Kopf.
Der Angriff des Muties war etwas, dass sie beide lieber vergessen sollten statt sich die Details immer wieder vor Augen zu führen.
„Hab gehofft ich seh dich in einem Stück wieder und tadaaaa hier bist du also. Ich bin… echt froh, dass du es geschafft hast.“
Zwischen den beiden jungen Männern hatte sich während ihrer Reise eine tiefe Sympathie entwickelt. Sie hatten viel miteinander besprochen, über Gott und die Welt geredet und gelacht und sie waren äußerst produktiv gewesen was die Planung der Routen, die Einteilung und Beschaffung des Proviants und sonstige Arbeiten betroffen hatte.
Die Chemie stimmte zwischen ihnen, sie teilten einen ähnlichen Humor und auch wenn ihre Ansichten in vielen Punkten unterschiedlich waren, so hatte sich doch herauskristallisiert, dass sie wunderbar miteinander klarkamen.
Umso schlimmer war das Ende ihrer Reise gewesen welches sie in dieser Art und Weise nicht hatten vorhersehen können. Sie waren nicht etwa leichtsinnig geworden, sie hatten nicht versucht den Weg auf halsbrecherische Weise abzukürzen, hatten nicht leichtsinnig ihr Proviant aufgebraucht.
Sie hatten Pech gehabt, schlimmstmögliches Pech.
Und so etwas zu überleben, das schaffte eine Verbindung die sich nicht leugnen ließ.
Sie waren während ihrer Reise Freunde geworden die ein Erlebnis verband, wie man es gern vermeiden würde - aber sie hatten es beide überlebt und das war die Hauptsache.
Cameron war sichtlich ergriffen von Matthews Erscheinen und was den Anderen anging, so fühlte er sich nicht weniger erleichtert. Denn auch wenn es absurd war, so hatte Matt doch irgendwie befürchtet, dass Cameron ihm die Schuld an allem gab.
„Scheiße… ich hab dich echt vermisst, Sonnenschein.“, setzte Barclay nach und Cassie lächelte ehrlich ob dem eigenwilligen Spitznamen.
„Hey du musst mich nicht anmachen, nur weil ich der Hübschseste hier im Raum bin. Spar dir deinen Charme für die Mädels auf.“ erwiderte er keck, so wie es zwischen ihnen beiden Usus geworden war.
Amüsiert griff er schließlich nach einem der Biere welches Clarence ihm wortlos entgegenhielt.
„Aber fürs Protokoll: ich hab dich auch vermisst.“
Alle drei stießen mit den Flaschen aneinander, wobei Cameron es sich nicht nehmen ließ, einen kurzen Tost vorzubringen. „Auf deine Rückkehr von den Toten.“ - „Auf bessere Zeiten als die, die hinter uns liegen.“, ergänzte Cassiel ehe er den ersten Schluck nahm.
Das Bier war stark aber nicht zu herb und bildete seit Wochen das erste Getränk außer Wasser und Kaffee, welches seine Kehle benetzte und es schmeckte köstlich.
„Clarence hat mir erzählt, du kommst nicht so richtig auf die Beine. Wie schlimm hat‘s dich erwischt, hm?“
Die Antwort auf diese Frage wollte Cameron ihm schuldig bleiben, dass sah man an dem Blick den er strafend gen Clarence richtete.
„Geht schon.“, erwiderte er verdrossen und Matt nickte.
„Addy kommt jeden Tag her und geht mir auf den Sack, dass ich den Arsch hochkriegen soll. Aber die hat leicht reden.“ - „Ich hab ihr den Arm abgehackt. Leicht reden würd ich das nicht nennen.“ - „Mag sein, aber ich bin eben nicht sie, okay?“ - dass dieses Thema ziemlich sensibel war, war schnell klar und Cassie ließ es vorerst gut sein.
„Okay.“, damit schien die Sache zunächst abgehakt und Cameron richtete seine Aufmerksamkeit nun erstmals bewusst auf Clarence.
„Musst noch einen in großer Runde ausgeben, Sky. Wann steigt die Fete? Wenn du glaubst du kommst drumherum, nur weil Jahreswende ist täuscht du dich.“ und an Matthew gewandt sprach er weiter: „Ich wette halb Falconry hat von dir gehört und das der große Schweigsame nach dir sucht. Er hat jedem von dir erzählt, ob derjenige es hören wollte oder nicht.“
Unterm Strich war wohl keiner so wie Adrianna, vielleicht nicht mal Matthew oder er selbst. Das Weib war derart verbissen darin nicht draufzugehen, dass sie nicht erst beim Absturz des Zeppelins dem Tod zum ersten Mal knapp von der Schippe gesprungen war.
Was auch immer die junge Frau tat, sie tat es mit einem derartigen Antrieb, dass sie sich vielleicht sogar selbst den Arm abgesägt hätte, hätte sie dafür nur das passende Werkzeug bei sich gehabt. Matthew mochte ihr Retter gewesen sein, aber letztlich war auch er nur das Mittel zum Zweck gewesen aus der Falle herauszukommen, in der sie sich befunden hatte.
Clarence verbarg sein aufkeimendes Schmunzeln hinter einem großen Schluck aus der Flasche als er in Camerons Blick erkannte, dass dem anderen sehr wohl bewusst war, nicht annähernd den gleichen Schneit zu besitzen wie die Rothaarige es tat. Vor allem, nachdem der Quacksalber ihm jeden Tag aufs neue einzubläuen versuchte, er könnte längst wieder auf den Beinen sein wenn er es denn wenigstens versuchen würde - aber das tat er nicht. Weil er ungefähr den gleichen Biss hatte wie eine Neunzigjährige, welcher am Vortag der letzte Wackelzahn gezogen worden war.
„Kommt drauf an. Wenn du sagst, du brauchst noch ein bisschen um wieder auf die Beine zu kommen, dann plane ich vielleicht zeitnah eine“, gestand er Cameron den Wunsch nach einer großen Party diskussionslos zu um wenigstens ein kleines Quäntchen Salz in die Wunde zu streuen. Der Kerl sollte bloß nicht denken, dass er nun verweichlichte nur weil Matthew endlich wieder aufgetaucht war. Doch anstatt frontal Streit zu suchen, warf Barclay ihm aus dem Hinterhalt erfolgreich mit einem seiner Kissen ab und machte, dass das Thema auf die Beine kommen des lieben Friedens halber nun auch von seiner Seite mehr oder weniger da Acta gelegt wurde. „Erzähl das nicht so, als wäre ich in den Läden hausieren gegangen und hätte die Leute belästigt. So war das nicht.“
Umständlich verräumte er mit einer Hand das Kissen auf seinem Schoß und hielt es wacker dort fest, nicht dass Matthew auf die Idee kam das Ding zu klauen, um ihm am Ende für ein unliebsames Wort auch noch eins damit überzuziehen.
„Aber du bist hausieren gegangen und hast die Leute belästigt“, korrigierte Cameron ihn selbstgefällig. „In den Gasthäusern zumindest warst du. Und hast die Leute in der Falknerei bedrängt, damit du deine Kiste voller Briefe möglichst günstig raus in die Welt bekommst, wenn du nur genug auf die Tränendrüse drückst.“
„Das stimmt doch überhaupt nicht. Ich hab ganz normal mit dem Typen verhandelt, ich schick so viel Pergament doch nicht zum vollen Preis raus wie eine einzelne Sendung. Von wem hast du den Mist?“
„Von gar keinem. Hab mir nur gedacht, dass es bestimmt so war. Den Rest hast du gerade bestätigt“, siegesgewiss beugte er sich nach vorne um mit seiner Falsche an der von Matti auf sich selbst anzustoßen, dann nahm Cameron noch einen Schluck. „Ein Hoch auf den Schweigsamen. Vielleicht sollten wir dich langsam umbenennen, so richtig wist du deinem Namen gar nicht mehr gerecht.“
Das hatte gute und auch schlechte Seiten. Einerseits konnte man mittlerweile fast so etwas mit Clarence führen das man Gespräch nannte, andererseits hatte der Blonde ihm im Schatten ihres Anführers, schweigend und unscheinbar, auch ganz gut gefallen. Da hatte man sich zumindest viel weniger Seitenhiebe anhören müssen.
Clarence lag auf der Zunge nachzufragen, ob sie ihn nicht früher auch den Schönling genannt hatten und inwiefern sie Cameron nun umbenennen mussten, schluckte den beißenden Kommentar jedoch artig herunter. So gern er ihm auch eins reinwürgte, hatte er nicht vergessen dass Cassie sich darauf freute seinen Freu… naja. Den Typen da wiederzusehen.
„Naja… egal. Lassen wir das“, versuchte er das Thema wieder auf erfreulichere Dinge zu bringen, denn mit einem hatte Cameron schließlich Recht - das Jahreswendfest stand vor der Tür und Wiedersehensparty hin oder her, das würden sie definitiv feiern. „Hast du dir überlegt, ob du Sibyll beim Jahreswendfest helfen willst? Du musst ja nichts machen außer rumsitzen und nett aussehen, das wirst du wohl noch schaffen.“
Gleichgültig zuckte Barclay mit den Schultern, wie so ziemlich immer wenn es darum ging seinen Arsch mal wieder aus diesem Bett zu bekommen. Bestimmt war schon der Abdruck seines Allerwertesten in der Matratze eingebrannt.
„Hm. Dann nicht.“ - An Matthew gewandt fuhr er fort: „Die Kinder bekommen immer so Stempelkarten. Wenn sie verschiedene Stationen in der Stadt ablaufen wo was für sie angeboten wird, können sie sich nach einer bestimmten Anzahl Stempeln irgendwo an den Buden Süßkram schenken lassen. Sibyll macht hier oben immer irgendwas mit denen. Sie meint, das wäre gut für den Umgang zwischen uns und den Bewohnern hier… oder so.“
„Ja, super wie das klappt. Das klappt so schön, dass wir jetzt diesen hässlichen Metallzaun vor der Tür haben, weil die Blagen über den alten Holzzaun drüber geklettert und heimlich auf unserem Hof rumgetollt sind“, fasste Cameron das Ende der Geschichte kurz und knapp zusammen und verdrehte die Augen. „Einer von den Jungs ist runter gefallen und hat sich den Knöchel verstaucht, das war auch so’n Knecht. Hat so rumgeheult, dass wir mitten in der Nacht seinen Vater vor der Tür stehen hatten. Ich dachte der nimmt mich gleich auseinander. Und da soll ich mich mit Sibyll draußen hinstellen und die auch noch weiter zu animieren? Das macht die schön alleine.“
Clarence und Cameron pflegten einen eigenartigen Umgang miteinander, so hatte Matthew die beiden kennengelernt und so war es bis vor vier Monaten auch noch immer gewesen. Doch dieses Mal schien der Blonde weniger bissig und weniger verschlossen zu sein als sonst, was den Besuch zwar nicht unbedingt harmonisch machte aber auf gute Art locker.
Ob Clarence bei der Falknerei nun auf die Tränendrüse gedrückt hatte um die Briefe günstiger verschicken zu können oder nicht, war im Grunde zweitrangig. Denn so oder so, seine Briefe waren es, die Matthew hierher gebracht hatten - und der junge Mann war sich nicht zu schade, das richtig zu stellen.
„Ohne die Briefe wär ich nicht hergekommen. Also beschwer ich mich schon mal nicht.“ - im Gegenteil, er würde sich bei seinem Mann nochmal auf besondere Weise für seinen Einsatz bedanken - aber jetzt konnte er sich nicht wirklich erkenntlich zeigen.
Kurz blickte er dennoch zu ihm hinüber und hob seine Flasche ein Stück an, um Clarence zuzuprosten, ehe er noch einen Schluck nahm und den Blickkontakt lieber wieder unterband, bevor er vielleicht zu vielsagend wurde.
Während Cameron und Clarence über das Fest zur Jahreswende diskutieren blickte Matthew sich in dem Raum um. Das Zimmer war groß genug um es in verschiedene Abschnitte zu unterteilen und dennoch nicht riesig. Außerdem war es hell, weil fast die komplette rechte Seite aus Fenster bestand von dem aus man jederzeit runter in den Hof blicken konnte.
Es gab einen Tisch und zwei Stühle, sowie einen großen und bequem wirkenden Sessel, verschiedene Regale und Einbauschränke sowie diverse Grünpflanzen. Was es nicht gab waren Bücher, was allerdings nicht verwunderlich war, weil die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben nichts war, dass man Cameron beigebracht hatte. Womit er wahrscheinlich zu den übrigen neunzig Prozent der Leute zählte.
Schließlich war es Clarence, der Matthews Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte in dem er von den Traditionen berichtete, die sich in Falconry Gardens für Kinder etabliert hatten.
„Klingt aufwändig und…“ leichtsinnig war das Wort welches ihm in den Sinn kam, aber stattdessen stockte er kurz und sagte stattdessen „…spaßig.“ Das hier war nicht Stillwaters Reach und würden hier regelmäßig Kinder zum Jahreswendefest verschwinden, würde es sicher längst keine solche Tradition mehr geben.
Man wildert nicht im eigenen Revier - dachte er angespannt und verdrängte weitere Gedanken in diese Richtung.
„Hey Don Juan, sei nicht so ein Miesepeter. Keine Ahnung wer Sibyll ist und ob du auf die ein Auge geworfen hast, aber auf so einem Fest wie es hier aufgezogen wird, ergibt sich sicher schnell was mit einer hübschen Dame.“ - versuchte es nun Matthew seinen Kumpel etwas aus der Reserve zu locken.
„In den Straßen ist alles voller bunter Wimpel und Girlanden. Ich wette es kommen auch Leute von außerhalb.“ - damit lag er sicher richtig, immerhin war Falconry Gardens mit Abstand die größte Stadt weit und breit in der Gegend.
„Klar, als ob die Damen auf einen Krüppel stehen der nicht laufen kann.“, konterte Cameron gallig und nahm noch einen Schluck. „Nach allem was ich gehört hab, könntest du laufen wenn du mehr Übungen machen würdest.“ wieder fing sich Clarence einen bösen Blick von Barclay ein.
„Bist ja ein richtiges Plappermaul.“ ätzte er ihn an woraufhin Matthew sofort wieder einlenkte.
„Ich bin erst seit ein paar Stunden wieder hier und ich wollte wissen wie es dir und Addy geht. Was da draußen passiert ist… scheiße ich dachte nicht, dass ich dich nochmal wiedersehe.“
Cameron nickte verdrossen, durchaus in dem Wissen, dass er in den letzten Monaten nicht unbedingt gut auszustehen gewesen war. „Geht mir genauso. Es ist nur…“ nun zuckte er die Schultern und Matthew versetze ihm einen freundschaftlichen, sanften Hieb gegen die Brust.
„Nein, nein dieses Gesicht will ich nicht sehen. Du wirst dich nicht hängen lassen und Trübsal blasen. Soll ich dir sagen was Frauen noch weniger wollen als ‘nen Typen der nicht laufen kann?“ - „…Was?“ fragte Barclay vorsichtig.
„Einen Typen der sich hängen lässt. Du bist da draußen nicht verreckt, du hast noch beide Beine und beide Füße, dein Rückgrat ist nicht gebrochen und du bist wach und ansprechbar. Und wenn ich laufen kann, dann kannst du das auch. - aufmunternd klopfte er Cameron auf die Schulter. „Und zum Fest sitzen du, Addy, Claire und ich alle unten an einem Feuer, trinken Met und Bier und essen kandierte Äpfel. Ich will hoffen sowas gibts hier, sonst wär ich maximal enttäuscht.“
So wie er das sagte klang Matthew vollkommen sicher und überzeugt. Er duldete keine Widerworte und auch kein weiteres Mimimimi von Cameron.
„Ich seh morgen wieder nach dir, klaro? Und jetzt schwirren wir wieder ab, ich will Addy noch hallo sagen falls…“
Er hatte den Satz noch nicht beendet, da öffnete sich die Zimmertür ohne, dass ein Klopfen vorausgegangen war und hinein trat jene Frau, die Matthew zu Anfang als Tochter Satans betitelt hatte. Zumindest in seinem Kopf.
Laut ausgesprochen hatte er diesen Namen nur in Gegenwart seines Mannes, der ebenso überrascht dreinblickte wie Cam und er selbst auch.
Wie es schien wurde ihr kleines Wiedersehens-Treffen doch größer als erwartet - und Matthew konnte nicht umhin sich ehrlich und aufrichtig zu freuen.
Und auch wenn er es selbst gerade noch nicht bewusst begreifen mochte, so fühlte es sich gerade an als käme er nach Hause.
Zu behaupten, er würde sich auf Adrianna momentan mehr freuen als auf Barclay, war dezent gelogen. Clarence war noch immer schlecht auf die junge Frau zu sprechen, die ihn wochenlang angelogen hatte was den Verbleib seines Ehemannes anging.
Niemals wäre er auf die Idee gekommen daran zu denken, Matthew könne nicht krank aber lebendig hier in Falconry Gardens auf ihn warten, so geschickt hatte sie ihm verkauft, was die anderen sie angeblich hatten wissen lassen. Nämlich, dass eine schwere Lungenentzündung den jungen Mann ans Bett fesselte, dass er zu geschwächt war um nochmals diese lange Reise anzutreten aber zu gesund um abzunippeln, bis sie auch alle die Stadt erreicht hatten.
Sich jeden Tag darauf zu freuen Cassie wiederzusehen, nur um am Ende zu erfahren dass er gar nicht hier war, war ein derart schlimmes Erlebnis gewesen… Addy konnte froh sein, dass er selbst bei ihrer Ankunft schon zu hohes Fieber gehabt hatte, um ihr buchstäblich den Hals mit bloßen Händen umzudrehen - denn Lust die junge Rothaarige zu erwürgen, das hatte er wirklich gehabt.
Es war ihr eigenes Glück, dass sie noch nicht versucht hatte ihn in der angemieteten Wohnung mit ihrer Anwesenheit zu behelligen, denn so ganz ohne Zeugen und wenigstens wieder zur Hälfte im Besitz seiner einstigen Kräfte, wäre es nicht verkehrt gewesen sie hinten im Bad um die Ecke zu bringen.
So oder so ähnlich hatte Clarence sich das jedenfalls spät abends, alleine am Schreibtisch über den Pergamenten und Karten, sehr detailliert überlegt und just in diesem Augenblick, als die Tür aufging und besagte Hexe den Kopf hindurch schob, fielen ihm all seine fantasievollen Überlegungen auch sehr schnell wieder ein.
„Matt!!“, quietschte es nach wenigen Sekunden aufgeregt von der Tür zu ihnen hinüber. Es hatte einen Moment gebraucht, bis Addy wirklich begriffen hatte, dass er es war - denn auch wenn sie alle nach dem Absturz und in Denver etwas wild ausgesehen hatten, hatte der Dunkelhaare niemals so… naja, er hatte sich nicht so gehen lassen wie im Moment, gelinde ausgedrückt.
„Oh, ich dachte schon die hätten sich heute Nacht am Zaun mit Stoff zugedröhnt und Liv fantasiert sich irgend‘ne Scheiße zusammen, weil sie noch nicht richtig wach ist. Du bist hier!“
Aufgeregt stürmte sie in den Raum und kam vor Matthew zum Stehen, einen Moment wartend bis er sich des guten Anstands halber auch erhoben hatte, nur um ihm begrüßend um den Hals zu fallen.
„Alter Verwalter, das ist ja im wahrsten Sinne fast, als würde Friedensfeier und Jahreswendfest auf einen Tag fallen. Ich brech ab. Willkommen zurück“, freundschaftlich klopfte sie ihm auf den Rücken - fest und gerade auf die richtige Weise, die einen spüren ließ, dass man von Herzen erwartet worden und willkommen war im kleinen verschworenen Kreis der Überlebenden, der sie geworden waren. „Wieso habt ihr hier alle so feines Bier in der Hand und ich hab keins? Was hab ich schon verpasst?“ - „Du bekommst keins. Du hast dem Arzt Schmerzmittel aus den Rippen geleiert, damit könnten wir ‘nen kleinen Mutanten lahmlegen.“
Mahnend schüttelte Cameron den Kopf und gestikulierte verbietend in die Richtung des Auferstandenen, damit er bloß nicht auf die Idee kam, der jungen Frau aus seiner eigenen Pulle einen Schluck zu überlassen.
„Das ist ganz schön gemein. Dann lass mich wenigstens unter deine Decke, mir ist arschkalt.“
„Dann zieh dich anständig an?!“, keifte Cameron ihr entgegen, denn wer trug bitte bei anhaltendem Frost einen Kapuzenpullover und dazu kurze Shorts? „Ey! Verpiss dich hier!“
Doch all sein Zetern brachte nichts - nach einer kurzen aber intensiven Rangelei hatte Addy sich die Schlappen von den Füßen geschüttelt, das Endstück von Camerons Decke erkämpft, es sich auf seinem Bett bequem gemacht und ihren rechtmäßigen Platz bereits eingenommen, noch bevor der Jüngere ihr überhaupt offiziell den Krieg erklärt hatte.
„Du kleine Zecke.“ - „Sei nicht so gemein zu mir. Nicht an diesem besonderen Tag, sonst dreht Matt gleich wieder auf dem Absatz um und haut wieder ab weil er denkst, du hast außer deinen Eiern auch noch deinen gesunden Menschenverstand verloren.“
Aus dem Hinterhalt versuchte sie nach Camerons Flasche zu langen, jedoch ohne Erfolg. Stattdessen hatte er fast das gute Bier auf seinem Bett verschüttet und musste sich nun Umständlich den Schaum von den Fingern lecken, bevor er gleich irgendwo festklebte.
„Du bist bis hier rauf gekommen, das heißt wenigstens einer von euch beiden hat seinen Arsch wieder hoch bekommen. Erzähl mir wie’s dir geht und wo es dich hin verschlagen hat und warum du ‚ganz zufällig’ erst dann wiederkommst, wenn es hier in der Stadt was zu feiern gibt. Sind wir dir sonst nicht gut genug?“, forderte sie munter und stumpte ihn auffordernd gegen die Schulter, immerhin hatten die Jungs sich garantiert schon untereinander ausgetauscht, aber da war sie ja nicht mit dabei gewesen.
War die Stimmung bisher schon freundschaftlich und heiter gewesen, so gewann sie nochmal eine ganz andere Qualität als Adrianna den Raum betrat und ihrer Freude über Matthews Auftauchen ungeniert auslebte.
Die Rothaarige war so redselig und offen wie Matthew es ihr zu Beginn ihres Kennenlernens niemals zugetraut hätte und doch hatte er sie manchmal auch in Denver schon so erlebt.
Ganz zu Anfang, in Rio Nosalida, war sie abweisend und schroff gewesen und zwar so schroff, dass Cassie es durchaus persönlich genommen hatte - auch wenn er das vor Clarence immer abgestritten hatte.
Zu behaupten die Amputation ihres Unterarmes hatte sie beide zusammengeschweißt wäre zwar schräg, aber vollkommen wahrheitsgemäß.
Mit einem Lächeln auf den Lippen das sein ganzes Gesicht strahlen ließ erhob sich der Dunkelhaarige von der Bettkante und erwiderte die Umarmung nicht nur, sondern hob die junge Frau sogar kurz vom Boden, was sie mit einem kurzen Quieken quittierte.
„Oh komm her, ich hab dich vermisst!“ ließ er sie wissen und drückte sie an sich, was sie erwiderte.
„Ich bin hier.“ bestätigte er der jungen Frau schließlich und setzte sie wieder ab, wobei er darauf achtete tunlichst ihren Stumpf nicht zu berühren.
„Ihr hättet auf mein Überleben wetten sollen, ich komme immer wieder.“ - „Yeah, tatsächlich gab‘s ‘ne Wette.“, warf Cameron ein ehe Adrianna ihm mit einer unübersehbaren Geste das Wort abschnitt, in dem sie ihren Zeigefinger an ihrer Kehle legte und zur Seite zog.
Barclay sah zu Clarence, der von der geschmacklosen Wette nichts mitbekommen hatte, immerhin waren die Penner zu feige davon zu reden, wenn er in der Nähe gewesen war.
Nun da er das Thema aber einmal angeschnitten hatte, war es zu spät um die Kurve nochmal zu kriegen, also erzählte Cameron schließlich was er darüber wusste. Den Rest seiner Decke dabei festhaltend, damit Addy ihm die nicht vollends stibitzte.
„Rory der Penner hat mit einigen seiner Jungs gewettet, dass du Mutiefutter geworden bist und das man, wenn überhaupt nur Teile von dir findet, wenn man… na du weißt schon… in den Hinterlassenschaften wühlen würde…“ - „Charmant. Gab‘s Gegenwetten?“, erkundigte sich Matt.
„Nicht das ich wüsste, man war sich einig, dass du tot bist Manche haben auch bezweifelt, dass du und Clarence… naja… wirklich verheiratet seid.“ - Zack, da war die Katze aus dem Sack, einfach so und ohne, dass es irgendwie merkwürdig zu sein schien für die Anwesenden.
Irritiert ob der Offenheit mit der Cameron plauderte und augenscheinlich weder überrascht noch irgendwie befangen war, blickte Matthew kurz zu Clarence herüber und rutschte unruhig auf seinem Platz auf der Bettkante hin und her.
Adrianna wittertet nun mehr die Gunst der Stunde und schnappte nach vorne, in dem Versuch nun seine Bierflasche abzuluchsen, doch Cassie war schneller.
„Vergiss es, Prinzessin - du hast Alkoholverbot.“, gab er ihr mit einem frechem Grinsen zu verstehen.
„Deine Fürsorge hab ich so vermisst, Zuckerschnäuzchen.“, konterte sie übertrieben süß und spitzte die Lippen zu einem Luftkuss. „Der ging mitten ins Herz.“, ließ Cassie sie amüsiert wissen und hatte über all die Albernheit die geschmacklose Wette, sowie die Offenlegung seines Verhältnisses zu Clarence schon wieder vergessen. Der Blondschopf hatte reinen Tisch gemacht und das zu erfahren war befreiend.
„Wir hatten gerade besprochen, dass Cameron Sibyll zur Hand gehen wird. Stimmt’s?“ - „Na eigentlich hatte ich nicht zugestimmt.“ - „Das sind gute Neuigkeiten, die richte ich ihr dann gleich aus.“ Adrianna tat so, als würde sie den Einwand des Anderen gar nicht gehört haben und in der Tat war sie auf diesem Ohr auch taub.
Die vergangenen Monate waren in vielerlei Hinsicht aufreibend gewesen. Clarence hatte sie gehasst für ihre Notlüge - deren Notwendigkeit für sie aber klar auf der Hand lag und für die sie sich nicht entschuldigen würde.
Und dann war da noch die Geschichte mit Nagi welche der Blonde allen verkauft hatte.
Aber damit nicht genug, denn sein Wiederkommen hatte im Clan durchaus nicht nur für Freude gesorgt. Und dann hatte der Christ plötzlich auch noch einen Ehemann der verschollen war und dessen Namen hier bald jeder gekannt hatte. Beide Männer, Cameron wie auch Clarence, hatten über Wochen hinweg um ihr Leben gekämpft und als sie den Kampf letztlich gewonnen hatten, war der eine in Selbstmitleid versunken und der andere in Depressionen.
Und zwischen alledem war Adrianna gewesen die versucht hatte das beste aus den Umständen zu machen.
Was ihr mal besser und mal schlechter gelungen war.
„Wird auch Zeit, dass du aus dem Zimmer rauskommst. Dein Arsch hat bestimmt schon eine Kuhle in die Matratze geprägt.“ - sprach sie aus was Clarence vorhin schon gedacht hatte. „Du bist wirklich ätzend.“ konterte Cameron, aber er musste sich ein Lächeln verkneifen und das war schon mal ein gutes Zeichen.
„Darauf sollten wir trinken.“ hakte Matthew ein, der sich in der Gesellschaft jener kleinen Gruppe unerwartet wohl und willkommen fühlte. Er hob seine Flasche kurz und prostete den anderen zu - wobei die Rothaarige theatralisch seufzte.
Clarence kam nicht umhin an jenen Abend zurück zu denken, als sie auf der Pago Estrella Vaga abends gemeinsam am Tisch gesessen, gegessen, geraucht und geredet hatten. Damals waren die Zeiten und auch ihre Beziehungen zueinander noch andere gewesen.
Das beinahe freundschaftliche Verhältnis, das er damals zu Adrianna gehabt hatte, war ein völlig anderes gewesen als zu Cameron - und davon abgesehen waren die beiden anderen Jäger gemeinsam nicht besonders gut auf Matthew zu sprechen gewesen. Mehr oder weniger jedenfalls.
Als Außenstehender und völlig Fremder hatte er nicht nur die Rolle eines unbeliebten Nicht-Jägers in ihrer Runde eingenommen, sondern vor allem auch den Part eines Unbekannten, von dem man nicht wusste ob man ihm trauen konnte oder nicht. Die beiden hatten sich auf Claires Wort verlassen müssen, dass Cassie ein anständiger Kerl war den man gebrauchen konnte, der in ihrer Runde nicht für Schaden sorgen würde und auf der anderen Seite hatte er seinen Ehemann beruhigen müssen, dass er selbst nicht gleich von seinem Clanbruder und seiner Clanschwester erschossen wurde, nur weil er zwei Jahre verschollen und untergetaucht gewesen war.
Es wäre gelogen zu behaupten, dass der Absturz des Zeppelins nicht mit ihnen allen etwas gemacht hätte. Es ging nicht nur um die Zeit, die sie gemeinsam in Denver festgehangen und einander neu kennengelernt hatten, sondern vor allem auch um das Erlebnis an sich. In der Wildnis verletzt zu werden, gemeinsam halb zu verhungern oder in der Gruppe zu jagen war das eine, was einen zusammenschweißen konnte - doch ein derart traumatisches Ereignis zu überleben, das solch widrige Umstände nach sich zog, verband einen auf einer ganz anderen Ebene, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar war.
Dementsprechend wunderte es ihn nicht wie überschwänglich und herzlich die Begrüßung zwischen Addy und seinem Mann ausfiel, auch wenn er Matthew mit anderen Menschen nur selten so wirklich offen und unbefangen erlebte. Gerade dieser Umstand war es, der ihn - trotz seines noch immer andauernden Zwistes mit der Rothaarigen - augenblicklich milde stimmte und ihn in seinem Stuhl sichtlich entspannen ließ. Cassie so ausgelassen zu sehen, zauberte ihm eine Wärme in die Brust, die er sonst nur von den Momenten kannte, während denen der Dunkelhaarige lachend und Faxen treibend mit Kain und Abel spielte; es war, als würde man ihm dabei zusehen wie er Heim kam anstatt einfach nur in der Stadt anzukommen und das machte es zu einem Novum, dem der blonde Hüne nur allzu gerne beiwohnte.
Nicht mal die Geschichte um Rory konnte seine empfundene Freude trüben, denn von dem Kerl war wahrlich nichts anderes zu erwarten. Bestimmt hatten Rory und Ryan nicht nur ein paar Kupfer, sondern gleich Silberlinge springen lassen nur um darauf zu wetten, dass Matthew Mutantenfutter geworden war und sich dabei in geselliger Runde ausgemalt, wie hilflos und unfähig der Unbekannte wohl draufgegangen war.
„Ich bin ätzend? Verwehre ich hier meinen Gästen was zum Anstoßen oder du?“, spielte Adrianna unterdessen den Ball nahtlos an Cameron zurück und schob ihre offensichtlich eiskalten Füße unter der Bettdecke dichter an ihn heran, denn der Dunkelhaarige zuckte erschrocken auf und rutschte augenblicklich ein beachtliches Stück von ihr fort.
„Ich bin hier nicht die ätzende Person, supernett bin ich die ganze Zeit und kriech dir jeden Tag in den Arsch, damit du selbigen endlich aus dem Bett kriegst. Ich will mit dir spazieren gehen, hab dich sogar für übermorgen mit zu Oliver eingeladen. Und so dankst du es mir!“ - „Ja, weil du Schreckschraube weißt, dass ich es nicht bis an den Stadtrand schaffe?!“
„Aber du könntest, wenn du üben würdest“, hielt sie ihm einmal mehr das Offensichtliche vor Augen, ganz so als könnte ein bisschen Mobbing auf wundersame Weise nicht doch irgendwann helfen ihn aus dem Zimmer zu mobilisieren, wenn man es nur angestrengt genug versuchte.
„Gehen die nicht mit ihren Kindern zur Aufführung?“, hakte Clarence bezüglich Oliver ein, immerhin hatte er drei junge Sprösslinge in einem Alter, in dem man sich das Stempelsammeln eigentlich nicht entgegen lassen wollte, wenn am Ende ein großer Schatz aus Süßkram und Zucker auf einen wartete.
„Doch, schon. Daisy mit den kleinen Blagen. Die kommen dann später wieder heim für Mitternacht, ich dachte bis dahin belager‘ ich ihn ein bisschen. Ihr könnt ja mitkommen, wenn der hier nicht will“, deutete sie mit dem Daumen rüber zu Cam, der ihr nicht nur die Gesellschaft verweigerte, sondern auch etwas, an dem sie ihre Füße wärmen konnte.
Kurzerhand hob sie ihre kalten Zehen unter Matthew, um sich zwischen Matratze und Oberschenkel das zu holen, was Barclay der kleine Schweinepriester ihr einfach nicht geben wollte.
„Hm. Ich glaube nicht, dass so viele fremde neue Leute ihm am Feiertag gut tun.“ - „Aber du bist ja nicht fremd.“
Ein Einwand, den Clarence nachvollziehen konnte, der aber an dieser Stelle leider kein Gewicht hatte.
„Mich fragt hier ja auch niemand, ob mir so viele Leute in meinem Zimmer recht sind. Ihr taucht hier ja auch einfach auf wie die Pestbeulen.“ - Widerwillig nahm Cameron noch einen Schluck aus seiner Flasche, bemerkte aber durchaus wie wenig es hier jemanden interessierte, ob er Lust auf dieses kleine Get-Together in seinem Bett hatte.
„Trotzdem haben wir uns ewig nicht gesehen. Ich glaub nicht, dass er so viele neue Eindrücke auf einmal braucht, ohne sich darauf vorzubereiten. Das sollten wir im Januar in Ruhe angehen“, schlug Claire vor, bevor er an Matthew gewandt anfügte: „Ich erklär dir das nachher Zuhause, das ist… etwas kompliziert.“
Kurz schwieg er, ein unbemerktes Stutzen, immerhin war es so eigentümlich normal wie Cameron beiläufig ihre Ehe einwarf und wie es war darüber zu reden später wieder in der kleinen Wohnung zu sein, die eigentlich nur ein höherwertiger Ersatz zum Gasthaus sein sollte und kein Zuhause. Aber es ihr Zimmer zu nennen, hörte sich in seinem Kopf auch nicht richtig an.
„Ich schlage vor, wir verschaffen uns übermorgen einen Überblick übers Fest“, deutete er mit dem Zeigefinger zwischen Cassie und sich hin und her, „und während wir uns an den Auslagen der Buden gütig tun, können wir dem da was mit hier hoch bringen.“
„Sehr gnädig, der Herr. Da bekomme ich ein bisschen Angst, dass du mir ins Essen spuckst, so wie du das sagst“, mokierte sich Barclay - berechtigt, wie Clarence fand.
„Entweder du kommst auch irgendwann dazu oder wir treffen dich dann später am Marktplatz.“ - „Und wann willst du Lucy abholen, davor oder danach? Oder haben sich die Pläne schon wieder verworfen, jetzt wo ihr zwei Turteltäubchen wieder vereint seid?“
Kurz schwieg Clarence und musterte Adrianna - ein Blick der verriet, dass das kein Thema für hier und jetzt war.
„Das bereden wir noch. Aber nicht jetzt.“
„Oh, okay, ich… ja. Gut, ich bin kein Trottel, ich versteh schon. Ich schau dann einfach wann ich von Oli weg komme und wenn ich nicht hier oben aufschlage, treffen wir uns in der Stadt.“
Obwohl Monate zwischen damals und heute lagen und Matthew niemanden von den Anwesenden in den letzten Wochen gesehen hatte, herrschte zwischen allen ein merkwürdiges Selbstverständnis, wie es nur zwischen Menschen aufkam, sie sich wirklich gut kannten.
Dabei kannten sie sich untereinander noch nicht einmal besonders gut. Was harte Fakten betraf, wie Alter, Herkunft, Hobbys, Vorlieben und Abneigungen wusste Matthew zweifellos von Cameron mehr als von Adrianna. Und Barclay wusste auch einiges von ihm.
Aber es ging gar nicht so sehr um das, was sie voneinander wussten als viel mehr darum, wie sehr sie einander vertrauen konnten. Und alles, vom Sinkflug des Zeppelins an, bis zum Crash und den Wochen danach hatte sie zusammengeschweißt und deutlich gemacht, dass man aufeinander zählen konnte.
Und nun saßen sie alle hier bei Cameron im Zimmer, der zwar moserte und speckerte aber genau dieses Come-Together genoss. Denn ein ganz kleines bisschen war es so, als sei alles gut wenn ihre kleine Truppe beieinander war.
Dass sie alle gelitten hatten, dass sie alle gesundheitlich einige Narben mehr zu verwinden hatten, war unstrittig - aber sie waren noch da. Was man von vielen anderen nicht behaupten konnte. Die Pläne die bald darauf geschmiedet wurden und Abläufe und Einladungen inkludierten, hörten sich für Matthew verwirrend und ungewohnt an.
Er kannte es nicht, dass jemand mit ihm rechnete und man sich - ohne Hintergedanken - einfach verabredete um an einem Fest teilzunehmen. Und auch wenn er Oliver nicht kannte und Clarence auch erstmal den Vorschlag von Adrianna abwählte, so war es doch schön zu hören, dass man irgendwie zu wollen schien, dass er hier dazugehörte.
Nicht nur in ihre eingeschworene Gruppe der Überlebenden, in der er bereits seinen Platz hatte, sondern auch über jene hinaus. Und ebenso beiläufig wie Cameron vorhin ihre Ehe kurz thematisiert hatte ohne dabei durchblicken zu lassen damit ein Problem zu haben, so brachte Adrianna nun die Sprache auf Lucy und Matthew blickte schlagartig zu Clarence, der es leider bisher versäumt hatte ihn auf den neuesten Stand zu bringen.
Dass betraf unglücklicherweise sehr viele Themen und mit einem Mal war die lockere Stimmung bei Matthew vorbei und schlug um in Irritation und leise Verärgerung darüber, dass er über nichts Bescheid wusste.
„Als ich dir vorhin sagte, ich lass dir die Zeit die du brauchst, um mir zu erzählen was passiert ist, dachte ich nicht, du würdest mir verschweigen, dass Lucy am Leben ist.“ - stellte er klar und betrachtete Clarence durchaus vorwurfsvoll.
Es ging gar nicht darum, dass er verlangte sofort alles zu wissen - aber es wäre durchaus schön gewesen hätte der Blonde ihm zumindest einen groben Abriss der Geschehnisse gegeben. Dann wäre Matthew auch nicht davon ausgegangen, dass es vermutlich keine weiteren Überlebenden gegeben hatte.
„Lucy ist soweit in Ordnung, jedenfalls soweit man das sagen kann nach der Reise.“ - wieder war es die Rothaarige die das Wort ergriff und wahrscheinlich dadurch Clarence aus der Bredouille holen wollte.
„Okay… und Gabe?“, er konnte sich die Antwort auf jene Frage denken und das Schweigen welches das Zimmer nun erfüllte sprach ganze Bände, noch ehe Adrianna es brach.
Kaum merklich schüttelte sie den Kopf und sagte schließlich: „Er hat es leider nicht geschafft.“
Matt, der irgendwie die ganze Zeit damit gerechnet hatte, dass die Kinder nicht mehr lebten, presste schweigend die Lippen aufeinander und wich schließlich ihrem Blick aus.
Es war das eine, mit etwas zu rechnen das unausgesprochen im Raum stand - und ignoriert werden konnte, so lange wie man das Thema einfach mied.
Denn dann konnte man sich das Quäntchen Hoffnung einfach bewahren, dass vielleicht nicht stimmte was man im Herzen zu wissen glaubte.
Etwas völlig anderes war es jedoch Gewissheit zu erlangen und die damit einhergehende niederschmetternde Erkenntnis, dass es nichts mehr gab um dem Jungen zu helfen. Mit einem Mal fühlte Matthew sich, als hätte man ihm in den Magen geboxt und als würde ihm das Bier und das späte Frühstück wieder hochkommen.
„Lucy ist sicher untergebracht, bei einer Freundin des Clans.“, führte Adrianna weiter aus, ihm ansehend wie elend es ihm plötzlich ging. Jeder der hier Anwesenden wusste, dass Matthew es gewesen war der beide Kinder aus dem Wrack gerettet hatte. Und die Geschwister hatten beide mehr an ihm gehangen als an irgendjemandem sonst aus der Gruppe.
„Was für eine…verfickte Scheiße.“ seine Worte waren schroff, aber seine Stimme klang belegt und dünn.
Fahrig wischte er sich über das Gesicht und vermied es mit irgendeinem der drei Anwesenden Blickkontakt zu haben.
Dass ihn der Tod des Jungen mitnahm war wenig verwunderlich, immerhin war es immer schrecklich, wenn ein Kind starb, doch mit der bestehenden Vorgeschichte traf es Matthew besonders hart.
Wozu hatten die beiden den Absturz überlebt wenn zumindest Gabriel den Frühling nicht mehr erleben sollte? Wie sinnlos war all ihr Leid und der Überlebenskampf gewesen? Und was blieb Lucy nun noch? Fragen auf die es keine zufriedenstellend Antwort gab und die sich Matthew dennoch aufdrängten.
„Danke für… naja… für die Offenheit.“, sagte er schließlich an Addy gewandt und die junge Frau nickte betreten.
Eine Weile saßen sie noch beieinander, Cameron wechselte nochmal das Thema und Adrianna ging auch darauf ein - doch die ausgelassene Stimmung kehrte nicht mehr zurück und als sich Matthew und Clarence schließlich verabschiedeten, da blieb die Rothaarige noch zurück in dem Wissen, dass Clarence und Matthew jetzt wahrscheinlich Dinge zu besprechen hatten bei denen sie Fehl am Platze war.
Der Blick, den Matthew ihm augenblicklich zuwarf, traf ihn tief - und seine Worte waren schneidender als jedes der Messer, das Clarence jemals besessen hatte.
Dabei ging es Cassie noch nicht mal darum, was mit Gabriel geschehen war oder was überhaupt passiert war. Er warf ihm vor, dass Clarence ihm nichts von Lucys Überleben erzählt hatte und das, obwohl Matthew noch nach keinem einzigen aus ihrer damaligen Gruppe gefragt hatte. Weder nach einem Erwachsenen wie Constantin, der damals ihre Hunde gerettet hatte, oder nach dieser Cynthia, die Cameron gevögelt hatte. Aber schon gar nicht hatte er nach den Kindern gefragt, obwohl sie beide gleichermaßen viel Zeit mit ihnen verbracht hatten.
Er ging einfach davon aus, dass sie tot sein mussten. Nicht etwa, weil er von Clarence erfahren hatte, dass etwas schlimmes geschehen war. Sondern einfach so.
Vermutlich, weil man ihm wohl einfach keine Kinder in die Hand drücken konnte ohne, dass diese es mit ihm nicht überlebten. Das schien seinem Ehemann klarer zu sein als ihm selbst.
Die Art und Weise, wie Adrianna schließlich bedrückt verlauten ließ Gabe hatte es nicht geschafft, ließ zum unzähligsten Mal seinen Herzschlag für einen Moment aussetzen und seinen Mund trocken werden wie Schleifpapier. Es hatte vereinzelte Tage gegeben in den vergangenen drei Wochen, da war er aufgewacht ohne als erstes darüber nachzudenken, dass nicht nur Gabe, sondern vermutlich auch sein Mann gestorben war. Kurze Sekunden nur, in denen die Welt für den Bruchteil eines Wimpernschlags in Ordnung schien, bevor die Erinnerung und die Einsamkeit wieder auf ihn einprasselten.
Es war die kleine Runde mit Barclay, Adrianna und Matthew in diesem verflucht kleinen Zimmer hier, die ihm wieder in Erinnerung rief, warum er lieber mit Nagi draußen in der Welt unterwegs gewesen war als hier im Haus des Clans eingesperrt, weil ihn irgendein Wehwehchen noch ein paar Tage vom Reisen abhielt. Es gab kein Entkommen. Außerhalb des eigenen Zimmers hatte man keine Ruhe und wenn man Pech hatte - so wie Cameron gerade - dann nich mal in den eigenen vier Wänden.
Den Rest des Besuches hatte Clarence es bevorzugt am Fenster zu stehen, mit den drei anderen im Rücken, die miteinander die Offenheit zelebrierten, wie Cassie es so schön nannte. Eine Sache, für die er sich bei Addy bedanken musste und mit der er den Blonden gleichzeitig wissen ließ, was Matthew von seinem eigenen Ehemann vermisste und es sich deshalb von anderen holen musste.
Sein Blick glitt durch den Hof hinweg, an den selbst gebauten Hindernissen und Übungsgeräten vorbei zum Berg, in den die alte Blockhütte zum Teil gebaut war… und dabei spürte er eben jenes Gefühl in sich aufkommen, das ihn auch schon damals raus in die Berge getrieben hatte, wenn er es hier drin nicht länger ausgehalten hatte.
Mit leisem Klappern stellte er die noch halb volle Flasche auf der Fensterbank vor sich ab und rieb sich über den Bauch, in dem sich die altbekannte Übelkeit schon wieder breit machte und ihm das Sodbrennen die Kehle hinauf trieb. Vermutlich war das Bier auf die Tabletten genauso eine schlechte Idee gewesen wie die zweite Hälfte des Frühstücks - oder wie ihr Besuch bei Cameron. Oder so schlecht wie die Idee, sich in Denver zu trennen.
Es hatte am Ende nur ein monotones Lass uns gehen von Seiten des Älteren bedurft, damit die bedrückte Stimmung zwar nicht von ihnen in Barclays Kammer zurück gelassen wurde, aber er selbst der frischen Luft langsam wieder näher kam und damit vielleicht auch der Chance, die aufkeimende Übelkeit wieder weg zu atmen. Es ging ihm nicht besonders gut, so wie es ihm nie besonders gut ging, wenn er an den Jungen dachte; Clarence vermisste Gabe, sein Lachen wie auch sein unbeschwertes Wesen und er vermisste die Lucy, die das Mädchen gewesen war, bevor sie ihren Bruder verloren hatte. Der einzige, den er nach allem Flehen und Beten tatsächlich wieder zurück bekommen hatte, war sein Ehemann und der ging schon von Beginn an davon aus, dass Claire die Kinder nicht lebendig bis in die Stadt bekommen hatte. Welch Ironie.
„Ich würde dir ja hier noch was zeigen, aber wie wir jetzt gelernt haben, kannst du Offenheit ja nur von Addy erwarten. Deshalb kann ich dir nur den Rückweg über die Küche anbieten.“
Seine Worte klangen nicht mal halb so gallig wie er sie Matthew hatte an den Kopf werfen wollen, was einerseits an seiner noch immer zugeschnürten Kehle lag, andererseits aber auch einfach daran, dass er versuchte die in sich aufkeimende Unruhe tunlichst im Zaum zu halten. Weder wollte er sich mit seinem Mann mitten auf dem Flur vor allen Türen streiten, noch wollte er sich selbst einen emotionalen Ausbruch dieser Größenlage zumuten; das hatte er schon nicht am Morgen unten im Gasthaus tun wollen als Matthew angekommen war und er würde nicht um diese Uhrzeit an diesem Ort hier damit anfangen.
„Lass uns…“ - ihm lag nach Hause auf der Zunge, aber das war die Wohnung nicht. Sie war ein angemietetes Zimmer, in dem er Pergament und Tinte hortete und Kräutertee aufgoss, den er ständig zur Hälfte wegschütten musste, weil niemand da gewesen war um die Kanne mit ihm zu teilen.
„Lass uns erstmal hier weg. Dann sehen wir weiter.“