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Bibliothek des Clans

11. Januar 2211


Clarence B. Sky

Erstaunlich ruhig verlaufen waren die vergangenen Tage. Etwas zu ruhig nach Clarence‘ Geschmack, denn angesichts der aktuellen Umstände konnte der Schuss genauso gut nach hinten losgehen, wenn man sich mit absicht etwas zu viel bedeckt hielt als zu wenig. Auf der anderen Seite allerdings konnte man in der Ruhe auch besser in die Stille lauschen. Leise Tritte fremder Gegner besser erhaschen. Das verdächtige Rascheln ferner Gräser und Büsche sondieren – und sich gegebenenfalls wappnen für das, was aus dem Dickicht auf einen zukam.

Doch Falconry Gardens war kein Dickicht und draußen im Garten und auf den Straßen waren es keine alarmierenden Büsche, die die Wege säumten, sondern höchstens der seit einigen Tagen schon platt getretene Schnee, welcher gefährliche Eindringlinge höchstens dadurch offenbarte, weil sie darauf ausrutschten und mit lautem Fluchen zu Boden krachten.

Nach dem zunehmenden Schneefall der letzten Woche waren die langsam wieder milderen Temperaturen ein wahrlicher Segen für die Stadt. Es war nicht warm genug geworden um den Schnee aus den Gassen zu vertreiben oder in der Nacht weniger zu frieren wenn einem unbemerkt das Feuer im Ofen erlosch, aber immerhin erkannte man wieder die eigene Hand vor Augen, wenn man vor die Tür trat. Die Nasenspitze und die Ohren kühlten einem in der beißenden Kälte jedoch noch immer so schnell aus, dass man schon nach wenigen Minuten Gefrierbrand befürchten konnte.

Clarence, der den Winter hasste und doch auf der anderen Seite die damit verbundene Ruhe sehr zu genießen wusste, mochte die aktuell vorherrschende Stille in ihrer Wohnung dafür jedoch umso weniger. Seitdem Mo’Ann einen Tag nach ihrer Rückkehr aus Merton vor versammelter Mannschaft beim der allabendlichen Versammlung verkündet hatte, dass sie Clarence und seinen Mann zum Abendessen in ihre Bibliothek lud, hing der Haussegen bei Familie Sky noch mehr schief als seit der Offenbarung Afarits – und das hieß schon was, immerhin war die Laune des Blonden seit diesem Mittag so oder so im Keller.

Dabei war es gar nicht so, dass er auf Matthew einen Groll hegte. Was sollte der Jüngere schon dafür können, dass er dieses Ding mit hierher, mit in ihr Leben gebracht hatte. Genau genommen war es ja nichtmal etwas, das er sich aus Denver oder sonstwoher auf seiner Reise eingefangen und mit angeschleppt hatte. Afarit war schon Teil von Matthews Welt gewesen, da hatte es in diesem Kosmos den blonden Christen noch gar nicht gegeben- und auf der anderen Seite war der Feuerdämon schon Teil des Dunkelhaarigen gewesen, als er Teil von Clarence‘ Welt geworden war. Er hatte ihn mit diesem Wesen geheiratet und es gab keinen Grund ihn deshalb zu verlassen oder fortzuschicken – und trotzdem bereitete alleine der Gedanke daran dem Jäger noch immer solche Bauchschmerzen, dass seine Gedanken seit dem Wissen um Afarit auch genau darum kreisten. Vor allem in jenen Situationen, in denen sein Kopf eher aus und andere Dinge eher an sein sollten. Zwar war es noch nie ein Thema zwischen ihnen gewesen, wenn einer von ihnen aus welchen Gründen auch immer in bestimmten Situationen eher weniger… Leistungsbereitschaft an den Tag legte, und womöglich legte Clarence der ganzen Sache auch mehr Wert bei als Cassie es tat. Aber glücklich machte ihn besoners diese Lage aktuell noch weniger als die Gesamtsituation oder der bevorstehende Abend es per se schon nicht taten.

„Cassie? Sollen wir die Hunde hier lassen?“, wollte er aus dem Bad heraus wissen, wo er sich vor dem Spiegel versucht hatte die Haare einigermaßen passabel zu legen. Die Anweisung seines Mannes, dass er die blonden Zotteln gefälligst wieder wachsen zu lassen hatte, nahm der Hüne so ernst wie er jede andere Bitte seines Mannes nehmen würde. Aber genauso wenig Talent wie der Jüngere dafür besaß seine Mähne zu bändigen wenn sie lag war, so wenig Talent besaß der Blonde dafür, sich einen Kurzhaarschnitt ordnungsgemäß zu pflegen – was recht offensichtlich auch begründete, wieso er jahrelang eher langem Haar zugeneigt gewesen war.

„Wenn irgendwas… eskaliert, dann wäre es vielleicht nicht so gut, wenn die beiden in der Nähe sind. Die wissen zwar, dass die zwei nichts anstellen, aber vielleicht denkt jemand nicht nach wenn Abel und Kain nervös werden.“

Mit nervös meinte er, dass ihre beiden Hunde nach allem was geschehen war mehr als erpicht darauf waren auf ihre beiden Herrchen acht zu geben und am wenigsten würde Clarence sich verzeihen können, wenn einer von den beiden sich eine Kugel einfing, nur weil sie wegen ein bisschen Schreierei oder Unruhe Laut gaben.

Falls es Schreierei oder Unruhe gab. Oder schlimmeres.

Denn das, was Mo’Ann vor dem Clan angekündigt hatte als ein nettes Abendessen um sich besser kennenzulernen, konnte alles oder nichts sein. Es konnte tatäschlich nicht mehr bedeuten als einen netten Plausch, genauso gut konnte sie von dem Treffen mit Oliver Hazel und dem daraus resultierenden Chaos Wind bekommen haben – denn dass sie genau einen Tag nach Afarits Offenbarung ihre Einladung aussprach, fühlte sich nicht wie Zufall an.

Auf der anderen Seite aber hatte Clarence auch nicht vergessen, dass Mo’Ann durchaus mehr als nur diesen Grund besaß, um sie potentiell auf der Abschussliste zu haben.

Quid pro quo war eine der Grundregeln zwischen Jägern und einzelnen Clans. Erschoss man einen von denen, würde ein anderer Clan nicht ruhen, bis er auch jemand von den anderen vor die Flinte bekommen hatte. Das Gesetz der Rache war endlos fortzuspinnen je nachdem, wie viel Gewicht man dem eigenen Verlust zusprach und es wäre gelogen zu behaupten, dass Clarence eben jenen Grundsatz nicht auch für sich selbst bereits oft genug in Anspruch genommen hatte. Nicht umsonst hieß es in der Bibel: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmahl für Brandmahl, Wunde für Wunde und Strieme für Strieme.

Was dort nicht stand war Ehemann für Ehemann – doch genau einen solchen war Clarence Annedore schuldig geworden und nun lud sie ihn dazu ein, seinen Ehemann in ihr Herrschaftsgebiet mitzubringen.

‚Fast schon so, als würde sich das Schaf freiwillig selbst zur Schlachtbank führen‘, dachte er still, während er Matthew durch die offene Tür des Badezimmers hinweg betrchtete. Sein Mann war gegen das Abendessen mit der einstigen und noch immer im Stillen amtierenden First Lady des Clans gewesen und selbst wenn er beteuerte, dass er keine akuten spontanen Mordpläne gegen Mo’Ann hegte, wusste Claire nicht inwieweit man dem Wort des Jüngeren vertrauen konnte. Nicht, weil er befürchtete Cassie würde ihn anlügen, sondern weil es mit dem Affekt so eine Sache war, die man manchmal nicht unter Kontrolle hatte. Das wusste er selbst nur zu gut und was er sich selbst zutraute, das traute er auch Matthew zu. Und Mo’Ann, weshalb es sich von selbst erklärte, dass sie zwar nicht offensichtlich feindselig, aber sicher auch nicht unbewaffnet zu diesem Abendessen erscheinen würden.


Matthew C. Sky

Wenige Tage war es her als Afarit sich offenbart hatte und damit alles infrage gestellt hatte was die Vergangenheit und Zukunft betraf. Jenes Wesen hatte ihn von den Toten auferstehen lassen und seine Erinnerung an die Geschehnisse weitestgehend ausradiert - ein Akt der Gnade wie Matthew nun wusste, da der Mantel des Vergessens ihn nicht mehr umgab. 

Nicht eine einzige Nacht hatte er seitdem durchgeschlafen. Entweder war er gar nicht erst eingeschlafen oder aber er war schon wenige Stunden später wieder erwacht - geplagt von alptraumhaften Erinnerungen, die ihn selbst in das Reich der Wachen noch verfolgten. Er erinnerte sich an das Feuer in White Bone, an den Gestank von verbrannten Haaren und Haut, an Schreie und Tumult, an Tränen und an fliehende Scharen von Kindern. Die Hölle war nach White Bone gekommen - und hatte für Gerechtigkeit gesorgt. 

Afarit selbst hatte ihm zu keiner Zeit geschadet - eher das Gegenteil war der Fall, denn wäre dieses Wesen nicht, Matthew wäre nicht älter als dreizehn Jahre geworden. Alles was er seitdem erlebt und gesehen hatte - ob das Gute oder Schlechte - hatte er nur gesehen, weil der Dämon ihm die Glut des Lebens zurückgegeben hatte. 

Und trotzdem blieben Zweifel. Zweifel an den Motiven des Wesens. Zweifel an seiner Einflussnahme. Zweifel darüber wie kalkulierbar es war oder ob in Matthew eine Gefahr schlummerte die man nicht kontrollieren konnte. Der Dunkelhaarige hatte seit der Erkenntnis lange in sich hineingehört, hatte versucht zu ergründen ob er etwas an oder in sich spürte das nicht zu ihm gehörte. Etwas, dass vielleicht darauf hindeuten konnte, dass er nicht allein er selbst war. 

Doch das war nicht der Fall. Egal wie lange er grübelte und nachdachte. 

Matthew fühlte sich in keiner Sekunde anders oder besonders - es war nicht so als wäre mit der Offenbarung des Dämons etwas in ihm erwacht oder als hätte er sich ein neues Fähigkeitenfeld erschlossen. Er fühlte sich, wie er sich immer schon gefühlt hatte. Und trotzdem stand etwas zwischen ihm und Clarence und gleichsam etwas zwischen ihm und sich selbst - weil er sich einfach nicht sicher war nur er selbst zu sein. Es war merkwürdig und in den zurückliegenden Tagen hatte der junge Mann nicht ein einziges Mal versucht zu beschreiben wie es ihm ging. Vielleicht, weil er wusste, er würde nicht die richtige Worte finden. Vielleicht, weil er glaubte, dass es Clarence ähnlich ging. 

Der Ältere hatte sich redlich bemüht zurück in den Alltag zu finden. Aber seit Merton war ihr Zusammenleben nur noch eine Version dessen was vorher gewesen war. Sie sprachen miteinander, sie aßen miteinander, sie lagen nachts im selben Bett. Aber scherzten und lachten sie zusammen? Liebten sie sich in den stillen Nachtstunden innig?

Nein. Beide wussten Bescheid ohne darüber zu reden: 

War Afarit eine allgegenwärtige Gefahr, so waren auch die Menschen in Matthews Nähe in Gefahr, dann würde er weder in Falconry noch in irgendeiner anderen Siedlung oder Stadt bleiben können. Aber dieses Problem existierte vielleicht ohnehin schon bald nicht mehr - immerhin hatte die Clanverwalterin Mo‘Ann, Witwe des großen Nagi Tanka, sie zu einem kleinen Treffen eingeladen.  

Das hatte sie vor versammelter Mannschaft getan, was ein kluger Winkelzug gewesen war weil so jeder wusste, wer verantwortlich war, sollte ihr etwas zustoßen. 

Cassie sah zu seinem Mann ins Badezimmer und musterte ihn ein Weilchen still, ihm dabei zusehend, wie er seine Haare frisierte. 

„Ich denke wir sollten sie hier lassen.“, erwiderte er schließlich und wandte den Blick wieder ab. Schweigsam blickte er aus dem Fenster, hinaus in eine vom Schnee eingehüllte Welt. 

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie der Einladung gar nicht erst zugestimmt. Zu groß war die Gefahr, dass Oliver sie über das große Feuer informiert hatte. Oder sie die Fäden verwoben hatte und nun ein Bild vor sich sah bei dem offensichtlich wurde, dass ihr Mann nicht einfach so zu Tode gekommen war sondern Clarence der Verantwortliche war. Kurzum: er hielt das Treffen für eine Falle. 

„Ich hoffe nur, du weißt was du tust. Wenn wir ihr einmal gegenüberstehen und sie vielleicht Dinge weiß die uns schlecht dastehen lassen, dann können wir nicht einfach wieder hierherkommen.“ Im Falle einer Konfrontation würden die Dinge höchstwahrscheinlich noch schneller abwärts gehen als seit dem Gespräch mit dem Seher auf das Clarence bestanden hatte. 

„Wenn du nicht willst, dass die Sache aus dem Ruder läuft dann hast du besser ein paar Asse im Ärmel.“ 

Was er selbst im Ärmel hatte sollte besser nicht zum Vorschein kommen. Ein Kommentar den sich Matthew verkniff obwohl Clarence vermutlich ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf ging.


Clarence B. Sky

Es gab eine Zeit vor Matthew - und eine Zeit mit Matthew. Zwei verschiedene Ären eines Lebens, so wie man alle Erlebnisse ab einem gewissen Alter auf einem Zeitstrahl festmachen und unterteilen konnte.

Cassie würde niemals wissen wie sein Leben gewesen war, bevor er in das des Blonden geworfen worden war. Er würde nun kennenlernen was es bedeutete einem Clan anzugehören, doch er würde nie erfahren wie es sich anfühlte sein gesamtes Leben dort oben im Haus mit den anderen zu verbringen. Welche Verbindung man mit diesen Menschen schuf, die sich unter dem Mantel des Titels Clan als Familie verstand und definierte. Matthew würde nicht wissen wie es sich angefühlt hatte in Willow Creek zu leben. Welche Erfüllung Clarence einst darin gefunden hatte sein gesamtes Leben, all seine harte Arbeit und Zeit, Gott zu widmen und wie glücklich ihn das Streben danach gemacht hatte, gute Christen aus seinen Kindern zu machen. Wie glücklich ihn seine Kinder gemacht hatten.

Es war eine Ära, die längst abgeschlossen war. Die Zeit vor Matthew. So wie auch jene Ära abgeschlossen war, die sie vor ihrer Ehe miteinander verlebt hatten.

Zu glauben, dass zu jenen Punkten seines Lebens etwas bedeutend besser gewesen wäre als heute, war nichts als reine Nostalgie. Schon damals hatte es derart einschneidende Erlebnisse gegeben, dass es Claire damals unvorstellbar vorgekommen war, sein Leben unter solchen Umständen weiterzuführen. Er hatte gehadert, hatte gezweifelt und manchen Kampf gegen sich selbst so offensichtlich verloren, dass er nicht nur einmal bleibende Schäden aus jener Zeit davongetragen hatte. Doch genauso hatte er auch gelernt - nämlich, dass nicht nur jedes Hoch vergänglich war, sondern auch jedes Tief eines Tages wieder sein Ende fand. So wie auf die - in ihrer Nostalgie vermeintlich unbeschwerte - Zeit ohne Afarit eine Zeit mit Afarit folgte und sie auch lernen würden damit umzugehen. So wie sie bislang jede Hürde gemeinsam gemeistert und jedes Tief gemeinsam überwunden hatten.

Die Dinge, die Clarence seit der Offenbarung des Feuerdämons in Merton beschäftigten, hallten ihm schon seit der ersten Wärmewoge so klar durch den Kopf, dass er seine eigenen Gedanken seitdem nicht mehr richtig los wurde. Sie hielten ihn nachts wach und tagsüber müde und jene Stunden, die sie sie sonst normalerweise damit verbringen würden sich in der Nacht in Wollust zu verlieren, lagen sie nun schweigend beieinander. Nicht alleine zwar - und doch jeder für sich, denn so klar wie seine Gedanken auch waren, so fiel es dem Jäger doch umso schwerer sie in Worte zu fassen. Manche Dinge waren es nicht wert ausgesprochen zu werden und andere Dinge waren in ihrem Inhalt so weitreichend, dass sie Matthew nicht gerecht wurden und drohten mehr zerstören zu können als sie zueinander zu bringen.

„Mehr Asse als das Feuer deiner Leidenschaft und zwei gepackte Rucksäcke draußen im Schnee, meinst du wohl“, griff er den Vorwurf seines Mannes monoton auf und wusch sich ein letztes Mal die Pomade von den Fingern. Natürlich war er nicht erpicht auf einen Tumult, auf eine Auseinandersetzung oder eine Flucht durch den tiefen Winterschnee und trotzdem war er nicht naiv genug, um nicht auf genau all das gefasst zu sein.

Dabei war es nicht so, als würde er die Bedenken seines Mannes nicht verstehen oder gar nicht erst nachvollziehen können. Oh wie gerne hätte er Mo‘Anns Anliegen noch vor allen einfach im Keim erstickt, wäre gar nicht erst weiter darauf eingegangen und hätte sie so lange wegignoriert, bis sie das Thema Matthew einfach irgendwann unter den Tisch fallen ließ. Und womöglich, eventuell vielleicht, hätte es auch den ein oder anderen gegeben, der ihm darin den Rücken gestärkt und Mo’Anns Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt hätte, weg von dem was Nagi passiert war und wer an seiner Stelle an Clarence‘ Seite zurück nach Falconry gekehrt war. Aber viel wahrscheinlicher war es, dass ein Abwiegeln ihrer Einladung weitere Probleme nach sich gezogen hätte und so gerne wie Matthew es auch herunter spielte, so greifbar war doch auch die Gefahr, dass Mo‘Ann den Blonden dafür zum Mittelpunkt einer Loyalitätsdiskussion erklärte.

Musste er seinem Mann etwa noch erklären was das bedeutete? - Vielleicht.

Vielleicht tat er Cassie mit seinen düsteren Gedanken aber auch einfach nur unheimlich Unrecht, so wie vermutlich die vergangenen fünf Tage schon.

„Noch ist es nicht zu spät. Wenn du willst, gehe ich alleine hin und entschuldige dich als unpässlich. Oder wir nehmen die Hunde an die Leine und verlassen unter dem Vorwand einer letzten Abendrunde die Stadt. Aber dann müssen wir jetzt los, nicht erst gleich.“ - Lieblos warf er das Handtuch, mit dem er seine Finger abgetrocknet hatte, auf ihr Bett neben das Sammelsurium von Waffen, das ihnen mittlerweile wieder gehörte. Das ein oder andere hatte ihren Absturz mit dem Zeppelin überlebt oder war neu hinzu gekommen durch das Gepäck von Fremden, manches hatte Matthew von seiner Reise nach Falconry mitgebracht. Ein paar ältere Schusswaffen hatten in Nagis alten Verstecken in der Stadt auf ihn gewartet - sicherlich hätte er auch das ein oder andere aus der Waffenkammer des Clans mitgehen lassen können, doch die Gefahr hierbei aufzufallen war ihm zu groß und der damit einhergehende Eindruck zu gefährlich erschienen.

War Matthew in der Verfassung, nach seiner langen Reise jetzt schon wieder eine weitere durch den dichten Schnee auf sich zu nehmen? Sicher… ganz bestimmt sogar. Eher als Clarence jedenfalls, wobei ihn eher seine Zermürbung davon abhielt als sein körperlicher Zustand, der sich mit purer Dickköpfigkeit schon immer gut hatte überbrücken lassen.


Matthew C. Sky

In den letzten Tagen hatten sie das Thema Afarit ebenso gemieden wie das Thema Bruderschaft. Sollte Mo‘Ann nun auch noch herausbekommen haben, dass ihr Gatte von Clarence ermordet worden war, so würde sich zu der kleinen Liste an Problemen noch ein weiteres und vermutlich sehr akutes Problem gesellen. Eines welches man nicht einfach totschweigen konnte, denn Mo‘Ann würde dafür sorgen, dass jeder in Falconry davon erfuhr. Und in diesem Fall würden sie wahrscheinlich nicht mehr hierher zurückkommen. 

„Wird wohl auch in deinem Sinne sein, meine Leidenschaft nicht mit zum Treffen zu nehmen.“, murmelte Cassie beinahe unverständlich und blickte nochmals zu Clarence. Der Blonde war mittlerweile aus dem kleinen Badezimmer gekommen und hatte das Handtuch auf das Bett neben ihr Sammelsurium an Waffen geworfen. 

Matt fühlte sich bei dem Gedanken an den Besuch derart unbehaglich, dass es ihm widerstrebte dorthin zu gehen - aber der Vorschlag des Älteren war trotzdem keine Option. 

Er schnaubte freudlos, verlagerte sein Gewicht gegen die Stuhllehne und drückte sich mit den Händen kurz von der Tischkante weg, woraufhin der Stuhl sacht nach hinten kippte und nur noch auf den zwei hinteren Beinen balancierte. 

„Wenn wir hier abhauen, dann werden sie uns suchen und irgendwann finden. Du hast selbst gesagt, dass man als Vogelfreier auch von anderen Clans verfolgt wird. Wir können nicht vor der Bruderschaft und allen Clans der Welt weglaufen.“ - eine zeitlang würde das vielleicht funktionieren, sie waren gut darin immer in Bewegung zu bleiben, sich unauffällig zu verhalten und abseits der Wege zu navigieren. 

Aber sie wussten beide, dass der Hase durch viele Jäger zu Tode kam und sie beide würden da keine Ausnahme bilden. 

„Ich hab mit Camie geredet.“ - sagte er schließlich und führte nach einem kurzen Moment weiter aus: „Für den Fall, dass es nicht so läuft wie du glaubst und wir abhauen müssen. Er wird die Hunde hier rausholen und mit Addy vor die Stadt bringen. Sie werden unsere Fährte aufnehmen und sollten wir mal wieder sowas wie Glück haben, werden sie uns finden.“

Camie den er dereinst nur die Elster genannt hatte, war unbestreitbar zu Matthews engstem Freund geworden. Zusammen mit Addy war er eingeweiht in ihren Plan, Falconry zu verlassen sollte Mo‘Ann herausgefunden haben was damals mit Nagi passiert war. 

„Mir ist noch immer nicht klar, was es deiner Meinung nach ändert, wenn ich hierbleibe. Meinst du, wenn ich nicht dabei bin wird sie dich nicht konfrontieren, sollte sie Bescheid wissen?“ - eine rhetorische Frage, deren Antwort Nein lautete. Wenn Mo‘Ann etwas wusste, sei es über die Verschwörung oder Afarit, dann waren sie geliefert. 

„Ich glaube nicht, dass das was ändert. Wenn sie über dich oder mich Bescheid weiß, dann spielt es keine Rolle ob du mich als unpässlich entschuldigst oder nicht. Den einzigen Unterschied den es macht ist der, dass du alleine mit ihr bist.“ - Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre das Matthew reichlich egal gewesen. In jener Zeit hatte er auf ihren Reisen im Zelt geschlafen und Clarence unter freiem Himmel. 

In dieser Zeit hatte er den Blonden argwöhnisch im Auge behalten für den Fall, dass er doch für die Bruderschaft arbeitete und ihn ausliefern wollte. In jener Zeit hatten sie sich beide um ihren eigenen Kram gekümmert und sich weitestgehend nicht in die Angelegenheiten des anderen eingemischt. 

Seine Version von damals hätte Clarence alleine zu der Clanführerin gehen lassen - weil Falconry seine Idee gewesen war, weil der Clan sein Clan war, weil er Nagi getötet hatte, weil all das seine Sache war. 

Aber so lief es schon lange nicht mehr zwischen ihnen. Mittlerweile gab es keine ‚Das-ist-deine-Angelegenheit‘ Attitüde mehr. Sie waren ein Team, sie waren beste Freunde, sie waren Verbündete auf jeder Ebene und ihre Schicksale waren auf untrennbare Weise miteinander verwoben. So würde es immer sein, bis zum letzten Moment. 

„Wir gehen dort gemeinsam hin - und sei es nur damit ich dir zurufen kann „Ich hab’s dir doch gesagt“, bevor sie uns einsperren oder lynchen.“ Das würde der Größere definitiv zu hören bekommen, da konnte er sich sicher sein. 

Was noch sicher war, war die Tatsache, dass sie sich allmählich beeilen mussten.

„Hast du dich mittlerweile entschieden was du mitnehmen willst? Ich würde dir ja die Flinte empfehlen, aber die kannst du schlecht im Stiefel verstecken.“ - er selbst trug lediglich zwei Messer bei sich. Mehr würde er nicht brauchen um der Alten im Zweifel die Kehle aufzuschlitzen- und wenn es dazu kam, dann war die Sache sowieso eskaliert und sie würden improvisieren müssen. „Wir sollten los.“


Clarence B. Sky

Ach, plötzlich machte sich sein Mann also Sorgen darüber was passierte, wenn sämtliche Clans der Welt hinter ihnen her waren. Als wäre diese Gefahr erst jetzt ganz akut aufgetreten und nicht präsent gewesen als Matthew vor einigen Tagen noch davon überzeugt gewesen war, er könne abends spontan losgehen und Mo’Ann des nachts in ihren heimischen Gemächern meucheln. Vielleicht war es dem Jüngeren auch erst jetzt so richtig bewusst geworden was es bedeutete, dass er einen Jäger geheiratet hatte.

Wahrlich, das Leben in einem Clan und alles was dazu gehörte war während ihrer Zeit in Coral Valley nicht wirklich präsent gewesen und Clarence konnte seinem Mann keinen Vorwurf machen, dass er sich das damals nicht genug überlegt hätte. Viele Dinge hatte er ihm auch einfach verschwiegen – seinem Talent geschuldet Dinge einfach bis zur absoluten Eskalation zu verdrängen in der Hoffnung, all seine Probleme könnten sich am Ende schon irgendwie ganz von alleine auflösen, wenn er sie nur ausdauernd genug ignorierte.

Auch die Konsequenzen dessen, was es bedeutete wieder hier in Falconry Gardens zu sein, hatte er lange Zeit in eine Schublade gesteckt und dort zu vergessen versucht. Das war am Anfang auch recht gut gelungen, immerhin hatte ihn Matthews Verschwinden ganz exzellent von seinen Sorgen um den Clan abgelenkt. Sogar Mo’Ann, die in ihrer Art zumeist emotional distanzierter Natur war, hatte ihm die Gespräche, die er ihr aus offensichtlichen Gründen schuldig war, eine Zeit lang aufgeschoben – und ihn stattdessen mit Widerwillen darin unterstützt, die Gesuche nach seinem Mann zu verfassen.

Aber vielleicht hatte er sich diesen Widerwillen auch nur eingebildet. Vielleicht interpretierte er aber auch zu viel distanzierte Zuneigung in diese Geste hinein.

Vielleicht wetzte sie bereits die Messer unter dem Tisch, um sie für den einen, den anderen oder aber einem ganzen Bündel an Gründen aus dem Haus zu jagen oder hinzurichten.

„Hm“, entgegnete der Blonde also mit einem einsilbigen Brummen, ein Laut der Cassie schließlich dazu animierte daraus scheinbar ein komplettes zweiseitiges Gespräch zu formen und ihm folgend von Camie zu erzählen. Camie, seinem guten Freund, der ihm einstmals völlig zuwider gewesen war und der auf zaubersame Art und Weise ein kleine Wunderheilung durchlebt hatte, seitdem Matthew wieder da war. Oh wie schwer waren nur seine Wunden gewesen, wie schwer seine Schmerzen. Alles war oh so schwer gewesen. Oh wie schwer fällt es mir, diese Treppen zu steigen und oh wie dankbar bin ich nur dafür, dass mir den ganzen Tag jemand mein Essen ans Bett bringt, damit ich mir nur noch mein kaltes Bier draußen von der Fensterbank holen muss.

Und oh wie schnell kam der arme Schwerverletzte nur wieder auf die Beine, seitdem Matthew sich ganz persönlich um seine Genesung und seine täglichen Übungen einsetzte. Aber wer war er, darüber zu urteilen? Seitdem Cassie wieder da war und auch auf den Blonden wieder Achtgab, sicherstellte, dass er seine Antibiotika einnahm, seinen Verband wechselte und seine Schulter so schonte wie es der Quacksalber vorgegeben hatte, schienen die Wunden des Bisses wie von Zauberhand zu heilen und auch die Schmerzen in seiner Schulter waren deutlich weniger geworden.

Seltsame Welt.

Mit erhobenen Brauen lauschte er der Schlussfolgerung seines Mannes, welcher schließlich feststellte welchen einzigen Unterschied es machen würde ihn Zuhause zu lassen: Nämlich jenen, dass Clarence dann alleine mit Mo’Ann wäre und damit hatte Cassie des Pudels Kern vielleicht endlich erkannt. Oder auch nicht – immerhin gab es in ihrem kleinen Orbit schon lange nicht mehr die Option, dass sich einer von ihnen in Gefahr begab, nur damit der andere in Sicherheit war und flüchten konnte. Diese Möglichkeit war so fernab von allem, dass sie nicht mal dann in Frage kam, wenn Cassie in einen riesigen unterirdischen Spinnenbau stürzte oder Clarence sich in ein Nest voller Hornissen begab, in dem sie entweder als Teil des Schwarms von der inoffiziellen Königin akzeptiert werden würden, oder aber von allen anderen zu Tode gehetzt.

Noch während er sich zwei der am Vorabend noch frisch polierten Klingen in seinen Holstern am Knöchel und unter seiner Weste verstaute, war es schließlich der lapidare Kommentar seines Mannes warum dieser ihn begleiten wollte, der Clarence zum ersten Mal seit Tagen kurz leise auflachen und den Kopf schütteln ließ. Es war ehrliche Erheiterung die seine Sorge um die kommenden Stunden für einen Augenblick verdrängte und die den Blonden zu Cassie hinüber blicken ließ, auf eine Weise die sagte, dass er sich dieses Szenario ganz genau vorstellen konnte. Denn genau so würde es wohl tatsächlich ablaufen, wenn man sie beide hochgehen ließ. Hoffentlich wusste Matthew, dass er ihn selbst dann noch für solche und andere dummen Kommentare liebte, wenn er ihm sein ‚Hab’s dir doch gesagt‘ an den Kopf warf, während man an selbigen eine Knarre hielt um sie abzuschießen.

„Hör gefälligst auf mit dem Stuhl zu kippeln. Meinst du nicht, du hattest letztes Jahr genug Kopfverletzungen? Oder willst du eine Sammlung aufmachen und dieses Jahr noch ein paar dazu gewinnen?“, stichelte er in altbekannter Manier zurück, doch schließlich mit einer kurzen Handbewegung andeutend, dass da mittlerweile vermutlich sowieso nicht mehr viel übrig war, das nun noch kaputt gehen konnte. Bei Cassie war wahrscheinlich Hopfen und Malz schon genauso verloren wie bei ihm selbst, deshalb hielten sie einander mit all ihren Launen auch so hervorragend aus.

„Die Frau hat über zwei Jahre auf mich gewartet. Ich denke, Mo’Ann hält es also aus eine Weile alleine am gedeckten Tisch zu sitzen bis wir da sind.“ – Nicht, dass das sein Stil wäre, aber er könnte ihn sich ja angewöhnen. Normalerweise brauchte Matthew auch deutlich länger um sich fertig zu machen und nicht selten waren sie wegen ihm erst einige Stunden nach der verabredeten Zeit von einer Ortschaft auf ihre weitere Wanderung aufgebrochen. Dass ausgerechnet der Schnösel heute auf seinen wilden Kauz wartete, war alleine dem Umstand geschuldet, dass er der Witwe Nagi Tankas nicht mehr Zeit und Aufwand hatte schenken wollen als sie es seiner Meinung nach wert war.

„Nein, ihr zwei bleibt hier. Legt euch auf eure Decke“, wies er Abel und Kain ruhig an, die angesichts seines Überstreifens von Mantel und Stiefeln aufgeregt ihren Platz verlassen hatten, um einem vermeintlichen Spaziergang entgegen zu fiebern. „Vielleicht sollten wir absichtlich ein bisschen zu spät kommen. Dann können wir sagen, sie wäre furchtbar aufgebracht gewesen über unsere Unzuverlässigkeit und im entstandenen Handgemenge ist ein kleines Unglück geschehen, bei dem sie einfach ins Besteck gefallen ist. Sowas passiert schon mal, glaub ich.“

Sahen Cassies Klingen wie das Besteck aus? – Wohl kaum. Aber bei der Fingerfertigkeit seines Mannes bezweifelte er nicht, dass der einstige Söldner jemandem auch mit einem stumpfen Buttermesser die Kehle durchtrennen konnte.


Matthew C. Sky

Es mutete vielleicht merkwürdig an, wie abgeklärt beide junge Männer im Angesicht einer möglicherweise fatalen Schicksalswendung waren. 

Ein beiläufiges Wort hier, ein paar Klingen - gut versteckt - da. 

Seit Tagen war das leise, kurze Lachen von Clarence der erste derartige Laut und auch wenn Matthew es im Moment nicht sagte, so war das Geräusch für ihn wie ein Sonnenstrahl an einem trüben Regentag. 

Der Blonde war die Liebe seines Lebens und egal welche Gefahren auch vor ihnen liegen mochten, daran würde sich nie etwas ändern. 

Es war so unsäglich viel geschehen in den zurückliegenden Monaten, sie waren durch Blut, Schweiß und Tränen gegangen. 

Hatten sich verloren und wiedergefunden. Und nun standen sie an einem weiteren Scheideweg. Dass das so war, wussten sie instinktiv beide und trotzdem war weglaufen keine Option. 

Sie würden sich den Konsequenzen ihres Handels heute stellen - mit allem was dazugehörte. 

Die Hunde vorerst sicher verwahrt in dem kleinen Häuschen welches seit ein paar Wochen von ihnen gemeinsam bewohnt wurde, stiefelte Matthew den schneebedeckten Weg entlang. 

Es war bitterkalt und es war bereits dämmerig, sodass es nicht mehr lange dauern würde bis die Laternen der Hauptstraße entzündet wurden. Um diese Zeit waren kaum noch Menschen unterwegs, die Läden hatten geschlossen, die Tavernen geöffnet - und so war jeder der nicht daheim erwartet wurde, vermutlich in einem der Schankhäuser eingekehrt. Cassie, der ein kleines Stückchen vor Clarence gelaufen war, blieb schließlich an der Ecke des Gehwegs stehen und blickte über die Schulter zurück zu dem Größeren, der ein so ernstes Gesicht machte wie es typisch für den Jäger war. 

Weiß kondensierte sein Atem vor seinen Lippen und fein hatte der Frost seine Haarspitzen eingefroren. Die Luft war so klar, dass sie beim tiefen Luftholen in der Lunge stach - aber sie war trotzdem herrlich. 

Unter anderen Umständen hätte Matthew sich über den abendlichen Spaziergang gefreut, hätte vermutlich eine Schneeballschlacht angezettelt oder wäre mit dem Blonden in eine der einsamen Gassen abgebogen um ihn - an eine Häuserwand gelehnt - inmitten von Schnee und Kälte zu küssen bis sie den Frost gar nicht mehr spürten. 

Aber das war etwas, dass selbst ohne Mo‘Ann‘s Einladung nicht passieren würde. Sie fühlten sich beide unwohl wegen Afarit, Clarence mehr als Matt. Aber selbst der Dunkelhaarige zweifelte mittlerweile daran ob sein Gespür richtig war und der Dämon nicht allgegenwärtig. 

Mit einem sachten Kopfschütteln verwarf er die Gedanken daran - sie hatten aktuell andere Probleme als fehlende körperliche Nähe. 

„Wenn wir noch langsamer gehen, frieren wir hier an.“

Dass Cassiel gerade wartete lag nicht daran, dass er sich hier nicht auskannte - denn das Clanhaus würde er ohne Mühe finden. Aber egal wie die Stimmung auch war und wie mies die Situation auch werden würde: er wollte mit Clarence zusammen gehen. 

Wenn das hier ihre letzten friedlichen Momente in der Stadt waren, dann wollte er sie mit dem Blonden verleben. 

„Vielleicht überrascht sie uns ja und es ist wirklich nur eine Essenseinladung. Sie tafelt das gute Zeug auf, wir plaudern ein bisschen und wünschen uns eine gute Nacht ehe wir nach Hause gehen.“ - eine unwahrscheinliche Option und die Art wie Matthew lächelte machte deutlich, wie wenig er an seine Worte glaubte. 

Gemeinsam gingen sie schließlich weiter, setzten ihren Weg durch die beschauliche Stadt fort und erklommen letztlich die Treppe hinauf zum Clanhaus. Dort herrschte noch immer geschäftiges Treiben auch wenn die Mehrheit der Mitglieder schon in ihren Zimmern verschwunden war. 

Eine kleine Gruppe - darunter Ryan, Odette, Kevin und eine Frau deren Namen Matthew nicht kannte - standen um ein Feuer auf dem Hof herum und unterhielten sich, wobei Bier und Met zu fließen schien. 

„Seht mal einer an, Sky und sein Betthäschen!“, rief Ryan herüber und bekam von Odette den Ellenbogen in die Seite gerammt. Was sie zu ihm sagte war nicht zu verstehen, aber es musste etwas sein das Ryan nicht gefiel. Er presst die Lippen aufeinander und verfolgte Clarence und Matt mit giftigen Blicken. 

„Ich wünschte ich wäre mal zwei Minuten mit dem Clown allein.“, knurrte Cassie angefressen als sie das Haupthaus betreten hatten. 

Den Schnee von seinen Sachen klopfend blickte er sich in dem dunklen Flur um. Er war schon ein paar mal hier gewesen, was aber nicht hieß, dass er das gesamte Gebäude schon zu Gesicht bekommen hatte. 

Von hier an übernahm Clarence also wieder die Führung und lotste Matt durch ein halbes Dutzend Korridore und Räume bevor sie endlich am Ziel waren. Vor einer großen zweiflügeligen Tür mit floralen Schnitzereien blieben sie letztlich stehen. 

Zögerlich sah Cassie kurz zu seinem Mann auf, atmete einmal tief durch und sagte schließlich so sonnig, dass man ihm die Anspannung kaum anmerkte: „Lassen wir sie nicht länger warten. Ich hab außerdem einen Mordshunger.“


Clarence B. Sky

Unter anderen Umständen, mit einem anderen Ziel, in einer anderen Stimmungslage… da hätte Clarence sich es nicht nehmen lassen, das Missfallen seines Mannes aufzugreifen und die Rufe der kleinen Gruppe als Nonsens aufzudecken.

Schon lange war er darüber hinweg sich für dumme Kommentare von anderen zu interessieren. Was ihn einstmals bedrückt und beschämt hatte – nämlich die Frage danach, was man wohl von ihm halten würde wenn er gemeinsam mit einem Mann gesehen wurde – spielte längst keine Rolle mehr in seinem Denken und Sein. Einen Großteil dieser Wesensänderung hatte er Matthew zu verdanken, der mit seiner beharrlichen Geduld und seinem Verständnis dafür gesorgt hatte, dass der Christ sich niemals auf nur für eine Sekunde zu etwas gedrängt oder nicht ernst genommen gefühlt hatte. Cassie hatte das Unwohlsein seines Partners akzeptiert und respektiert und im Gegenzug hatte Clarence damit begonnen sich auf eine Art und Weise sicher bei eben jenem Kerl zu fühlen, den er früher noch als Taugenichts oder unzuverlässigen Schnösel deklariert hatte. Heute war jener Mann aber nichts mehr von alledem außer sein Ehemann Matthew Sky. Sky – der sein blondes Betthäschen dabei hatte, wie es Claire neckend auf der Zunge lag. Doch es war ihm nicht nach Scherzen zumute, genauso wenig wie Matthew sicher danach war.

„Du solltest besser keinen Hunger mitbringen. Wer weiß, was unter dem Essen ist. Ich traue Kevin zwar nichts zu, aber… meine Hand leg ich für den Burschen trotzdem nicht ins Feuer“, murmelte Clarence leise und hob die Hand um an den detailliert gearbeiteten Flügeltüren anzuklopfen, zögerte jedoch für einen Moment.

Es war ruhig hier hinten, fast so wie im Rest des Hauses. Der Winter mit seinem frühen Abendanbruch machte die Jäger träge, was zweifelsohne auch daran lag, dass die Leute kaum aus dem Haus kamen um sich ein wenig draußen auszutoben. Das konnte ihnen zum Verhängnis werden genauso wie es ihnen potentiell zugutekam, denn auf diese Weise waren zu viele Leute im Haus um spontan die Leichen zweier großer junger Männer heimlich heraus zu schaffen. Doch genauso viele Nachteile brachte die Anwesenheit der anderen mit sich.

Einer davon war, dass er Matthew in den vergangenen zwei Wochen kaum durchs Haus hatte schmuggeln können ohne mit ihm aufzufallen. Die Besuche für Cameron waren eine willkommene Ausrede gewesen wieso er das Haus des Clans betrat, doch ansonsten war es eher keine Regel, dass Angehörige hier einfach ein- und ausgingen wie sie wollten. Ein längeres Verweilen oder gar eine Führung waren dadurch nie eine Option gewesen und um ehrlich zu sein war das den Blonden auch immer mehr als Recht gewesen, immerhin gab es hier nicht nur Räumlichkeiten zu betrachten, sondern vor allem auch Fotografien und Zeichnungen, die die Geschichte des Clans dokumentierten. Nur auf wenigen war Clarence selbst zu sehen, wenn überhaupt nur irgendwo im Hintergrund – dafür hatte er früher schon tunlichst durch grobe Vernichtung gesorgt, sobald irgendwo eines an der Wand aufgetaucht war – aber schon deutlich anders verhielt sich das mit Nathan, dessen Gesicht im Haus vom ein oder anderen Rahmen geziert wurde. Ein Anblick, den Clarence gewöhnt war und den er doch versucht hatte Cassie zu ersparen wo es nur ging, was bei einem längeren Aufenthalt in Mo’Anns Gefilden wohl kaum möglich war.

Still beugte er sich zu seinem Mann hinab, suchte und fand die fremden Lippen und bedachte sie mit einem festen Kuss, der von der Sehnsucht nach Matthew und einem Leben mit ihm sprach.

Hatten sie in den vergangenen Monaten schon schlimmeres erlebt? Ja, bestimmt. – Aber hatten sie der Gefahr dabei so offensichtlich und wissentlich ins Auge geblickt wie an diesem Abend?

Vermutlich nicht.

Ich sag dir erst wieder was du mir bedeutest, wenn wir heil Zuhause angekommen sind. Alle beide. Verstanden?“, wollte er leise von Cassie wissen, was nichts anderes bedeutete als ihm das Versrechen abzunehmen, dass er sich verdammt nochmal besser nicht umbringen ließ wenn er in seinem Leben noch mal von Claire zu hören bekommen wollte, dass er ihn liebte. Und Gott, wie sehr er diesen Kerl liebte, auch wenn er ihn in den vergangenen Tagen kaum angefasst hatte.

Kurz betrachtete er sich den Jüngeren noch für einen Augenblick, bis das Klopfen an der hölzernen Tür und das anschließende Quietschen der alten Scharniere schließlich die Ruhe auf dem Korridor unterbrach, als Clarence die Türen für sie öffnete ohne auf Einlass zu warten.

Entgegen seiner Erwartung war es kein Fallbeil das beim Eintritt in die Bibliothek auf sie einschlug, sondern der Geruch von deftigem Essen der ihm in die Nase stieg, gepaart mit dem Geruch von alten Büchern und ledernen Einbänden, die zum Teil schon völlig abgegriffen waren.

Es war nun wirklich nicht so, als hätte in ihm irgendein unerwartetes für diese Teile erwacht, kaum dass er sich von Matthew letztlich doch noch dazu hatte breit schlagen lassen Lesen zu lernen. Im Vergleich zu seinem Mann oder etwa Mo’Ann konnte er das noch immer schlecht als recht, aber es reichte für den ein oder anderen Notizzettel oder ein nicht allzu dickes Buch, das in gut leserlicher Schrift abgedruckt war. Vieles von dem Schrott, den Nagis Witwe hier beherbergte, würde Claire vermutlich nicht mal in zehn Jahren entziffern können – weil er weder die abgehobenen Begriffe kannte, die ihm manchmal über die Füße stolperten, aber auch nicht all die unzähligen Sprachen, die sie gewissenhaft schon seit Jahren versuchte in die ihrige zu übersetzen.

Das, was sie dieses Mal in der Hand hielt, war jedoch ganz offensichtlich kein Buch sondern ein mehrseitiges Pergament, das dem Clan per Falke zugetragen worden war und das sie durch eine schmale, halbmondförmige Brille mit besorgter Mine musterte, ohne zu ihnen aufzublicken.

„Sind wir zu spät?“ – nicht, dass es ihn ernsthaft interessierte ob das Essen in den abgedeckten Wannen auf dem Tisch trocken oder der Topf über dem Kaminfeuer zu sehr eingekocht war. Ein tonloses Winken mit ihrer freien Hand sollte wohl bedeuten, dass alles in Ordnung war und sie es sich bequem machen sollten während sie ihre Korrespondenz zu Ende las.

Wann immer ihr ein wichtiger Name oder Begriff auffiel, sprach Mo’Ann ihn beim Lesen tonlos mit – eine alte Angewohnheit die Clarence schon von ihr kannte, immerhin hatte er unzählige Stunden in diesem Raum verbracht, wenn er mit Nagi in der Stadt gewesen war. Schon seltsam, dass ein Raum voller Dinge, die einen so wenig interessierten, so ein zentraler Ort für einen sein konnte.

Beiläufig musterte er Mo’Ann, die am von ihnen abgewendeten Kopf des Tisches saß. Ein Platz der dafür Sorge trug, dass ihr das Erscheinen ihres Besuches ganz sicher nicht entgehen würde und der ihre Präsenz demonstrierte, obwohl ihr Arbeitsplatz eigentlich etwas weiter ab auf der kleinen Empore lag, wo sie ihren Schreibtisch und vor allem den Briefverkehr des Clans regelte.

Es wäre gelogen zu behaupten, dass Mo’Ann in ihrer Jugendzeit eine schöner anzusehende Frau gewesen wäre als jetzt. Clarence kannte Bilder von ihr, auf denen sie halb verhüllt in den Schrifthallen eben jenes Kosters zu sehen war, in dem sie ihre Leidenschaft für das geschriebene Wort und für Fremdsprachen entdeckt hatte. Ihr Haupt war durch alte Brandnarben entstellt gewesen und das bisschen dunkle Haar, das ihr geblieben war, hatte optisch nicht gerettet was das Feuer ihr noch gelassen hatte. Genauso wenig allerdings hatte die viele bunte Farbe ihre Weiblichkeit aufgewertet – aber das hatte es bei Adrianna auch nicht getan und wer war er schon, darüber ein Urteil zu fällen.

Trotzdem waren es eben jene düsterten Bilder in Gemeinsamkeit mit ihren hinter der Lesebrille dunkel geschminkten Augen, die ihr eine deutliche und dominante Präsenz im Raum verliehen. Am Kopf der dunklen Tafel und im flackernden Schein des Kronleuchters über selbiger hatte sie eine Art an sich, die sich mit bloßen Worten kaum beschreiben ließ. Eines Tages werde ich meine Frau hier drin nicht mehr wiederfinden, weil sie mit all ihren Büchern verschmolzen ist, hatte Nathan ihm gegenüber mal verlauten lassen und so wie sie dort saß wusste Clarence, was sein einstiger Lehrmeister damit gemein hatte. Es war die gleiche vertiefte Art die Matthew manchmal an sich hatte, wenn er ein Buch las und gerade an einer besonders wichtigen Stelle versackt war.

„Eric Amber hat geschrieben“, war schließlich das Erste was nach einigen Momenten wieder zögerlich über ihre Lippen drang, während sie ein weiteres Blatt Pergament auf ihren Schoß legte und damit begann die letzte Seite des Briefes zu überfliegen.

„Amber?“ - Ein Name, der Clarence kurz stocken ließ während er sich nicht sicher war ob es an der Zeit war sich schon zu setzen, ob er lieber das warm gehaltene Essen vom Kamin holen sollte damit es schneller vorbei war oder ob er Matthew erst eine zweistündige Rundführung durch die heiligen Hallen der Bibliothek geben sollte, bis Mo’Ann sich dazu herab ließ ihnen endlich ihre wertvolle Zeit zukommen zu lassen. „Eric Amber? Was will der Trottel denn jetzt? Sag bloß, er schreibt wegen Barclay.“

„Nicht nur. Aber auch.“

Kurz warf er Matthew einen Blick von der Seite her zu, bevor er die zum Teil schon gedeckte Tafel hinreichender musterte. Auf den langen Seiten waren die Plätze eingedeckt und wenn Mo’Ann nicht gerade erwartete, dass er gemeinsam mit ihr seinen Mann befragte, schien die Frage nach der Platzordnung bereits ungefragt geklärt zu sein. Nicht, dass es das Essen irgendwie angenehmer machen würde dieser Frau gemeinsam gegenüber zu sitzen.

„Falls er Blut spenden will, kommt er ein paar Wochen zu spät“, brummte Clarence unwillig und erntete sich dafür den empört tadelnden Blick einer älteren Dame, die für derlei abstruses Geplapper nicht viel übrig zu haben schien. Erstmalig musterte sie schließlich ihre Besucher über den Rand ihrer Brillengläser hinweg und empfing Matthew, der hier als einzig Anwesender tatsächlich Gast und nicht hier Zuhause war, mit einem stummen Nicken, nach dem sie einladend auf die beiden nebeneinander eingedeckten Plätze deutete.

„Wie es scheint, haben Golden Cross es nun doch offiziell verkündet, dass Bonnie und Clyde verloren gegangen sind. Es hat sie zwar noch niemand gesichtet, aber Eric Amber scheint angesichts der bevorstehenden Zeremonien ein wenig Heimweh zu empfinden und schlägt vor, ob man nicht gemeinsame Sache auf der Suche nach ihnen machen will.“

„Vielleicht hat ihm in Poison Ivy die Sonne zu lange auf den Kopf geschienen. Kann ich mir nicht anders erklären.“ - Clarence, der sich unweit zu Mo’Ann niedergelassen hatte – auf jenem Platz, der zumindest für den Moment zwischen ihr und Matthew lag so lange die Jägerin noch vor Kopf saß – zupfte den Saum seines Pullovers gerade. Alleine der Gedanke daran mit diesem Kerl irgendetwas gemeinsam zu unternehmen war so unangenehm, dass sich der Blonde lieber noch auf ein zweites Abendessen mit Mo’Ann einlassen würde.

„Ja, vielleicht“, stimmte sie ihm schließlich dünn zu, faltete die Pergamente wieder zusammen und nahm die Brille ab, um ihre Korrespondenz für einen Augenblick im Schoß und ihren Blick auf Matthew ruhen zu lassen. Eindringlich schienen sich ihre dunklen Iriden jedes Detail von ihm einzuprägen, ähnlich wie sie ihn bereits beim Neujahrsessen des Clas bereits gemustert hatte und die Aufmerksamkeit, die sie nun ihrem Mann schenkte wo der Brief sie nicht mehr benötigte, hätte Claires Geschmack nach auch gerne noch einen Moment länger auf den Pergamenten ruhen können.

„Warst du schon hier oben? Clarence hat erzählt, du läsest viel“, erhob sie schließlich ihre Stimme wieder nach einer für den Blonden gefühlten Ewigkeit, die in Wahrheit nicht mal den Bruchteil einer Sekunde gedauert hatte. „Eine erfrischende Neuigkeit. Zuweilen bin ich hier nicht von besonders vielen umgeben, die ein Buch in ihren Händen zu würdigen wissen. Das nützlichste, was die meisten darin sehen, ist die Möglichkeit die Kamine damit anzuzünden. Es hat schon einige Tage in den letzten Wintern gegeben, da musste ich abends aus eben jenem Grund hier die Türen abschließen.“


Matthew C. Sky

Still musterte Matthew die reichlich verzierte Holztür auf denen Schnitzereien von Falken und floralen Ornamenten prangten. 

Dann sah er zu Clarence, der vermutlich wie immer auch heute recht hatte, wenn er dazu mahnte lieber nichts zu essen. 

Der Blonde war an diesem Ort zuhause und hatte viel Zeit seines Lebens hier verbracht. Für Matt hingegen war Falconry nicht mehr als ein beschaulicher Ort, an dem man sich theoretisch vorstellen konnte zu leben. Aber es gab viele beschauliche Orte da draußen. Orte, die nicht verbunden waren mit dem gütigen Mann, der seit Jahren kostenlos in Matthews Verstand hauste. Dann und wann hüpfte er wie ein Springteufel in den Vordergrund seines Denkens und machte, dass die Welt sich verdunkelte. 

Der einzige Mensch der jenen Teufel zuverlässig in Schach halten konnte stand just in diesem Augenblick neben ihm. Und als würde er es ahnen, beugte sich Clarence zu ihm herunter und küsste ihn.

Es war ein inniger Kuss auf die Lippen, so wie sie ihn seit der Offenbarung Afarits nicht mehr ausgetauscht hatten. 

Matt hatte jene Art der Nähe so sehr vermisst, dass es ihm fast schon körperlich wehtat als ihre Lippen sich wieder trennten. 

Für einen winzigen Augenblick wollte Cassie nach der Hand des Größeren greifen, ihn daran hindern zu klopfen und ihn selbst nochmal küssen - einfach, weil er ihn so sehr vermisst hatte. 

Aber das wäre nicht richtig gewesen, nicht jetzt und nicht unter den gegebenen Umständen. Stattdessen leckte er sich über die eben noch geküssten Lippen und erwiderte flapsig: „Wir könnten gleich nach Hause gehen, dann musst du nicht damit warten es mir zu sagen.“

Aber das konnten sie freilich nicht, auch wenn die Vorstellung verlockend war. 

Als Clarence schließlich die Tür für sie beide öffnete, lag dahinter ein Raum von bemerkenswerter Größe. Die zweiflügelige Tür hatte das bereits vermuten lassen, trotzdem war Matthew beeindruckt - was nicht so sehr an den Ausmaßen des Raumes lag, sondern an den unzähligen Büchern. Regale, welche in die Wände eingelassen waren beherbergten hunderte, oder wohl eher tausende, Schriftstücke. Bis unter die Decke reichten die Regale, sodass man eine Leiter würde bemühen müssen, um überhaupt an sie heranzukommen. 

Unterteilt war der Raum in zwei Etagen, wobei eine breite Treppe nach oben führte wo abermals Bücherregale in die Wände eingelassen waren, auch einen Schreibtisch konnte man von unten erkennen. 

All das überflog Matthew zügig, wobei sein Blick einen Moment länger auf einem Gemälde verharrte welches einen Mann mittleren Alters auf einem schneeweißen Pferd zeigte. 

Der Mann lächelte sein typisches Zahnpasta-Lächeln wie Matthew es im zarten Alter von acht Jahren erstmals zu sehen bekommen hatte. Am Tag als sein Stiefvater ihn verschachert hatte. 

Selbst der Gaul war der selbe. 

Die Zeit, in der er das Bild ansah, war nur einen Bruchteil länger als er den Rest des Raumes überblickte- dann richtete Matthew sein Augenmerk auf die Frau an der Tafel. Es war nicht das erste Mal, dass er Mo‘Ann sah, aber das erste Mal war sie in ihrer natürlichen Umgebung. 

Dass sah man einfach sofort, wenn man ein bisschen Menschenkenntnis hatte - und die hatte sich Matthew im Laufe der Jahre definitiv zugelegt. Mo‘Ann befand sich hier ganz und gar in ihrem Habitat - umgeben von Büchern und Pergamentrollen, von Kerzen und dem Geruch von Leder und altem Papier. Von hier aus lenkte sie die Geschicke des Clans in dem sie etwas so banales tat wie lesen und schreiben - unvorstellbar für die allermeisten Leute und doch war es genau so. 

Zunächst sah sie nicht einmal von dem Schriftstück auf, sondern überflog die Zeilen vollkommen vertieft. 

Cassiel musterte sie dabei still, ließ sich aber nicht dazu hinreißen auch nur für einen Moment zu glauben, dass sie nur eine schrullige ältere Dame war, die gewissenhaft das Erbe ihres toten Mannes verwaltete. 

Mo‘Ann hatte etwas an sich was Matthew vom ersten Moment an an Rouge und den gütigen Mann erinnert hatte. Sie war die Art Mensch, die es verstand andere für sich laufen zu lassen ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen. Wer sich in ihrem Dunstkreis aufhielt, der fühlte sich dadurch meist geehrt - ohne zu merken, dass man nur eine Figur auf ihrem Spielfeld war. 

Ihre ersten Worte an sie waren eigentlich nur Worte an Clarence, denn Eric Amber war eine Person von der Matt noch nie gehört hatte. Dass sie das vor einer Begrüßung verlautete war eine subtile Demonstration ihrer Position. Sie war wichtig. Sie steckte immerzu in Arbeit. Sie musste die Dinge am Laufen halten. Dass sie Zeit für Clarence und ihn erübrigt hatte, war ein kleiner Ritterschlag. 

Schweigsam verfolgte Matt den kurzen Wortwechsel zwischen den beiden und setzte sich neben den Blonden als jener schließlich Platz genommen hatte. 

Schließlich, als Mo‘Ann der Ansicht war ihnen endlich Beachtung zu schenken, richtete sich der Blick ihrer dunklen Augen auf Matthew. Sie musterte und studierte ihn, so wie sie es bei ihren wenigen Treffen immer schon getan hatte, so als müsse sie genau prüfen wen sie vor sich hatte. 

Der Dunkelhaarige erwiderte ihren Blick und ließ sich dabei keineswegs irgendein Unwohlsein anmerken. 

Sie wusste wer er war, daran hatte er keinen Zweifel. Die einzige Frage die er sich stellte war die Frage danach wie lange sie noch so tun wollte als wäre sie nicht im Bilde. 

„Bisher hatte ich noch nicht das Vergnügen, nein.“, entgegnete er auf die Frage ob er schon mal hier gewesen war. 

„Eine bemerkenswert große Privatsammlung. Ich war schon in einigen Bibliotheken, habe aber noch nie eine solche Menge an Büchern gesehen, die nicht in einem Archiv oder einer öffentlichen Bibliothek lagern.“ - so viel Wissen welches hier verborgen lag. 

So viel Wissen welches nur ihr zur Verfügung stand. 

„Laden Sie oft Leute zum Essen hierhin ein?“, fragte Matthew sie unverwandt scheinheilig. Er würde einiges darauf wetten, dass die Antwort auf seine Frage nein lautete und er wusste auch warum. 

Weil es immer Leute gab die Fragen stellten, die sich interessierten, die vielleicht sogar die Ambitionen hatten zu lesen. 

Aber natürlich war das risikoreich, also brachte man den Dummbeuteln lieber eine universelle Zeichensprache, statt das Lesen bei. Und man lud sie auch nicht in eine Bibliothek zum Abendessen. 

„Nicht allzu häufig, auch wenn es ab und an vorkommt.“ - erwiderte sie scheinbar ungerührt, obgleich sie sicherlich wusste worauf Matthew anspielte. 

„Nicht? Das ist aber schade, eine beeindruckende Büchersammlung wie diese nicht für alle zugänglich zu machen. Aber Sie haben sicherlich gute Gründe.“ - das Lächeln auf seinen Lippen war so echt wie ein silberner Kupferling aber Clarence‘ Gott möge ihm beistehen, dass er die Frau nicht hier und heute noch ins Jenseits beförderte. 


Clarence B. Sky

Es war immer wieder seltsam wenn er daran zurück dachte welche unerwarteten Wendungen sein Leben in den vergangenen Monaten genommen hatte. Hätte ihm noch vor etwas mehr als einem Jahr jemand gesagt, dass er mehrere Wochen mit Matthew Reed in einer der wenigen Metropole dieses Kontinents verbringe würde, hätte er diesen jemand vermutlich für irre erklärt – und letztlich sicherheitshalber von Friedenswächtern wegsperren lassen, hätte dieser jemand dann noch einen draufgesetzt und behauptet, er würde Reed dort heiraten. Er hatte sich nicht auf einem Boot gesehen. Nicht in Rio Nosalida auf umliegenden Weinfeldern. Ganz sicher nicht in einer zugeschneiten Geisterstadt nach dem Absturz eines Zeppelins.

Aber genauso wenig hätte er sich vorletztes Jahr zurück in Falconry Gardens gesehen, der kleinen idyllisch anmutenden Stadt am Fuße des Grey Eagle, mit Matthew und Mo’Ann gemeinsam an diesem Tisch in der Bibliothek sitzend.

Die Zeit, die er mit Matthew verbracht hatte seit ihrem Kennenlernen, waren sie weitestgehend unter sich gewesen. Sie hatten einander wenige, kurze Berichte überlassen von ihrem bisherigen Leben, hatten sich Einblick geschenkt was sie an den Punkt ihres Zusammentreffens gefunden hatte. Das war immer in Ordnung gewesen und mit der Zeit waren sie zusammengewachsen. Hatten ihren eigenen kleinen Kosmos entstehen lassen in dem sie sich bewegten. Ihr eigenes kleines Universum, in dem sie begonnen hatten sich miteinander wohl zu fühlen, einander zu vertrauen und schließlich auch zu lieben.

Matthew in Coral Valley zu sehen, in einer Umgebung die dem Dunkelhaarigen vertraut war und in der er doch für Clarence furchtbar unpassend gewirkt hatte, war teilweise irgendwie befremdlich gewesen. Der junge Schwerenöter, der es liebte sich mit Luxus und Tand zu umgeben, stand Cassie nicht. Das Bild, das er von seinem heutigen Mann hatte, passte nicht in die mit Samt bezogenen Sessel der Madame, nicht zwischen zwei halbnackte Huren oder in zerwühlte Bettlaken eines Bordells. Aber es spielte keine Rolle wo der Blonde ihn sah, ob dieses Gesamtbild für ihn passte oder nicht. Das war Cassies Welt gewesen, in der er sich lange Zeit bewegt und wohl gefühlt hatte. Und heute? Heute waren sie in Falconry, auf den hölzernen Lehnstühlen Mo’Anns. Zwar nicht auf Samtbezügen sitzend, aber dafür auf gut gepolsterten Stuhlkissen.

Ging es Matthew ähnlich wie ihm, fiel es ihm schwer den Blonden hier in jüngeren Jahren sitzen zu sehen? Passte das Bild seines Mannes, das in Cassies Kopf existierte, an die Seite seines gütigen Mannes und in die abendlichen Gespräche mit dessen Ehefrau in diesen opulenten Raum hier hinein?

„Gute Gründe sind in diesem Fall weitestgehend Angebot und Nachfrage“, griff die Herrin der heiligen Hallen das Wort des Jüngeren auf, die Hände noch immer über Brille und Pergament in ihrem Schoß gebettet, ähnlich wie sie auch über die Bücher in der Bibliothek stets ihre Wache hielt. „Sollte sich jemand in der Stadt finden, der sein plötzliches Interesse an der Verfolgung von Hexen im sechzehnten Jahrhundert bis in die Neuzeit erwachen spürt, ist er natürlich gerne geladen dem Ruf bis hierher zu folgen und das Thema gemeinsam zu vertiefen.“

„Vorausgesetzt, dieser jemand schafft es unten durch die Tür“, warf Clarence trocken ein, denn so offen und freundlich die rhetorische Einladung von Mo’Ann auch klang, so simpel würde es schon daran scheitern als normaler Bewohner der Stadt bis hier hoch zu kommen.

Nichtsdestotrotz umfasste die Sammlung freilich nicht nur die Banalitäten ihrer Arbeit oder überholte Literatur der Alten, die schon lange keine Bedeutung mehr für ihr heutiges Schaffen besaßen. Seit den letzten großen Kriegen der Vergangenheit waren viele Schriften entstanden, die sich auf Geschöpfe weit jenseits der Vorstellungskraft ihrer Vorfahren bezogen und wie so mancher war auch Annedore Abaelardus Teil eben jener geschriebener Welt, die sich mit der ständigen Aktualisierung und Neuverfassung alter Werke beschäftigte.

Eine unheimlich ermüdendes Lebenswerk, jedenfalls wenn man Clarence fragte.

„Manchmal versuche ich noch unsere Rookies über die Belletristik fürs Lesen zu ermuntern, aber die Leidenschaft des Clans brennt zu meinem Bedauern für praktischere Tätigkeiten. Es gibt nicht viele, die freiwillig am Schreibtisch statt auf Reisen lernen. Du warst immer einer der wenigen“, entgegnete sie mit den letzten Worten an Clarence gewandt und musterte den Hünen dabei wachen Blickes. Dass er sich gut formen ließ, hatte er immerhin nicht nur ein Mal von ihrem Mann zu hören bekommen und aus dem Mund eines Lehrers zweifelsohne ein gut gemeintes Kompliment, auch wenn es sich als Schüler sicher nicht so anfühlen mochte.

„Nur für die Kunst des Lesens und Schreibens konnte ich dich nie begeistern, so sehr ich es auch versucht habe. - Wie in vielen Dingen, hat er auch hier sein Talent für Renitenz an den Tag gelegt. Man braucht schon etwas Verhandlungsgeschick und Durchhaltevermögen, um Clarence von seiner vorgefertigten Meinung abzubringen. Aber es ist möglich, wie ich sehe.“

Immerhin hatte der Dunkelhaarige ihm nicht nur das Schreiben nahegebrach, sondern ganz offensichtlich auch andere Dinge. Immerhin war er als ebenso renitenter Christ hinaus in die Welt gezogen, der mit einem Ehemann an seiner Seite wieder zurückgekehrt war.


Matthew C. Sky

Ob Mo‘Ann versuchte die Rookies für Büchern zu begeistern oder auch nicht, war Matthew im Grunde genommen herzlich egal. 

Davon abgesehen glaubte er ihr nicht. Sie war die Frau des Mannes, der eine verfluchte Farm voller Kinder gehabt hatte. 

Ihr Wort bedeutete ihm gar nichts und ginge es hierbei nicht um Clarence und dessen Heimat, er hätte diese Frau vermutlich schon kalt gemacht. 

Stattdessen aber saß er hier mit ihr zu Tisch und tauschte Floskeln aus als würden sie nicht alle drei wissen, dass ihre Einladung nicht dazu diente ihr die Einsamkeit des Abends zu ersparen. 

Auf ihre Erklärung hin lächelte Cassie knapp. Er gab sich nicht allzu viel Mühe sein Misstrauen zu verbergen auch wenn er nicht offen feindselig war. 

„Wie in vielen Dingen, hat er auch hier sein Talent für Renitenz an den Tag gelegt…“  - weder die Formulierung, noch ihr Blick gen Clarence und erst recht nicht ihr Tonfall gefielen Matt. Sie sagte es auf eine Weise wie ein Lehrer mit einem Schüler redete, welcher aus Trotz hinter seinen Möglichkeiten zurückblieb. Es klang einerseits überlegen - so als würde sie Clarence ganz genau kennen. Und andererseits angestrengt - so als habe der Blonde ihr mit seiner Renitenz manch graues Haar beschert. 

So mit - oder über - Clarence zu reden stand ihr nicht zu. Ihr nicht und niemandem - aber ihr am allerwenigsten. 

Diese Frau hatte keine Ahnung wer Clarence wirklich war und wieviel Gutes in ihm steckte. Sie fühlte sich schon aus Gewohnheit überlegen und auch das erinnerte den Dunkelhaarigen stark an die Art und Weise des gütigen Mannes und auch an seine Zeit mit Rouge. 

Beides Männer die sich für überlebensgroß gehalten hatten, für klüger und besser als andere. Aber beide waren nicht hier. Weil sie sich geirrt hatten. Weil sie in Wahrheit nicht größer sondern nur schlimmer als andere gewesen waren. 

Matthew war nicht hier gewesen, als der Blonde zum Schüler ihres Mannes erkoren worden war. Aber er wusste trotzdem was für eine Art Lehrer er gewesen war. Der gütige Mann hatte sich einfach einen neuen Namen gegeben und hatte weitergemacht mit dem was er am Besten gekonnt hatte: Menschen zerstören. 

Und die Frau die an der Stirnseite des großen Tisches saß musste das gesehen haben. 

„Da fällt mir ein Spruch von jemandem ein, der mein Leben sehr geprägt hat. Er geht in etwa so: „Sturheit und Beharrlichkeit sind für den Narren das gleiche. Aber das eine bringt einen um und für das andere wird man belohnt.““ - während er sprach, musterte er die Frau neben Clarence. Doch Mo‘Ann ließ nicht erkennen ob sie diese Redewendung von ihrem Mann wiedererkannte oder nicht. Aber Matthew war sicher, dass sie das tat. Der Spruch ihres Mannes war noch in den Ratschlag gemündet, bloß nicht stur zu sein, damit er seiner nicht überdrüssig wurde. 

Aber diesen gütigen Rat behielt Cassiel für sich. 

Nach einem kurzen Augenblick der Stille fügte er schließlich an. 

„Ich halte das für ausgemachten Blödsinn. In Wahrheit finden die Leute einen renitent, wenn ihnen die Beharrlichkeit des anderen nicht passt. Dann ist das eine Schwäche. Und wenn es ihnen passt, dann nennt man es plötzlich charakterstark.“

Er sah flüchtig zu Clarence hinüber und griff schließlich kurz entschlossen nach dessen Hand auf dem Tisch um seine Finger mit denen des Anderen zu verschränken.

Sein Mann war der verflucht liebenswerteste und großzügigste Mensch den Cassie kannte. Er wusste Dinge von denen die Mehrheit keinen blassen Schimmer hatte. Er war mutig, er war selbstlos und er hatte es nicht nötig hier zu sitzen und zuzuhören, wie man über ihn sprach als sei er ein widersetzlicher Schüler. 

Die Zeiten in denen die Dinge vielleicht so gelaufen waren, waren vorbei. Die Menschen die früher ihr Leben bestimmt hatten, waren nur noch Geister. Nagi Tanka mochte noch immer erhaben von seinem Bilderrahmen aus über die Tafel spähen - aber mehr war von ihm nicht geblieben. 

„Wie dem auch sei… Ich habe Ihnen noch gar nicht mein Beileid zu Ihrem Verlust ausgesprochen. Ich hoffe, Sie kommen eines Tages über den Tod Ihres Mannes hinweg.“ - gern durfte sie sich auch zu ihm gesellen, aber dergleichen sprach Matthew freilich nicht aus. Immerhin wollte er heute Abend noch von Clarence hören, was er ihm bedeutete. „Sie haben ganz schön aufgetafelt. Danke für die Einladung. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen Tisch mit so viel verschiedenen Speisen gesehen habe.“

Zumindest das war keine Spitzfindigkeit sondern aufrichtig gemeint. Aber trotz der Tatsache, dass er wirklich Hunger hatte machte er bisher keine Anstalten sich etwas auf den Teller zu laden. 

Immerhin hatte Clarence ihn gewarnt. Und auch wenn der Kerl nicht immer recht hatte, so hatte er doch oft genug recht um ab und an auf ihn zu hören. 

 

 


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