Merton
07. Januar 2211
Der Pakt zwischen Afarit und Matthew hatte sich in jener schicksalhaften Nacht in White Bone erfüllt. Der Junge von damals hatte sich gegen ein Weiterleben entschieden - damit das Wesen aus der finsteren Höhle die Kinder aus den Fängen des gütigen Mannes rettete.
Tod fordert Tod.
Das Leben eines Kindes für das Leben vieler Seelen - ein ungleicher Handel und doch gezeichnet von einer Selbstlosigkeit, wie sie nicht größer hätte sein können.
„Er hat mich zurückgeholt…“ wisperte Cassiel schockiert. Die Hand hatte er auf seine Brust über sein Herz gelegt, so als würde er den magisch eingepflanzten Lebensfunken spüren können.
Anders als den anderen beiden stach die Helligkeit nicht in seinen Augen, für ihn lichtete sich die Vision wie sich auflösender Nebel. Und je klarer die Welt wurde in der sie waren umso klarer wurde ihm auch was passiert war. Er wusste was geschehen war - nicht nur in dieser Nacht, sondern seither.
Immer wieder.
Afarit war nicht in ihm, er war kein Teil von Matthew - aber der Dämon hatte ihm einen Teil von sich gegeben.
Überwältigt von den Erkenntnissen welche auf ihn einströmten, taumelte der Dunkelhaarige einen Moment und ließ sich auf ein Knie nieder. Er ignorierte sowohl Clarence als auch Oliver.
Beide waren zwar da und zweifellos hatten beide auch gesehen was er gesehen hatte - aber sie hatten diese Dinge nicht erlebt.
Ihre Verwirrung würde vergehen und auf ihre Fragen würden Antworten folgen. Doch im Moment befand sich Matthew in einem Zustand von Schock und Überforderung.
Deshalb habe ich dich vergessen lassen.
Die Erinnerung an die Höhle war von Afarit getilgt worden, ebenso wie sein Sterben und die anschließende Wiederbelebung. Aber jetzt war der Vorhang der Amnesie aufgehoben und Cassiel konnte die Dinge gar nicht recht erfassen.
Der schützende Mantel Unkenntnis, welchen der Dämon damals über ihn gebreitet hatte, war beiseite genommen worden und Matthew erinnerte sich an das Feuer in jener Nacht. Er erinnerte sich, wie der Rauch in den Augen und in den Lungen gebissen hatte, er erinnerte sich an die Schreie, das Heulen und an die Hitze.
Kein Kind war in jener Nacht zu Schaden gekommen - und doch gab es einige Tote. Angestellte des gütigen Mannes, Freunde und Freier.
Die Flammen waren übergesprungen auf angrenzende Baracken und Häuser und hatten Mitwisser von der Bildfläche getilgt.
„Nicht nur die Farm hat gebrannt…“ flüsterte Cassie und fuhr sich mit den Fingern gegen den Strich durch sein Haar.
„Das ganze verdammte Kaff ist in Flammen aufgegangen.“
Nicht, dass die Menschen von White Bone unschuldig gewesen wären… Die Intensität, die schiere Macht des Feuers welches damals gewütet hatte war ihm nun mehr vor Augen geführt und er erinnerte sich an eine ganze Reihe von Begebenheiten bei denen Feuer ihm das Leben gerettet hatte. Monatelang war er in der Einöde des Nordens gereist - allein und auf sich gestellt. Vollkommen bar jeden Schutzes.
Aber das stimmte nicht. Er war nicht allein gewesen.
„Du warst damals bei mir… oben, im Norden… jenseits der Grenze. Ist es nicht so?“ - Matthew benötigte keine Antwort von Afarit - aber er bekam sie dennoch.
Du warst jung. Du warst mutig.
Aber Mut allein rettet kein Leben.
Du bist die Glut von Can Tak.
Du sollst leben.
Noch immer kniete Matthew auf dem verkokelten Grasboden. Ein Teil von ihm hatte gewusst was in der Höhle und seither geschehen war, doch jener Teil war vergraben gewesen. Nun jedoch war er freigelegt und er musste nicht nur verstehen sondern vor allem verarbeiten was es hieß. Das große Feuer war seit jener Nacht im November ein Teil von ihm und weshalb? Darauf wusste er keine Antwort.
Erst nach einem ausgedehnten Moment der Stille in der die warme Luft um sie herum knisterte, hob Matt den Kopf wieder, fuhr sich erneut durch die Haare und stand langsam wieder auf.
Die Fragen der anderen beantwortete der Dämon nicht - allerdings gab er die Antworten Matthew in dem er ihn sehen ließ. Er sprach nicht, er ließ es den Dunkelhaarigen einfach wissen.
„Er war lange vor dem Mann, den du als Nagi Tanka kennst, in White Bone.“ - erklärte Cassiel angespannt.
„Man hat ihn eingesperrt… verbannt ist das treffendere Wort. Ich…“ - er zögerte, leckte sich über die Lippen und setzte erneut an.
„Es gibt…es gibt…“, er zögerte, fasste sich an den Kopf und taumelte kurz, überfordert von den Bildern die auf ihn einströmten als würde ein Damm brechen und das aufgestaute Wasser plötzlich mit Macht frei werden.
„Ich verstehe nicht…Ich verstehe nicht, was du mich sehen lässt!“
Blut lief ihm aus der Nase, der Dämon grollte und nun sprach er wieder zu ihnen allen.
Das ist Sie. Das Unglück das vom Himmel Kam.
Alles was ist und alles was war besteht aus Dorma.
Ihr nennt es Energie. Es fließt durch alle Dinge, durch euch, durch alles was ihr seht und nicht seht. Es ist in der Luft die ihr atmet, es ist im Boden in dem ihr grabt.
Sie kommt von weit her,
ihr Dorma verdirbt jenes unserer Welt.
„Und du wolltest sie aufhalten?“ - das kam Matthew absurd vor, aber andererseits auch nicht absurder als das was schon geschehen war.
Es gab einen Krieg lange vor eurer Zeit.
In jenem Krieg kämpfte nicht gut gegen Böse.
Es kämpfte unser Dorma gegen ihres.
Viele eurer Art sind gefallen und je mehr Zeit verging umso mehr haben die Menschen vergessen.
Sie wurde vergessen und meine Art von euresgleichen geächtet, gefürchtet, gebannt.
Als du mich befreit hast, warst du das erste lebende Wesen seit fast einhundert Jahren.
Erneut blitzte das Bild von etwas auf, dass Matthew nicht begreifen konnte. Er verstand nicht was er sah. War es ein Lebewesen? Eine Maschine? Es war nur der Bruchteil eines Augenblicks aber er reichte aus um ihm Angst zu machen.
Ich war Gefangen und du hast mich befreit.
Du hast getan was große krieger nicht vermocht haben.
Deshalb habe ich dich zu can Tak Inoh Gemacht.
Matthew rieb sich erneut über die Brust, ehe er Blut auf seiner Oberlippe spürte und sich unter die Nase fasste. Erst jetzt registrierte er, dass er blutete - wobei die Blutung bereits aufgehört hatte.
Es war offenbar besser, wenn er nicht alleine die Informationen empfing.
Weiß jener der sieht von Ihr?
Wollte Afarit grollend wissen und wandte sich damit direkt an Oliver.
Clarence, der in seinem Leben schon mehr gesehen hatte als er sich je hätte vorstellen können oder als jemals gut für ihn gewesen wäre, beobachtete seinen Mann zurückhaltend und mit gewisser Anspannung im Gesicht. Wenngleich Afarit sie mitgenommen hatte in eine Zeit, in der Dämonen und das Böse dieser Welt für ihn selbst noch nicht mehr gewesen waren als die angsteinflößenden Geschichten über das Fegefeuer jenseits der Sicheren Häfen, war es für den Blonden dennoch schwer zu begreifen, was genau dieses Wesen für seinen Mann war oder für sie alle bedeutete.
Während Matthew sich an die Brust fasste und in Erinnerungen oder weiteren Visionen gefangen schien die weit mehr waren als Oliver oder er jemals verstehen würden, waren es noch immer Gedanken an die Glut, die ihn gefangen hielten. Cassie berührte das was gewesen war, Clarence bewegte das, was sein würde.
Oder was nicht sein würde, sobald die Glut von Can Tak erlosch.
Er fühlte sich versteinert in einer Position, die er nicht verstand. In einer Begebenheit, die alles infrage stellte von dem was bisher geschehen war oder was sein würde, nun da es gesehen worden war und nicht mehr vergessen gemacht werden konnte. Wie gern würde er vergessen, was er gesehen hatte. Wie sehr vermisste er den Mantel des Unwissens, der über ihm gelegen und ihn behütet hatte vor den Dingen, die er bis vor wenigen Momenten niemals hatte hinterfragen müssen. Was manche als Segen empfinden mochte – nämlich das Lichten von dichtem Nebel, das einen plötzlich klar sehen und auch die Dinge in der Ferne endlich erkennen ließ – hatte Clarence in seinem Leben stets mehr Unheil gebracht als ihm zu nützen. Womöglich war es naiv und blauäugig, aber der Christ liebte den Frieden zuweilen mehr als die Wahrheit und wenn er die Wahl hätte, eventuell vielleicht würde er sich lieber für ersteres entscheiden statt für letzteres.
„Was hat Nagi damit zu tun? Und was für ein Ort ist White Bone, diese… Höhle?“, echote Olivers Stimme wie aus der Ferne zu ihm hinüber, während der Blonde noch immer angespannt seinen Mann betrachtete, der sich auf schwachen Beinen zu Boden begeben hatte. Zuletzt hatte jenes übermächtige Wesen ihnen für bloße Worte mit dem Tod gedroht, nicht abzuschätzen was geschehen würde, griffe jemand überschwänglich auf seine heilige Glut ein. „Was soll das mit Nagi?“
Schneidens klang die Stimme des Sehers, unschlüssig darüber ob Matthew unter der Last des Dämonen nicht doch letztlich erst den Verstand und schließlich seine Unversehrtheit verlor, so wie er nun in fremden Zungen sprach und ihm das Blut aus der Nase zu quellen begann – oder ob ihre Konversation, ihr ganzes Aufeinandertreffen noch andere Ebenen beherbergte als jene, die ihm bekannt waren.
Doch Olivers Aufbrausen drang nur oberflächlich an Clarence heran, welcher sich schließlich aus seiner Starre löste um mit wenigen Schritten zu seinem Mann zu eilen. Ohne es zu merken hatte er sich den Schal vom Hals gezogen um ihm den Jüngeren unter die Nase zu drücken, sich selbst zu ihm auf einem Knie in den Schnee begebend und die andere Hand in den Nacken des Jüngeren gelegt, um ihn nicht nur zu versorgen, sondern auch dazu zu nötigen ihn anzublicken.
Schon lange trachtete Afarit ihnen nicht mehr nach dem Leben, drohte ihnen nicht durch Hitze oder durch Feuer und auch sprach der Dämon in einer Ruhe zu ihnen, die jedweder Übergriffigkeit entbehrte. Und doch war sie da, jene Anspannung die einem vom Scheitel bis in die Sohle ergriff wenn man spürte, dass Respekt und Angst angemessen waren. Jene Anspannung wenn einem bewusst wurde, dass die Dinge weitreichendere Konsequenzen hatten als jene, die man bislang abgesehen hatte. Jene, die einen überkam wenn einem bewusst wurde, dass man die Büchse der Pandora geöffnet hatte.
„Hör nicht auf ihn. Dämonen sind bigott, sie erzählen dir jede Lüge die du hören willst um zu machen, dass man sie für ungefährlich hält“, war schließlich das erste was er wieder zu Matthew sagte. Er musterte den Dunkelhaarigen, ergründete seine kandisfarbenen Iriden für einen Moment so als könne er ganz offensichtlich befürchten dort plötzlich etwas anderes zu sehen als das, was er seit vielen Monaten und Jahren kannte. Etwas Verändertes, etwas Fremdes.
„Nein, ich… weiß nichts von einer Sie. Was soll Sie sein?“ – der Stimme Olivers hörte man Verunsicherung an, eben jene die sich unweigerlich einschlich wenn man etwas gefragt wurde, was ein Gegenüber als Gegeben voraussetzte. Ein wenig fühlte es sich auch genau danach an – denn entweder Afarit erwartete von einem Seher eben jenes Wissen oder er führte sie auf eine falsche Fährte, so wie es seinesgleichen durchaus würdig war. „Wenn Sie verlorenes Wissen ist, kenne ich nur einen Menschen, der von Ihr wissen kann. Aber diese Frau ist nicht hier. Du wirst uns von Ihr erzählen müssen wenn du denkst, dass wir wissen müssen.“
Diese Frau, das wusste Clarence ohne dass Oliver näher darauf eingehen musste, war zweifelsohne Mo’Ann. Eine Gelehrte, die mehr alte Schriften, mehr Glyphen und Wissen in sich aufgesaugt hatte, als sich ein Mensch alleine auch nur vorstellen konnte.
Matthew hatte genug gehört und er hatte genug gesehen.
Obgleich er nichts von alledem gewollt hatte.
Es war Clarence gewesen der ihn hergeschleppt hatte damit Oliver ihn begutachten konnte. Und jetzt begutachtete Clarence ihn.
Es war nicht der liebevolle und besorgte Blick seines Mannes den Cassiel in den Iriden erkannte - jedenfalls nicht nur. Sondern eine forschende und suchende Musterung welcher er Matt unterzog.
Clarence schätzte - noch während er ihm seinen Schal unter die Nase drückte ab, ob Matthew noch er selbst war oder schon von Afarit korrumpiert. Weil Dämonen genau das nun einmal zutun pflegten.
Überfordert von den Ereignissen die sich in einer Weise überschlagen hatten mit der wohl keiner gerechnet hatte, schniefte Cassiel und wischte sich in einer groben Geste das Blut unter der Nase und von den Lippen.
„Ich soll nicht auf ihn hören?“, zischte er Clarence an. Hatte der Kerl nicht zugehört oder zugesehen? Dass er noch atmete verdankte er dem Wesen - ob das Clarence nun gefiel oder nicht.
Mittlerweile wusste sein Mann nicht nur über sein beschissenes Dasein Bescheid sondern auch über seinen Tod. Und Oliver gleich mit.
Und überhaupt… es war zu viel was ihm gerade klar geworden war und gleichsam waren duzende neue Fragen aufgetaucht. Fragen auf die Matthew eigentlich gar keine Antworten mehr haben wollte.
Weder ging er auf Olivers Fragen ein - noch machte er Anstalten in irgendeiner Weise den anderen von den Bildern zu erzählen die Afarit ihm gesandt hatte. Bilder von IHR.
Noch während der Glatzkopf einräumte nicht Bescheid zu wissen was jene rätselhafte SIE betraf, sprach Afarit zu Matt - von den anderen ungehört.
Dein Gefährte versteht nicht.
Er stellte Fragen auf die er keine Antwort wünschte.
Er glaubt zu wissen aber er ist wie ein Kind.
Damit hatte der Dämon unbestreitbar recht, aber die Tatsache, dass jenes übernatürliche Wesen in Verbindung mit ihm stand… Sie einander vor fast zwanzig Jahren geholfen hatten war… schlichtweg zu viel für Cassiel, welcher bis vorhin noch nicht einmal wirklich daran geglaubt hatte, dass es Dämonen wirklich gab.
„Du wirst uns von Ihr erzählen müssen wenn du denkst, dass wir wissen müssen.“ - Matthew legte sich die Fingerspitzen beider Hände an die Schläfen und schloss für einen Moment die Augen.
Irgendwie sprachen gerade alle durcheinander und trieben damit noch in den Wahnsinn.
Jener der sieht wünscht den Pfad der Trägen zu gehen.
Das Wissen um SIE wird nicht Geteilt.
Es muss erworben werden.
„Haltet für einen Moment alle die Klappe!“, forderte Matthew plötzlich lautstark und fing an, unruhig hin und her zu gehen.
Ihr kleines Areal bot nicht viel Raum aber das hinderte ihn nicht daran rastlos auf und ab zu tigern.
„Wenn du mich damals beschützt hast, was war dann mit Rouge?
Was war mit der Bruderschaft? Du lässt mich all diese Dinge sehen und erzählst all dieses Zeug in dieser fremden Sprache… Du willst mir weismachen, dass du mir mein Leben zurückgegeben hast weil… was?! Warum?!“ - forderte er barsch zu wissen und das ohne jede Ehrfurcht welche eigentlich angemessen gewesen wäre. Für einen Moment loderte die Hitze in ihrem Kreis erneut auf, ein bedrohliches Grollen war zu vernehmen, aber Matthew war zu wütend um Angst zu haben oder seinen aufbrausenden Ton zu mäßigen.
Afarit antwortete nicht, doch der Anstieg der Temperatur war Drohung genug. Trotzdem gab Cassiel nicht klein bei.
„Sag, was du von mir willst!“ - lauter, fordernder. Für einen langen Moment tat sich nichts, dann fiel die Hitze zurück auf ein angenehmes Maß und das tiefe Knurren verstummte.
Und Afarit gab Antwort - für alle hörbar.
Du warst ein außergewöhnlicher Knabe.
Dein Mut und dein Schmerz waren sich ebenbürtig.
Dein Tod wäre verschwendet gewesen.
„Warum? Warum verschwendet? In dieser Sekunde sterben hunderte, die nicht anders sind als ich damals war! Sag was du willst!“ - Matthew ahnte worauf das alles hinauslief, aber er wollte es hören.
Du kannst von Nutzen sein.
Im Kampf gegen SIE.
Nun da er gehört hatte was er hatte hören wollen, lachte der Dunkelhaarige kurz humorlos und gallig auf. Vielleicht war es lebensmüde in der Gegenwart des Großen Feuers zu lachen - aber Matt konnte nicht anders.
Sei kein Narr.
Dies ist deine Wahl. Lerne über SIE.
Lerne über dich.
Du bist Can Tah Inoh, die Glut von Can Tak. Lerne.
Matthew wollte gerade etwas erwidern, als die Temperatur um sie herum erneut fiel. Schlagartig war das Knistern in der Luft verschwunden und gleiches galt für das Hitzeflimmern. Die Kälte des Winters kehrte von einer Sekunde zur nächsten zurück.
Afarit war fort und hatte die Wärme mit sich genommen wie auch die Antworten auf die gestellten Fragen. Zurück blieb eine winterliche Stille wie sie für triste Tage reserviert war. Matthew fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf, er hinterfragte Dutzende Situationen und Entscheidungen. Aber konnte er alles schon begreifen? Nein. Es würde Zeit brauchen alles zu verarbeiten.
Er hätte fragen können ob Clarence nun zufrieden war. Ob Oliver der Ausgang ihrer kleinen Soiree gefallen hatte - aber tatsächlich fühlte er sich nicht mal mehr im Stande dazu bissige Kommentare zu verteilen.
„Ich habe genug.“ - eine nüchterne Feststellung - nicht mehr und nicht weniger - mit der der Dunkelhaarige sich in Bewegung setzte und in Richtung des Ochsenkarrens stapfte.
Clarence, dem als Jäger natürlich auch daran gelegen war simultan zu Afarits Entdeckung gegen jenen vorzugehen, hatte im Augenblick gleich mehrere Prioritäten zu sortieren. Auf der einen Seite war da ein Dämon, der unzweifelhaft ihr Leben untergrub, Gott weiß was für sie bedeuten würde und weiß der Teufel wen mit seinen Mächten verletzen würde, wenn er sich im falschen Augenblick von der falschen Person bedroht fühlte. Auf der anderen Seite war eben jene Person, an der jenes Wesen haftete, aber genauso unzweifelhaft sein Ehemann und ausnahmsweise war es dieses Mal nicht die erste Intuition des Blonden die Vernichtung der fremden Existenz über das Leben des Betroffenen zu stellen.
Wie ein trotziges Kind entzog sich Matthew ihm, um das Blut grob selbst aus seinem Gesicht zu wischen und damit das Chaos in seinem Gesicht nur noch schlimmer zu machen. Ob seine Anstrengung und seine Kopfschmerzen an der Unruhe lagen, die zwischen ihnen ausgebrochen war, oder noch immer durch Afarit begründet waren, wusste Claire nicht sicher zu sagen und doch sah er dem Dunkelhaarigen an wie gequält er war unter all den vielen Dingen, die in nur wenigen Minuten über sie herein gebrochen waren um nachdrücklich ihr ganzes Leben zu verändern.
Selbst Oliver, der gewillt gewesen war mit Afarit bezüglich Ihr in Diskussion zu gehen – immerhin war die Frage danach, wieso er begonnen hatte über Sie zu reden nur um ihnen am Ende doch weitere Informationen vorzuenthalten, berechtigt – hüllte sich in Schweigen, kaum da sich der Ausbruch des Jüngeren wie eine Flammensäule des Dämonen zwischen sie legte und Ruhe forderte. Nur leider brachte die hitzige Stimmung seines Mannes nicht auch die Hitze seines Dämonen-Freundes dazu bei ihnen zu bleiben.
So schnell wie sie gekommen war, verschwand die Wärme auch wieder aus ihrer kleinen Runde und hinterließ eine winterliche Kälte, die nicht zum verbrannten Kreis zu passen schien, auf dem sie standen. Ähnlich fröstelnd wie auch der Blonde es schlagartig wieder tat, war auch die Stimmung zwischen ihnen, kaum dass ihr Fokus die gemeinsamen Reihen verlassen hatte.
Oh wie gerne hätte er seinem Mann nun hinterher gerufen, dass er gefälligst hier bleiben sollte – und es lag Clarence freilich auch schon auf der Zunge, welcher schließlich verdrießlich den blutigen Schal zu Boden warf, anstatt seine Laune wie so oft am Dunkelhaarigen auszulassen. Er war lange genug mit dem Kerl unterwegs um zu wissen, dass Cassie sich im Augenblick nicht mal etwas sagen lassen würde wenn er ansonsten drohte in Flammen aufzugehen und noch weniger gut würde das ihrem fragilen Haussegen tun, ihm nun Vorschriften zu machen.
„Dir ist hoffentlich klar, dass wir-?“ – „Halt…“, schnitt Clarence dem Glatzkopf unweit von sich scharf das Wort ab, ihn in einer vielsagenden Geste zum Schweigen bringend. „… Halt einfach für einen Moment die Klappe jetzt, ja?“
Konzentriert versuchte der Blonde sich zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen, immerhin waren nicht nur Cassies Laune oder der Dämon namens Afarit ein Problem… sondern im schlimmsten Fall vielleicht auch Oliver. Clarence glaubte zwar nicht daran, dass der Kerl ihm in den Rücken fiel, denn dafür hatte Nagi zu Lebzeiten Sorge getragen. Aber wusste man das sicher? Man konnte dem Seher letztlich auch nur bis vor die haarlose Stirn schauen und nicht dahinter; ganz im Gegensatz zu Oliver Hazel jedenfalls, dessen Blicke schon wieder über ihn hinweg streiften und irgendwo über ihm zum stehen kamen, kurz bevor er Matthew gen Karren hinterher blickte.
„Dir ist klar, dass wir zu viele unüberlegte junge Menschen im Clan haben um uns in nächster Zeit mit diesem Wesen anzulegen?“, die Stimme des Kleineren war ruhig und überlegt, ja fast schon auf eine Weise freudig, wie Claire sie in diesem Augenblick nicht mit dem anderen Teilen konnte. „Du bist schon eine Weile mit ihm unterwegs. Denkst du, er wird sich ruhig verhalten, wenn wir das Gleiche tun?“
Mit angespannter Mine biss der Hüne die Zähne aufeinander, Matthew betrachtend wie dieser den Karren eingeholt hatte. Was Afarit anging, würde er auf diese Frage beinahe schon mit Ja antworten können. Doch galt das Gleiche auch für seinen Ehemann?
Clarence wusste es nicht zu sagen: „Ich weiß nicht, was irgendeiner von ihnen beiden tun wird. Dämonen sind nicht dafür gemacht um einen Pakt aus Nächstenliebe heraus zu schließen.“
„Und Menschen sind nicht dafür gemacht um wieder von den Toten aufzuerstehen. Oder um sie gar nicht erst zu beehren.“
Unangenehm brannten Olivers Blicke, die wie eine Mahnung für einen Moment zwischen ihnen standen, bevor sich Clarence in Bewegung setzte um dem Dunstkreis des Sehers zu entkommen. Sicher würde er es spätestens in einer halben Stunde bereuen seinen Schal zurück gelassen zu haben, doch in letzter Zeit hatte er genug von Kleidungsstücken die vom Blut anderer Menschen nur so trieften.
„Wir fahren ein Stück weiter, weg von dem Brandmal im Boden. Ich will nicht, dass man auf falsche Gedanken kommt oder Fragen stellt, falls jemand unsere Wege kreuzt“, erhob er seine Stimme schließlich, hörbar für beide seiner Begleiter, vor allem aber für Matthew, dessen blutverschmiertes Gesicht in dieser Szenerie nicht nur noch mehr Fragen aufflammen lassen würde, sondern Clarence gleichermaßen ein flaues Gefühl in die Magengrube pflanzte, das er absolut nicht mochte – und er wusste auch wieso.
„Willst du… ich meine, brauchst du eine Pause? Ich fahre.“
Von allen Erfahrungen die Matthew in seinem Leben gemacht hatte, war die Beziehung zu Afarit die, die er am wenigsten begreifen konnte.
Als Kind hatte er gewusst, dass das was ihm und den anderen Kindern in White Bone antat, falsch und schrecklich war. Er hatte das Warum nicht verstanden aber er hatte zumindest gewusst, dass es nicht richtig war. Alles was im Laufe der Zeit geschehen war, hatte er einordnen können - auf viele Dinge hatte er eine verschrobene Sichtweise und manche Erinnerungen würden für immer auch Teil seiner Gegenwart bleiben aber er hatte sie eingeordnet.
Dies allerdings galt nicht für die Bindung mit Afarit.
Jene konnte er nicht begreifen, er konnte die Tragweite in Gänze nicht erfassen und das was er erfasste war so überwältigend, dass es ihm Angst machte.
In dem der Dämon ihn hatte sehen lassen was in jener finsteren Höhle damals geschehen war, hatte er den Vorhang von allen verschleierten Begebenheiten gehoben. Matt sah sich konfrontiert mit einer ganzen Flut von Erinnerungen von denen er nicht gewusst hatte, dass er sie überhaupt besaß. Er erinnerte sich an seine Reise durch die Ödnis im Norden, Niemandsland, wie die Menschen es nannten. Er erinnerte sich an die Ruinen von Fort Mercy, an entstellte Muties, an Feuer das er gemacht hatte um nicht zu erfrieren… Aber er wusste jetzt, dass nicht er diese Feuer gemacht hatte.
Er hatte dort oben nicht aus eigener Kraft oder Cleverness überlebt - sondern weil Can Tak ihn begleitet hatte. Can Tak. Das Große Feuer.
Ein Geist - oder Dämon - der ihn von den Toten erweckt hatte weil er damals, im Alter von dreizehn Jahren, gestorben war.
Matthew erinnerte sich an die Kälte der feingliedrigen Kette, er erinnerte sich an das Gefühl von tauben Händen und wie er nicht mehr hatte atmen können, wie weh ihm alles getan hatte und an den Blutgeschmack im Mund. Er erinnerte sich wie er starb.
Und vielleicht war das das schlimmste.
Was Clarence und Oliver hinter ihm besprachen konnte Matthew nicht verstehen, aber er verstand den Blonden als dieser schließlich verkündete, von dem Brandmal im Boden weg zu wollen.
Aber Cassie wollte nicht nur von dem verdorrten Flecken Land weg. Ihn hatte eine Angst ergriffen die schon fast an Panik grenzte und fast wäre er an dem Ochsenkarren vorbeigelaufen.
Die kalte Luft tat ihm gut, half jedoch leider nicht dabei einen klaren Kopf zu bekommen. Als er zum Stehen kam hielt er sich an dem Karren fest und atmete angestrengt. Der junge Mann stand kurz vor einer Panikattacke - verursacht durch die überbordenden Erinnerungen, die Überforderung die mit den neuen Erkenntnissen einherging und der Gewissheit, dass er - Matthew Cassiel Sky - zu einer Gefahr für jeden geworden war in dessen Nähe er kam.
Er hatte Afarit mit nach Falconry gebracht. Und was das für Konsequenzen haben würde konnte Matthew sich kaum ausmalen. Aber was er sich aufmalte waren allesamt düstere Szenarien.
Als Clarence ihn ansprach zuckte der Jüngere kaum merklich zusammen - nicht weil er glaubte, dass der Blonde ihn hier und jetzt erschließen würde - aber weil er so in Gedanken war, dass die Stimme ihn erschrak. Er blickte zu Clarence, aber nur flüchtig so als würde er es nicht wagen ihn länger zu betrachten weil er fürchtete, etwas in seinem Gesicht lesen zu können was er niemals lesen wollte.
Angst vor ihm. Ablehnung. Kummer - weil er wusste, dass es kein Zurück mehr gab.
„Ich… Ja… Gute Idee.“, er kletterte auf den Karren und rutschte auf den Platz neben dem des Kutschers. Kurz blickte er zurück zu Oliver der ein Stück hinter Clarence stand und ihn ohne Scheu oder Zurückhaltung musterte. Für den Glatzköpfigen schien das Erlebte auf eine Weise aufregend zu sein wie Matt es nicht verstand. Aber warum sollte Oliver es auch nicht spannend finden? Immerhin ging es nicht um ihn.
Auch von dem Seher wandte Matt zügig den Blick wieder ab.
Er fühlte sich auf eine Weise leer und überfordert wie er es damals im Haus der Madame getan hatte - als er zum ersten Mal mit der Sprache rausgerückt war weshalb er glaubte, Clarence nicht heiraten zu können.
Und doch war die Situation damals anders gewesen… weil er immer gewusst hatte wer er war. Dieses Mal allerdings… hatte er Angst vor den Dingen zu denen er fähig war… oder besser Afarit.
„Clarence…?“, unsicher sah er ihn an. Sein Gesicht blass, das Blut zwischen Nase und Lippen rot, die Augen groß wie die eines verängstigten Tieres.
„Du bekommst mich wieder hin, oder?“
Wenn die Antwort darauf Nein lauten sollte, würde Matthew nicht mehr wissen was er tun sollte. Denn die schlichte und einfache Wahrheit war: wusste er im Leben nicht weiter, dann wies sein Mann ihm den Weg. So war es schon seit er ihn im Haus der Hurenkönigin umarmt und festgehalten hatte. Und so würde es wahrscheinlich immer sein.
Als Clarence auf dem Kutschbock saß, die kalten ledernen Zügel in der Hand und Falconry nur wenige Meilen von ihnen entfernt, da ging es ihm kurz durch den Kopf was wäre, wenn sie nicht zurück in die Stadt fahren würden. Sie könnten Oliver zurücklassen oder vor dem Zaun rauswerfen. Die Hunde hatten sie dabei und sonst brauchten sie nicht viel. Kleidung, Geld, Kram… all das waren Dinge, ohne die sie schon früher gut zurecht gekommen waren. Es wäre schade um seine Bibel und die Fotos der Mädchen, ohne Frage - aber beides hatte er bis vor kurzem bereits als verloren geglaubt und er würde auch ein weiteres Mal lernen können diesen Verlust zu ertragen, das wusste der Blonde.
Sie würden nicht gut vorankommen mit zwei müden Ochsen. Das Reisen mit dem Wagen war zwar bequem, aber sie würden nur träge voran kommen. Zu langsam sein um Strecke zu machen. Man würde sein Verschwinden bemerken und unter diesen offensichtlichen Umständen wäre es nur eine Frage der Zeit, bis man ihn letztlich doch des Verrats beschuldigte und seine Spur aufnehmen würde. Sie würden den Wagen zurück lassen und zu Fuß aus der Stadt fliehen können. Aber hier draußen im Schnee, in der Kälte, ohne Vorbereitung, da würde ihnen nicht viel bleiben um zu überleben und zurecht zu kommen. Sie würden keinen Unterschlupf einfordern können in den umliegenden Regionen, man kannte ja die hiesigen Jäger. Vermutlich kannte man sogar schon die Geschichte um den Abkömmling Clarence Sky. Ein Wagen und die alte Plane würden sie wenigstens über Nacht vom gefrorenen Boden fern halten und sie davor bewahren im Schlaf den Erfrierungstod zu sterben. Aber vielleicht hielt Afarit sie ja nun auch zukünftig nachts warm.
„Mh?“, riss sein eigener Name ihn schließlich aus seinen Gedanken und ließ den Älteren beinahe aufschrecken, so als befürchte er doch noch einen Nachhall von Afarits Drohungen, obwohl dieser sich - wenigstens für den Moment - endgültig aus ihrer Diskussion zurückgezogen zu haben schien. Doch der Anblick seines Mannes war zum Teil nicht weniger verschreckend als die vorangegangene Anwesenheit des fremden Dämonen.
In weit aufgerissenen Augen erkannte Clarence Angst und Unsicherheit in den kandisfarbenen Iriden seines Mannes und zwar auf eine Weise, die ihn bis ins Mark stach. Was es bedeutete jemanden so sehr zu lieben, dass es einem selbst weh tat, zeigte sich in Momenten wie diesen hier umso mehr. So oft schon hatte Matthew ihm in den vergangenen Monaten Sorge bereitet, dass dem Jäger nicht mal dann alle Finger seiner Hände reichen würden um daran seinen Kummer abzuzählen, wenn noch alle vollständig an ihm dran wären. Der Dunkelhaarige hatte ihm die Last seiner Erinnerungen aufgebürdet, hatte sich in einen Bau mutierter Spinnen verloren und dabei sein schönes Gesicht verätzt. Er hatte sich halb erschlagen lassen, war ihm fast bei einem Absturz ums Leben gekommen und nicht zuletzt beinahe gefressen worden und im Schnee halb ausgeblutet erfroren.
Clarence fand sich wider, wie er schließlich vielsagend das Knie seines Mannes tätschelte - so wie es Cassie nur wenige Momente zuvor auf dem Weg hinaus aus Merton bei ihm getan hatte, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Er wagte zu bezweifeln, dass es jemals eine Zeit in ihrem Leben geben würde, in der der Jüngere ihn nicht bis an den Rand der Verzweiflung bringen würde. Was er sich mit seinem Mann alles aufhalsen würde, war damals in Coral Valley vorm Altar der Kirche noch nicht absehbar gewesen… und damit waren nicht etwa dieser Dämon gemeint, die Bruderschaft oder alles andere, was noch an seinem Ehemann und dessen Vergangenheit dran hing. Was er sich mit Cassie aufgehalst hatte, waren unendliche Sorge und Kummer die man nur dann auf jene alles einnehmende Weise erfuhr, wenn man jemanden tatsächlich bedingungslos und aus vollstem Herzen liebte und auch wenn der Blonde im Augenblick daran zweifelte jemals irgendwas in seinem oder ihrem gemeinsamen Leben wieder hinzubekommen, war Claire gewillt den Jüngeren aus einer Fürsorge heraus anzulügen, während er aufbauend das fremde Knie drückte.
Aber ein einfaches Natürlich, wir schaffen das schon war nicht das, was der Wahrheit entsprach. Er mochte im Moment nicht daran glauben, dass alles wieder gut werden würde - und um ehrlich zu sein hatte er Umstände wie diese hier auch noch nie erlebt. Er hatte nicht die geringste Ahnung was sie tun sollten, ob man Afarit überhaupt wieder los wurde… oder ob man ihn überhaupt loswerden konnte ohne Matthew dabei zu schaden. Immerhin war es die Glut von Can Tak die den Dunkelhaarigen wieder zurück ins Leben geholt hatte und vielleicht war es auch jene Glut, die ihn überhaupt seitdem noch am Leben erhielt.
Aber so wenig Clarence auch wusste wie es weiter gehen sollte, so wusste er doch eines unumstößlich: Es benötigte keinen handfesten Plan um schon jetzt zu wissen, dass er keine einzige Sekunde seines Lebens ruhen würde, ohne eine Lösung zu finden. Er würde nicht rasten bevor Matthew wieder er selbst sein und seinen Leib für sich alleine haben würde, ganz gleich wie lange es dauerte oder was es kosten würde. Es war keine Frage des Wie - sondern eine Frage des Wann.
Mit dieser Gewissheit ließ er schließlich vom Knie seines Mannes ab, legte ihm stattdessen für einen Moment die Hand an die Wange und streichelte mit seinem Daumen die Sorgenfalten in Matthews Gesicht entlang. Was ihm Angst machte waren nicht etwa Cassies Gegenwart oder selbst Schaden zu erleiden, sondern viel mehr wo Afarits Grenzen lagen und welche Maßstäbe er dafür ansetzte seine Drohungen zu verkünden in Momenten, die solcher vielleicht gar nicht bedurften. Wen er verletzte und wieso er verletzte. Wo er anfing - und wo er wieder aufhörte.
„Ich bekomme dich wieder hin, Cassie. Ich sage es und meine es“, ließ er seinen Mann schließlich mit fester, entschlossener Stimme wissen und wusste, dass er damit Recht behalten würde. Vielleicht nicht heute und auch nicht morgen, aber irgendwann, wenn er den richtigen Weg dafür gefunden hatte. „Und bis es soweit ist, ist es mir egal was du bist oder wie er dich nennt.
Du bist Matthew Cassiel Sky. Du bist mein Ehemann. Das mag zwar nicht so pompös klingen wie Can-Miramarschvorbeigehen, aber es wiegt schwerer als alles andere es jemals könnte. Vergiss das nicht.“
Hatte er Bedenken? Natürlich.
Hatte er ein ungutes Gefühl nach alledem, was er in seiner Vergangenheit bereits mit Ruby-Sue hinter sich hatte? Zweifelsohne.
Aber in Momenten wie diesen hier war es bei ihnen beiden noch nie um ihre persönlichen Unzulänglichkeiten gegangen sondern darum, füreinander stark und ein stabiles Team zu sein. Als es ihm selbst nicht gut gegangen und er krank gewesen war nach seinem Unfall im Schacht des Spinnenbaus, war sein Mann sein Fels in der Brandung gewesen. Hatte ihn versorgt, hatte ihn ertragen und ihm gesagt wo es langzugehen hatte, als er anstrengend und ängstlich gewesen war. Cassie achtete auf seine Verbände, achtete darauf dass der Blonde seine Tabletten einnahm und behütete ihn, wenn er es selbst nicht konnte sich um sich zu kümmern. Es war eine unausgesprochene Regel ihrer Beziehung, dass sie einander den Rücken stärkten. Einsprangen, wo der andere nicht konnte - oder Entscheidungen trafen, die auf Vertrauen und der Gewissheit beruhten, für sie beide nur das beste zu wollen.
Zwischen lautlosem Schneefall und den hämmernden Kopfschmerzen kam es Matthew unheimlich lange vor, bis Clarence ihm eine Antwort gab. Die Hand auf seinem Knie fühlte sich warm und vertraut an aber es war die Stimme des Blonden welche der Jüngere brauchte, um die Panik in seinem Innersten zu besänftigen.
Die Erkenntnisse welche Afarit ihnen allen hatte zu Teil werden lassen waren für sie auf unterschiedliche Weise beängstigend, besorgniserregend oder aufreibend. Niemand wollte einen der höchsten Feuerdämonen in seiner Nähe wissen - denn wozu das Letzte Inferno im Stande war, konnte sich jeder von ihnen ausmalen.
Afarit mochte ihn schützen, mochte ihn bisher beschützt haben… doch mit seiner Offenbarung hatte er Matt auch angreifbar gemacht.
Die Stimme des Jungen aus der Höhle, des Jungen der verkauft und unzählige Male geschändet worden war und dessen Leben für Minuten geendet hatte mahnte ihn, vorsichtig zu sein.
Sie flüsterte ihm zu, dass man ihn jagen würde. Dass man ihn töten würde. Dass niemand auf seiner Seite stand außer vielleicht der Dämon. Es wäre dumm etwas anderes zu glauben und unendlich naiv anzunehmen, dass irgendjemand ihn und seinen Verbündeten dulden würde. Man würde ihn verraten und man würde ihn hintergehen und sollte Afarit ihn nicht schützen, so würde man ihn früher oder später fangen und hinrichten.
Diese Stimme war immer allgegenwärtig gewesen, all die Jahre lang. Denn sie gehörte zu Matthew wie es auch seine dunklen Augen taten. Er war zu oft betrogen worden, hatte zu oft auf das falsche Pferd gesetzt. Am Ende, das hatte Matt schon früh gelernt, ging es doch irgendwie immer bloß ums Geschäft und darum selbst einigermaßen gut wegzukommen.
Aber die Stimme von Clarence war anders und sie wog so viel schwerer als jene des misstrauischen und gebrochenen Jungen.
Der Blonde war der Beweis, dass es von jeder Regel auch eine Ausnahme gab. Er war der Schimmer der Hoffnung, dass am Ende doch alles gut gehen könnte. Jener Mann bedeutete Matthew alles und er wollte ihm so sehr glauben, dass er ihn wieder hinbekam, dass er seine Angst vor Verrat so gut wie möglich zu verdrängen versuchte.
Ganz brachte er die Stimme des Jungen in seinem Innersten zwar nicht zum Schweigen, aber zumindest murmelte sie nur noch leise.
Matt konnte mit den Erinnerungen vor denen Afarit ihn bisher beschützt hatte noch nichts anfangen. Sie überforderten ihn, brachten ihm Kopfschmerzen und allem voran ängstigten sie ihn - weil er nun mehr Dinge wusste die zu wissen verstörend waren.
Jenes Wesen hatte ihn zurück von den Toten geholt und es hatte die Farm in White Bone bis aus die Grundmauern niedergebrannt. Ohne Zweifel verdankten unzählige Seelen jener Macht ihr Leben.
Das Große Feuer hatte in White Bone gewütet und zwar nicht nur durch Afarit selbst sondern auch durch Matthew - wie jener mittlerweile wusste und sich erinnerte.
Er, der er nicht mal ein Lagerfeuer entzünden konnte, wenn er sich nicht größte Mühe gab… wie paradox.
Als Clarence schließlich sein Kinn umgriff und mit dem Daumen sacht über seine Haut fuhr, ihn ansah und nach einem Moment nachdenklichen Schweigens die Stimme erhob, wusste der Blonde nicht wie schwer seine Worte wogen. Er konnte es nicht wissen.
Seine Stimme allein war es, die die Angst in Matthew in Schach zu halten vermochte. Und auch wenn der Jüngere nicht mehr als ein dünnes Lächeln zu Stande bekam als Clarence seine Wortspielerei vorbrachte, so war das Gefühl in Cassie nun mehr ein bisschen weniger trostlos. „Okay…okay…“, Cassie nickte, verdrängte Tränen der Erleichterung und bemühte sich auch sonst redlich sich zu beherrschen.
„Danke.“ - er wünschte er könnte mehr sagen, aber es fehlten ihm schlichtweg die Worte.
Er fragte nicht nach dem Wie oder nach dem Wann - weil er wusste, dass selbst sein beflissener Ehemann auf diese Fragen aktuell keine Antwort wissen konnte. Vielleicht gab es irgendwo Aufzeichnungen über SIE - dergleichen hatte Afarit angedeutet - aber das bedeutete nicht automatisch, dass es auch Aufzeichnungen über sein Problem gab.
„An dem Tag…als White Bone niederbrannte… bin ich gerade dreizehn geworden. Das heißt… wir sind… länger verbunden als ich überhaupt ohne ihn gelebt habe.“ - er schluckte und blickte unsicher zu Clarence auf, nur um direkt wieder wegzusehen.
„Mir ist kalt.“, wechselte er das Thema unvermittelt und sah zu Oliver, welcher sich anschickte den Karren zu erklimmen und wieder hinter ihnen Platz zu nehmen.
‚Eine gute Position um dir ein Messer in den Rücken zu rammen oder dir die Kehle aufzuschlitzen.‘ - ging es Matthew unbehaglich durch den Kopf und er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her.
„Was…was wirst du tun, wenn wir wieder in der Stadt sind?“ - fragte er den Glatzkopf schließlich, wobei er nicht recht wusste ob er ihm überhaupt glaubten könnte, ganz egal was dieser sagte.
Würde Oliver denn zugeben, sollte er vorhaben andere zu informieren und ihn festzusetzen? Vermutlich nicht.
Natürlich nicht.
Aber Clarence war da - und wenn er sagte, es würde sich eine Lösung finden, dann würde das auch so sein. Diese Hoffnung war im Moment alles was Cassie blieb.
Unentschlossen betrachtete Clarence seinen Mann, der ihm in diesem Augenblick unheimlich klein und zerbrechlich vorkam.
Schon so mancher Erzählung über White Bone hatte er gelauscht. Die meisten waren düster gewesen und nur selten hatten helle Sprenkel von Freundschaft oder schönen Erlebnissen sie etwas weniger trist erscheinen lassen. Der Blonde wagte nicht daran zu zweifeln, dass Cassie – so grausam und bildlich seine Geschichten manchmal gewesen waren – ihn trotz allem noch immer vor der grässlichen Wahrheit verschont hatte. Er hatte Details weggelassen, ihn zwar sehr, aber nicht zu sehr mit seinem eigenen Umgang damit belastet und ganz sicher hatte er seinem Mann nur immer genau so viel zugemutet wie Matthew dachte, dass Clarence es ertragen würde ohne ihn ganz und gar von sich zu weisen.
Die Art und Weise, wie der Dunkelhaarige ihn die vergangenen Monate in seine Vergangenheit eingeweiht hatte, hatte ausgereicht um ihn besser verstehen zu lassen wieso sein Mann in vielen Momenten so war wie er war. Es hatte ihn gelehrt Cassie mit anderen Augen zu sehen. Nicht etwa mit jenen der Verachtung – oh nein. Sondern mit mehr Rücksicht, ohne ihn in Watte zu packen. Mit mehr Nachsicht, ohne ihm alles durchgehen zu lassen. Mit mehr Liebe… einfach dafür, dass er ihm so sehr vertraute, um selbst die schlimmsten Momente seines Daseins mit dem Jäger zu teilen.
All das hatte Clarence immer ertragen können. Nicht mit Hilfe seines Glaubens oder damit, dass er selbst als Vater für ein misshandeltes Kind vermutlich anders empfand, als ein Mensch ohne Nachwuchs es tun würde. Nein, er hatte es ertragen können, weil er sich zwar ein Bild zu den Grausamkeiten ausmalen konnte, die seinem Mann widerfahren waren – aber niemals seinen Mann selbst, den er erst im Erwachsenenalter kennengelernt hatte und zu dem sich seine Vorstellungskraft niemals das Gesicht eines jungen Kindes hatte ausmalen können. Matthews Erzählungen waren in seinem Kopf zu Bildern geworden ähnlich wie die Erinnerungen zum Tod seiner jüngsten Tochter, an deren Antlitz er sich nicht mehr erinnern konnte, wenn er sich nicht gerade ihr kleines Bild zur Hand nahm. Es behütete einen davor nicht durchzudrehen und in Matthews Fall hatte es ihn immer davor behütet den Jungen, Matthew, trotz allem irgendwie vom Mann, Matthew Sky, abzuspalten.
Nachdenklich betrachtete er sich seinen Ehemann noch einen Moment, über dessen Wange er noch immer streichelte und die heute so gar nichts mehr zu tun hatte mit dem ausgemergelten, verwundeten Kind von damals. Oliver konnte nicht wissen, welche Grausamkeiten Matthew, aber vor allem seinen Freunden in den Tagen vor dem Aufeinandertreffen mit dem Dämon widerfahren waren. Aber Clarence wusste es und plötzlich ein greifbares, ein detailliertes Bild vor Augen zu haben, war mehr als er in diesem Augenblick ertragen konnte. Aber dennoch trug er diese Last; so wie er immer für sie beide die Last schultern würde in jenen Momenten, in denen sein Mann nicht konnte. Matthew hielt es schließlich nicht anders in ihrer Ehe.
Selbst als das Gewicht des Sehers ihren Wagen ins Wanken brachte, beobachtete er Matthew noch einen Moment länger und schien in seinen Augen eine Antwort darauf zu suchen, was vorrangig im Kopf des Jüngeren vorging. Hatte er mehr Angst vor den anderen, vor dem Dämonen oder vor sich selbst? Hatte er tatsächlich genug Vertrauen in Clarence um sich sicher sein zu können, dass er neben sich seinen Ehemann sitzen hatte und nicht einfach nur einen Jäger, der vor hatte seine Arbeit zu machen?
Selbige Frage stellte sich allerdings auch über Oliver Hazel und wenn man behaupten würde, dass Matthew sich wie im sprichwörtlichen Haifischbecken fühlen musste, wäre das sicher nicht gelogen.
Das langgezogene Brummen, das Oliver auf Cassies Frage hin über die Lippen kam, fühlte sich für Claire wie eine handfeste Ewigkeit an und er fragte sich unweigerlich, ob der Seher darauf überhaupt schon eine Antwort hatte – oder ob es ihm nicht ähnlich ging wie Matthew und dem Blonden selbst.
„Klingt nicht, als würdest du dich dafür interessieren wie ich das Wiedersehen mit meiner Familie feiere, sobald ich wieder in Falconry Gardens bin“, entgegnete der Glatzköpfige ruhig und kramte dabei in seiner Manteltasche erneut nach den Zigaretten, die zweifelsohne eine gute Idee waren. Clarence entging nicht, dass Oliver kurz stockte sobald er das dazugehörige Feuerzeug in der Hand hielt und um ehrlich zu sein fühlte er nicht weniger erneute Anspannung in sich aufwallen, das die kleine aber helle Flamme kurz in der Hand des anderen entfacht wurde.
„Auch wenn ich noch von keinem von euch beiden gehört habe, dass irgendwelche… unerwünschten Zwischenfälle… im Rahmen dieser Unzumutbarkeit aufgetreten sind“ – mit einer kurzen Handbewegung warf er die Zigaretten dem Blonden entgegen, der beinahe zu perplex gewesen wäre um diese aufzufangen. „Würde ich mir dennoch wünschen, dass ihr euch vorerst nicht zum Hausbesuch bei mir einladet. Ich hänge sehr an meiner Frau und meinen Kindern und freue mich darüber, wenn sie mir noch eine Weile erhalten bleiben. Sicher geht es euch beiden miteinander nicht anders.“
Eindringlich musterte er Matthews Aura, bevor er auch Clarence einen mahnenden Blick auferlegte. Der Blonde mochte zwar nicht an einen Feuerdämonen gekettet sein, aber Oliver kannte ihn auch so gut genug um zu wissen, dass er nicht davor zurückschrecken würde Familie Hazel zu drohen, sollte der Seher selbiges mit seinem Ehemann machen wollen. Er sprach es zwar nicht direkt laut aus, aber selbst trotz all der Farbe in seinem Gesicht und seinen schwarzen Iriden erkannte man ihm deutlich die Quintessenz seiner Worte an: Lass meine Familie in Ruhe und ich lasse vorerst eure Familie in Ruhe, so lange es nicht zwingend notwendig wird.
„Die Frage ist: Was wollt ihr jetzt tun, wenn wir zurück in der Stadt sind? Wer weiß, ob auf mein Wort verlass ist… oder auf das von Afarit. Ich würde es dir nicht übel nehmen, wenn dir die Gefahr zu groß ist. Vielleicht überfällst du mich in der Nacht, um mich zum Schweigen zu bringen. Oder du packst deine Sachen und bringst etwas Sicherheitsabstand zwischen dich und die Gemeinde. Aber ich bin mir sicher… der hier lässt dich nicht nur mit deinem Gepäck und dir selbst losziehen. Was erzähle ich dann dem Clan wenn sie fragen, ob ich heute auf der Fahrt nichts von euren Plänen mitbekommen habe?“
„Niemand wird fragen – weil wir nicht morgen früh weg sein werden“, grätschte er dem Glatzkopf in die Parade, wobei er jedoch schon nachdem er ausgesprochen hatte nicht mehr so sicher war, ob das überhaupt stimmte. Bislang hatte er sich noch keine Gedanken gemacht wie es mit den neuen Informationen weitergehen würde, ein Umstand bei dem Oliver ihm ganz offensichtlich schon einen Schritt voraus war.
„Du wirst morgen früh nicht weg sein. Hast du verstanden?!“, fügte er nach einem kurzen Schweigen an, in dem er plötzliche Panik in sich aufwallen spürte. Die gleiche Panik die er über Monate hinweg verspürt hatte, nachdem sie zurück in Falconry angekommen waren und entgegen der allgemeinen Versprechungen Matthew nicht hier auf ihn gewartet hatte.