Bibliothek des Clans
11. Januar 2211
Oh, über Sturheit und Beharrlichkeit würden sie wohl beide ein Lied singen können und wenn man es ganz genau nahm, dann war es doch wirklich ein wenig verwunderlich, dass sie trotzdem so gut miteinander funktionierten. Matthew wie auch er selbst hatten stets dazu geneigt mit dem Kopf durch die Wand zu wollen und wenn die Dinge nicht so liefen wie erhofft, dann machten sie so lange dicht, bis die Welt um sie herum sich einfach fügte. Das hatte der Blonde schon immer verlässlich durchgesetzt, indem er bei Streitereien einfach im Unterholz verschwunden war bis sich ihr Disput von alleine in Luft auflöste und Cassie… nun ja. Der wusste mit seiner charmanten Art einfach so derbe in jede sichtbare Kerbe zu schlagen, bis sich sein Gegner irgendwann geschlagen gab.
Ihr gemeinsames Talent für Renitenz hatte sich erst in dem Moment etwas gelegt, als sie verstanden hatten, sie würden einander damit vertreiben anstatt das zu bekommen was sie wollten. Als sie in den Augen des anderen erkannt hatten, welchen Schaden und welchen Schmerz sie mit ihrem Verhalten anrichteten und bei Gott, Clarence hatte so ziemlich alles im Sinn außer seinen Mann mit Absicht zu verletzen.
Dass Cassie in der Vergangenheit trotz seiner Sturheit nicht umgebracht wurde, war ihnen letztendlich beiden zugutegekommen und doch war das nichts, was sich nicht heutzutage noch schnell nachholen ließ – denn so gut wie sich die Hand des anderen auch anfühlte, die sich vertraut und innig mit seiner verflochten hatte, so schneidend waren doch die Worte des Dunkelhaarigen, mit denen er mal wieder in die offensichtlichen Kerben preschte, wie es seinem Talent entsprach.
Wenn er eines Tages starb, dann nicht etwa durch mutierte Insekten, durch den Absturz mit einem Zeppelin oder durch Erfrieren in einer Eiswüste. Vielleicht brachte nicht einmal vergiftetes Essen Clarence um. Ganz alleine durch das lockere Mundwerk seines Mannes würde er den Tod finden, vermutlich noch früher als später und gerade weil sich früher gerade sehr nah anfühle, drückte Clarence die Hand des Jüngeren sanft, während er ihm einen kurzen Blick zuwarf – dabei den Nagel seines Daumens mahnend in den kleinen Finger seines Mannes bohrend.
„Wer der hier Anwesenden kommt schon über den Tod des eigenen Mannes hinweg, mh?“, murmelte er leise, verborgen unter einem leisen Räuspern, das sowohl Ausdruck über die unangenehme Situation widerspiegeln konnte wie auch einen Hinweis darauf, die Gesprächsinhalte vielleicht lieber auf vergnüglicheren Themen zu belassen. Was er jedoch damit bedeuten wollte war nicht nur, dass Cassie die Rachegelüste einer Witwe nicht unterschätzen sollte, sondern dass er besser auch nicht vergaß, dass sie beide kürzlich erst die gleichen Sorgen umeinander geteilt hatten. Clarence hatte keinen großen Bedarf daran sich schon wieder mit der Trauer um seinen verstorbenen Ehemann auseinander zu setzen, nur weil sich Matthew in den kommenden Sekunden mit seinem feixenden Geplapper eines der Steakmesser mitten ins Herz einfing.
In der kurzen Sille, die zwischen ihnen aufkam, spürte er deutlich den Blick Mo’Anns auf sich und auf seinem Mann ruhen. Auch wenn sie den verbalen Seitenhieb nicht weiter kommentiert ließ, so sprach ihr schmales, stilles Lächeln so viele Worte, dass man zweifelsohne mehrere Bücher damit hätte füllen können.
Schließlich war es das leise Rascheln von Pergament als sie den Brief und ihre Lesebrille vor sich auf den Tisch legte, die das leise Knistern des Kaminfeuers erstmals wieder durchbrach, nur um sich kurz darauf vom Kopf des Tisches zu erheben.
„Nun, ich beginne langsam zu begreifen welche Charakterstärke es wohl ist, die du an deinem Partner so zu schätzen weißt. Es muss erquickend sein endlich jemanden an deiner Seite zu haben, der das Herz derart auf der Zunge trägt“, entgegnete Mo’Ann ruhig an den Größeren gewandt und fing dabei eines jener Worte wieder auf, das Matthew kurz zuvor verwendet hatte. Ihr Gang führte sie an den eingedeckten Platz nur wenige Schritte weiter an der Längsseite, gegenüber dem nebeneinander sitzenden Paar, das seine Zugehörigkeit zueinander so offen durch sein Händchenhalten demonstrierte.
Was Clarence hingegen auf der Zunge lag war, dass Matthew wenigstens ein Herz hatte ganz im Gegensatz zu Nathan Abaelardus, der ihnen auf bedrückende Weise vom anderen Ende des Raumes aus beim Abendessen zusah.
Längst hatte der Hüne damit aufgehört dem Jüngeren den Nagel in die Hand zu pressen um ihn damit ein wenig mehr Überlegung ob seiner Wortwahl zu mahnen und doch war er es schließlich selbst, der in nüchternem Tonfall die Stimme wieder erhob: „Warum hast du uns heute Abend einbestellt? Sicher nicht nur, um mit uns über Bücher oder die Charakterzüge meines Mannes zu reden.“
Ruhig und – aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein - für Mo’Anns Verhältnisse beinahe schon bemüht sortiert streifte die Ältere den holgeschnitzten Ring von der stoffenen Serviette ihres Tellers um damit ihren Schoß zu bedecken und kurz an den Ecken zu zupfen, um die Tischwäsche akkurat auf sich auszurichten. Er wusste nicht, ob sie dabei die direkte Ansprache des Elefanten im Raum störte oder einfach nur die Tatsache, dass er nicht von Matthew sprach, sondern bewusst von seinem Mann – eine Formulierung, die offenkundig noch immer nicht jeder im Clan gewöhnt war, auch wenn bis auf die üblichen Verdächtigen die meisten damit aufgehört hatten, hinter hervorgehobener Hand über jenen Umstand zu tuscheln.
„Auch. Aber sicher nicht nur“, stimmte Mo’Ann schließlich zu und goss sich aus einem der Kelche einen Schluck Rotwein ein, der hell und trotzdem mundig in ihrem Glas umher schwappte. Wie weit verbreitet üblich, streckte man auch in dieser Region im Winter den Alkohol zu den Mahlzeiten mit etwas Wasser, damit man länger etwas davon hatte wenn man nicht wissen konnte, ob er Schnee dieses Mal nur Monate oder gar wieder Jahre über dem Land liegen würde.
„Es mag dich irritieren, aber auch wenn derzeit Unruhen im Clan die Vorherrschaft halten, haben wir hier doch stets unsere ungeschriebenen Regeln und Privilegien zu wahren. Nur, weil du mit Matthew zurückgekehrt bist statt mit einer Ehefrau, bewahrt euch das nicht vor den gleichen Ritualen und Gesprächen – sowie vor den Fragen, die eure Ehe künftig aufwirft.“ – und weil Clarence davon absah ihr Worte in den Mund zu legen auf denen sie herumreiten konnte, fügte die Ältere schließlich an: „Seid ihr euch bereits einig darüber geworden, ob ihr in der Stadt bleiben werdet oder nicht?“
Es war nicht die Art wie sie es sagte oder welche Worte sie wählte, die Clarence kurz stutzen ließ, noch war er sich sicher, ob ihre Frage eine Finte war oder ob sie überhaupt so weit dachte. Im Moment war er sich über gar nichts mehr sicher und so belastbar die wenigen Trittsteine ihres Gespräches auch wirken mochten, so schnell würden sie ihnen unter den Füßen hinfort brechen können, wenn sie nicht aufpassten.
„Ich werde die anstehenden Änderungen nicht zum Anlass nehmen und versuchen in einen anderen Clan zu wechseln, wenn du das meinst.“
„Was sollte ich sonst meinen?“, konterte Mo’Ann ruhig und nahm einen Schluck Wein aus ihrem Glas, bevor sie schließlich mit Blick auf Matthew auf eine der bedeckten Schalen des Tisches deutete, die von kleinen Kerzenflammen warm gehalten wurden. „Als Ehrengast des heutigen Abends obliegt wohl dir die Ehre den Braten anzuschneiden, den Kevin für uns geschmort hat. Es wäre schade, wenn wir noch länger warten und das Fleisch trocken wird.“
Unter anderen Umständen wäre die Unterhaltung mit Mo‘Ann amüsant gewesen. Die Frau ließ sich nicht wirklich aus der Reserve locken, gab allerdings keinen Anlass zu glauben, sie verstünde die ausgeteilten Spitzen nicht. Zwischen ihnen beiden herrschte keine Sympathie - und von Matthews Seite aus noch nicht einmal Respekt.
Hätte er gekonnt wie er wollte, er hätte schon längst das Geplänkel hinter sich gelassen und Mo‘Ann mit dem konfrontiert was sie wussten.
Aber sein Mann hatte da eindeutig etwas dagegen, wie der fiese Druck seines Fingernagels in seine Hand bewies.
Einer unausgesprochenen Mahnung gleichkommend, den Bogen nicht zu überspannen- wie es Matthews Spezialgebiet war.
Was genau sich der Blonde davon erhoffte sich zu mäßigen war klar: den Abend zu überleben und gleichzeitig mehr über die Asse im Ärmel Mo‘Anns zu erfahren.
Trotzdem fiel es Cassie nicht leicht sich zu mäßigen. Aber immerhin: die Bemerkung ihrer Gastgeberin über ihn ließ er unkommentiert.
Wenn sie nur wüsste wie sehr er sein Herz wirklich auf der Zunge trug.
Aber er musste auch gar nichts dazu sagen, denn nun war es an Clarence das Gespräch endlich in eine sinnvolle Richtung zu lenken.
Weshalb Mo‘Ann sie eingeladen hatte war ein Punkt über den sie sich bereits ausführlich die Köpfe zerbrochen hatten - ohne wirklich schlauer zu werden.
Die Witwe des Nagi Tanka schien sich bei dieser direkten Frage nicht ganz wohl zu fühlen, als wäre die Antwort eine unangenehme.
Das hieß entweder, dass sie etwas von ihnen wollte - was Cassie allerdings nicht annahm - oder, dass sie die Einladung unfreiwillig ausgesprochen hatte. Was auch nicht wahrscheinlich schien, hielt sie doch selbst die Fäden im Clan zusammen.
‚Vielleicht…‘, so dachte Cassie, ‚…sehe ich auch nur Gespenster.‘
Von welchen Ritualen und Pflichten im Anschluss die Rede war, wusste der Jüngste der Runde freilich nicht. Ihm waren die Gepflogenheiten des Clans weitestgehend nicht geläufig auch, wenn Clarence ihm schon ein paar Dinge beigebracht hatte. Abwartend lehnte sich der Dunkelhaarige also zurück und verfolgte den Wortwechsel der beiden anderen aufmerksam.
Offenbar gab es die Option die Kestrels zu verlassen und einem anderen Clan beizutreten - eine Möglichkeit die für Mo‘Ann vielleicht sogar ansprechend gewesen wäre. In dem Fall hätte sie sie beide nicht mehr direkt vor der Nase - und könnte weiter ihr Süppchen kochen.
Gleichzeitig würde sie sie aus der Ferne im Auge behalten können.
Schließlich fiel der Blick ihrer wachen Augen wieder auf ihn und mit einem Nicken gen Schale wechselte sie wieder das Thema.
„Ich verstehe nicht viel von den Regeln und Gepflogenheiten eines Clans. Wie Sie sicher wissen, hatte ich bisher…wenig Berührungspunkte mit Jägerclans.“, er erhob sich von seinem Platz, löste seine Hand von der des Blonden und nahm den Deckel von der abgedeckten Schale.
Im Inneren der Schüssel lauerte widererwartend keine Giftschlange um ihn tödlich zu verletzen, sondern ein Rehrücken, gespickt mit Beeren und Kräutern. Mit dem Dampf stieg auch der köstliche Geruch der verschiedenen Aromen auf und jetzt bekam Matthew wirklich Hunger.
„Vielen Dank für die Ehre. Sieht großartig aus.“ - das war nicht gelogen, aber bevor Mo‘Ann nicht gegessen hatte würde auch er keinen Bissen anrühren. „Als Interimsleitung sind Sie die Person mit dem höchsten gesellschaftlichen Ansehen im Raum. Also bekommen Sie das erste Stück. So macht man es zumindest da, wo ich herkomme.“
Während Mo‘Ann ihn duzte blieb Matthew beharrlich beim „Sie“ - freundlicher war das allerdings auch nur, wenn man nicht genau auf seine Wortwahl achtete. Die Hand in ihre Richtung ausstreckend, gab sie ihm ihren Teller und Matthew machte sich mit der anderen Hand daran, ein Stück von dem Rehrücken abzuschneiden und es auf ihrem Teller zu platzieren. Ebenfalls wanderten Kartoffeln und etwas Kohl zum Reh, während er scheinbar gelassen weitersprach.
„Jedenfalls frage ich mich… ob es wohl möglich wäre, für mich als Außenstehenden, eine Anstellung innerhalb des Clans zu finden ohne mich mit dem Leben zu verpflichten. Wissen Sie, was ich meine? Oder ist meine Frage bei Ihnen nicht richtig platziert?“ - eigentlich wollte er auf etwas anderes hinaus.
„Warum sollte sie nicht richtig bei mir sein? Ich werde darüber nachdenken.“ - ihre Erwiderung klang hölzern in Cassiels Ohren und er fügte an: „Ich dachte, weil ich davon ausgegangen bin, dass Sie vielleicht nur die vorübergehende Leitung innehaben, sollte ich vielleicht die Frage an die Person richten die künftig die Geschicke des Clans lenkt. Mein Fehler, tut mir leid.“, er lachte kurz auf und schüttelte den Kopf als wollte er sagen ‚Ich bin so ein Schussel!‘
Die Stille bei Tisch wurde nur vom Klappern des Geschirrs und dem Prasseln des Feuers im Kamin untermalt.
Und während er ihr schließlich den gefüllten Teller reichte, ihr dabei mit einem vagen Lächeln in die Augen blickte, fragte er:
„Wie wäre es, wenn wir zum Punkt des Treffens kommen, hm? Ich darf davon ausgehen, dass Sie wissen was Sie wollen.“
Nun ja, wenn eine einjährige Ehe mit einem Jäger, das Campieren mit zwei weiteren in Denver und seine neue platonische Liebesbeziehung mit Cameron für Matthew wenig Berührungspunkte mit Jägerclans war, vielleicht wollte Clarence dann besser nicht wissen was für ihn viele Berührungspunkte waren.
Aber er hatte recht, per se hatte der Blonde stets versucht seinen Mann so gut es ging aus derlei Dingen heraus zu halten. Von den Kestrel hatte Cassie erst in Coral Valley erfahren und einige Dinge erst noch viel später – und es wäre gelogen zu behaupten es gäbe nicht noch viel mehr grundlegende Dinge zu wissen, die Claire ihm nicht verschwiegen hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte der Jüngere versucht ihm die ein oder andere Information zu entringen und entweder hatte er es irgendwann aufgegeben, oder es hatte ihn am Ende einfach nicht mehr interessiert. Beides war möglich und beide Begründungen hätte der Hüne dankend angenommen, der zur Zeit ihres Kennenlernens und Offenbarens niemals davon ausgegangen wäre, dass er mit diesem Taugenichts eines schönen Tages mal verheiratet sein würde.
So wenig wie Matthew über das Leben in einem Jägerclan wusste, so wenig wusste dessen Ehemann, was um alles in der Welt nun schon wieder eine Interimsleitung darstellen sollte. Vielleicht hatte er sich aber auch nur verhört und Cassie hatte die Teamleitung gesagt; es würde den angekündigten Fragen über ihre Ehe eine furchtbar unangenehme Richtung aufbürden die Clarence nicht bereit war zu gehen, wenn sein Mann gar als verbalen Seitenhieb Intimleitung gesagt hätte – ein Gedanke, bei dem er schwer schluckte und sich unweigerlich verschluckte, als Matthew dann auch noch davon anfing, auf eine unkonventionelle Art und Weise als Hilfskraft beim Clan anheuern zu wollen.
Der einstige Söldner konnte in diesem Moment wirklich froh sein, dass er ein großes Messer in der Hand hielt und selbst auf Distanz wusste wie man damit umging. Denn ansonsten hätte Clarence ihn spätestens jetzt nicht mehr nur gekniffen, sondern so unterm Tisch getreten, dass die Beeren vom Rehrücken gekullert wären.
„Wein?“, lenkte Mo’Ann ein, die mit ihrer ungeschlagenen Gelassenheit beobachtete, wie Clarence‘ Gesicht die Farbe von selbigem annahm, im Versuch seinen Husten zu unterbinden. Wenn er ehrlich war, dann war es ihm gerade sowieso egal ob von diesem Tisch irgendetwas vergiftet war oder nicht – denn wenn, dann starb er hier drinnen wenigstens lieber betrunken als ganz und gar nüchtern seinem Ende ins Antlitz zu blicken. So fand wenigstens der Wein in ihrer beider Gläser, wenn schon nicht der Braten alsbald den Weg in seinen Magen fand.
„Nun, wie ich eben bereits sagte: Es gibt Dinge zu klären, solltet ihr euch entschließen hier bleiben zu wollen. In Falconry Gardens“, fasste sie ihre Worte noch einmal zusammen und schaffte dabei schließlich ihren Blick wieder vom Blonden zu lösen, um stattdessen wachsam seinem Gemahl zu beobachten. Bemüht deutlich artikulierte sie sich dabei, fast schon so als bezweifle sie ein wenig die Aufmerksamkeitsspanne des Dunkelhaarigen, immerhin waren sie an einem ähnlichen Punkt gerade schon gewesen.
„Dass du nicht weißt wie sich die Dinge hier abspielen, kann nur zwei Dinge bedeuten. Entweder spricht es stark für Clarence, der sich an den Codex hält, dass Jäger und ihre Gepflogenheiten unter sich bleiben – oder es spricht gegen dich und deine locker sitzende Zunge“, ruhig nahm sie noch einen Schluck aus ihrem Weinglas und lehnte sich im Stuhl zurück, bis auch die anderen beiden mit vollen Tellern gesegnet waren. „Herauszufinden gilt, welche der beiden Möglichkeiten mehr Gewicht hat und wie viel Informationen man dir als frisch gebackenem Familienmitglied anvertrauen kann. Manche Partner fügen sich besser in das Leben als Angehöriger eines Jägers ein als andere, weil sie verstanden haben, dass wir uns alle dem Wohl des Clans unterzuordnen haben. Und dann wiederum gibt es jene, die ihre individuellen Freiheiten nur ungern einschränken, damit das System hier funktioniert. Wir alle haben die Privilegien unserer Positionen genauso zu schultern wie die Lasten, die damit einher gehen. Das sollte dir umso mehr bewusst sein hinsichtlich dessen, dass du eine… ‚Anstellung‘ in Betracht ziehst, ohne dich dabei dem Clanleben verpflichten zu wollen.
Aber ich frage mich, hast du dich nicht schon genau diesem Leben verpflichtet dem du aus dem Weg gehen willst, als du Clarence geheiratet hast?“, fügte sie mit deutlichem Interesse in ihren dunklen Iriden an und musterte den Jüngeren dabei wachsam, fast so als habe er sich eine teure Anschaffung geleistet, ohne dabei den Erhaltungsaufwand und die Pflege zu bedenken. „Wieso solltest du bei einem Clan anheuern wollen ohne dich ihm zu verpflichten, obwohl sich eure Ehe während eures Lebens hier abspielen wird?“
Ihr Blick verriet Interesse, fast so als könne sie das Geheimnis erahnen, dass Matthew dieser Ehe generell nicht genug Zeit zumutete um ein Leben lang halten zu können- oder aber vielleicht kannte der Dunkelhaare Clarence mittlerweile auch schon gut genug um zu wissen, der Blonde würde durch seinen Übermut vielleicht sowieso nicht alt genug werden, um ein Leben lang in Falconry Gardens bleiben zu müssen. Mit dem Dasein als Witwer wäre er dann natürlich auch von dieser Stadt gelöst, vorausgesetzt er hatte sich bis dahin nicht dem Clan verpflichtet.
„Wie dem auch sei“, nahm sie den Faden in einem Tonfall wieder auf, als wäre die Antwort auf ihre Frage rein fakultativ und eigentlich nur von wenig Bedeutung – und dass dem so war, hörte Clarence ihr deutlich an. Er kannte diese Frau bereits lange genug um ihr anzumerken, dass sie scheinbar gar nicht erst davon ausging, diese Bindung könne länger halten als bis zum ersten Schneetauen. „Es muss besprochen werden, wo ihr in der Stadt zu wohnen gedenkt. Wie du dich sinnvoll auch in den Zeiten einbringst, während denen Clarence für den Clan auf Reisen statt in der Stadt ist. Auch welche Verpflichtungen der Clan dir als Witwer gegenüber hat, sollte dein Mann nicht von einem Auftrag zurück kommen.“ – Denn auch wenn Matthew sich offensichtlich nicht selbst verpflichten wollte, genoss er dennoch gewisse vorzüge.
„Wir müssen darüber reden, welche Position du im Clan einnehmen wirst, nun wo du wieder hier bist – und was das für deinen Mann bedeutet“, fügte sie an Clarence gewandt an, der – obwohl so lange verschollen – trotzdem nicht in Vergessenheit geraten war. Aus dem Schüler des einstigen Führers war über die Jahre hinweg seine rechte Hand geworden. Inoffiziell zwar, aber dass er schon lange kein einfacher Bauer mehr auf dem Schachbrett des Clanalltags war, sollte selbst dem Blonden langsam bewusst sein.
„Das sind Fragen, die wir normalerweise vor einer Eheschließung besprechen. Aus offensichtlichen Gründen müssen wir es in diesem Fall anders herum handhaben. Aber eine der Grundlagen dieses Clans ist, dass wir zum Punkt unseres Treffens gemeinschaftlich dann kommen, wenn das Mahl beendet wurde. Das liegt weniger daran die Speisen könnten erkalten, als viel mehr an dem Umstand, dass unsere Männer mit leerem Magen zu mehr Diskussionen und Aggressionen neigen als mit vollen Bäuchen. Was das angeht, hätten wir sicher bereits einen Punkt, in dem du dich gut ins Bild einfügen würdest“, nickte sie dem Dunkelhaarigen entgegen, dessen Magenknurren sie beim Anschneiden des Bratens bis zu ihrem Platz gehört hatte.
„Möchtest du ein Tischgebet sprechen, Clarence? Nein? Das habe ich mir bereits gedacht. Dann essen wir einfach. Bedauerlich, aber Zeiten ändern sich, wie man sieht.“
„Nicht alles. Manches ändert sich selbst nach einigen Jahren nicht“, widersprach der Blonde ihr ruhig und nippte an seinem Wein, der ihm verdächtig unverdächtig vorkam und der sicher unheimlich gut zum Rehrücken passte, so wie er Mo’Ann kannte. Allerdings kannte er genauso gut ihr Talent dafür, die Wege hin zu Hiobsbotschaften dermaßen mit Smalltalk zuzupflastern, dass man sich genug eingelullt fühlte, um die harte Backpfeife am Ende ihrer Monologe gar nicht mehr richtig kommen zu sehen.
Die Zeit irgendwelche Floskeln in Form von Freundlichkeiten auszutauschen war nun mehr endgültig vorüber.
Mo‘Ann nahm kein Blatt vor den Mund und ließ keine Gelegenheit aus um Matthew und seine Beziehung zu Clarence vorzuführen.
Sie attestierte ihm ein loses Mundwerk -was nicht falsch war - und hielt einen kurzen Monolog darüber wie gut oder schlecht sich manche Angehörige im Clangefüge einfanden.
Als ginge es bei ihrem Treffen nicht um etwas ganz anderes. Aber ihre Gastgeberin spielte eine perfekte Rolle, tat noch immer so als würde es hier lediglich um eine Einladung aus Höflichkeit gehen. Und natürlich um irgendwelche Regelungen zu treffen - nach denen sowieso kein Hahn krähte. Was aus ihm werden sollte, sollte Clarence versterben.
Die reinste Anmaßung davon zu reden oder war es gar eine indirekte Drohung?
Matthew, der jene Frau schon alleine dafür verachtete weil sie mit dem Mann verheiratet gewesen war, der unaussprechliche Verbrechen begangen hatte, hatte Mühe damit sich zu beherrschen.
Er wusste, dass so ziemlich jedes ihrer Worte dazu dienen sollte ihn zu provozieren- und leider gelang ihr das ausgezeichnet.
Obwohl er mit so vielen Männern zutun gehabt hatte denen ihre Autorität wichtig gewesen war, tat Matthew sich noch immer schwer damit Autoritäten anzuerkennen- und Mo‘Ann stellte ihre vermeintliche Überlegenheit geradezu lächerlich deutlich zur Schau.
Aber all das Wissen half nicht es für den Dunkelhaarigen leichter zu machen. Er wollte weder hier sein, noch mit dieser Frau länger als nötig reden. Ihr zuzuhören triggerte eine Aggression in ihm die er schlecht einordnen konnte und jedes ihrer Worte schien es nur schlimmer zu machen.
Angefangen von der Stichelei bezüglich seiner Vertrauenswürdigkeit bis hin zu dem Thema seines Verbleibs wenn Clarence auf Reisen mit dem Clan war. Als würde er, einem kleinen Heimchen gleich, ausharren und treudoof darauf warten, dass sein Mann sich erbarmte zurückzukehren.
Sollte es in der Realität darauf hinauslaufen, dass er hier warten sollte und der Blonde draußen irgendwelchen Aufträgen nachjagte, so würde Matthew keinen Tag länger in Falconry bleiben.
Aber das zu sagen wäre selten dämlich gewesen.
Trotzdem wollte er es tun. Wollte ihr sagen, dass sie sich ihre affektierte Scheiße sparen konnte, weil sie die Gepflogenheiten des Clans nicht interessierten. Doch er konnte es sich nicht leisten den Kopf zu verlieren und von Clarence konnte er keine Hilfe erwarten. Der Blonde trank lieber seinen Wein und schwieg sich ansonsten weitestgehend aus.
Ihm schien es damit weitaus besser zu gehen als Cassiel.
Der Blonde unternahm keinen Versuch ihre Ehe zu verteidigen, klarzustellen, dass ihm nicht gefiel wie sie mit Matt redete oder auch nur um zu erwähnen, dass sie beide nicht hier waren um sich bestmöglich einzufügen. Der Blonde unternahm rein gar nichts - und Matt fühlte sich vollkommen allein.
Da war er nun, in der Bibliothek des gütigen Mannes der wie zum Hohn von seinem Gemälde aus über die Tafel wachte. Seine Frau wusste wer mit ihr am Tisch saß und kam damit durch ihn vorzuführen.
All das, während Clarence neben ihm saß und alles seinem Bestreben unterordnete erstmal herauszufinden was sie wusste.
Unter diesem Deckmantel verbarg er, was nach Matthews Meinung nach eigentlich Tatsache war: er wollte an diesen Ort gehören.
In diese Stadt. In dieses Gebäude. Zu diesen Leuten.
Er wollte über Eric Amber reden. Er wollte bei Wein über Jägerinternas fachsimpeln. Und vielleicht wollte er wirklich mit seinen alten Brüdern losziehen, ein paar Monster erschlagen und Dämonen austreiben.
Vielleicht stellte er sich wirklich vor, dass Cassiel in diesem gemeinsamen Leben zuhause auf ihn wartete.
Wer wusste das schon?
Cassiel wusste jedenfalls, dass das nicht geschehen würde.
Als er den Jäger damals geheiratet hatte, war ein Clan nicht Teil ihrer Ehe gewesen und nun da die Realität sie eingeholt hatte sollte Matthew sich in ein Leben fügen, dass nicht seinen Vorstellungen entsprach.
Flüchtig sah der junge Mann erneut zu dem Gemälde des einstigen Clsn-Anführers, dann senkte er den Blick auf seinen Teller. Ihm lag so vieles auf der Zunge aber letztlich erwiderte er nur: „Was auch immer Sie sagen Ma‘m. Ich hätte nicht so direkt fragen sollen. Manchmal rede ich schneller als ich denke.“ - sollte sie ihn doch für beschränkt halten oder sonst was.
Mittlerweile war er zu der Erkenntnis gelangt, besser nichts mehr zu sagen - so lief er wenigstens nicht Gefahr, seine Verachtung für sie noch deutlicher zu untermalen. Das Essen konnte derweil riechen so gut wie es wollte, Matt rührte es nicht an. Mit der Gabel schob er es etwas hin und her, hatte aber kein Interesse daran etwas zu probieren.
Daran änderte sich auch nichts als die Dame des Hauses ihn darauf ansprach. Er hatte von Anfang an kein Interesse an einer Unterredung gehabt und nun da sie dennoch stattfand fühlte er sich so deplatziert wie ein Fuchs unter Wölfen. Und jeglicher Appetit war ihm schon lange vergangen.
Die Stimmung, welche sich über der langgezogenen Tafel manifestiert hatte, war zweifelsohne für mindestens zwei Drittel der Anwesenden nur schwer erträglich. Wie dichter Nebel hatte sich die Bedrückung über das Essen gelegt, verdarb jeglichen Hunger den der Geruch des gut geschmorten Bratens vielleicht hatte aufkeimen lassen und ließ den Blonden sich derart schwer um die Brust fühlen, als hätte man ungefragt eine schwere Decke über ihn geworfen.
Lediglich Mo’Ann schien davon unberührt – die weder den fehlenden Appetit ihres Ehrengastes, noch den ausbleibenden Elan des Blonden nachvollziehen konnte.
„Ihr wirkt fast als würdet ihr befürchten, jemand hätte etwas unter die Bratensoße gezogen. Dabei bin nicht ich diejenige, die sich hier am Tisch mit derlei Kräutern am besten auskennt“, tat sie schließlich ihre Unzufriedenheit über derartiges Verhalten kund, immerhin war es auch für restliche Anwesende am Tisch nicht gerade appetitanregend, solchem Gestocher beiwohnen zu müssen. Und doch schien sie nicht wirklich verärgert, sondern eher… zufrieden darüber, welche Ruhe sie mit ihrer Auflistung über den Tisch gebracht hatte.
Wie eine Mutter, die den aufkeimenden Tobsuchtsanfall ihres Kleinkindes erfolgreich im Keim erstickt hat, ging es dem Älteren durch den Kopf und tatsächlich kam ihr Spitzname Mo’Ann ja nicht von irgendwo her, sondern stellte eine Abkürzung für Mother Annedore dar.
Oh, wie viele Monate und Jahre hatte sie zusammen mit Nathan daran herumgedoktert, ihn auf eine ähnliche Weise endlich ruhig zu bekommen. Ihm die Flausen auszutreiben, ihn Stille und damit eine Wachsamkeit zu lehren, ohne dabei zu erahnen, wie viel Geduld sie ihm damit auch beigebracht hatten. Geduld Dinge auszusitzen, zu ertragen und für sich zu behalten. Geduld zu lernen, dass Menschen wie Nathan und Annedore ihre Geheimnisse und ihre wahren Gesichert am ehesten dann offenbarten, wenn sie sich über ihren Gegenüber erhaben und in ihrer Überlegenheit sicher fühlen konnten.
Vielleicht interpretierte Clarence ihren Worten auch zu viel Gewicht bei, suchte deutliche Hinweise wo keine waren, aber waren Kräuter in der Soße ihre Art anzudeuten, dass sie auch ihren Gästen gegenüber auf der Lauer war? War es ein Friedensangebot Matthew den Braten mit dem großen Messer zu überlassen, um sie beide zu testen, dass der Dunkelhaarige sie weder mit dem zweckentfremdeten Tischbesteck abmurkste, noch beim Anschnitt irgendwelche tödlichen Kräuter aus dem Ärmel zauberte, bevor er ihr den Teller überreichte?
Aber keiner wäre so blauäugig dann noch von eben solchem Teller zu essen, wenn man schon derartige Befürchtungen hegte. Nicht mal Clarence zu seinen lebensmüdesten Zeiten.
Schweigend blickte selbiger zu seinem Mann hinüber, der das Gemüse auf seinem Teller schon so lange umher schob, dass alles mittlerweile die Farbe der besagten Bratensoße angenommen hatte. Er wusste wie sehr sein Mann Stille hasste – und wie viel mehr er es noch verabscheute, wenn Clarence sich ausschwieg anstatt mit ihm zu reden. Das auszuhalten fiel Matthew schon auf Reisen und Zuhause unheimlich schwer und der Christ konnte sich nur annähernd vorstellen wie es dem Jüngeren dann wohl damit gehen musste in dieser Umgebung hier. Im Feindgebiet, beobachtet von den wachsamen Augen eines Portraits, eingeladen von eben jener Ehefrau, die ihren Gatten sicher vergöttert hatte, der über so viele Jahre hinweg Unaussprechliches mit Matthew getan und über diesen ergehen lassen hatte.
Selbst verheiratet mit und sitzend neben einem Mann, der Mo’Anns Attitüden einfach schweigend ertrug anstatt dagegen anzugehen und der ihren Mann Nathan Abaelardus einige Zeit lang vielleicht nicht weniger vergöttert hatte als dessen Ehefrau. Jedenfalls bis zu jener Zeit, als er es besser gewusst hatte.
„Naja, so viele Informationen auf einmal liegen einem schwer im Magen. Es ist nicht einfach am Appetit festzuhalten, wenn man sich mit der Abwesenheit des eigenen Mannes auseinander setzen soll. –-- Du weißt ja sicher wie das ist“, fügte er nach einer kurzen Stille ruhig an, während derer er Matthew eindringlich musterte. Cassie mochte es nicht ertragen können, wenn ein Gespräch zum Erliegen kam – aber noch weniger konnte Clarence es ertragen, wenn der Dunkelhaarige plötzlich schwieg, der ansonsten dazu neigte vor allem in Momenten des Unwohlseins zu Plappern. Das war die Art seines Mannes sich abzulenken, Brücken zu schlagen wenn sie sich auf Wanderschaft nicht grün gewesen waren oder einfach nur die Leere zu füllen, als käme er manchmal nicht damit zurecht mit seinen eigenen Gedanken alleine gelassen zu werden. Aber wenn Matthew schwieg, verletzte das den Blonden weit mehr als tausend boshafte Worte es aus dem Mund seines Mannes tun könnten – und selbst wenn er vor wenigen Minuten noch der unausgesprochenen Meinung gewesen sein mochte, dass es besser wäre weniger zu sticheln, so wirkte Matthew im Augenblick auf ihn vor allem eines: Gebrochen.
Und das war etwas, das er nicht mehr vergessen oder ihr verzeihen würde, so lange diese Frau im Gegensatz zu ihrem Mann noch lebte.
Letzten Endes musste er jedoch darauf Acht geben, dieses Fass nicht unnötig noch weiter aufzumachen. Jedenfalls nicht hier und nicht heute.
„Zumindest gefühlt waren Nagi und ich mehr auf Reisen als hier in Falconry.“
Mehr auf Reisen mit Clarence als hier in Falconry bei ihr.
Genau genommen hatte diesen Mann nur selten die Aussicht auf seine Frau zurück in die Stadt gezogen, wenn Claire genauer darüber nachdachte.
Aber so sind die Männer. Wenn sie eine Chance sehen ihrer Frau zu entkommen, nutzen sie sie, lag es ihm als schlechter Scherz, dessen Inhalt deutlich ernst gemeint war, auf der Zunge und zweifelsohne hätte er auf diese Weise auch Clarence‘ Mund verlassen, wenn er ein bisschen mehr wäre wie sein eigener Ehemann und wenn er den Ehemann Mo’Anns ein bisschen weniger umgebracht hätte.
Den eigenen Teller noch immer fast unberührt, legte er eine Hand stattdessen schließlich auf dem Unterarm seines Mannes ab und signalisierte auf diese Weise, dass sie zumindest für ihren Teil das Essen schon lange hinter sich gebracht hatten.
„Du bist kein Mensch, der unvorbereitet in so ein Gespräch gehen würde. Sicher hast du deine Zeit und deine Kontakte genutzt, um dir vorab schon ein Bild davon zu machen, wen ich durch unsere Eheschließung hierher zum Clan geführt habe.“
Das war kein direkter Vorwurf, sondern eine offensichtliche Tatsache. Mo’Ann würde wohl kaum etwas dem Zufall überlassen, nicht einmal ein Treffen mit einem frisch Angeheirateten.
„Dann weißt du sicher auch, dass er in diesem Clan keine Anstellung als Küchenhilfe für Kevin anstrebt, falls dir das auf der Zunge lag“, nahm er ihr höflich den Wind aus den Segeln, noch bevor selbiger aufgekommen war. „Aber du weißt ja wie das mit den Männern hier ist. Sie diskutieren zu viel wenn sie hungrig sind… und wenn sie keine sinnvolle Beschäftigung finden, kommen sie manchmal auf dumme Gedanken.“ Solche zum Beispiel, in denen sie gewillt waren nach dem Neujahrsessen tief in der Nacht loszugehen, um Mo’Ann im Schlaf einfach abzustechen. Dinge, die einem eben passierten, wenn man Söldner war, ein Ziel hatte und wusste, was man tat. Hoffentlich war das Mo’Ann bewusst wenn sie tatsächlich so viel wusste, wie Matthew es ihr zuschrieb.
„Sie sind weniger auf dumme Gedanken gekommen, als mein Mann noch hier war“, entgegnete sie ruhig, wobei Clarence ihr ihre Bemühung an sich zu halten im Gesicht ansah. War das eine Spitze in seine Richtung, dass sie sein Ableben nicht vergessen würde? Oder eine Andeutung in Matthews Richtung, die auf Nathans Einfluss auf ihn in seiner Kindheit anspielen sollte?
Clarence wusste es nicht, aber Mo’Ann ließ auch keinen Raum, um weiter darüber nachzudenken.
„Es war nicht geplant, dass du so lange fort bleibst. Seitdem hat sich hier einiges zum Negativen verändert. Es mag dir nicht aufgefallen sein, da du so viel Zeit in deinem Zimmer verbracht hast und jüngst deine Zeit lieber in eurem Apartment verbringst -“, warf sie ihm unverblümt vor und musterte Matthew dabei abschätzig, immerhin konnte man sich denken, was ein recht frisch verheiratetes Paar nach solch einer langen Trennung alles miteinander nachholte. „– aber Odette hält sich nicht gerade gewinnbringend in den Kreisen auf, die hier Probleme verursachen. Die Interimsleitung, die – übrigens - sie von ihrem Vater übertragen bekommen hat, hätte nicht annähernd so lange dauern sollen und die fehlende Rückkehr unserer beiden vermissten hochrangigen Mitglieder hat zu keiner offiziellen Entspannung dieses Problems geführt.“
„Was hab ich mit der Erziehung und dem Freundeskreis deiner Tochter zu tun?“, wollte Clarence trocken wissen und machte ihr damit hoffentlich deutlich, dass ihre missratene Göre nicht sein Problem war. Er mochte Nathans Lehrling gewesen sein, aber er war nicht der Grund dafür, dass der Kerl keine Zeit mit ihrem Kind verbrachte und das Mädchen schon als Jugendliche versucht hatte, auf unorthodoxe Weise die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu erhaschen. „Odette vorübergehend als Leitung einzusetzen war einer der dümmsten Fehler, die er hätte machen können. Das wusstes du, das wusste ich – das wusste er sogar selbst, vermute ich. Aber es war ihm wohl egal.“
„Fehler sind dazu da, um es im zweiten Anlauf hoffentlich besser zu machen“, konterte sie ruhig, ohne auf den Affront gegenüber ihrem verstorbenen Mann näher einzugehen. „Das beinhaltet auch, dass man gegebenenfalls darüber nachdenken muss ob das bestehende System aktuell so funktioniert wie es ist, bevor man die neue dauerhafte Führung dieses Clans offiziell kundtut. Ich denke du weißt, welche Pläne Nathan ursprünglich für die Stadt und den Clan hatte für den Fall, dass er verstirbt.“ - Das wusste Clarence freilich nicht, immerhin war Nagi vermutlich der Ansicht gewesen, er wäre unsterblich. „Es hatte ja immerhin seinen Grund, weshalb er dich ununterbrochen in seiner Nähe gehalten hat.“
Mit jener Frau am Tisch zu sitzen hatte etwas derart beklemmendes und unangenehmes, dass Matthew sich innerlich selbst zur Ruhe mahnen musste. Vielleicht lag es an dem Portraits, vielleicht an den abschätzigen Augen ihrer Gastgeberin, vielleicht daran weil Matthew wusste jene Frau war die Frau des gütigen Mannes- und teilte als solche sicherlich die Neigung zu Grausamkeit und Manipulation.
Es sah dem jungen Mann nicht ähnlich, sich von einer Person derart aus der Façon bringen zu lassen. Und doch war genau das der Fall.
Das ganze Zusammensein versetzte ihn in puren Stress und am Liebsten hätte er sich der Situation einfach entzogen.
Er durfte ihr nicht den Mund verbieten, durfte ihr nicht sagen was ihr Mann für ein Widerling gewesen war. Stattdessen wurde von ihm erwartet, dass er sich zusammenriss und den Abend möglichst so über die Bühne brachte, dass Mo‘Ann wenig nützliches erfuhr aber umso mehr nützliches preisgab.
Aber so wie die Dinge standen hatte Matthew seine Zweifel daran, dass das gelingen würde. Die kahlköpfige Frau mit den unzähligen Tattoowierungen und den glänzenden Onyxaugen würde sich nicht in die Karten schauen lassen. Sie spielte dieses Spiel schon länger als Clarence und er zusammen.
Die Art wie sie den mangelnden Appetit ihrer Gäste kommentierte, wirkte seltsam zufrieden. Und irgendwie erinnerte ihn auch dieses absurde Verhalten stark an den gütigen Mann.
Jener Kerl hatte sich in seinem kranken Kopf wahrscheinlich wirklich als gütig betrachtet. Und er hatte es genossen zu tadeln, kleinzumachen und dann, wenn man auf die kleinstmögliche Größe geschrumpft war, sich zu benehmen wie jemand, der es eigentlich gut meinte.
Cassiel unterdrückte ein Seufzen und biss sich auf die Innenseite seiner Wangen, um bloß nicht doch noch in Versuchung zu geraten etwas allzu unbeherrschtes von sich zu geben.
Erst als Clarence‘ Stimme erklang horchte Matthew auf, weil er schon am Ton des ersten Wortes erkannte, dass der Blonde nicht mehr im seichten Fahrwasser des Geplänkels herumdümpelte.
„Naja…“ - es war schwer mehr Missfallen in ein einziges Wort zu legen als der Blonde es soeben tat und abermals biss sich Matt auf die Innenseite seiner Wangen - dieses Mal aber um ein Schmunzeln zu unterdrücken.
Als Clarence seine Hand auf seinen Unterarm legte war das schließlich tatsächlich so etwas wie eine Befreiung. Endlich konnte er das Besteck ablegen und musste nicht länger so tun als würde er doch noch anfangen zu essen.
Er sah kurz zu dem Blonden hinüber und schenkte ihm ein schmales Lächeln. Dann lehnte er sich in dem Stuhl zurück und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Mo‘Ann zu.
Recht unverblümt war sie nun dazu übergegangen Clarence seine Abwesenheit vorzuwerfen. Zunächst die, nachdem ihr eigener Mann tragischerweise abgelebt war und dann auch noch die, für die sie Matthew verantwortlich sah. Dass es ihr nicht gefiel wie Clarence seine Prioritäten setzte war eigentlich klar - aber die Art wie offen sie dies kundtat mutete ungewöhnlich an.
Konnte es sein, dass sie kurz ihre Deckung sinken ließ?
Matt, der jene Frau nicht und gleichzeitig doch ganz gut kannte, kam zu dem Schluss, dass Mo‘Ann im Zwiespalt war. Einerseits war sie wütend auf Clarence - der zum Einen ohne ihren Mann wiedergekommen war, zwischendurch geheiratet hatte und einen eigenen Mann mitgebracht hatte.
Und zu allem Übel kam noch hinzu, dass der einstige Lieblingsschüler ihres Mannes nun sein Clanleben nicht mehr so führte wie früher.
Andererseits wollte sie irgendetwas von ihm - denn ansonsten würde dieses Gespräch nicht stattfinden.
Sie konnte von Regeln und Pflichten schwadronieren wie sie wollte. Ginge es hier rein um irgendwelche Formalitäten, hätte es kaum eines Abendessens unter sechs Augen bedurft - so schlussfolgerte der Dunkelhaarige, der nun mehr wieder ins Visier ihres Blickes geriet.
Mit offenkundiger Geringschätzung musterte sie ihn - als sei er die Wurzel allen Ungemachs.
„Wo sollte er seine Zeit sonst verbringen? Ein einzelnes Zimmer passt zu einem Junggesellen, nicht aber zu einem verheirateten Mann.“, erwiderte Cassiel scheinbar ungerührt.
Die Frage danach, ob ihr Mann eine einzelne Wabe im Bienenstock bewohnt hatte sparte er sich. Zum Einen weil er den Bogen nicht überspannen wollte und zum Anderen weil er die Antwort kannte.
Der gütige Mann war nicht für ein Leben in Bescheidenheit gemacht.
Er war eher der Typ Mensch, der davon ausging ihm stünden per Naturgesetz die feineren Dinge des Lebens zu.
Nagi Tanka mochte hier in Falconry einen anderen Ruf gehabt haben - aber das dieser Mann freiwillig in einem winzigen Zimmer lebte daran glaubte Matthew nicht.
Auf seine Frage ging ihre Gastgeberin kaum ein. Sie winkte lediglich kurz ab, so als würde Matthew gar nicht verstehen worum es ging.
Dabei verstand der junge Mann sehr gut.
Sofern sie nicht vorhatte sie heute Abend hier umzubringen - eine Option die immer weniger wahrscheinlich anmutete aber noch immer im Bereich des Möglichen lag - verfolgte sie mit ihrer Einladung ein klares Ziel. Welches das war, war aktuell noch nicht abzusehen - früher oder später würde sie aber zum Punkt kommen müssen.
Clarence hinterfragte ihre Vorwürfe mit der ihm eigenen stoischen Ruhe und ließ sich nicht vor den Karren irgendeiner obskuren Schuldfrage spannen. Darin war der Blonde ausgezeichnet, Mo‘Ann jedoch schien an diesem Talent keine Freude zu haben.
Schließlich war es Matt der Eins und Eins addierte und begriff worauf die Frau des Hauses hinauswollte.
Ein Lächeln erhellte sein Gesicht als er kurz aber aufrichtig amüsiert lachte. Für einen Moment wirkte er ehrlich überrascht, dann trat in seine Augen ein Ausdruck von Kühle. Sein Blick schien sie zu warnen besser keine Spielchen zu spielen - und doch währte sein Lächeln noch einen Moment länger. Für jenen kurzen Augenblick wirkte Mo‘Ann aus dem Konzept gebracht, verwundert und vielleicht sogar unbehaglich.
Vielleicht weil sie jäh in seinen Augen gelesen hatte wozu er fähig wäre, vielleicht aber auch nur weil sie nicht damit gerechnet hatte ihn lachen zu hören. Und ganz vielleicht bildete Cassie sich ihr Unbehagen auch nur ein.
„Ist das Ihr ernst?“, fragte er unvermittelt so als müsste jeder im Raum wissen was er meinte.
„Sie wollen, dass Clarence den Laden hier übernimmt.“, nahm er ihr schließlich die Erklärung aus dem Mund. „Deshalb die Einladung, deshalb das Essen… weil satte Männer weniger dazu neigen zu diskutieren. Aber ich fürchte so satt können wir gar nicht sein.“
Sie war zweifellos eine kluge Frau, um das zu erkennen musste man kein Genie sein. Aber umso schlimmer wog ihre Mitschuld an all den Verbrechen ihres Mannes. Denn sie musste gewusst haben wer er war.
Und auch jetzt wusste sie genau was sie tat.
Sie brachte Clarence ins Schussfeld. Er sollte zwar offiziell Ordnung herstellen - aber zu welchem Preis?
„Clarence soll als Nachfolger Ihres Mannes eingesetzt werden und den Dreck wegräumen, den Ihre Tochter mit ihren Freunden verursacht hat. Da drängt sich mir unweigerlich die Frage nach dem Warum auf. Es lässt sich wohl kaum mit einem einzigen Schachzug noch mehr Unfrieden stiften als damit. Ich bin noch nicht lange hier, aber das die Freunde Ihrer Tochter nicht gut auf Clarence zu sprechen sind, ist kein Geheimnis und ist Ihnen sicher nicht verborgen geblieben.“
Clarence wusste noch ganz genau wie es gewesen war, als er diesen großen Saal zum ersten Mal betreten hatte. Gefühl hatte er zu dieser Zeit noch ein völlig anderes Leben geführt, was nicht daran lag, dass er heute Matthew an seiner Seite hatte – sondern daran, dass er sich damals noch nicht mit dem Leben in dieser für ihn neuen Welt arrangiert hatte.
Die Bibliothek, vollgestellt mit all ihren Büchern und Pergamenten und Stiften, war ihm bedrohlich und beklemmend erschienen. Sie war der Inbegriff dafür, was dem Blonden als Teufelswerk beigebracht worden war. Verdorbene Worte, mit denen man brave Christen vom rechten Weg hinfort holen wollte, um sie zu verderben und dem Teufel als Geschenk in die Hand zu legen. Süßes führt zur Sünde hatte seine Mutter ihm damals stets eingetrichtert, als sie kaum mehr als einen Löffel Honig unter den Teig ihres Kuchens gehoben hatte und bei Gott, das geschriebene Wort jenseits der Bibel war noch so viel sündhafter als alles, was seine Mutter je unters Essen hätte mischen können.
Doch so angsteinflößend dieser Ort auch gewesen war, diese Bibliothek die zugestopft war bis unter die Decken, so fasziniert hatte ihn jener Raum auch. Welcher Blasphemist war so verzaubert von Teufelswerk, dass er einen Saal einzig nur für bekritzeltes Pergament schuf? Wie viele Stunden musste er an den Brettern gesägt, an dem Holz gebeizt und an den Streben geschnitzt haben, nur um all diesen Schmökern regelrecht eine Kirche zu schaffen, an denen man sie anbeten konnte? Für ihre Bibeln jedenfalls hatten sie in seiner Heimat solche Räume nicht geschaffen – aber sie sollten die Bibel auch nicht anbeten wie eine Götzenstatuette, vielleicht lag es einfach nur daran.
Er hatte hier gesessen, an dieser Tafel die eigentlich viel kleiner war und ihm trotzdem genauso lang vorgekommen war wie der große Tisch unten in der Haupthalle. Auch hier schauten ihn von Gemälden eben jener Mann an, der ihn auch schon aus Fotografien heraus im ganzen Haus aus beobachtete. Clarence, dem es damals noch schwer gefallen war auf seinen ersten Vornamen zu hören, hatte es verstört all diese Abbilder von jenen Menschen ertragen zu müssen, die ihn sowieso täglich umgaben. Ihre Gesichter als junge Fratzen auf Papier lachen zu sehen als würden sie ihn verhöhnen, obwohl sie heute gealtert, faltig und manche einige Pfund schwerer mit ihm beim Abendessen den Tisch teilten. Hexerei war das gewesen. Teufelswerk. Eine Lupe zurück in die Vergangenheit, obwohl Zeitreisen gar nicht möglich waren außer durch Satans Hand. Und auch obwohl ihn dann und wann zwei kleine Mädchen aus seiner Bibel heraus beobachteten wie aus dem Totenreich heraus.
Ähnlich wie damals blickte er an Mo’Ann vorbei, hinüber zu dem Gemälde seines einstigen Lehrmeisters, und hörte sich dabei ihr sinnloses Geschwafel an. Damals hatte sie auf ihn eingeredet wie wichtig es war zu lernen. Dass sie ihm Wissen vermitteln wollte und wie sehr es sie betrübe, dass er seine Talente nicht sinnbringend einsetzen wolle, um die Inhalte dieser Bücher hier in sich aufzunehmen. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie ihn lehren durfte, so lange es etwas war das ihn interessierte – und nicht zuletzt war Mo’Ann es schließlich gewesen, die nicht nur sein Spanisch, sondern zum Teil auch andere Sprachen mit ihm beübt hatte.
Ähnlich wie damals die Anspannung aus ihm gewichen war als sie sich auf etwas zielführendes geeinigt hatten, konnte Clarence heute unter seiner Hand auch die Anspannung seines Mannes weichen spüren, kaum dass sie wieder miteinander verbunden waren. Doch den eigentlichen Anstoß gab zweifelsohne Mo’Ann, die mit ihren völlig aus der Luft gegriffenen Plänen ihren Gesprächsabend schließlich in Weichen lenkte, mit denen vermutlich weder er, noch Matthew jemals gerechnet hätten.
Während sich sein Mann über ihre Dreistigkeit echauffierte ihn wie eine Schachfigur vor ihren Karren spannen zu wollen, lauschte die Jägerin am Tisch Cassies Worten mit einem Ausdruck im Gesicht, der Claire nicht selbstgefälliger hätte vorkommen können. Sie sprach es zwar nicht aus, aber alleine ihr schmales Lächeln sagte bereits Du denkst nicht annähernd so langsam wie du aussiehst, Bursche – aber vielleicht war sie auch einfach zufrieden damit, dass Matthew nicht mit einem einzigen Wort erwähnte, dass das absolut nicht in Frage kam.
„Such dir jemand anderen dafür. - Nein“, fasste er die Quintessenz seiner Worte in vier einfachen Buchstaben zusammen, falls sie es ansonsten nicht begriff, wenn sein Mann ihr schon nicht die offensichtlich passendste Antwort an gen Kopf warf.
Doch ganz offensichtlich war Mo’Ann davon unbeeindruckt und schien keinesfalls mit einer positiven Antwort im ersten Anlauf gerechnet zu haben.
„Sicher ist dir nicht verborgen geblieben, dass unser Clan sehr eng mit dieser Stadt vernetzt ist. Stabilität und eine gewisse Ausgeglichenheit ist daher essentiell, um das Vertrauen dieser Stadt nicht zu verlieren. Wir haben hier keine festgeschriebene Daseinsberechtigung, auch wenn es für dich als Außenstehender vielleicht so wirken mag. Clan und Stadt profitieren voneinander. Der eine Part kann ohne den anderen zwar sein, aber das Leben wäre deutlich erschwerter, wenn wir uns nicht hätten. Zunehmende Unruhen in den eigenen Reihen führen zu zunehmender Missgunst durch den Vorstand dieser Stadt“, fasste sie die Gegebenheiten für Matthew zusammen, indem sie die Politik der Region auf das Nötigste herunter brach das man wissen musste, um die Vernetzungen zu verstehen.
Aber das konnte sicher nicht alles sein, da war zumindest Clarence sich sicher.
„Liv wohnt dem Vorstand dieser Stadt bei und vertritt dort die Anliegen des Clans – und du gehst bei den hochwohlgeborenen Herrschaften daheim ein und aus wie es dir beliebt. Wer von uns Dreien war noch gleich zur Jahreswendfeier bei McKenzie und seiner Frau zum Essen geladen? Das waren nicht wir zwei, so weit ich mich recht erinnere“, deutete er mit dem Finger seiner freien Hand rhetorisch zwischen Cassie und sich umher. „Sag mir also bitte nicht, dass zwei so ausgezeichnete Redner wie du oder Liv nicht dazu in der Lage wärt, irgendwelche Bedenken mit ein paar Worten im Keim zu ersticken.“
„Du weißt, dass es nicht damit getan ist Dinge schön zu reden. Worten müssen auf Dauer Taten folgen, bevor sich die Gepflogenheiten fest fahren wie sie derzeit sind. Sonst machen wir uns unglaubwürdig.“
Mit ruhiger Hand goss sich Mo’Ann noch einen Schluck Wein nach, was seines Erachtens nach ganz schön mutig war für eine Frau, die Verhandlungen gerne klaren Gedankens führte. Aber vielleicht musste sie sich auch Mut antrinken für dieses Gespräch, wer wusste das schon.
„Du hast Angst um deine Position. Und um deine Privilegien.“ - Es dauerte einen Augenblick, bis Clarence das – für ihn - Offensichtliche begriffen hatte und entgegen seiner vorherigen Zurückhaltung scheute er sich dieses Mal nicht, sich in seinen Überlegungen zurück zu halten. „Dein Kind ist außer Rand und Band und so dickköpfig, dass sie keinen Rat annimmt. Aber letztlich fallen ihre Fehlentscheidungen nicht nur auf den Clan zurück, sondern auf dich. Gesellschaftlich.“
Mo’Ann war einst die gebildete Akademikerin ihres Clans gewesen. Durch ihre Position als Ehefrau des Anführers erhaben, für nicht wenige sogar vielleicht etwas angsteinflößend. Die Leute hier hatten Respekt vor ihr und die Wohlhabenden der Stadt schätzten diese Frau, mit der man tiefgründige Gespräche über Bücher und… was wusste Clarence schon, worüber belesene Leute sprachen führen konnte.
Aber was war sie jetzt? Nichts weiter als eine alte Schachtel, die alleine zwischen einem Haufen Büchern saß. Die Witwe Von, die theoretisch nichts mehr zu melden hatte. Nicht bei ihrer Tochter – und noch weniger bei jemand anderem. Und die durch Odettes Fehlverhalten vielleicht noch ihre letzten sozialen Anschlüsse in der Stadt verlor die ihr geblieben waren, nun wo ihr Ehemann nicht mehr zu ihr nach Hause zurück kommen würde.
„Du weißt, dass du dich selbst auf diesem Posten auf Dauer bei vielen der Jüngeren nicht mehr durchsetzen könntest und dass jemand anderes vermutlich den Spielraum für deine Kompetenzen deutlich eingrenzt“, drückte er es bemüht höflich aus, doch auch schon jetzt sah er Mo’Ann deutlich an, wie wenig ihr seine Ausführungen gefielen.
„Lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster, bevor ich wieder jemanden anweisen muss es dir zuzumauern.“ - Mit dem Glas in der Hand und einem verkniffenen Ausdruck um die Mundwinkel betrachtete sie Clarence, der ihrem stechenden Blick für sein Empfinden erstaunlich lange stand hielt, bevor Mo’Ann erneut den Dunkelhaarigen ins Visier ihrer Aufmerksamkeit nahm.
„Was glaubst du, wie euer gemeinsames Leben hier aussehen wird? Dass ausgerechnet meine Tochter dich anstellt und ihr gemeinsam als Ehepaar auf Reisen gehen werdet? Für das Ausleben solcher Träume ist das Verhältnis zwischen ihm und Odette nicht gemacht“, entgegnete sie mit einem Nicken gen Clarence, bevor sie noch einen Schluck von ihrem Wein nahm.
„Sie mag die Tochter des großen Nagi Tanka sein“ – man hörte ihr deutlich an, mit welchem Zynismus sie diesen Rufnamen aussprach – „aber sie ist nicht sein Vermächtnis. Nathans Ära endet für alle von uns, wenn wir sehenden Auges die Dinge weiter ihren Lauf nehmen lassen. Keine großen Reisen mehr. Keine Unabhängigkeit von den Dingen die in Falconry geschehen, weil an jemanden vor Ort mit Kompetenz delegiert wird.“
„Und du bist die große Kompetenz an die delegiert wird, mh?“, konterte Clarence spitzfindig und schüttelte den Kopf. Er hatte genug von solchen Gesprächen und von alternden Witwen, die Angst um Macht und Ruf hatten. Es stimmte zwar – Nathan hatte zu seiner Zeit tun und lassen können wie ihm der Sinn stand und hatte sich zum Teil auch mehr Rechte heraus genommen, als gut für sie alle gewesen war. Aber Mo’Ann schien etwas offensichtliches zu übersehen:
„Du vergisst, dass ich nicht Nagi bin. Niemand hier wird es dulden, wenn ich wie er einfach über Nacht verschwinde und monatelang nicht zurück komme.“
„Oh, das werden sie. Weil du nicht an mich deine Aufgaben delegierst, sondern an Liv“, erklärte sie ihm ruhig und schien sich ganz zweifelsohne angesichts Clarence‘ Sprachlosigkeit wieder in der überlegeneren Position zu fühlen, indem die kurz die Brauen hob als wolle sie von ihm wissen, ob dieser Plan ihn tatsächlich überrasche. „Sie macht eine hervorragende Arbeit seitdem sie im Vorstand ist und tatsächlich fiele mir niemand im Clan ein, der ihre Anweisungen bislang nicht befolgt hat. Sie wäre die ideale Wahl als deine Stellvertretung.“
Nicht mal Ryan und sein Club gaben ihr Widerworte, da musste Clarence ihr zustimmen. Aber was ihn noch sprachloser machte war die Auswahl, die Mo’Ann traf. Angestrengt seufzend und den Arm seines Mannes noch immer in der Hand, ließ er sich gegen die Stuhllehne sinken und betrachtete Nathans Witwe – die mit ihren Worten offenbarte, dass sie nicht den blassesten Schimmer von dem Komplott besaß den man gegen ihren Mann geschmiedet hatte und zu dem auch Liv Brambilla gehörte.
Es dauerte einen Moment länger, doch als Clarence schließlich verstand worum es hier ging, da nahm er kein Blatt mehr vor den Mund.
Er hatte kein Interesse die ihm zugedachte Aufgabe zu übernehmen und ließ Mo‘Ann auch keinen Spielraum etwas anderes anzunehmen.
Wie wenig ihr das gefiel konnte sie kaum verhehlen - auch wenn sie es versuchte. Aber Tatsache war, dass sie ihre Felle davonschwimmen sah. Noch genoss sie die Vorzüge einer respektablen Stellung, sie war angesehen im Clan und in der Stadt - aber ihr Ansehen erodierte bereits.
Und es würde weiter bröckeln - bis sich die ersten großen Risse durch ihren Ruf und ihre Privilegien zogen. Und irgendwann würde man anfangen hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln, sie anzuzweifeln.
Ein Prozess der zweifellos darin gipfeln würde, dass man sie auch offen in Frage stellte. Und warum das Ganze? Weil ihre Tochter nichts von Führung verstand, weil sie den Unfrieden nährte statt ihn einzudämmen.
Zweifellos war es eine eklatante Fehlentscheidung des großen Nagi Tankas gewesen, sie als Nachfolge auf Zeit zu bestimmen.
Aber warum genau sollte das Clarence tangieren?
All ihre vielen Worte an den Jäger waren verschwendet und dies frustrierte sie sichtlich. So sehr, dass sie sich schließlich an Matthew wandte und versuchte ihn für die Sache zu gewinnen.
Der Dunkelhaarige, der in ihrem Kosmos offenbar ein derart kleines Rädchen war, konnte sich ein amüsiert-verächtliches Schnauben nicht verkneifen.
„Sie glauben, ich würde Ihren Plan befürworten nur weil sonst unser Eheleben nicht läuft wie gewünscht?“ - irgendwie war das beleidigend und amüsant zu gleich.
„Wenn Liv eine so hervorragende Arbeit macht, warum übertragen Sie ihr nicht die Leitung? Und falls Sie das nicht können, weil Ihre Tochter offiziell das Sagen hat, warum könnten Sie es bei Clarence?“
All die Worte die sie hier am Tisch verschwendete, wo es ihr doch eigentlich nur darum ging ihren Ruf zu schützen und ihre Privilegien zu erhalten.
Matthew wusste gar nicht warum er etwas anderes erwartet hatte. Aber immerhin kristallisierte sich eines immer deutlicher heraus: sie hatte keine Ahnung, wieso ihr Mann nicht mehr am Leben war und wer sich dafür verantwortlich zeichnete. Das Komplott an dem auch jene Frau beteiligt war die sie gerade in den höchsten Tönen lobte, war ebenfalls involviert gewesen und wie wahrscheinlich war es, sie so lange ungestraft ihr Leben leben zu lassen, wenn Mo‘Ann wusste was damals gelaufen war?
Äußerst unwahrscheinlich.
Die alternde Dame hatte also keinen Schimmer wie sehr ihr und ihrem Mann die Macht schon damals entglitten war. Und das waren verdammt gute Nachrichten.
Cassiel sah einen momentlang zu Clarence herüber und las in dessen Ausdruck lediglich Widerstreben und Ablehnung. Der Vorschlag Mo‘Anns traf bei dem Blonden auf keinerlei Gegenliebe und damit bildeten ihre Meinungen eine Einheit, welche ihrer Gastgeberin nicht gefallen konnte. Einigkeit war der Tod ihrer vermeintlichen Argumente. „Wenn Sie glauben, dass wir Ihrer Idee zustimmen nur damit wir einen komfortableren Alltag haben, ist Ihre Menschenkenntnis nicht halb so gut wie Sie glauben.“
Matthew würde nie, niemals und unter keinerlei Umständen Clarence‘ Sicherheit gegen etwaige Behaglichkeit eintauschen.
„Man könnte es den Leuten nicht einmal wirklich übel nehmen, wenn Ihnen die Vorstellung nicht gefällt, dass jemand der für so lange Zeit weg ist, kurz nach seiner Rückkehr die Führung übernimmt.“
Oh es war nicht so, dass er diese Rolle seinem Mann nicht zutraute. Keine Sekunde zweifelte Matthew an den Fähigkeiten des Blonden. Aber er zweifelte an der Aufrichtigkeit Mo‘Anns und an den Mitgliedern des Clans - die er zu einem Großteil nicht kannte.
„Sie bringen ihn in die Schusslinie - und zwar nur, damit das Vermächtnis Ihres Mannes nicht leidet. Und wenn es dazu beiträgt Ihren persönlichen Wohlstand zu sichern, dann haben Sie sicher auch nichts dagegen.“
Cassie neigte den Kopf, musterte die Frau gegenüber abschätzig.
Sie wollte Clarence in eine Situation manövrieren, in der er angreifbar war. Er würde plötzlich verantwortlich sein für das Wohl und Wehe des Clans. Machte er seine Sache gut, dann sicherte er das Fortbestehen des Clans und damit Nagis Werk. Und machte er seine Sache schlecht… würden sie ihn vermutlich unsanft absetzen.
„Zwei Dinge sind mir aufgefallen seit ich zur Türe rein bin. Wollen Sie wissen welche?“ - fragend zog er die Augenbrauen empor und blickte ihr unverwandt ins Gesicht. Der Moment von Verletzlichkeit war verflogen und in seinen Augen lag der Ausdruck einer streitlustigen Katze die schon vieles gesehen hatte - ihre Freude für Kämpfe allerdings noch immer nicht verloren hatte.
Mo‘Ann zögerte einen Moment, dann nickte sie schließlich und Matthew öffnete den Mund:
„Erstens, Sie tun so, als würden Sie sich beiläufig mit anderen Dingen beschäftigen - dabei sind Sie furchtbar angespannt. Das Pergament das Sie vorhin so aufmerksam studiert haben, haben Sie vermutlich schon ein halbes Duzend mal vorher gelesen. Die Tinte ist durch Ihre schwitzigen Fingerspitzen ein bisschen verschmiert und klebt an ihrem Daumen.“ - mit der eigenen Hand deutete er auf ihre Hand, welche das Weinglas festhielt.
„Zweitens, als Clarence vorhin auf Ihre Frage geantwortet hat, dass er nicht vorhat den Anlass unserer Ehe zu nutzen um den Clan zu wechseln, haben Sie zügig an Ihrem Weinglas genippt. Trotzdem konnte man Ihnen die Erleichterung für einen Moment so deutlich ansehen, wie ich diesen Rehbraten hier vor mir sehe. Ich schätze, Sie haben durch den Griff zum Glas erhofft, genau das verbergen zu können. So wie Sie auch jetzt mit dem Gedanken spielen, einen Schluck zu trinken um sich Zeit zu verschaffen eine passende, kluge Antwort zu geben.“
Mo‘Ann welche während seiner Worte vollkommen reglos aber durchaus aufmerksam war, blickte kurz auf das Glas das sie umfasst hielt und entschied sich plötzlich, nicht erneut zu trinken.
„Mit Verlaub, ich glaube es geht bei diesem Treffen hier nur am Rande um die Rolle meines Mannes innerhalb des Clans. Und es geht auch nicht um Regeln und Pflichten. Oder zumindest… nur am Rande.
Sie könnten jetzt darauf bestehen, dass ich mich irre - aber dann können Sie das Abendessen auch als beendet ansehen. Oder Sie sagen, worum es wirklich geht und weshalb Clarence diesen Job machen sollte.“
Die Stimmung in der sonst so beruhigenden Bibliothek war angespannt und auf eine Weise unangenehm, dass Clarence am liebsten von seinem Platz aufgestanden wäre um umher zu gehen. Ein Zeichen der Schwäche und ein Gefallen, den er Mo‘Ann aber ganz sicher nicht tun würde.
Dabei war es nicht mal so, dass diese Frau ihm besonders Angst machte oder er das Gefühl hatte, vor ihr auf der Hut sein zu müssen. Hatte er ihren Mann auf dem Gewissen und wusste sie davon? - Natürlich, immerhin war damals schon zum Aufbruch von Nathan und ihm klar gewesen, dass der Fluch seiner verstorbenen Frau zu solch einem Szenario würde führen können. Ein vermeintlicher Unfall in einem Gerangel, wie Clarence es schon damals nicht selten angezettelt hatte in den Wochen, nachdem man ihn aus seiner Heimat verschleppt hatte. Nicht umsonst hatte Mo‘Ann ihm für den Extremfall ein Ultimatum gestellt wann er zurück sein sollte bevor sie ihn für vogelfrei erklären ließ und hatte es sich auch nicht nehmen lassen ihn zu befragen, nachdem er nach Falconry Gardens zurück gekehrt war.
Aber diese Frau, die sich für so klug und überlegen hielt, wusste nicht das geringste. Sie sah nicht, was direkt vor ihren Augen geschah. Sie war umgeben von Menschen, die loyal ihr gemeinsames Geheimnis bewahrten und sich darin stillschweigend gegen Mo‘Ann, ihren toten Mann und vielleicht sogar Odette verschworen hatten und vielleicht würde sie es sogar nicht mal mitbekommen wenn man den Spaten auch unter ihre Füße stach, um ihr noch auf dem Fleck wo sie stand ein tiefes, kaltes Grab auszuheben.
Matthew drängte Nagi Tankas Witwe in die nicht vorhandene Enge ihrer Tischseite und trotzdem geriet sie darunter in eine Erklärungsnot von der Clarence gespannt war, wie sie sich aus jener wieder heraus manövrieren wollte. Vielleicht erpresste sie ihn weiterhin damit, dass sie ihn für vogelfrei erklären und zur Jagd freigeben würde oder nötigte ihn dazu, trotz seiner Verletzungen für den Clan beim Hunters Case anzutreten. Doch gerade letzteres könnte ihm so oder so passieren, ganz gleich ob jener Druck aus ihrer Ecke heraus ausgeübt wurde oder von anderen Seiten des Clans, die damit seinen Standpunkt in der Gruppe herauskristallisiert sehen wollten.
Drückend hingen die Worte des Dunkelhaarigen zwischen ihnen über dem Tisch, worunter er den bohrenden Blick Mo‘Anns wieder auf sich spüren konnte. Diese Frau hatte ein Schweigen an sich, das es einem regelrecht abpresste Worte aus dem eigenen Mund hervor sprudeln zu lassen wenn man ihrer schweigenden Gegenwart nur lange genug ausgesetzt war. Aber vielleicht kam es ihm nach all den Jahren, in denen sie einander kannten, auch nur so vor und dieses Miststück wusste wie man Leute konditionierte. Ein Talent, wie es ihr verstorbener Gatte zweifelsohne beherrscht hatte.
„Sie will, dass ich diesen Job mache, weil alles jenseits von Odette oder Chaos bringt. Die Leute hier brauchen klare Strukturen und Rangfolgen. Keine willkürlichen Machtergreifungen, die zur Meuterei führen“, sprach er schließlich das laut aus von dem er ihr ansah, dass ihr nichts geringeres auf der Zunge lag. Je weiter er darüber nachdachte und mit jeder weiteren Frage, die sein Mann an die in die Jahre gekommene Akademikerin stellte, kamen Clarence die Überlegungen der Älteren immer klarer und offensichtlicher vor. Aber dass es tatsächlich so einfach war, wagte er irgendwie zu bezweifeln – eine Befürchtung die ihm Cassie sicher ansehen konnte, als er sich wieder seinem Mann zuwendete.
„Wenn sie das mit Odette aussitzt und es geht schief, kommt jemand wie Rory auf die Idee für Ordnung zu sorgen. Aber wo ein Putsch erfolgreich ist, lässt ein nächster nicht lange auf sich warten, wenn die Sache jemandem sauer aufstößt. Keiner gönnt dem anderen mehr Macht, wenn man sich selbst in der gleichen Kompetenz sieht“, mutmaßte Clarence das, was für ihn offensichtlich war und was für jemanden womöglich überhaupt keinen Sinn ergab, wenn man die Strukturen an einem Ort wie diesem hier nicht verstand. So kompliziert die Dinge von außen manchmal auch aussehen mochten, so simpel und selbsterklärend waren sie doch im Grunde manchmal.
„Odette denkt, sie hat ein Anrecht, weil es ihr von unserem Anführer übertragen wurde. Wenn auch nur vorrübergehend“, zählte er sachlich die Faktenlage für Matthew auf, der hatte wissen wollen, wieso nicht einfach Liv direkt diesen Job bekam. „Sie muss die Führung aber öffentlich beanspruchen und die Sache damit offiziell machen. Odette allerdings zögert, weil sie weiß, dass…“
Kurz presste er die Lippen aufeinander, überlegend wie er das folgende formulieren sollte, ohne an diesem Tisch eben jene Grundsatzdiskussion heraufzubeschwören, die sie überhaupt erst in diese Lage hier gebracht hatte.
Mo’Ann allerdings nahm ihm die schwere Aufgabe ab, klare Worte dafür zu finden: „Weil sie weiß, dass nach altem Brauch ein Anführer zurück tritt und seine Nachfolge benennt – oder aber ein Anführer durch Gewalt seine Position an einen Stärkeren verliert. Nach der ersten Variante ist Nathan aber nicht zurück getreten, als er meiner Tochter die Stellvertretung aufgebürdet hat. Clarence hingegen könnte sich auf sein Recht berufen, dass er sich diesen Posten mit seinen eigenen Händen verdient hat.“
So bemüht sachlich sie sich auch versuchte auszudrücken, so sehr hörte man ihr doch auch ihre Beherrschung an, mit der sie das Ableben ihres Mannes umschrieb. Beinahe hatte Clarence das Gefühl, es war Mo’Ann nicht daran gelegen vor Matthew ganz offen über Nathans ableben zu reden – doch ob es daran lag, dass sie nicht vor einem für sie Fremden darüber sinnieren wollte oder daran, dass sie tatsächlich so viel mehr wusste wie Cassie meinte, das vermochte Claire ihr noch immer nicht anzusehen.
„So lange sie sich nicht äußert, muss sie nicht befürchten, dass Clarence einschreitet. Aber so lange er nicht einschreitet, wird auch keine Entscheidung gefällt. Alle hier sind angespannt, weil sie eine Regung von der einen oder der anderen Front erwarten, sich aber nichts tut. Was glaubst du, warum mache hier im Clan jedes Mal versuchen einen Streit anzuzetteln, wenn ihr und Odette in der Nähe seid? Zu einer Eskalation müsste meine Tochter sich äußern und Kritik an Clarence könnte sich negativ zu seinem Stillschweigen auswirken.“
Noch immer hatte Besagter auf dem Arm des Jüngeren seine Hand liegen und hielt ihn sachte, eine unverfänglichere Geste als seine Hand zu ergreifen und doch nahe genug um Mo’Ann aufzuzeigen, dass sie nicht mithilfe von Eventualitäten einen Keil zwischen sie beide treiben würde. Es hatte etwas beruhigendes an sich, mit seinem Mann gemeinsam diese Front gegen Nathans einstige Ehefrau zu bilden und auf der anderen Seite gab es ihm jenen Rückhalt den er brauchte, um es überhaupt hier drinnen auszuhalten ohne dabei angesichts solcher Dreistigkeit an die Decke zu gehen. So wie sie klang hoffte sie wohl, mit ihren Worten wie mit einem Stock in ein Wespennest gestochen zu haben. Eine große Sache auffliegen zu lassen, die in Wahrheit gar keine war – immerhin wollte er weder ein Anrecht haben auf irgendeine Führung, noch hatte er seinem Mann einen öffentlichen Konflikt mit Odette verschwiegen, den es überhaupt gar nicht gab.
„Ich sehe nicht, welchen übermäßigen Vorteil irgendeiner von uns davon haben sollte und du hast sicher gehört, was mein Mann gefordert hat“, erinnerte er die Ältere an Matthews Worte, die seitdem recht auffällig ihr Weinglas nur noch zu Dekorationszwecken in ihren Händen hielt. Genippt hatte sie seit der Ansprache des Dunkelhaarigen nicht mehr, doch ihm so offen in die Karten spielen und nach seiner Rüge den Wein wegstellen, wollte sie ganz offensichtlich auch nicht. Vielleicht war der Fuß des Glases für sie ein ähnlicher Halt, wie Clarence ihn in Matthew fand und womöglich würde er in diesem Moment nicht anders hier sitzen als sie, wenn sein Mann nach Denver nicht zu ihm zurück gekehrt wäre. Hätte er sich dann genauso gegen ihre Forderung gesträubt, müsste er alleine hier sitzen? Clarence wusste es nicht.
„Nun“, begann die Akademikerin schließlich mit einer Betonung die Clarence an die früheren Ansprachen ihrer Prediger in Willow Creek erinnerte, wenn jemand aus der Gemeinde eine Frage gestellt hatte, die nur schwer zu beantworten war. Zweifelsohne brauchte sie diesen rhetorischen Moment um sich einen Augenblick lang zu sammeln, nun wo sie ihre schlauen Worte nicht mehr im Wein fand, wie Cassie ihr vorgeworfen hatte. „Ich habe Aufgaben für euch, die erledigt werden müssen. Aufgaben, die es unabdingbar machen euch in einer Position zu haben, die euch von dem Tagesgeschehen hier entbindet. Auf Aufträge entsandt zu werden und dadurch im schlimmsten Fall für Wochen unpässlich z--“ – Doch so weit ließ Clarence es gar nicht erst kommen.
„Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Such dir jemand anderen dafür, nein.“
Was dachte diese Person sich? Dass er sich den Hohn und die Missgunst des halben Clans aus Langeweile ans Bein band und noch ihren Hampelmann spielte? Er ließ sich ganz sicher nicht zu ihrem Hund machen, der sprang und apportierte, wann immer sie mit den Fingern schnippte.
„Ich wäre dankbar, wenn du mich ausreden lässt.“ - „Ich brauche deine Dankbarkeit nicht“, spie er ihr kühl entgegen, ganz gleich ob das ihrem Treffen zuträglich war oder nicht. Dieses Abendessen wurde zur Farce und Mo’Ann wurde nicht müde das Mühlrad im Fluss ihrer endlosen Worte zu drehen bis es zerbrach, fast schon so als hoffe sie, die beiden jungen Männer damit müde zu dreschen.
„Es ist nicht so als hätte ich eure Zustimmung bereits im ersten Anlauf erwartet. Aber ich wäre froh, wenn wir unsere Übereinkunft gemeinsam treffen könnten und keiner am Ende das Gefühl hat, er wäre vom anderen überstimmt oder zu etwas gezwungen worden“, erklärte Mo’Ann in einem Tonfall, als hätten sie miteinander bereits beschlossene Sache gemacht und als wäre ihr Wohlwollen so sehr über alles erhaben, dass sie tatsächlich nicht befürchten müsste, sie würde die beiden nicht zu einer Zustimmung bewegen können.
„Niemand überstimmt hier jemanden, weil es nicht zu dieser Übereinkunft kommen wird. Was auch immer für Aufgaben das sein mögen, du wirst sicher jemanden finden dem du sie aufbürden kannst und dessen Grips gering genug ist, um die Sache nicht zu hinterfragen. Hab gehört, solche Leute findet man in Dotties Dunstkreis reichlich.“
Kopfschüttelnd trank er seinen Wein aus – der zweifelsohne zu gut war um ihn am Ende wegzuschütten – und langte schließlich nach der Serviette, um die letzten Tropfen aus seinem Bart zu wischen bevor sie sich für den Rest des Abends verabschieden würden. Um das gute Essen tat es ihm unheimlich leid und schon jetzt wusste er, ihm würde spätestens Zuhause der Magen dermaßen in den Kniekehlen hängen, dass die derzeitige Abwesenheit seines Appetits gar keine Rolle mehr spielte. Vielleicht sollten sie doch noch heimlich in der Küche vorbei sehen und sich von Kevin etwas abfüllen lassen für daheim; wenigstens würden sie sich bei den Gemeinschaftstöpfen sicher sein können, dass Mo’Ann darin nichts vergiftet hatte.
„Ich hatte gehofft, ihr ließet es nicht so weit kommen, dass ich das tun muss. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich kaum eine andere Erwartung. - Nach allem was ich über dich gehört habe wundert es mich auch nicht, dass eine derlei vorlaute Art irgendwann abfärbt. Etwas bedauerlich, aber was will man machen“, fügte sie zudem an Matthew gewandt an und hob dabei enttäuscht die Brauen – einer Mutter gleich, die über den neuesten Freundeskreis des eigenen Kindes enttäuscht war und dabei zusehen musste, wie das einstmals so gute Verhältnis zum eigenen Spross langsam auseinander driftete. Nur dass sie dabei vergaß, dass weder Matthew, noch trotz all der Jahre Clarence ihr Abkömmling war.
Mit einem leisen Kratzen und Rascheln öffnete sie erst eine Schublade unter der Tischplatte, bevor sie einen Umschlag daraus hervor zauberte. Für einen Moment traute der Blonde ihr sogar zu, plötzlich einen Revolver daraus hervor zu ziehen und sie beide noch an Ort und Stelle zu erschießen. Doch dann hätte sie erst recht keinen Idioten mehr für ihre geheimen Privataufträge gehabt und hätte vermutlich auch keine Brille dafür gebraucht ihnen eine Ladung Schrot ins Hirn zu blasen, wie er sich still dachte, während sie selbige zurück auf ihre Nase verfrachtete.
„Verehrteste Annedore“, las sie aus dem Schrieb vor, den sie statt Revolver aus dem Umschlag gezogen hatte. Aber vielleicht war der Brief nicht weniger tödlich als eine Kugel, immerhin waren Bücher, Buchstaben und Schriften schon seit Jahrzehnten die Waffen dieser Frau.
„Ich schreibe Dir heute erneut, um Dich an den aktuellen Begebenheiten teilhaben zu lassen. Insofern ich mich recht entsinne, sind seit meinem letzten Brief an Dich bereits einige Wochen verstrichen und ich kann mir denken, mit welcher Aufregung du Dich den Neuigkeiten entgegen sehnst.
Wie Du sicher noch weißt, war die Anreise mehr als beschwerlich und wenngleich die Vorbereitungen schon auszehrend waren, hätte ich nie geglaubt welche Kräfte das Wetter einem zusätzlich abverlangt, wenn der Boden fast bis auf das Grundwasser gefroren ist.“ – Abwehrend machte sie eine Handbewegung in Richtung des Dunkelhaarigen, der damit drohte sie schon wieder zu unterbrechen. - „Ich wundere mich noch immer darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit einem die ortsansässigen Einwohner den Weg erklären und welche Freundlichkeit einem entgegen schlägt, wenn man ihnen nur nachdrücklich genug den kalten Stahl einer Waffe in den Nacken drückt, denn dafür sind die Menschen im Madman Forest eigentlich nicht bekannt. Aber ein Teufel ist, wer schlecht über diese Menschen denkt. – Das ist eine unterhaltsame Anekdote, weil es Sarkasmus ist. Wegen eurer Kultur.“ Lächelnd machte sie eine wegwerfende Handbewegung mit ihrer freien Hand, ganz so als könnten ihre Gäste den feinen Unterton des Briefes sicherlich sowieso nicht erhaschen. Aber eigentlich spielte nicht mal das für Clarence noch eine Rolle, denn gerade verstand er sowieso überhaupt nichts mehr.
„Erstaunlicherweise sind unsere beiden Errungenschaften robuster als es auf den ersten Blick den Anschein gemacht hat. Wir haben auf der Rückreise einen unserer Gehilfen an den Schnee verloren, doch im Wagen beim Ofen hielten es die Bündel aus, an denen kaum mehr dran ist als Haut und Haar. Mittlerweile sind wir angekommen und wenngleich es mir wie Verschwendung vorkommt, unsere Vorräte an Geiseln zu verlieren – Geiseln klingt so unangenehm, ich denke ich sollte das anders vorlesen“, erst kopfschüttelnd, als würde sie sich über sich selbst ärgern, schließlich aber überrascht darüber etwas wichtiges vergessen zu haben, reichte sie mit der noch freien Hand den braunen Umschlag über den Braten hinweg zu ihren Gästen hinüber. Clarence kam sich vor wie in einer schlechten Schmierenkomödie, in der man ihn ungefragt auf die Bühne geholt hatte um spontan eine Rolle zu besetzen, die er gar nicht haben wollte – doch Mo’Ann spielte ihre Rolle in diesem ganzen Theater derart überzeugend, dass er nicht mal mehr sicher sagen konnte, ob ihre vorangegangenen Schwächen während ihrer Konversation überhaupt echt oder nicht ebenso eine Finte gewesen waren wie der Vortrag jenes Briefes. Die Ältere wusste, dass ihn alleine der schnippische Spitzname für seine Heimat an diesem Tisch halten würde und trotzdem hatte sie sich ihren Trumpf bis zuletzt aufgehoben, anstatt ihre beste Karte gleich schon zu Beginn zu offenbaren.
„…und wenngleich es mir wie Verschwendung vorkommt, unsere Vorräte an Gäste – das ist ein gutes Wort. Unsere Vorräte an Gäste zu verlieren, so ist es doch eine gute Investition in den Erhalt unseres Druckmittels. – Das klingt auch nicht so gut. Das klingt fast wie Erpressung, das fände ich für unsere Übereinkunft nicht gut als Grundlage. Ich würde mich freuen, wenn wir das ganze als Geschenk ansehen könnten, für das ihr euch bedankt, indem ihr eure Arbeitskraft zur Verfügung stellt. Gut, ich versuche es noch mal: Wenngleich es mir wie Verschwendung vorkommt, unsere Vorräte an Gäste zu verlieren, so ist es doch eine gute Investition in den Erhalt unseres Geschenks. - Es geht dann auch noch einige Absätze lang darüber, wie sich die beiden aktuell machen. Was ist? Willst du nicht in den Umschlag sehen?“
Wenn das eine ernste Frage gewesen wäre, wäre Clarence‘ ehrliche Antwort darauf eigentlich nein gewesen. Er wollte nicht wissen wen sie aus seiner Heimat hatte verschleppen lassen, besonders nicht hinsichtlich dessen, dass er noch Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen dort besaß, die er alle schon seit über einem Drittel seines Lebens nicht mehr gesehen hatte. Aber würde er Mitglieder seiner Gemeinde einem Menschen wie Mo’Ann zum Fraß vorwerfen nachdem er wusste, was ihr Mann Nathan Menschen wie Adrianna angetan hatte?
Clarence seufzte schwer und blickte kurz zu seinem eigenen Mann hinüber, bevor er mit verkniffenem Gesicht schließlich doch wieder nach dem Umschlag langte, der unberührt vor ihnen zum Erliegen gekommen war. Ein erster grober Blick reichte ihm aus um zu wissen, dass es doch kein abgetrenntes Körperteil wie ein Finger oder eine Zunge war, sondern eine Handvoll Fotografien, fein säuberlich übereinander geschichtet. Unweigerlich musste Clarence an Harriet Greenwood denken, die ihnen in Coral Valley über den Weg gelaufen war. Von der jungen Frau, die etwas irre gewirkt hatte ihm aber gar nicht so unsympathisch erschienen war, hatten sie nie wieder etwas gehört. Das einzige, was ihm von ihr geblieben war, war das Bild mit Matthew als kleinem Jungen – doch das Kind, das ihn von den heutigen Fotos aus ansah, war kein kleiner Junge mit dunkelbraunem Haar.
Es war eingeschlagen in eine grobe graue Decke, wie ein Häufchen Elend sitzend auf einer Pritsche neben einem Öfchen, vermutlich dem besagten im Wagen vom Brief.
Es war ein weiteres Kind, etwas älter, die Kapuze einer Jacke bis tief ins Gesicht gezogen, Nase und Wangen rot von der Eiseskälte und einen kleinen Zettel in der Hand der unleserlich geworden war, weil vermutlich der Wind das Papier beim Schuss des Fotos umgeklappt hatte.
Ein abendliches Feuer im Schnee mit einer kleinen Gruppe Männer, die Clarence nicht kannte. Ausgelassenes Lachen, vielleicht weil jemand einen Witz gemacht hatte.
Ein Haus, bei dem zum Teil die angrenzende Scheune abgebrannt war. Von dem Clarence wusste, dass dahinter ein kleiner Garten lag, ein Baum stand, er morgens dort Hühner gefüttert und nachmittags Kinder auf der Schaukel angestoßen hatte. Ein Haus, das er das letzte Mal gesehen hatte, als Nathan mit ihm dort gewesen war – nur wenige Wochen bevor er Matthew einige Meilen weiter im Wald gefunden hatte. Eins von dem er wusste, dass dort eben jenes Kind gestorben war, das ihn auf dem nächsten Foto mit blassrotem Haar und missmutigem Blick betrachtete. Das ihn genauso ansah wie das bedeckte Kind mit dem Zettel in der Hand von wenigen Bildern zuvor und das ganz anders aussah, als er es nach all den Jahren noch in Erinnerung hatte.
„Soll ich weiter lesen?“ - Zweifelsohne brauchte Clarence keinen Ton von sich geben, damit Mo’Ann ihm ansah, dass der Groschen langsam fiel. Aber das war auch nicht besonders schwer, denn sein Gesicht war während des Betrachtens der Bilder so blass geworden wie das Pergament, das sie in der Hand hielt.
Clarence, der damals in diesen Hallen ganz offensichtlich ein anderer Mensch gewesen war, als er Mo’Ann nun gegenübersaß, begegnete der Witwe mit selbstbewusster Ablehnung.
Ihre vielen Worte waren an diesem Tisch ebenso verschwendet als würde sie selbige vom Gipfel des Grey Eagle in den Wind brüllen.
Für Matt, der den früheren Clarence nicht gekannt hatte, sich aber lebhaft ausmalen konnte was die Gesellschaft des gütigen Mannes aus einem machte, war die Art und Weise wie der Blonde ihr gegenüber Rückgrat zeigte in jeder Hinsicht erfreulich.
Und es machte ihn stolz, dass Mo‘Ann ihn als Verantwortlichen für diese Entwicklung sah. Am Ende des Tages waren sie beide Opfer des selben Mannes gewesen und dennoch saßen sie nun beide hier, in der Höhle des Löwen und sprachen mit einer Frau deren Freude es war, sich als überlegen aufzuspielen. Eine Freude, die sie ihr beide nicht gönnten.
Als Clarence die Unterredung letztlich für so gut wie erledigt empfand, sich den Wein im Bart in kultivierter Manier mit der Serviette abwischte, da wollte sich Matthew gerade anschließen und sich von seinem Platz erheben, als die alte Schachtel ein weiteres Pergament hervorholte.
‚Das ist ihr Trumpf im Ärmel.‘ ging es Cassiel sofort durch den Kopf und mit einem Mal fühlte er sich wieder unwohl.
Ihr Vorgeplänkel hatte nur dazu gedient sich warm zu machen für den großen Höhepunkt in ihrem Theaterstück.
Am allerliebsten wäre Matt dennoch aufgestanden und hätte sich dem entzogen, von dem die alternde Dame meinte, es sei ihr Ass. Aber der Dunkelhaarige wusste ebensogut wie sie, dass er das nicht tun würde.
Sie würden beide hier sitzen bleiben und ihr zuhören - allein schon deshalb, weil jener Brief endlich offenlegen würde worum es hier wirklich ging. Mochte ja sein, dass die Ränkespiele im Clan ein Teil des großen Ganzen waren. Aber es war nicht das, was Mo‘Ann wirklich wichtig war. Sie brauchte Clarence in einer bestimmten Rolle und in einer bestimmten Funktion, damit es für sie gut war.
Für ihre Pläne.
Für ihre Vorhaben.
Welche auch immer das sein mochten.
Was blieb, war das ungute Gefühl in eine Falle getappt zu sein, aus der es kein Entrinnen gab, weil sie zu klug und zu gewieft war um sich in eine Lage zu begeben die sie nicht voll unter Kontrolle hatte.
Mit den Worten „Verehrteste Annedore“ begann sie vorzulesen, wobei ihr Tonfall deutlich machte, dass sie jene respektvolle Begrüßung als angemessen erachtete.
Matthew und Clarence tauschten einen Blick und verständigten sich stumm, sie gewähren zu lassen. Jetzt zu gehen würde zu nichts führen und das war ihnen beiden klar.
Aufmerksam hörte Matt ihr zu, lauschte darauf was sie sagte und was zwischen den Zeilen stand. Wie sie manche Worte korrigierte und dann weiter vorlas, wie sie Clarence mit Genugtuung eine Spur aus Brotkrumen legte - auf das er ihr nachspürte und die Gewissheit allmählich in seinen Kopf einsickerte, dass sie ihn in der Hand hatte.
Noch verstand Matthew nicht was genau dieser Brief aussagte oder auf wen er sich bezog. Verwandte oder Freunde aus Willow Creek? Vermutlich. Aber irgendetwas sagte dem Dunkelhaarigen, dass mehr dahintersteckte. Clarence war viele Jahre nicht mehr in seiner alten Heimat gewesen und Cassiel wagte anzuzweifeln, dass irgendein Cousin oder Vetter dritten Grades ein Druckmittel - oder Geschenk - darstellte um sich die uneingeschränkte Loyalität seines Mannes zu sichern.
Unbehaglich verfolgte er wie ein Umschlag aus ihrer Hand zu ihrer Tischseite wanderte und dort erstmal zum Erliegen kam.
„…Es geht dann auch noch einige Absätze lang darüber, wie sich die beiden aktuell machen. Was ist? Willst du nicht in den Umschlag sehen?“ - scheinheilig sah sie zu Clarence hinüber welcher nunmehr in die fragwürdige Gunst kam, ihre alleinige Aufmerksamkeit zu genießen.
Ohne zu wissen warum genau Matt derartig nervös war, wie er es seit dem Auftauchen des Briefes geworden war, versuchte der junge Mann sich gegen etwas zu wappnen wovon er ahnte, dass er sich nicht wappnen konnte.
Er nicht und erst recht nicht Clarence, um den es hier eigentlich ging.
Widerstrebend streckte der Blonde seine Hand schließlich nach dem Umschlag aus und öffnete ihn mit der selben Vorsicht mit welcher man eine Bratpfanne berührte um zu sehen wie heiß sie schon war.
Während sie kurz einen weiteren Blick gewechselt hatten, öffnete Clarence schließlich das Kuvert und betrachtete das erste Bild zunächst ohne jede Regung. Matt, der versuchte auch einen Blick auf die Fotografie zu erhaschen, sah anschließend wieder zu Mo‘Ann, weil er ihr noch immer zutraute sie nun beide in einem Moment der Ablenkung zu erschießen. Doch die Frau des großen Nagi Tanka saß nur da. Hatte sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt und den Brief vor sich auf dem Tisch liegen. Sie musterte Clarence, der das nächste Bild ansah und dem jedwede Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
Nun beugte sich Cassie zu dem Blonden hinüber um sich das Bild wirklich anzusehen, welches sein Mann so eingehend studierte.
Anders als Clarence brauchte Matthew nur den Bruchteil einer Sekunde bis er das Mädchen mit den blassblauen Augen erkannte, dessen glattes, rötliches Haar ihr Gesicht fein umrahmte.
Ihr Blick war skeptisch, wie auf dem Foto welches Clarence in seiner Bibel seit Jahren mit sich führte. Und doch war Harper - die es unzweifelhaft war - um keinen Tag gealtert.
Ihre Lippen hatte sie zusammengepresst, ein Zeichen des Unmuts aber sie schaute direkt in die Kamera. Anders als die Fotografie die Clarence besaß, waren die Farben des Bildes frisch und voller Leben. Man sah die unzähligen Sommersprossen die Wangen und Nasenrücken zierten, man sah das verwaschene Blau ihrer Augen und den kupfernen Glanz von Sonnenreflexen in ihrem Haar.
„Das ist nicht möglich.“ murmelte Matthew - mehr zu sich als zu den anderen beiden. Er konnte den Blick nicht von dem Foto abwenden welches in der Hand seines Mannes zu zittern begonnen hatte. Und auch auf dem Bild danach blickten ihnen zwei Augen entgegen, die Matthew lediglich von einer einzigen Fotografie kannte, Clarence aber von ungezählten Momenten in denen Cordelia ihn angesehen hatte.
Die Farbe ihrer Iriden glich der des Meeres an einem regnerischen Tag. Mehr Grau als Blau. Mehr tief als strahlend. Es waren Clarence’ Augen - aber im Gesicht eines kleinen Mädchens mit roten Locken.
Sie lächelte ebensowenig wie ihre große Schwester auf dem Bild zuvor, sie wirkte schüchtern und zurückhaltend - und noch ebenso jung und makellos wie auf der alten Fotografie, versteckt im Einband der Bibel ihres Vaters. Es war unmöglich.
Cassie, der sonst immer zu allem etwas zu sagen hatte, schwieg.
Sein Mund war trocken geworden und auch wenn er sofort begriff wen er da sah, so begriff er nicht wieso.
Verständnislos blickte er schließlich auf und zu Mo‘Ann und sagte letztlich das naheliegendste aller Dinge:
„Diese Bilder sind gefälscht. Was zum Teufel glauben Sie, wer Sie sind, hm? Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, was wir nicht sind. Nämlich bescheuert. Wenn Sie glauben das….“ - doch Mo’Ann ließ ihn nicht ausreden. Sie griff erneut nach dem Papier und las weiter aus dem Brief vor, weil sie gewusst hatte, dass jener Einwand erfolgen würde. Und weil sie auch wusste, die folgende Passage würde über jeden Zweifel erhaben sein.
„Keines der Mündel spricht aus freien Stücken mit uns, was daran liegen mag, dass man sie zuhause zur Vorsicht gegenüber Fremden erzogen hat. Die jüngere der beiden hat es ein paar mal versucht, doch ihre große Schwester mahnte sie zur Zurückhaltung.
Es ist ein Wunder sie lebendig zu sehen und doch wage ich nicht, die Früchte unserer harten Arbeit zu schmälern, in dem ich jenes Wort laut ausspreche. Es ist viel mehr Wissenschaft und der Segen jener Kraft, die zu verstehen wohl nur du imstande bist.
Zu meiner Überraschung scheinen sich beide vollumfänglich zu erinnern. Besonders das ältere Kind scheint die Bedeutung dessen zu begreifen, was ihr und ihrer Schwester vor Jahren widerfuhr. In unseren Tests zeigen sich beide bisher unauffällig, es gibt keine Hinweise, dass die Mutter ihre Gabe an ihre Töchter vererbt hat.“ - Mo‘Ann hielt inne und blickte über ihre Brille hinweg zu den beiden jungen Männern.
„Geben Sie den Brief her.“, forderte Matt in einem Tonfall den man keinesfalls mit einer Bitte verwechseln konnte.
Ihre Gastgeberin zog die Brauen empor, haderte einen Moment und reichte das Schriftstück dann über den Rehbraten hinweg zu dem Dunkelhaarigen. Matthew nahm das Pergament an sich und überflog die Zeilen nach Ungereimtheiten, aber die kahlköpfige Frau hatte wirklich vorgelesen was hier stand und sich nicht etwa irgendwas aus den Fingern gesaugt.
Still las Cassiel den Brief weiter, wobei seine Augen geradezu über das Papier flogen.
„Obwohl Ruby-Sue Sky unzweifelhaft eine Hexe der Kategorie eins war, so zeigen ihre Nachkommen keinerlei dahingehende Tendenzen, die Tests sind jedoch noch nicht abgeschlossen.“ - las er schließlich eine Passage laut vor, bevor er den Brief vor sich legte, auf ihn herabblickte und ihn anstarrte.
In seinem Kopf herrschte Chaos und sein Herz raste, sein Mund war ausgetrocknet und er konnte nicht begreifen wie es möglich war, was an Beweisen hier vor ihnen lag. Doch zumindest in einer Hinsicht herrschte Gewissheit und jene Gewissheit sprach er nach einem Moment vollkommener Stille schließlich gefasst aus:
„Wenn die Bilder echt sind und es die Wahrheit ist, was in diesem Brief steht….“, - er hob den Blick von dem Pergament und sah Mo‘Ann ins Gesicht.
„Dann wollen wir sie sehen. Sofort.“
Ohne den Blick von ihr abzuwenden fasste er Clarence am Unterarm, ähnlich der Geste wie der Größere vorhin ihn berührt und beruhigt hatte.
„Wenn das hier eine Finte sein sollte… dann garantiere ich, dass…“ - doch statt den Satz zu beenden, biss sich Matthew auf die Zunge und wiederholte stattdessen: „Wir müssen sie sehen.“
Mo‘Ann bedachte ihn erstmals seit ihrem Aufeinandertreffen nun mit einem Lächeln. Dann nickte sie wie eine gestrenge Lehrerin die mit einem sehr widersetzlichen Schüler zufrieden war.
„Oh das werdet ihr. Ihr werdet sie schon bald sehen. Doch bevor ich dieses rührende Treffen arrangieren kann, benötige ich erst noch die Zustimmung bezüglich meines Anliegens.“
Ihre Augen richteten sich auf Clarence, für den jene Wendung ein unbegreiflicher Schock sein musste. Doch Mitleid suchte man im Blick jener Frau vergeblich.