Bibliothek des Clans
11. Januar 2211
Es war verrückt wie sehr sich die eigene Erinnerung über die Jahre hinweg veränderte. Oft merkte man das erst, wenn man einen alten Fruend lange nicht mehr gesehen hatte und beim ersten Treffen nach langer Zeit kaum wiedererkannte. Wenn man an Orten war, die man bereits besucht hatte, und dann doch den Weg nicht wiederfand – oder einem beim Aufräumen Nippes in die Hand fiel von dem man gar nicht mehr wusste, dass man ihn überhaupt besaß.
Wenn er mehr darüber nachdenken würde als nötig, wie genau seine Mutter ausgesehen hatte, würde er sie heute vermutlich gar nicht mehr recht beschreiben können. Er erinnerte sich an ihr Haar, an ihre Stimme und an Lieder, die sie ihm früher vorgesungen hatte. Clarence würde auch ihren Apfelkuchen unter hunderten herausschmecken, da war er sich sicher. Aber würde er Cassie ihr Gesicht beschreiben müssen, damit dieser sie zeichnen konnte… nein, der Blonde war sich nicht sicher ob er ihm noch genau sagen konnte ob ihre Lippen schmal, ihre Stirn besonders groß oder ihre Nase besonders klein gewesen war. Sie hatte einfach nur ausgesehen wie seine Mutter – und seine Kinder hatten in seiner Erinnerungen ausgesehen wie seine Kinder. Wie die zwei Mädchen, die auf den Fotos in seiner Bibel zu sehen waren. Zweidimensional, verblasst, dennoch wunderschön.
Auf den Fotografien, die er heute in der Hand hielt, waren sie alles andere als eine blasse Erinnerung und es dauerte eine geraume Zeit, bis seine Hirnwendungen die strahlenden Ablichtungen mit den sepiafarbenen zweidimensionalen Erinnerungen in Verbindung gebracht hatten. Harper und Cordelia auf diese Weise zu sehen, so… farbenfroh, so detailreich und in voller Fülle ihres ganzen Seins war etwas, das ein emotionales Chaos in ihm verursachte. Clarence‘ Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen, so angespannt fühlte er sich unter dem schieren Unverständnis, das über ihn herein gebrochen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann und wo diese Fotos entstanden sein sollten. Wann sollte jemand auf dem Hof gewesen sein um seine Kinder beiseite zu nehmen? Wann hatte sie jemand in diesen Wagen verfrachtet oder in diese Gruppe von Männern? Warum hatte er von alledem niemals etwas mitbekommen – und was sagte das über ihn als Vater aus?
Sein Kopf sah und begriff, dass das Haus auf einem der Fotos eine Zeit widerspiegelte, weit nachdem seine Frau Ruby-Sue ihr Ende gefunden hatte. Unter Flammen war sie in die Scheune geflüchtet, hatte das Heu in Brand gesetzt und schließlich einen Teil des alten Dachstuhls, der später aufs Wohnhaus übergegriffen hatte. Aber die Bilder zeigten einen alten Brand. Keine schwelenden Flammen, keine Glut. Kein gepflegtes Heim mehr, sondern eine Fassade überwuchert von Pflanzen und Ranken… und zwei Kinder, in deren Blicken Unverständnis und Schmerz lagen.
Ganz ähnlich dem, wie er sich nun auch in den Blicken des Blonden widerfand.
„Ich… ich verstehe das nicht“, war das erste, was er nach einigen Minuten der absoluten Stille wieder von sich gab. Er hörte das Gespräch zwischen seinem Mann und Mo’Ann und begriff doch nicht das geringste, so als würden all diese Worte zu dem Inhalt des Gesagten keinen Sinn ergeben und einfach an ihm vorbei rauschen. Clarence kannte dieses Gefühl von früher – von Abenden im Bett auf dem Boot, an denen er mit Cassie Moby Dick gelesen hatte. Die Passagen waren zuweilen so lang gewesen, dass er am Ende angekommen den Beginn schon wieder vergessen hatte und es war ihm schwer gefallen der Geschichte zu folgen, wenn sein Mann sie nicht einfach laut vorgelesen hatte.
„Ich verstehe das nicht“, wiederholte er schließlich erneut, dieses Mal zu Matthew aufblickend und ihm mit einem Unverständnis den Stapel Bilder entgegen haltend wie damals das Buch, bereit aufzugeben und einzusehen, dass ihm manche Dinge einfach nicht lagen. Die schwere Hand, die auf seinem Arm aufgetaucht war, tat gut und doch beantwortete sie keine einzige seiner Fragen, während Matthew und Mo’Ann sich einen Schlagabtausch lieferten, dem der Blonde im Augenblick ebenso wenig folgen konnte wie dem Kontext der Bilder.
Sein Mund war trocken geworden und just in diesem Augenblick fühlte er sich ein wenig wie damlas in Cascade Hill, als der Quacksalber ihn beiseite genommen und ihm gesagt hatte, dass er nicht wisse, ob Clarence‘ Mann jemals wieder aufwachen würde. Damals hatte er sich gefühlt, als wären ihm die Zügel aus den Händen geglitten und als hätte er die Kontrolle verloren über alles, was bis dahin sicher und verlässlich schien. Nichts anderes war es tatsächlich in diesem Augenblick auch – denn es hatte damals einige Monate gebraucht sicher und verlässlich zu begreifen, dass seine Kinder fort waren. Sie würden nicht zurück kommen. Sie würden nie wieder nach seiner Hand greifen oder ihn ihr Lachen hören machen. Ihre kleinen hellen Stimmen würden ihn nie wieder Daddy nennen oder ihre kleinen Füße morgens durchs Haus schleichen wenn sie glaubten, dass sie vor ihm wach geworden waren.
Das war sicher gewesen. Sicher und verlässlich.
Aber die beiden abgebildeten Mädchen auf den Fotos waren alles andere als der verlässliche Tod seiner Kinder, denn je weiter er in dem Stapel Abbildungne voran kam, umso mehr offenbarten sich die Zusammenhänge, unter denen der Brief entstanden war – Wie Vieh auf einer Auktion, das auf Tauglichkeit kontrolliert wird, ging es ihm durch den Kopf während er sich eine Apparatur betrachtete die man vor dem Wagen aufgebaut hatte um offensichtlich die Kinder darin zu vermessen. Teilweise entkleidet waren sie, mal aufgestellt mit ausgebreiteten Armen, das Haar empor gesteckt. Clarence mochte es noch nicht begreifen, aber nichts anderes als die nüchterne Dokumentation einer unglaublichen Arbeit von wahnsinnig gewordenen Akademikern wie Mo’ann war es, die er in der Hand hielt und die seinen Blick zunehmend dunkler werden ließen – und die ihn verstehen ließen wie gemeingefährlich diese Frau war, ganz gleich ob er gerade verstand was mit seinen beiden Mädchen war oder nicht.
„Ich will mit meinem Mann reden. – Allein“, fügte er scharf an für den Fall, dass diese impertinente Frau ansonsten mit Absicht nicht verstand, was er damit meinte. Mit finsterem Blick hielt er sie taxiert und zu ihrem eigenen Glück waren es nicht Augen alleine, mit denen man eine andere Person unter die Erde bringen konnte, denn ansonsten wäre Mo’Ann angesichts dieser verstörenden Bilder ganz sicher dort gelandet.
Noch immer hielt er die Fotos in der einen Hand, im Gegensatz zu Matthew war ihm sein eigenes Zittern nicht aufgefallen. Es mochte sein Anblick sein, blass und mit einem so stechenden Blick, dass man sich Widerworte besser zwei Mal überlegte oder es war tatsächlich einfach nur der bloßen Überheblichkeit dieser Frau zu verdanken, welche sie nach einem kurzen Zögern schließlich nicken ließ: „Natürlich. Ich kann mir vorstellen, das ist eine äußerst schwere Entscheidung.“ Den Sarkasmus ihrer Worte hörte er trotz ihres freundlichen Lächelns deutlich heraus. „Ihr solltet euch dennoch nicht allzu lange Zeit lassen. Ich denke, es ist das beste für alle Beteiligten, wenn ich zum gewünschten Verbleib der beiden eine zeitnahe Antwort auf den Weg bringe.“
Zweifelsohne eine gönnerhafte, beinahe gütige Geste einer sehr gütigen Frau, mit der sie ihren guten Willen demonstrierte, nachdem sie einen gewaltsam dazu gezwungen hatte vor ihr niederzuknien.
Mit zusammengebissenen Zähnen sah er ihr dabei zu, wie sie sich vom Tisch erhob und die vorangegangenen Briefe von Eric Amber zusammensuchte, um sich schließlich mit einem höflichen Nicken vom Tisch zu entfernen. Lediglich die nahe Treppe zur Empore war es, die sie erklomm um ihre beiden Gäste alleine zu lassen während sie sich zur Arbeit an ihrem Schreibtisch niederließ. Ein idealer Ort um sie beide im Blick zu behalten damit sie nicht auf dumme Ideen kamen, da war Clarence sich sicher.
Noch während Mo‘Ann ihnen den Rücken zugedreht hatte, hatte der Blonde den Stapel Fotografien vor Cassie abgelegt, die unangenehmen Dokumentationen dieser Fremden obenauf liegend. Statt weiter hindurch zu blättern, öffnete er unter dem Saum seines Pulloverärmels einen Knopf. Mit einem leichten Schütteln seines Armes ließ er den Griff einer seiner Klingen ein Stück weit aus der Scheide hinab gleiten, weit genug um den Knauf in der Handinnenfläche liegen zu haben und gewappnet zu sein, sollte dieses irre Weib auf dumme Gedanken kommen.
„Was steht noch in dem Brief? Was… ich verstehe das nicht“, wisperte er seinem Mann entgegen, Mo’Ann auf ihrer Empore noch für einen Moment länger im Auge behaltend, bevor er schließlich Matthew ansah. Der Blick des Älteren war ruhelos und als er schließlich begriff, dass ihm gebetsmühlenartig die gleichen Worte über die Lippen kamen und durch den Kopf gingen, schüttelte er selbigen schließlich kurz. Das half zwar weder den Gedanken loszuwerden, noch sich irgendwie zu erden, aber der ziehende Schmerz half, als er sich kurz auf die Innenseiten seiner Wangen biss.
Noch immer war sein Mund trocken wie Staub, doch der Versuch seine Kehle mit einem Schluck Wein anzufeuchten scheiterte daran, dass er selbigen erst vor kurzem ausgetrunken hatte.
„Lies ihn nochmal. Sieh nach ob irgendwo steht, wo diese Typen momentan sind oder wo sie hinwollen. Sie können… Du musst das aufmerksamer lesen, irgendwo muss sich erkennen lassen, mit was sie diesen Mist gefälscht haben“, deutete er auf die Fotos und wenngleich er Mo’Ann selten so gehasst hatte wie in diesem Moment, wäre er am liebsten auch auf Matthew sauer – immerhin war er derjenige, der so viele Bücher gelesen hatte. Er musste doch erkennen, dass der Wisch aus der Hand eines Betrügers stammte. Aber Cassie hatte ihr Schmierentheater nicht als selbiges aufgedeckt, sondern war gegenüber Mo’Ann in eine Forderung übergegangen die verlauten ließ, dass er diesem Brief seinen Glauben schenkte.
Die Fähigkeit zu begreifen was hier gespielt wurde, war Clarence abhanden gekommen - und auch Matthew fiel das Begreifen schwer.
Seit er Clarence kannte, war jener Mann ein Mann mit bewegter Vergangenheit gewesen. Schweigsam, mürrisch, in sich gekehrt. Er hatte sein Herz nicht auf der Zunge getragen und hatte Matt nicht teilhaben lassen an jenen Dingen, die ihn nachts oft wach gehalten hatten. Damals war der Dunkelhaarige damit fein gewesen - er hatte nicht wirklich wissen wollen was seinen Begleiter um den Schlaf brachte oder auf welche Weise er seine Finger teilweise eingebüßt hatte.
Aber irgendwann hatten sich die Dinge geändert und Clarence hatte ihm von den Geistern der Vergangenheit erzählt. Von seinen Eltern. Von seiner ersten Liebe, Benedict. Von seiner Frau und auch von seinen Mädchen. Harper und Cordelia. Die, auch wenn schon lange tot, nie das Herz ihres Vaters verlassen hatten und die auf ewig von ihrem Vater geliebt wurden.
Dass die Dinge die Clarence ihm anvertraut hatten keiner Lüge oder Hirnwäsche entsprungen waren, war für den Jüngeren vollkommen klar. Denn sofern zwischen den Bildern in der Bibel und den Fotos auf dem Tisch wirklich Jahre lagen, so war es ihm unbegreiflich weshalb die Mädchen um keinen Tag gealtert schienen.
Zu Oberst lag nun eine Fotografie, die beide Mädchen zeigte wie sie nebeneinander standen und eine männliche Person ihre Größe mithilfe eines Metermaß‘ ermittelte. Beide Mädchen schauten unbehaglich drein und Cassie fröstelte bei dem Anblick.
Mo‘Ann hatte sie inzwischen allein gelassen und sich zurückgezogen, was Clarence dazu veranlasste, sein Messer bereit zu machen.
Für den Fall der Fälle.
Cassie sah seinem Mann in die Augen und legte seine Hand nun über die des Blonden und auch über den Griff der scharfen Schneide, eine stille Geste die dazu mahnte, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Mo‘Ann nun anzugreifen wäre verständlich - aber es wäre auch ein Fehler den sie in Anbetracht der neuen…Erkenntnisse… sich nicht erlauben durften.
Clarence war vollkommen durch den Wind, was nicht verwunderte und Matt betrachtete seinen Mann mit einer Mischung aus Liebe und Schmerz.
„Baby…“ flüsterte er und wartete bis sich Clarence halbwegs gefasst hatte. „Ich kann dir vorlesen was in dem Brief steht. Wort für Wort. Aber ich schwöre bei meinem Leben, dass nicht direkt oder indirekt niedergeschrieben wurde wo sie sind, noch wohin sie unterwegs sind. Dem Datum entnehme ich, dass der Brief acht Tage alt ist. Das heißt… sie sind irgendwo im Umkreis von acht Tagen, das ist weit. Aber nicht zu weit. Trotzdem hilft uns das nur begrenzt weiter.“
Er hatte die Zeilen schnell gelesen, aber deshalb nicht minder gründlich.
„Ich verstehe das alles auch nicht. Aber…Baby…für mich sieht… nichts davon nach einer Fälschung aus. Ich meine… der Brief beweist gar nichts. Jeder kann alles aufschreiben was er will. Aber die Fotos…“
Er sah für einen Moment auf den Stapel Bilder, von denen das oberste jene Vermessung dokumentierte die es Matthew frösteln ließ.
Nutzvieh wog und vermaß man, Menschen aber nicht.
Zumindest nicht für gewöhnlich.
Aber was an alledem war schon gewöhnlich?
Cassie seufzte während er das Bild ansah und fragte sich unwillkürlich in welch kranken Kreisen er sich aufhielt. Menschen die Tote wiederauferstehen ließen - etwas das eigentlich unmöglich war. Oder - sollte es doch nur ein Schwindel sein - die solche widerwärtigen Ideen hatten und auslebten nur um Clarence in der Hand zu haben.
Es war ein Dunstkreis von Gestörten und es schien ganz egal zu sein wohin er ging… diesem Dunstkreis war er nicht entkommen seit man ihn in Stillwaters Reach aufgegabelt hatte. Verkauft wie Nutzvieh - womit sich der Kreis auf absurde Weise wieder schloss.
Dunkle Augen suchten abermals den Blick an Clarence vorbei und zu dem erhöhten Platz, den Mo‘Ann bezogen hatte. Sie war eine durchtriebene Frau, ohne Zweifel hatte sie hervorragend zum gütigen Mann gepasst und ihr Tod wäre ein Geschenk an die Welt.
Aber nun gab es da zwei Kinder. Zwei Kinder die es nicht hätte geben dürfen, nachdem ihre Mutter sie ermordet hatte.
Sich kurz über die Lippen leckend sah Matthew schließlich wieder in das Gesicht seines Mannes. Clarence war mit den Nerven am Ende, weil er nicht begreifen konnte was man ihn hier glauben machen wollte.
Und Matt konnte es ebensowenig fassen, nur das er zu den fremden Kindern kaum einen emotionalen Bezug hatte und vielleicht deshalb klar erkannte, dass es sich bei den abgebildeten Mädchen nicht um verkleidete Kinder handelte oder um lebensechte Puppen.
„Claire…Liebling…du musst mir jetzt zuhören. Falls…falls es ein Schwindel ist, wird er auffliegen sobald du die Mädchen wirklich siehst. Die Fotos…wirken echt für mich. Ich weiß nicht… ich weiß nicht wie das möglich ist, aber…“ Matthew unterbrach sich kurz selbst, überlegte wie anhand welchem Beispiel er Clarence vielleicht aufzeigen konnte, dass manches Unmögliche eben doch möglich war. Und nach einem Moment des Schweigens nahm er den Faden schließlich wieder auf: „…du erinnerst dich bestimmt an… an das Schicksal von Jesus. Jesus ist… wiederauferstanden von den Toten. Wenn…wenn Jesus das konnte, dann kann es wieder geschehen und falls… falls es denen irgendwie gelungen ist… dann Baby… dann müssen wir sie zu uns holen. So schnell wie möglich. Verstehst du? Falls es wirklich deine Babys sind.“ nun beugte sich Matt zu dem Jäger, legte die Stirn an die Stirn seines Mannes und hob die Hand von der Hand des Blonden, um sie auf seinen Hinterkopf zu legen und Clarence bei sich zu halten.
„Und wenn sie lügt… dann bringen wir sie um. Sie und alle die dafür verantwortlich sind. Wir lassen das nicht auf uns sitzen, das schwöre ich dir. Aber wenn sie… wenn sie nicht lügt…wenn es nur den Hauch der Wahrscheinlichkeit auf ein Wunder gibt, dann… müssen wir kooperieren. Zumindest für den Moment. Weil…“ - mit der freien Hand schob er Bild für Bild neben den Stapel ohne Clarence aus den Augen zu lassen oder seine Stirn von der des Hühnen zu nehmen. Erst als er das richtige Foto gefunden hatte löste er sich wenige Zentimeter von dem Blondschopf und hielt das Bild zwischen sie. Es zeigte beide Mädchen in einer Nahaufnahme. Man sah die Sommersprossen Harpers so deutlich wie die Löckchen von Cordelia und sollte jenes Bild nicht echt sein… dann würde Cassie sich schwer täuschen.
„…weil diese beiden ihren Daddy brauchen. Und ihr Daddy braucht sie. Also müssen wir… gemeinschaftlich an dieses Wunder glauben, bis wir mehr wissen. Okay?“
Der blonde Jäger, damals mehr Eigenbrötler als Matthew ein wahrer Teamkamerad, hatte sich nicht in den Dunkelhaarigen verliebt, weil er besonders schön oder besonders klug gewesen war. Um ehrlich zu sein hatte der Typ sogar viel zu viel geredet. Er plapperte, eine Eigenschaft die Clarence bei Männern wie Frauen unheimlich auf den Keks ging und ihn letztlich nicht nur ein Mal dazu veranlasst hatte das Weite zu suchen und irgendwo im Dickicht zu verschwinden. Aber es gab einen Unterschied zwischen ihn zuplappern oder in Gesellschaft Konversation betreiben und irgendwann hatte Clarence unter ihren Besuchen in Siedlungen und Städten erkannt wie sympathisch Matthew sein konnte, wenn er nicht gerade unbedingt auf den Blonden einredete. Er hatte mit den Wochen gelernt, dass dieser Mann sich durchaus seines anziehenden Äußeren bewusst war, aber er stand nicht stundenlang vor dem Spiegel um sich selbst zu beweihräuchern. Matthew mochte sich bewusst nicht für die Probleme seines schweigsamen Gefährten interessiert haben – aber er war immer sofort zur Stelle gewesen, wenn Clarence Hilfe benötigt hatte. Er hatte ihn nicht darüber ausgequetscht was ihn bewegte, aber er hatte auch nicht die Seite des Blonden verlassen, um ihn mit seinen Sorgen alleine zu lassen. Kein einziges Mal.
So wie in Clarence‘ tiefem Schweigen ein noch anderer Mann verborgen gewesen war, hatte hinter Cassies teils lapidarem Umgang mit seiner Umgebung ein Mensch gesteckt der aufmerksam und beständig war. Der ihm eine verlässliche Konstante gegeben hatte und auf dessen Wort immer verlass gewesen war. Sein Mann hatte niemals Claires Angst vor dem Alleinsein genährt, sondern sie mit seiner bloßen, beständigen Anwesenheit beschwichtigt und über die vergangenen Jahre hinweg war er ihm dadurch zu einem derart vertrauensvollen Pfeiler in seinem Leben geworden, dass er kein Wort seines Mannes jemals als eine Unwahrheit vermuten würde.
Auch jetzt nicht. Denn wenn Matthew ihm schwor, dass er keine Fälschung in den niedergeschriebenen Worten erkannte oder gar Hinweise auf den Verbleib dieser Gruppe, dann vertraute er seinem Mann mit jeder einzelnen Zelle seines Seins.
Sachte löste er die verkrampften Finger von dem Griff der Klinge, nur um sie unter denen des Jüngeren hervor zu ziehen und sie stattdessen über Cassies Finger hinweg zu legen. Fest nahm er auf diese Weise die Hand seines Mannes in seine, während er seinen Blick auf die alternde Dame auf der Empore gerichtet hielt, als könne er ihr alleine damit ein Seil um den Hals legen und sie gewaltvoll von ihrem Thron über die Brüstung zerren. Sein Antlitz mochte noch immer blass sein und man sah ihm an wie ihn diese verstörenden Bilder mitnahmen auf denen seine Kinder im Kreise der Horde fremden Männer zu sehen war, aber das schmälerte nicht die aufkeimende Wut und seinen Hass auf diese Frau, welche ihm düstere Anspannung ins Gesicht trieb.
Von Jesus sprach sein Mann und von Wiederauferstehung und für einen Moment musste Clarence daran denken wie er damals nach Nathans Tod in den Wäldern gelegen und gebetet hatte. Er war bereit gewesen mit seinem Leben abzuschließen und dabei nicht davon ausgegangen, dass sein Herr sich noch dazu erbarmen würde ihn zu sich zu holen. Für Menschen wie Clarence gab es andere Orte, an denen er die ewige Verdammnis bis ans Ende der Zeit würde ertragen müssen und doch hatte er immer auf Vergebung gehofft. Auf ein Zeichen, dass Erbarmung über ihn kommen würde. Hatte seine Sünden gebeichtet vor seinem Gott und ihn gebeten um ein Wunder, das ihm der Herr schicken würde um ihn rein zu waschen von alldem, das ihn Zeit seines Lebens beschmutzt hatte. Und dann… hatte er plötzlich wenige Gehminuten weiter am Baum gelehnt. Matthew.
Aber waren die Dinge so einfach? War es ausreichend an Wunder zu glauben, zu beten und zu hoffen, das alles gut werde?
Nach Denver war es so einfach gewesen. Er hatte den Herrn angefleht ihm Matthew zurück zu bringen und er war gekommen. Ein wenig spät zwar, aber auch dieses Wunder hatte der Herr geschehen lassen. Auch für seine Kinder hatte er gefleht und gebetet – und womöglich hatte Gott für die zwei einfach etwas länger gebraucht als für Matthew. Vielleicht, weil sich zwei niedliche Kinder im Himmel einfach besser ertragen ließen als ein ständig plappernder Taugenichts von dem man froh war, ihn zeitig wieder vor die Himmelstüren zu setzen.
Noch während er die fremde Stirn an seiner anlehnen spürte und sich Cassies vertraute Hand an seinen Hinterkopf legte, spürte Clarence sich selbst zittrig durchatmen. Ein trauriger Versuch seine Anspannung zu durchbrechen, was ihm nur schwerlich gelang. Doch Matthews Nähe war es schließlich auch, welche seinen Blick auf Mo’Ann unterband und ihn für einen Moment die Augen schließen ließ, bevor er versuchte sich auf seinen Mann und dessen Worte zu fokussieren.
„Wenn sie lügt…“, begann er schließlich leise und brauchte einen Moment, bevor er Matthew wieder anblickte. Noch immer hielt er die Finger seines Mannes in seinen und hielt sie so fest gedrückt, dass seine eigenen Fingerkuppen davon schon ihre Farbe verloren hatten. Egal was in den vergangenen Tagen geschehen war, sie beide waren eine unzertrennliche Einheit und weder ungeladene Dämonen, noch fremde Bruderschaften oder sonstige Verbindungen würden daran etwas ändern können. Clarence wusste, dass sie beide alleine gegen den Rest der Welt ankommen würden wenn es erforderlich war. Kein Weg wäre ihm zu steinig um ihn mit Matthew zu gehen, ganz gleich wie lang er sein würde oder ob es je ein Ziel gab, an dem sie ankommen konnten.
„Wenn sie lügt… ist es mir egal, ob sie von Nathans Machenschaften weiß. Dann hat sie sich einen Angriff auf unsere Familie geleistet.“
Es war ihm egal, ob sie ihre Anforderungen an ihn stellte. Ob sie solche Behauptungen tätigte um alte Traumata wieder aufzureißen und ihn damit gefügig zu machen oder nicht. Aber sie hatte nicht nur Clarence einbestellt, sondern auch Matthew. Das Leben seiner Mädchen mochte vielleicht eine Finte sein und die Bilder nur gestellt, aber das würde nichts daran ändern, dass sie seinen Mann und damit seine Familie in diese Sache hinein gezogen hatte anstatt nur ihn allein.
Aber es ging nicht nur um ihn und ihre Vorhaltungen waren nichts, das er alleine durchstehen musste. Wie wertvoll es war und wie gut es tat, dass Matthew in jedem einzelnen seiner Sätze von Ihnen sprach, begriff Clarence in diesem Moment gar nicht so genau – aber er wusste, dass er noch nie in seinem Leben einem anderen Menschen so sehr vertraut hatte wie seinem Ehemann.
Still blickte er zwischen ihnen hinab auf das Bild, das Cassie vor seine Brust hielt, bevor er auch die anderen vom Jüngeren durchwühlten Bilder auf dem Tisch betrachtete. In der richtigen Reihenfolge sortiert gaben sie detaillierte Auskunft über ein Geschehen, das man in vollem Umfang gar nicht recht begreifen wollte. Das einzige, was an der Dokumentation dieser Verbrechen tröstlich war, war die Tatsache, dass mit den bleichen Leibern seiner Kinder auch deren körperliche Unversehrtheit festgehalten war und sie nicht etwa durch Schläge oder sonstige Misshandlungen gekennzeichnet worden waren.
„Wenn sie will, dass ich diesen Laden hier leite… dann werden wir ihr alles nehmen, was diesen Ort zu ihrem Zuhause macht. Sie soll sich nicht willkommen fühlen in einem Haus, das uns gehört“, erhob er schließlich erst wieder das Wort und schließlich auch seinen Blick gen Matthew. Seine Stimme war nüchtern geworden und längst war seine Frage nicht mehr die, ob die Bilder der Kinder echt waren oder nicht, sondern auch was die Forderung Mo’Anns mit sich brachte. „Falconry und der Clan sind Nathans Vermächtnis und ich schwöre dir, wir radieren ihn aus dieser Geschichte aus. Wir nehmen jedes seiner Bilder ab und wenn es sein muss, entferne ich jeden aus dem Clan, der ihn noch immer vergöttert. So lange, bis Mo’Ann nicht mehr ‚die Witwe von‘ ist, sondern einfach nur noch ein Mitglied ohne besondere Privilegien.“ – Vorausgesetzt sie schaffte es überhaupt so lange zu überleben, wenn sich ihre Worte nicht vorher schon als Lüge enttarnten.
War damit die Entscheidung schon gefallen? War es ausdiskutiert, ganz ohne, dass es einer Diskussion bedurfte?
„Ich will das nicht. Das ist nicht das Leben, das ich für uns wollte“, fügte er nach kurzem Schweigen an und betrachtete seinen Mann, für den die Entscheidung so offensichtlich und so leicht war. Theoretisch war sie das auch, immerhin sagte man nicht nein, wenn man die Pistole an die Brust gedrückt bekam – und im übertragenen Sinne bekam Clarence das tatsächlich, so nah wie die Fotografie der beiden Mädchen ihm gerade durch Matthew an die Brust gehalten wurde.
„Wenn… wenn sie nicht lügt…“ – zaghaft nahm er ihm mit der freien Hand das Bild ab und betrachtete die beiden kleinen Mädchen auf dem Foto. Cordelias kleine Pausbacken hoben sich nicht unter ihrem breiten Lachen, so wie er es sonst in Erinnerung hatte und Harpers Blick saß nicht der Schalk im Nacken sondern Unmut und Angst. Eine Angst, wie Kinder sie niemals verspüren müssen sollten. Wie würden sie sicherstellen, dass die beiden vor Mo’Ann sicher waren? Wie würden sie sicherstellen, dass sie vor dem Clan sicher waren?
Fragen, auf die sie so schnell keine Antwort finden würden, denn Mo’Ann begann bereits sich wieder von ihrem Sekretär zu erheben und schien bereit zu sein, die ihnen gnädigst dargebotene Zweisamkeit wieder abzuerkennen.
Im Leben ging es selten nur geradeaus. Träume erfüllten sich nicht häufiger als sie scheiterten und trotzdem war die Frage weniger „Warum passiert es mir?“ als „Wer ist dennoch an meiner Seite?“.
In Matthews Leben hatte es mehr Schreckgespenster und Monster gegeben als Freunde und Verbündete.
Aber sie waren da gewesen.
David, sein großer Bruder der immer auf ihn aufgepasst hatte - so lange, bis sein Leben ihn fort in die weite Welt gerufen hatte.
Jamie, seinen besten Freund an einem trostlosen Ort voller Schmerz und Angst. Mit ihm zusammen hatte Cassie Luftschlösser gebaut und war der Realität so manches Mal entkommen.
Brandon und Christopher, die mit ihm zusammen ausgewählt worden waren, den Bestien als Nahrung zu dienen.
Sie alle waren Freunde gewesen, enge Verbündete in einer Welt die nicht für sensible Seelen oder schwache Menschen gemacht war.
Niemand von ihnen war konstant in seinem Leben geblieben, sie waren viel zu früh und unter schlimmen Umständen gestorben - aber in Matthews Herz waren sie noch immer lebendig.
David, der klug und mutig gewesen war und so manches mal auf sein eigenes spärliches Essen verzichtet hatte, damit Matthew mehr hatte.
Jamie, der es sich nicht hatte nehmen lassen zu lachen, auch wenn die Umstände schrecklich waren.
Chris und Brandon, die zwar oft Angst gehabt hatten aber dennoch auf die Kleineren auf der Farm geachtet hatten.
Von all jenen Personen, die Matt auf die ein oder andere Weise beschützt hatten, war Clarence der Mensch der Matt am nächsten stand. Er war nicht nur sein bester Freund und engster Vertrauter, er war sein Beschützer, sein Liebhaber, sein Verbündeter gegen jede Gefahr. Matthew würde alles für ihn tun - und umgekehrt galt das selbe.
Endlich fokussierte sich jener Mann wieder auf ihn und als er sprach, da hatte er einen Ton in der Stimme von dem Mo‘Ann froh sein konnte ihn nicht zu hören. Es war der Ton eines Mannes der bereit war bis zum Äußersten zu gehen und der das Gesagte absolut ernst meinte.
Die Frau mochte glauben sie hätte die Dinge richtig kalkuliert - aber sie irrte sich. Denn auch wenn sie sie beide in der Hand hatte so würde Clarence dafür sorgen, dass sie bald nichts mehr war als ein unbedeutender Schatten in den Gemäuern.
Das Vermächtnis des Nagi Tanka würde vergehen, abgetragen werden wie gärendes Fleisch von einer Wunde.
All das wusste sie nicht - konnte es nicht wissen, weil in ihrem Kosmos Menschen wie sie immer gewannen. Aber sie hatte sich dieses Mal mit den falschen angelegt und als Clarence davon sprach, dass er jenes Leben nie gewollt hätte, da war es an Cassiel seine Hand zu drücken.
„Ich hatte keine Ahnung was für ein Leben ich mir gewünscht habe. Aber seit du mein Mann bist… weiß ich, dass ich mit dir leben will. Und es ist mir egal wo.“ - wichtig war, dass sie zusammen waren.
„Und wenn deine Mädchen am Leben sind, dann will ich sie kennenlernen, Baby. Dieses Projekt… was sich diese Frau auch immer erhofft… es wird nicht der Mittelpunkt unseres Lebens sein.“
Mittlerweile hatte sich Mo‘Ann aufgemacht ihren Platz von der Empore zu verlassen. Cassie sah kurz an Clarence vorüber und verfolgte ihre Schritte aufmerksam, dann sah er wieder zu Clarence.
„Wir machen sie fertig. Wenn du das Vermächtnis dieses Mannes in den Händen hältst… können wir es vernichten. Und wenn du mich fragst, sollte die da das noch erleben.“
Zu sehen wie die eigene Macht zerfiel würde die Witwe von schwer treffen. Und Matthew hoffte sie würde lange genug leben um sich gewahr zu werden, dass sie verloren hatte. Alles wovon sie glaubte es sei ihr bestimmt.
Schließlich setzte sich der Dunkelhaarige wieder richtig hin, legte das Foto beider Mädchen vor sich auf den Tisch und sah zu wie Mo‘Ann sich wieder vor ihnen platzierte.
„Habt ihr euch ausgiebig beraten?“ wollte sie wissen und der Sarkasmus troff ihr nur so von der Zunge.
Matt, der wusste sie würde jene Arroganz noch bereuen, sah zu Clarence und nickte in seine Richtung.
„Ausgiebig wohl eher nicht. Sie haben weniger Geduld als ich.“ daraufhin schnaubte sie abfällig, würdigte den Jüngeren aber kaum eines Blickes. Ihr Fokus lag auf Clarence, der für ihren Plan die einzig wirklich wichtige Figur war.
„Ich stimme meinem Mann zu, was auch immer er entscheidet.“
Nachdenklich und mit einer Spur Bedauern im Blick musterte er den jungen Mann an seiner Seite, dessen Worte er so tief in seinem Herzen spürte, als wären es seine eigenen gewesen.
Seit du mein Mann bist, weiß ich, dass ich mit dir leben will. Egal wo.
Es waren Worte, deren Bedeutung er noch vor einigen Jahren vermutlich nicht annähernd verstanden hätte. Damals, in seiner Heimat, hatte es nur eine Richtung gegeben in die sich das Leben entwickelte und abseits dieses Weges war kein Raum gewesen für Erfüllung von Träumen oder Wünschen. Was aus einem werden würde, bestimmte vorrangig die Gemeinde und auch wen man heiratete oder ob man einen anderen Beruf einschlagen konnte als den der eigenen Eltern, war fremdbestimmt gewesen. Das Leben ging seine geregelten Bahnen und Möglichkeit etwas zu bedauern blieb einem nicht, einfach weil man gar keine Optionen hatte um etwas anders entscheiden oder den falschen Weg zu wählen.
Hier allerdings, in der Welt die Clarence erst spät in seinem Leben kennengelernt hatte, liefen die Dinge anders ab und seitdem hatte er viele Entscheidungen treffen müssen von denen er nicht mal wusste, dass es sie überhaupt zu treffen gab. Dass er einiges mehr, anderes weniger bereuen würde wenn erst einmal einige Jahre ins Land gegangen waren, hatte er nicht kommen sehen.
Wenn der Blonde gewusst hätte, er würde eines Tages auf einen Mann treffen der ihm derart den Kopf verdrehte, dass er seine eigenen Grundsätze und die eigene Erziehung über den Haufen warf um ihn zu heiraten, zweifelsohne hätte er sich selbst und damit auch seinen künftigen Mann nicht an das strenge Regime eines Jägerclans gebunden, dem man die eigene Unterstützung auf Lebenszeit verschrieb. Es fühlte sich an wie ein Eheversprechen, das er sich viel besser für Cassie hätte aufheben müssen und das ihnen vieles erspart hätte, müssten sie heute nicht hier sein. Sie könnten noch immer auf der Harper Cordelia wohnen und die Welt bereisen. Könnten sich absetzen in ein fremdes Land im Süden, wo sie von dem lebten was Bäume und Tiere ihnen boten und in einer kleinen Hütte unweit des Strandes leben, wo sie sich Tag für Tag die Bäuche in der Sonne bräunen ließen. Doch selbst wenn sie mit dem Boot kenterten und schiffbrüchig an eine einsame Insel angeschwemmt werden würden… Clarence wäre auch dieses Leben recht in dem er dazu gezwungen wäre, sein Leben bis ans Ende aller Tage alleine mit Matthew zu verbringen.
Denn wichtig war nur, dass sie lebten und sich hatten. Egal wo.
Was das bedeutete, hatte ihnen vermutlich der Absturz über Denver noch mehr aufgezeigt als alles andere, das sie bisher miteinander erlebt hatten. Bis heute hatte Clarence nicht vergessen wie es sich angefühlt hatte seinen Mann auf diese Weise vermeintlich zu verlieren und seither war jeder einzelne Tag miteinander ein Geschenk, dessen Wert der Ältere seinen Lebtag nicht mehr vergessen würde.
Kurz entwand er seine Hand den Fingern des Jüngeren - doch nur um sie stattdessen fest mit ihnen zu verweben und dadurch nicht nur den Griff seines Messers vor Mo’Anns wachen Blicken zu verbergen, sondern vor allem um jenen Halt an Matthew zu finden, den ihm nur sein Mann geben konnte. Dass Cassie seine Mädchen kennenlernen wollte klang furchtbar falsch und verdreht in seinen Ohren die an einen Kopf gehörten, welcher über viele Jahre hinweg hatte begreifen müssen, die beiden würden nie wieder zu ihm zurück kommen. Doch nun lagen sie vor ihm, auf einem Foto das ihm unbekannt war, mit Gesichtern die um keinen Tag gealtert schienen und alles andere als tot.
Ohne dass er es selbst merkte, legten sich seine Finger fester um jene seines Mannes als dieser betonte, hinter der Entscheidung des Blonden zu stehen - wie auch immer sie ausfallen möge. Dabei war es angesichts des Druckmittels, das Nathans Witwe gegen sie in der Hand hielt, eigentlich unmöglich ihr die Stirn zu bieten.
Dass Clarence es allerdings bereit war, sollten sich ihre Pergamente und ihre Worte als Lüge heraus stellen, schien sein finsterer Blick ihrer Gastgeberin bereits zu verraten, die ihren kahlen Kopf von einer auf die andere Seite wiegen ließ. Kurz verengten sich ihre Augen in der Erwartung von Widerworten, die sie letztlich aber doch nicht entgegen gespien bekam.
„Du hast von Aufgaben gesprochen, die du für uns hast. Ich will wissen, welche das sind“, forderte er schließlich bemüht ruhig von jener Frau, die es am ehesten verdient hätte zumindest ihre allwissend funkelnden Augen ausgekratzt zu bekommen. Schon jetzt bereute der Blonde es, stets ein beschwichtigendes Wort gegenüber seinem Mann für Mo‘Ann eingelegt zu haben. All diese Eventuells und Vielleichts waren ihm zu unsicher erschienen um den Plan dingfest zu machen, sie des nachts zu überfallen und den Vorwürfen gegenüber zu stellen, die Matthew gegen sie erhob. Doch je länger er sie ansah umso mehr wurde ihm bewusst, dass es einen guten Grund geben musste wieso Nagi Tanka sie zur Ehefrau erwählt hatte. Selbst wenn sie nicht von den Taten ihres Mannes wusste… so hatte sie sicher ausreichend eigene zu verschulden. Clarence mochte viel verzeihen, aber ganz sicher nicht, dass sie jene tiefen Wunden vom Verlust seiner beiden Kinder mit bloßen Händen wieder aufriss, nur um ihn für Dinge gefügig zu machen, die… ja. Die was überhaupt?
„Alles zu seiner Zeit.“ - Selbstgefällig lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und nur mit äußerster Beherrschung schaffte es Clarence, ihr für diese überhebliche Ader nicht hier und sofort an den Hals zu springen. Seine Hand erzitterte im Griff des Jüngeren und während er versuchte sich selbst darin zu unterbinden Luft zu holen und sie anzuschreien, legte sich ein süffisantes Lächeln über die schmalen Lippen der Älteren.
„Sobald ich euer Wort habe, werde ich die Übergabe der beiden vereinbaren und euch davon wissen lassen, alsbald ich mehr Informationen habe. Ich denke, wir sind uns wohl alle einig, dass zwischen uns dreien ein friedvoller Umgang herrschen wird, so lange wie die Kinder unversehrt bleiben. Nicht wahr?“, fügte sie nach einem hörbaren Zögern an, unter dem sie gen Matthew blickte und kaum merklich nickte. Falls das ihre Art sein sollte durchscheinen zu lassen, dass es an diesem Tisch gerade mehr Kriegsfronten auszufechten waren als nur eine, wäre das an diesem Abend zumindest das erste Anzeichen dafür gewesen.
Nervös rieb sich Clarence mit dem Daumen über den Stump des kleinen Fingers seiner freien Hand. Eine Angewohnheit, die er eigentlich schon seit einigen Monaten abgelegt hatte und die doch nicht mehr Berechtigung finden konnte als in diesem Augenblick, wo Mo‘Ann sie derartig in die Ecke drängte. Eine leere, bedrückende Stille hatte sich über den Tisch gelegt, während der er sich von den beiden Kindern des Fotos beobachtet und vorwurfsvoll betrachtet fühlte und das ihn leicht zusammenfahren ließ, als die klobige Stehuhr am Ende der Bibliothek bauchig 21 Uhr schlug. Einem Paukenschlag gleich, unter dem der Marsch zum Schafott bekannt gegeben wurde.
„Hast du Wünsche, wie ich deiner Tochter ihre Position streitig machen soll?“, wollte er schließlich monoton von Mo‘Ann wissen, was ihr ein kurzes Kopfschütteln entlockte, unter dem ihr selbstgefälliges Lächeln breiter wurde.
„Ich überlasse dir kreative Freiheit, so lange das Ergebnis das gewünschte ist.“
Man konnte Matthew vieles nachsagen - und vieles wurde ihm tatsächlich auch nachgesagt - angefangen von seiner großen Klappe, bis zu seinem natürlichen Charme.
Aus einfachsten Verhältnissen war er gekommen, hatte die schrecklichsten Abgründe menschlicher Verfehlungen am eigenen Leib erfahren und überlebt. Und er war aufgestiegen in elitäre Kreise, war der Schüler einer Legende gewesen, hatte Bildung erfahren, weit über den Maßstäben, welche sonst allgemeinhin bereits als gehoben galt.
In gewissen Kreisen war er bekannt als einer der Besten, wenn nicht gar der Beste, wenn es darum ging Menschen verschwinden zu lassen.
Er war in vielen Bereichen geschickt, war ausgebildet worden um überall hinzupassen. Auf gesellschaftliches Parkett ebenso wie in den Schatten regennasser, nächtlicher Gassen.
Man konnte vieles über den dunkelhaarigen jungen Mann sagen, der mit so aufmerksamen dunklen Augen die Frau gegenüber musterte.
Manches konnte man anzweifeln, aber eine Sache war definitiv:
Matthew war ein zähes Biest wenn es drauf ankam.
Nichts von den Dingen in denen er heute gut, wenn nicht gar ausgezeichnet war, war ihm in den Schoß gefallen. Er hatte mehr als einmal für seinen unbedingten Willen zu überleben bezahlt.
Unendliche Male hatte sich der Weg vor ihm gegabelt und hätte ihm einen leichteren Ausweg geboten als den, weiter am Leben zu bleiben.
Aber Matthews Wille sich durchzubeißen war vielleicht das einzige, was von ihm heute noch übrig war, was man ihm nicht beigebracht hatte.
Seine gesamte Kindheit war ein Kampf gewesen, seine Jugend war geprägt von einem Lehrmeister der weder mit Züchtigung noch mit perfiden Methoden zu seiner Abhärtung gegeizt hatte.
Die für ihn vertrauteste Form von Gesellschaft war die, in der einer führte und ein anderer folgte. Und folgte man nicht schnell oder nicht richtig genug - oder war der Führende einfach schlecht drauf - dann bekam man unmittelbar die Konsequenzen zu spüren.
Mo‘Ann wusste wer er war, diesbezüglich war sein Bauchgefühl eindeutig und er vertraute darauf.
Aber ihr Wissen schien sie nicht zu beunruhigen. Vielleicht weil sie einfach unvorsichtig war. Vielleicht weil sie sich in ihrer Stadt vollkommen sicher fühlte.
Doch egal weshalb sie ihn nicht fürchtete, sie beging damit einen Fehler. Noch mochte er ihr nicht bewusst sein, aber am Ende würde sie noch Zeit haben jenen Fehler zu bedauern. Denn was ihr nicht klar zu sein schien, war die Tatsache, dass Matthew seit seinem Kennenlernen mit Clarence, nicht mehr nur ums Überleben kämpfen würde, sondern um ein Leben mit Clarence.
Früher hatte er nur für sich gekämpft, doch mittlerweile führte er ein Leben mit dem großen Wildling, welches er unter keinen Umständen mehr verlieren wollte. Er würde es sich nicht nehmen lassen.
Von niemandem.
Mit der selben Unerbittlichkeit mit der er sich stets geweigert hatte aufzugeben, würde er seinen Mann und dessen Kinder verteidigen. Und wenn Mo‘Ann glaubte, dass ein paar gefährliche Männer oder die Aussicht auf Blutvergießen ausreichen würde, ihn abzuschrecken, dann irrte sie gewaltig. Matthew hatte gelernt, sich dann erst richtig festzubeißen, wenn es anfing wehzutun.
Einen friedvollen Umgang wollte sie heraufbeschwören, was angesichts des Krieges den sie gerade begonnen hatte, vollkommen lächerlich anmutete. Aber Matt entlockte dieser Kommentar trotzdem kein Lächeln. Stattdessen leckte er sich kurz über die Lippen, neigte den Kopf überlegend zur Seite und antworte nach einem Moment des Nachdenkens:
„Ein bisschen vermessen, ein Friedensangebot unter diesen Umständen zu unterbreiten.“ - „Welche Umstände meinst du? Ich habe keine Mühen gescheut um Clarence ein Geschenk zu machen, wozu du niemals im Stande wärst.“, ihr erboster Blick schien Matt durchbohren zu wollen, doch der Dunkelhaarige zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Alles was er heute war, alles was er heute besaß hatte er sich erkämpft. Ihm war nichts, absolut gar nichts, in den Schoß gefallen oder geschenkt worden und nun hatte jene Frau einen Krieg mit Clarence angezettelt - und Cassie würde seinen Mann verteidigen bis aufs Blut.
„Ein Geschenk? Wenn stimmt was du behauptest, dann sind es seine Kinder und es ist ihr verdammtes Recht als Familie zusammen zu sein. Sie sind kein Geschenk wie ein verfluchtes Tellerset!“ zischte er ihr warnend entgegen.
Daraufhin schien Mo‘Ann einen Augenblick lang nicht zu wissen was sie erwidern sollte. Sie sah Matthew an, sagte aber nichts.
„Welche Aufgaben hast du noch zu verteilen? Deine Tochter vom Thron ihres vermeintlichen Erbes zu stoßen ist ja nicht genug und wenn du unsere Zusage willst, dann müssen wir wissen wozu wir zusagen.“
Die Glatzköpfige verzog ihre Lippen zu einem schmalen Lächeln das zu besagen schien, sie müsse ihm überhaupt keine Antworten liefern, wenn sie nicht wollte.
„Mir scheint, dein Partner will stets mit dem Kopf durch die Wand. Liege ich richtig?“, die Frage galt Clarence, den sie kurz musterte bevor sich ihre Augen wieder abschätzig auf den Jüngeren hefteten.
„Und mir scheint, dass wir keine Antworten bekommen und gar nicht wissen sollen worauf dieses Theater hier wirklich hinausläuft.“
Mo‘Ann seufzte gestresst.
„Ihr werdet Antworten bekommen. Aber nicht heute. Für heute benötigt ihr nicht mehr Informationen als die die ihr erhalten habt.
Also?“ - sie blickte von Matthew weg und hin zu Clarence, den sie nun fixiert hielt. „Habe ich euer Wort?“
Was auch immer es war, das sie ihnen teilweise sehr offen als Beleidigung entgegen bringen wollte, teilweise aber zwischen den Zeilen versteckte - all ihre Worte trafen den Blonden deutlich weniger, als Mo‘Ann es vermutlich erhoffte.
‚Ich habe keine Mühen gescheut um Clarence ein Geschenk zu machen, wozu du niemals im Stande wärst‘ war in seiner Aussage auf so viele Weisen verdreht, dass Besagter sich am liebsten vor die Füße der Glatzköpfigen erbrochen hätte. Es ging dieses Weib nichts an, ob sie als zwei Männer eine fruchtbare Ehe führen und sich mehren würden. Auch ging es sie nichts an, welche bedeutungsschwangeren Geschenke Matthew ihm machte oder auch nicht und am allerwenigsten wollte Clarence ausgerechnet von Mo‘Ann irgendeinen Kinderwunsch erfüllt bekommen.
Den Braten und das wohlduftende Gemüse hatte er kaum angerührt und dennoch lagen ihm die wenigen Bissen so schwer im Magen, dass ihm furchtbar übel geworden war. Noch immer blickte er Mo’Ann mit einer Mischung aus Abscheu aber auch wohl überlegter Zurückhaltung an und Matthews Art die Gesprächsführung zu übernehmen war ihm daher eine willkommene Möglichkeit sich für den Großteil der Diskussion zurück zu halten.
„Wenn du wüsstest…“, murmelte er kaum hörbar während Cassie kein gutes Haar an ihr ließ und ihr deutlich klar machte, dass nicht sie das letzte Wort haben würde, ganz gleich wie oft sie es versuchte. Bei Gott, diese Frau konnte dankbar sein, dass Clarence seinen Mann über mehrere Tage hinweg davon abgehalten hatte in der Abenddämmerung loszuziehen und sie abzustechen. Wie sehr er manchmal mit dem Kopf durch die Wand wollte, hätte sie fast am eigenen Leib zu spüren bekommen und auch just in diesem Augenblick unterschätzte sie den dunkelhaarigen jungen Mann an seiner Seite, das machte ihre abfällige Art ganz deutlich klar. Aber sollte sie nur. Lieber hatte der Jäger sie naiv und überheblich als auf der Lauer und wachsam für das, was im Dunkel der Nacht nach ihr trachtete.
„Wie lange wird es dauern, bis du uns Rückmeldung gibst?“, wollte er schließlich von ihr wissen und ignorierte ihre abermalige Frage nach dem Wort der beiden völlig. Sie mochte finden, dass Matthew und er vorerst bereits genug Informationen hatten und doch würde er nicht einfach ins Blaue hinein etwas versprechen ohne zu wissen, welche wenigen Rechte sie bei dem ganzen besaßen.
Ruhig lehnte sich die in die Jahre gekommene Dame zurück, faltete die Hände auf dem Bauch und seufzte tonlos. Einer Mutter gleich, deren Kind zum wiederholten Male die gleiche Regel gebrochen hatte und die langsam nicht mehr wusste, mit was sie ihren widerwilligen Sprössling noch bestrafen sollte.
„Einige Tage. Zeit genug, um deinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Bevor du nicht einen Schritt nach vorne gemacht und für Ruhe gesorgt hast, braucht ihr nicht mit einer Kontaktaufnahme meinerseits rechnen.“
Das klang per se genauso verlockend wie es verstörend war, denn so sehr sie ihnen damit auch die Pistole auf die Brust setzte, sie würde ihnen vermutlich auch ihre Ruhe lassen und ihnen bis dahin nicht mit einem erneuten Gespräch auf die Pelle rücken. Trotzdem widerstrebte sich jede Faser seines Leibes, diesem verlogenen Miststück etwas so wertvolles wie sein Wort zu überlassen, das bekanntermaßen Gewicht besaß.
Am Liebsten hätte er sie hier sitzen lassen. Wäre aufgestanden und hätte ihr gesagt, dass er darüber nachdenken würde. Dass Mo‘Ann seine Entscheidung schon mitbekommen würde wenn er sie gefällt und damit begonnen hatte, Odette von ihrem zu Unrecht belagerten Thron zu stoßen - und wahrlich, all das lag ihm auf der Zunge bis zu jenem Moment als er den Blick hinab auf die Fotografie senkte, die Matthew vor sie hingelegt hatte.
Schüchtern und zurückhaltend blickten Cordi und Harper von dem Bild zu ihnen auf. Die Farben der Abbildung wirkten so intensiv und lebendig wie die beiden Mädchen selbst es taten. So detailliert, wie nicht mal mehr seine Erinnerungen an seine beiden Kinder es waren. Die Fotos, die er von ihnen besaß, hatte er irgendwann angefangen in seine Bibel zu verstecken um sie davor zu bewahren zur Gänze zu verblassen und damit zuzulassen, dass ihre Erinnerung vollends von dieser Erde getilgt werden würde.
Wenn es auch nur die geringste Chance gab, dass Mo‘Ann nicht log und all diese Bilder nicht gestellt waren um ihn geschmeidig zu klopfen…
Sich still über die Lippen leckend, blickte er von den Mädchen zu Matthew auf und betrachtete seinen Mann, der die Entscheidung für sie beide bereits gefällt hatte, noch bevor Clarence überhaupt darüber nachgedacht hatte. So gern sie sich manchmal auch über grundlegende Meinungsverschiedenheiten stritten, so sehr waren sie sich beide doch auch immer die größten Befürworter. Der Hüne wusste, wie ernst es Cassie damit war für diese Kinder zu kämpfen die er nicht mal kannte und von denen keiner sicher wusste, ob sie tatsächlich lebten. Und trotzdem hatte sein Mann keine Sekunde gezögert seine Überzeugung für ihre Familie kundzutun.
„Okay“, sagte er schließlich nach einer schier endlos anmutenden Stille zu und betrachtete Matthew ein letztes Mal, bevor er sich wieder Mo‘Ann zuwandte. „Du hast unser Wort.“
„Sehr gut. Ich würde ja vorschlagen wir widmen uns wieder dem Hauptpart unseres Treffens, nämlich dem vorzüglichen Essen“, plötzlich schien sie in ihrer Selbstzufriedenheit beinahe so vergnügt, dass es nur noch fehlte, sie würde vor ihnen in die Hände klatschen, „aber ich befürchte fast, dafür kann man euch heute Abend nicht mehr begeistern. Angesichts dessen dürft ihr euch auch gerne als entlassen betrachten, wenn euch das lieber ist?“
Ein Angebot so frech wie es auch erleichternd war und einen Teil der Anspannung aus seinem Griff um die Hand des Jüngeren weichen ließ. Für einen Moment konnte er nachempfinden welchem Instinkt Fluchttiere folgten, auch wenn er Mo‘Ann kein Dasein als Raubtier zugestehen wollte. Auf der anderen Seite hatte Claire mittlerweile genug Berglöwen auf dem Gewissen um sicher sein zu können, dass selbst eine Annedore Abaelardus nicht weit kam.
„Lass uns gehen, ich bin fertig hier“, wisperte er Matthew leise zu und tätschelte mit der freien Hand kurz ihren ineinander verwobenen Griff, unter welchem noch immer das gezückte Messer ruhte. Wenn er sich noch einen einzigen Satz von dieser Frau anhören musste, würde er sie vermutlich abstechen und so reizvoll diese Vorstellung auch war, so wenig zuträglich war sie ihrer Lage.
Letztlich war die Wahl vor die Mo‘Ann sie stellte keine wirkliche Wahl, denn in dem Moment als sie Clarence‘ Kinder ins Spiel gebracht hatte, hatte sie sich auch die Mitarbeit beider junger Männer gesichert.
Sie wusste das. Das sah Matthew ihr an. Auch wenn sie beide ihr nicht den Gefallen getan hatten sofort und ohne nachzudenken einzuwilligen. Aber letztlich bekam sie jene Zustimmung und während Clarence sie ihr erteilte, drückte Cassiel seine Hand bestätigend.
Matthew machte ihm keinen Vorwurf zuzustimmen, auch wenn das bedeutete, dass ihr Leben fortan an den Clan gebunden sein würde.
Es würde hoffentlich ein langes Leben sein, aber es konnte auch das Gegenteil geschehen - sollten zu viele innerhalb des Gefüges Clarence‘ als ihren Anführer ablehnen.
Es würde Vorsichtsmaßnahmen brauchen um sie zu schützen und Matt würde sein Möglichstes tun um etwaigen Aufrührern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ganz gleich was das bedeutete.
Zu jenem Leben würde es keine Alternative geben - nicht in absehbarer Zeit - und trotzdem war die Wahl die Clarence getroffen hatte die einzig richtige. Wenn seine Kinder lebten, so war es wirklich ein Geschenk und ein Wunder, welches Matt nie im Stande gewesen wäre zu vollbringen.
Mo‘Ann, welche nun mehr so zufrieden schien wie ein Fisch im Wasser, musterte die beide abwechselnd bevor sie ihnen die Freundlichkeit erwies, das Dinner für beendet zu erklären.
Hätte sie das nicht getan, wahrscheinlich wären Matthew und Clarence ohnehin aufgestanden um dieser Farce zumindest für heute ein Ende zu setzen. Aber Matthew Cassiel Reed war ein Kind der untersten gesellschaftlichen Kaste gewesen und hier und jetzt hatte er nicht übel Lust, Mo‘Ann die Selbstgefälligkeit aus der Visage zu wischen, in dem er ihr ein bisschen Gosse an den polierten Tisch brachte.
„Wir sind beide fertig hier.“, pflichtete Cassiel seinem Mann bei und schob seinen Stuhl geräuschvoll nach hinten, um sich von der Tafel zu erheben.
„Und was…diese kleine Show hier angeht…“, er betrachtete ihre Gastgeberin und deutete mit dem Zeigefinger einen Kreis an, der das Ambiente inklusive Essen und Fotos symbolisch einschloss.
„Ich werd gern geküsst bevor ich gefickt werde.“ - Mo‘Ann verzog angesichts dieser ordinären Wortwahl das Gesicht und schüttelte den Kopf, fragend gen Clarence blickend wie er sich nur mit so jemandem abgeben konnte.
„Ach ich ~…“, setzte sie empört an, doch der junge Mann ließ sie nicht aussprechen.
„Das nächste Mal, wenn Sie etwas wollen, Lady… wird es nicht so laufen wie heute. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“
Wahrscheinlich gab diese Frau herzlich wenig auf ihn, auf sein Wort oder darauf wer er war. Cassiel war sich sehr sicher, dass sie wusste wer für den Tod von Frank Doolin verantwortlich war - aber sie wusste auch, dass sie aktuell in einer viel besseren Position war als der Grüne zu Zeiten seines Ablebens.
Dass sich jene Situation einmal ändern würde schien sie für derart unwahrscheinlich zu halten, dass sie es sich leisten konnte, die Drohung des jungen Mannes zu ignorieren.
Ungeachtet dessen sah man ihr sehr wohl an, dass sie es nicht gewöhnt war das jemand so mit ihr sprach wie der Dunkelhaarige es tat. Und es gefiel ihr auch nicht. Mit einer gewissen Irritation im Blick sah sie zu, wie Matthew die Fotografien auf dem Tisch sorgsam zu einem Stapel zusammenfasste, sie zurück in den Umschlag schob und selbigen an sich nahm - inklusive des Briefs.
„Was gedenkst du damit zu tun?“, fragte sie aufgebracht und erhob sich ebenfalls von ihrem Platz. „Die Bilder und der Brief bleiben hier. Darauf muss ich insistieren!“
Unvermutet lachte Matt daraufhin auf, klemmte den Umschlag zwischen seinen Oberarm und sagte im sonnigsten Tonfall völliger Respektlosigkeit welche es nur geben konnte:
„Insistieren? Lady, da scheiß ich drauf.“
Daraufhin schnaubte die Glatzköpfige nicht nur verächtlich, sie schnappte regelrecht nach Luft, so als hätte man sie geschlagen. Cassiel, der die Hand seines Mannes bereits freigegeben hatte, führte seine eigene nun in seine Hosentasche und für einen kurzen Moment schien Mo‘Ann doch zu befürchten, der junge Mann würde ein Messer zücken um sie anzugreifen. Aber stattdessen beförderte er ein kleines, abgegriffenes Etui zu Tage, öffnete es und steckte sich Sekunden später eine Zigarette an, bevor er das Etui auch Clarence hinhielt.
Die Hausherrin - dafür hielt sie sich zumindest noch - konnte ihre bisherige Contenance nicht mehr zur Gänze wahren. Weder war sie es gewöhnt das man so mit ihr redete, noch wollte sie es dulden, dass in jener Halle geraucht wurde.
„Schätze, wir sehen uns ab jetzt öfter.“ -„Verschwinde!“, giftete sie Matthew an und richtete ihren Blick dann so gleich auf Clarence von dem sie eindeutig mehr erwartet hatte und der sich - für ihren Geschmack - nicht zum Guten entwickelt hatte.
„Verschwindet alle beide.“ und weil sie mittlerweile auch nicht mehr auf die Herausgabe von Brief und Fotos beharrte, nickte Cassie ihr zu, tippte sich an die nichtvorhandene Hutkrempe und wandte sich zum Gehen.
„Wäre besser für Sie, wenn Sie nicht geblufft haben.“, ließ er die wütende Witwe des großen Nagi Tanka noch wissen, wobei sein Tonfall beiläufig anmutete. „Raus jetzt!“ - für einen Moment blieb Cassie noch stehen und musterte die Frau provokant über die Schulter hinweg, während sich von seiner Zigarette blaugrauer Dunst kräuselte.
Zu behaupten, die Witwe würde vor Wut schäumen, wäre übertrieben - aber sie war angenehm nah dran und das verschaffte Matt eine gewisse Genugtuung. Zum Glück war für heute alles gesagt und alles getan, aber über kurz oder lang würden sie sich erneut gegenüberstehen.
Für Mo‘Ann mochte der Dunkelhaarige nichts weiter als ein ungehobelter Störenfried sein, der sich zu viel auf sich selbst einbildete - aber inwiefern sie sich von ihm bedroht fühlte war schwer zu sagen. So oder so, das Abendessen war damit offiziell und mit Nachdruck beendet worden - ein Umstand der für Cassiel nicht glücklicher hätte sein können.
Gemeinsam mit Clarence verließ er die Bibliothek, wobei er die Zigarette noch vor Verlassen der Halle auf den Teppich fallen ließ und sie mit dem Stiefel austrat. Eine weitere Respektlosigkeit mit der er sie nur allzu gern konfrontierte. Ohne sich nochmal umzusehen - er wusste sehr genau, dass sie sie beide im Auge behielt - schob er die zweiseitige Flügeltür schließlich auf und trat vor Clarence hinaus in den kühlen Flur. Ein Flur, dessen Leere und Stille nach all den Worten in der Bibliothek wohltuend und beruhigend war.
‚Ich werd gern geküsst bevor ich gefickt werde‘ war ein ‚Ausdruck von Matthew, den der Blonde schon zu gut kannte. Nicht selten war er über die Lippen des Jüngeren gedrungen wenn er erbost war über einen Betrug oder einen schlechten Deal, den er mehr oder weniger gezwungen war einzugehen. Früher hatte Clarence dabei immer ein ‚Seit wann das denn‘ auf den Lippen gelegen, das er ihm gerne trocken gekontert hätte, aber stets für sich behalten hatte. Zeiten änderten sich und heute hatten Cassies Worte einen hochgradigen Wahrheitsgehalt, aber das änderte nichts daran, dass er ihm den Raum ließ seine Verachtung offen zur Schau zu stellen. Lediglich ein kaum merkliches Schulterzucken entgegnete er auf Mo‘Anns entrüsteten Blick hin - immerhin war sie selbst daran Schuld nun so angegangen zu werden. Wer so auffuhr wie sie, musste eine derartige Reaktion auf ihre hinterhältigen Plattitüden aushalten können.
Vielleicht interpretierte sie, dass Matthew ihr heiliges Wort mit seinem Verhalten am absurdum führen wollte, vielleicht ertrug sie es auch einfach nur nicht, dass ihre ach so feine Tischgesellschaft plötzlich einen derartigen Wandel war. Zweifelsohne war sie einen solchen Umgang miteinander zwar aus den Abenden an der langen Tafel unten gewöhnt, an der man untereinander oftmals schroff und beleidigend miteinander sprach, wenn man anderer Meinung war. Doch hier, in ihrer guten Bibliothek und geladen an ihren Tisch, ertrug sie derartiges Verhalten nicht - und Clarence wünschte sich still, dass ihre Aufregung fortan niemals mehr enden würde. So lange nicht, bis ihr der Puls zu den Ohren stieg und sie tot und einsam vom Stuhl kippte. Das würde ihr Recht geschehen.
Im Gegensatz zu seinem Mann schickte sich Clarence nicht an sich eine Zigarette zu entzünden, sondern ließ das Etui in seiner Manteltasche verschwinden, während er Mo‘Ann im Auge behielt. Eine Frau wie sie, die stets beherrscht schien und sich anmaßte ein Gehabe an den Tag zu legen als stände sie über allen anderen, nun derart keifend zu erleben, fühlte sich an wie ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum. Ein Blick in eine Parallelwelt, in welcher der Himmel rot war, das Meer Orange und eine Annedore Abaelardus plötzlich eine aufgeschäumte Hausfrau, welcher einem Ärgernis nichts weiter entgegen zu setzen hatte als Schreien und Plärren. Noch während Cassie hinter ihm die Zigarette wieder austrat und sie sich gen Tür in Bewegung setzten, machte der Blonde einen leichten Ausfallschritt zwischen die direkte Luftlinie zwischen Mo‘Ann und seiner Frau, die Witwe der einstmals großen Geistes taxierend als könnte er in ihrem Antlitz doch noch etwas finden, das ihre Unwahrheiten offenbarte. Wenn sie glaubte, dass er sich zwischen sie und den Dunkelhaarigen schob um ihn vor ihren herrschenden Schreien abzuschirmen, dann gnade ihr Gott - denn eher noch würde er Matthew davor abhalten müssen ihr an den Hals zu gehen sollte sie sich nicht langsam am Riemen reißen, als es anders herum der Fall sein würde.
„Ich hoffe sehr für dich, dass die Abgründe des heutigen des Abends hiermit ein Ende finden. Solltest du dich anmaßen uns zu schikanieren statt uns die Rückmeldungen zukommen zu lassen, die du versprochen hast… dann verspreche ich dir, werden sich hier noch mehr Positionen ändern als nur die des Anführers.“ - Oh, hoffentlich war sie nicht auf beiden Ohren bereits ertaubt sondern hörte ihm an, dass sie die beiden jungen Männer besser nicht als Spielball auf einem Feld einzusetzen versuchte, auf dem man sie früher einfangen und erlegen würde, als ihr lieb war. Clarence hoffte es fast schon für sie, denn ein gutes Ende würde sie dabei nicht finden.
„Ich sagte… Raus hier“, presste sie bemüht zwischen ihren Lippen hervor und selbst von der Flügeltür aus erkannte Clarence noch die hervorgetretene Ader auf ihrer Schläfe, die Vorbote eben jener Herzfrequenz war von welcher der Jäger hoffte, sie würde daran verrecken.
Nicht weniger für sie unliebsame Worte lagen ihm auf den Lippen als sie über jene seines Mannes gekommen waren, doch am Ende war Mo‘Ann die Energie nicht wert mit welcher er sich über sie aufregen würde. Es gab nun andere Probleme denen sie sich zu widmen hatten und während mit einem dumpfen, schweren Geräusch die Flügeltür hinter ihnen ins Schloss fiel, fiel leider nicht auch die Anspannung mit ab, die vom Blonden und seiner Magengrube besitz ergriffen hatte.
Den Rest des Weges durchs Haus des Clans hatten sie geschwiegen und das war auch besser so, denn man wusste nie hinter welcher Treppe welches Ohr lauerte um Worte aufzufangen, die nicht für Fremde bestimmt waren. Ein abendlicher Besuch bei Adrianna oder Cameron, die sie noch früher des Tages für eine Option gehalten hatten sollte das Abendessen nichts weiter sein als ein Essen, stand auch schon längst nicht mehr zur Debatte.
Der einzige Lichtblick des Heimwegs war das Fehlen von Ryan im Hausflur gewesen und die Straßenlaternen am gekiesten Hangweg, die bereits entzündet worden waren und die Wege nach Hause in ihre kleine Wohnung erhellten - und der heldenhafte Umstand, dass Clarence sich nicht in das Blumenbeet der Nachbarn erbrochen hatte, obwohl ihm gerade unheimlich danach war.
In seinem Magen hatte sich eine Übelkeit breit gemacht wie man sie nur dann verspürte, wenn eine unliebsame Realität mit aller Macht auf einen einzuströmen gedachte, selbst wenn man sie abzuwehren versuchte. Die erste Zigarette den Hang hinab hatte nicht geholfen und bis jetzt tat es auch nicht der zweite Glimmstängel den er noch immer zwischen den Fingern hatte, als er das quietschende Tor zu ihrem kleinen Vorgarten eröffnete. Zur allgemeinen Überraschung hatte heute den zweiten Tag infolge noch kein Schneefall eingesetzt was den Heimweg angenehmer gemacht hatte als in den vergangenen zwei Wochen, aber das machte den bereits fortgeschrittenen Abend nicht gerade wärmer. Durch das Fenster zu ihrem Wohnraum konnte er auch kein Glimmen des Ofens mehr erkennen, was seinen Gemütszustand nicht gerade verbesserte als er hinter Cassie eintrat.
„Hier“, händigte er seinem Mann schließlich die Zigaretten wieder aus, behielt das Feuerzeug des Jüngeren jedoch ein um die Lange im Flur zu entzünden, damit sie Licht hatten. Im Schein der Flamme betrachtete er seinen Mann, dessen Nase von der Kälte gerötet war und den er unter anderen Umständen nur allzu gerne damit aufgezogen hätte, wie ulkig er mit Mütze und Kapuze aussah. Selbst bis heute hatte er sich noch nicht an den Anblick von Cassie in Winterkleidung gewöhnt, nachdem sie so lange im Sommer unterwegs gewesen waren. „Irgendwie… hätte ich nicht gedacht, dass wir da wieder lebendig raus marschieren. Aber ich hab mit den Abend trotzdem anders vorgestellt“, fasste er das Erlebte nach einer kurzen Stille nüchtern zusammen, bevor er Matthew den Schal vom Hals zu wickeln begann. In der Wohnung war noch mehr Restwärme als er erwartet hätte und vor allem noch mehr Leben als gedacht - denn zumindest Kain hatte nicht etwa den Kopf wieder müde zurück auf die Decke sinken gelassen um weiter zu schlafen wie sein Bruder, sondern tapste nach einem ausgiebigen Recken zu seinen beiden Herrchen in den Flur, um sie munter willkommen zu heißen.
„So wie ich Mo‘Ann kenne, stet morgen früh bestimmt ein Botenjunge vor der Tür und schickt dir die Rechnung für den Teppich. Unartiger Junge du“, versuchte er die Anspannung des Abends mit bemüht lockeren Worten zu kaschieren, doch noch während er versuchte zu scherzen spürte er, wie wenig ihm danach war.
Nachdenklich ließ er die Hände über das Revers von Cassies Jacke gleiten und nestelte gedankenverloren an einem der Säume, aus dem unmerklich ein Stück Faden hervor stand.
„Was… was denkst du? Sagt sie die Wahrheit?“, wollte Clarence von seinem Mann wissen, dessen Wort mehr Gewicht hatten als alle anderen der Welt zusammengenommen. „Was machen wir, wenn… wenn sie gelogen hat und sich herausstellt, dass… dass der Brief und der ganze Kram gefälscht sind, mh?“
Der Weg zurück in ihre kleine Wohnung war geprägt von Stille und dem Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln.
Mittlerweile war es dunkel geworden in der beschaulichen Stadt und Matthew wusste, dass es unter anderen Umständen ein schöner Spaziergang hätte sein können.
Aber die Umstände waren keine anderen und so gingen sie schweigsam nebeneinander her, rauchten wortlos ihre Zigaretten und hingen jeweils eigenen Gedanken nach.
Matthew hatte den Umschlag mit den Bildern noch in der Innenseite seiner Manteltasche und trotzdem konnte er die Gesichter der Kinder deutlich vor sich sehen. Blass, sommersprossig, mit klaren Augen die entrückt dreingeschaut hatten. Es waren unbestreitbar jene Mädchen, deren Abbilder ihr Vater in seiner Bibel verborgen gehalten hatte. Geschützt vor Regen und Sonne, auf das ihre Gesichter nicht zur Unkenntlichkeit verblassten, weil sonst schon nichts mehr von ihnen existierte.
Diese neuen Fotografien zeigten Kinder, die eigentlich nicht mehr existierten - und doch schienen sie es zutun.
Wie das möglich war? Matt hatte nicht die geringste Ahnung.
Noch immer schweigend trat er schließlich nach Clarence in ihr Zuhause auf Zeit, klopfte die Stiefel an der Schwelle ab und begrüßte Abel mit einem kurzen Lächeln und streicheln durch sein Fell, bevor jener wieder zurück zu seinem Bruder trottete und sich geräuschvoll vor das Bett plumpsen ließ.
Derweil richtete Matthew den Blick wieder auf Clarence, dessen Schweigen er an jenem Abend nur allzu gut nachvollziehen konnte.
Es war für ihn schon schwer genug das Geschehen zu verarbeiten, wie es da in dem Blonden aussehen mochte, konnte Cassiel nur erahnen.
„Ich bin froh, dass wir lebend da raus sind.“, erwiderte der Jüngere, während Clarence ihn von seinem Schal befreite.
Clarence gab sich Mühe die Fassung zu wahren, aber Matthew sah ihm an, dass hinter jener dünnen Schicht Selbstbeherrschung etwas anderes lag. Verletzlichkeit, Verwirrung, Unverständnis und Überforderung. Nur zu gern hätte er seinem Mann die Last von den Schultern genommen oder sie zumindest mit ihm geteilt, aber inwieweit war so etwas überhaupt möglich, in Anbetracht der Geschehnisse?
Leise seufzte Matthew während er den Blonden unmittelbar vor sich musterte. Sie waren weit gekommen - sie beide zusammen - und doch schien es, dass die Vergangenheit sie immer wieder einholte.
„Ich glaube…“, setzte er schließlich zu einer Antwort an, bevor er kurz nochmal schwieg und in sich hinein hörte, die Augenbrauen dabei zusammenziehend wie es für ihn typisch war.
„Ich glaube… was sie behauptet ist unmöglich.“, sprach er zuerst aus, was offensichtlich war. Ließ es dabei jedoch nicht bewenden.
„Aber das würde jeder sagen und jeder denken und mir fällt kein einziger Grund ein, warum sie dir diese Lüge auftischen sollte, von der sie weiß, sie wird aufliegen.“
Zögerlich leckte er sich über die Lippen, noch immer Clarence ins Gesicht blickend.
„Du würdest deine Kinder unter Millionen erkennen.“ Eine Feststellung, keine Frage und kein Zweifel.
„Das ist ihr zweifellos klar. Trotzdem ist sie das Risiko eingegangen und hat… uns mit etwas konfrontiert von dem sie ausgehen musste, dass wir es nicht glauben. Und das sie es trotzdem getan hat…“, abermals zögerte der Kleinere der beiden, dieses Mal aber nur kurz, denn der Gedanke war ihm schon während des Heimwegs ständig im Kopf herumgeschwirrt. Weil es keinen Sinn machte und weil der einzige Reim den er sich machen konnte eben jener war, den er nun laut aussprach.
„Das bedeutet, dass sie es glaubt. Sie ist sich sicher. So sicher, dass sie alles auf eine Karte setzt und riskiert, dass du für ihren Plan nicht zur Verfügung stehst.“ Mo‘Ann war selbstverliebt und hielt sich zweifellos für überlegen - aber sie hielt Clarence nicht für dumm.
Ihn mit etwas zu verprellen was unmöglich war, wäre vollkommen widersinnig und würde nicht zu ihr passen.
Es sei denn, dass Unmögliche war doch irgendwie möglich geworden.
„Ich weiß nicht wie sie es angestellt haben… und das ist auch gar nicht wichtig. Ich glaube aber… ich glaube, dass sie die Wahrheit sagt. Was verrückt ist, weil sie eine verlogene alte Schachtel ist.
Ich vertraue auch nicht auf ihr Gerede oder auf ihr Versprechen. Ich vertraue darauf, dass sie am Leben und an der Macht bleiben will. Nichts davon wird eintreten, wenn sich herausstellt, dass sie gelogen hat.“
Damit beendete Matthew seine Ausführungen vorerst und schwieg erneut. Er versuchte abzuschätzen wie es Clarence mit dem Gesagten erging. Ob seine Worte irgendetwas auslösten.
Dabei war es Matt durchaus bewusst wie riskant es sein konnte sich nun Hoffnungen hinzugeben die sich wohlmöglich nicht erfüllen würden.
Die Logik und der gesunde Menschenverstand sagte im Grunde jedermann, dass es sich bei ihrem Erpressungsversuch um eine Finte handeln musste. Und doch… schätzte Matthew Mo‘Ann anders ein.
Sie war gewieft, sie war clever. Sie hätte jede andere Lüge erzählen können die leichter zu glauben gewesen wäre als ausgerechnet die Lüge, dass Clarence‘ Kinder von den Toten zurückgeholt worden waren.
Also warum jene Lüge unter hundert Möglichkeiten auswählen und das Risiko eingehen, das Verhältnis zu Clarence unwiderruflich zu vergiften?
„Und wenn… wenn sie lügt, ob bewusst oder weil sie falsch informiert wurde… dann wird sie diese Welt schreiend verlassen, das verspreche ich. Ein versauter Teppich ist dann ihr geringstes Problem. Sie wird nicht damit durchkommen.“
Sollte die Witwe des gütigen Mannes wirklich so dumm gewesen sein, so würde sie jene Dummheit bis zum letzten Atemzug bereuen.
Diesbezüglich war Matthew fest entschlossen.
„Aber ich glaube, dass deine Babys am Leben sein könnten. Und wenn sie es sind, dann ist es ganz egal wie das möglich war. Dann zählt nur, dass sie es sind, hm? Und dann holen wir sie nach Hause.“