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Zuhause

11. Januar 2211


Clarence B. Sky

Trotz seines hohen Fiebers wusste Clarence noch ganz genau wie es gewesen war hier in Falconry Gardens anzukommen, in freudiger Erwartung seinen Ehemann wiederzusehen, nur um dann zu erfahren, dass er niemals hier angekommen war.

Auf dem Weg von Denver gen Clan waren Cameron und er von einem Mutanten angefallen worden und Matthew hatte ihn von seinem Kameraden dort gelockt. Was geblieben war, waren Blutlachen im Schnee gewesen, Kleidungsfetzen, ein verletzter Cameron. Aber kein Matthew Cassiel Sky.

Es hatte Clarence gebrochen diesen Kerl hier sicher zu erwarten, nur um dann enttäuscht zu werden - wobei Enttäuschung es nicht mal annähernd traf. Von jetzt auf gleich hatten sich Abgründe unter ihm aufgetan und Claire wagte nicht zu zweifeln, dass die Leute in Prism Shore sich in ihren letzten Momenten ganz genauso gefühlt haben mussten. Eben war das Leben noch ganz alltäglich und in Ordnung gewesen und nur wenige Sekunden später war alles weg. Alles. War. Weg.

Matthew war weg gewesen genauso wie seine Mädchen es damals gewesen waren. Es war keine lange Krankheit, welche seine Liebsten dahin gerafft hatte. Keine Leidensgeschichte. Kein Sonnenuntergang, dem man lange zusah und sich dann doch erschreckte, wenn es plötzlich noch dunkel wurde. Alles war einfach weg.

Die Kälte, die einem dabei bis in Mark und Bein kroch, war mit keiner Angst und keinem Gefühl dieser Welt zu beschreiben. Mit keinem Adrenalin das von einem Besitz ergriff wenn man verfolgt wurde und einen losrennen ließ. Stattdessen zog es einem an Mittelpunkt des eigenen Leibes tief hinab. Machte einen schwer, ließ Arme und Beine in Vergessenheit geraten. Ließ einem den Mund so trocken werden, dass der ganze Ojo el cielo nicht ausreichen würde, um einem den Durst zu stillen. Pflanzte einem einen derartigen Schmerz in die Brust, dass eine heiße Klinge tief im Fleisch eine willkommene Streicheleinheit wäre. Es fühlte sich an, als bekäme man bei lebendigem Leib einen essentiellen Teil des eigenen Körpers abgetrennt und er wagte dabei nicht einmal zu bezweifeln, dass Adrianna ihm recht geben würde - und letztlich bewiesen auch seine eigenen unvollständigen Finger, dass sein Vergleich nicht von irgendwo her kam.

Glaube, Liebe und Hoffnung waren es gewesen, die ihm geholfen hatten zu überleben bis zu jenem Tag, an dem Matthew schließlich vor den Toren der Stadt von den Toten wieder auferstanden war. Zu seinem Mann, der schon für größere Heldentaten bekannt war, passte das. Aber Clarence‘ beiden Mädchen waren nie zurück gekehrt, egal wie oft er Gott darum angefleht oder angeboten hatte, sein eigenes Leben gegen das seiner Kinder einzutauschen.

Während Matthew sprach, strich der Blonde noch immer ruhelos über das fremde Revers hinweg. Die Überlegungen seines Mannes waren logisch und er hatte nichts anderes von ihm erwartet, denn im Gegensatz zu ihm selbst konnte Cassie derzeit klare Gedanken fassen und das half auch dem Hünen dabei, seine Gedanken etwas besser zu sortieren. War es überdies hinaus beruhigend von seinem Mann zu hören, dass eine Hoffnung auf den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte nichts war, das er besser von sich schieben sollte? Was es wohltuend zu hören, dass er nicht völlig irre war wenn er daran glauben wollte, dass die Kinder auf den Bildern wirklich die seinen waren? - Durchaus.

„Ich habe überlegt… ob ihre eigene Position gar nichts mit dieser Sache zu tun hat. Sondern ob es eine Falle ist, in die wir naiv und sehenden Auges hinein laufen sollen. Vielleicht… schickt sie uns aus der Stadt raus, irgendwo ins Nirgendwo, wo wir schutzlos und angreifbar sind und wo sich unser Verschwinden nicht mehr auf sie zurückführen lässt“, fasste er holprig die Überlegungen zusammen, welche ihm auf dem Heimweg durch den Kopf gegangen waren. „Aber es würde dann keinen Sinn machen, dass sie uns vorher mit ihrer Tochter ein Fass aufmachen lässt, das es in einem solchen Szenario nicht gebraucht hätte. Das macht mehr Arbeit als es ihr etwas bringen würde.“

Nachdenklich ließ er seine Finger langsam tiefer am fremden Mantel hinweg gleiten, bis hinab zu seinen Knöpfen, die Clarence langsam öffnete. Gut verborgen und sicher vor Langfingern, die sich von Mo‘Ann geschickt aus der Dunkelheit mancher Gassen hervor strecken konnten um ihnen den Umschlag mitsamt Inhalt wieder abzunehmen, ruhte selbiger in der inneren Manteltasche des Jüngeren.

Missmutig beäugte er die unheilvolle Post, die an sich nicht mehr war als ein bisschen Papier, die sich jedoch anfühlte wie eine zerstörerische Bombe aus Poison Ivy. Falsch gehandhabt, waren die illegalen Waffen dazu imstande eine ganze Traube von Menschen innerhalb von Sekunden hinzurichten und nicht weniger gefährlich fühlte sich dieser Umschlag im Augenblick für ihn an.

„Ich hab auch überlegt, ob sie diese Bilder gefälscht hat um ihre Geschichte glaubwürdig zu machen. Damit sie etwas in der Hand hat von dem sie sicher weiß, wir fügen uns. Ich meine… -“, hilflos zuckte er mit den Schultern, ganz so als wäre das Ganze recht offensichtlich. „- Würdest du deine Mutter oder David sofort wiedererkennen, wenn du sie siehst? Nach all den Jahren?“

Clarence würde für sich selbst nicht seine Hand ins Feuer legen was das anging. Er hatte seine Mutter geliebt und tat es noch, die Frau war wie eine Heilige für ihn. Aber zweifelsohne veränderten sich Erinnerungen im Laufe der Jahre und der Blonde glaubte nicht, dass er sie auf offener Straße erkennen würde.

„Vielleicht sehen die Mädchen auf den Bildern ihnen nur ähnlich, aber im Vergleich nicht mehr oder weniger als andere Kinder mit rotem Haar. Vielleicht hat sie sich welche raus gepickt, die gerade gut genug waren.“

Kurz schwieg er, bevor er ermattet weitersprach: „Aber auch dafür hätte sie erst sicher genug wissen müssen wie sie aussehen, um eine Ähnlichkeit sicherzustellen.“

Abermals spürte er, wie sich alleine bei dem Gedanken daran ein fester Kloß in seinem Hals formte, der sich einfach nicht herunter schlucken ließ. Diese ganze Sache war abstrus und zweifelsohne war das Mo‘Anns Ziel gewesen - dass sie sich beide den Kopf zerbrachen, bis sie einfach wahnsinnig wurden. Wer musste schon jemanden umbringen, wenn man ihn einfach in den Irrsinn treiben konnte?

„Ich weiß, dass sie das sind“, sprach er schließlich doch monoton das offensichtliche aus, vor dem es kein Entrinnen gab. „Sie sind es. Und das macht mir Angst. Angst, dass sie wieder da sind und Angst, dass sie nicht wieder da sind.“

Es war schön sich einzureden, dass die Fotografien gefälscht waren und noch schöner wäre es gewesen nicht seine Kinder betrachten zu müssen, wie sie nur halb bekleidet vermessen und begutachtet wurden wie Vieh auf dem Markt. Alles wäre einfacher, wenn sie alleine anhand der Bilder Mo‘Ann als Lügnerin enttarnen würden, doch diesen Gefallen tat das Leben ihnen nicht.

„Liest du ihn mir nochmal vor? In Ruhe, meine ich. Die Teile, die du vorhin nur überflogen hast“, bat er Cassie leise und blickte wieder zu ihm auf, die Säume des fremden Mantels noch immer geöffnet in seinen Händen haltend. „Bitte.“


Matthew C. Sky

Aufmerksam und mit Sorge im Blick, hörte Matthew seinem Mann zu. 

Er wusste, dass Clarence Zeit seines Lebens unter dem Verlust seiner Kinder gelitten hatte. Die Wunde würde immer da sein, sie würde immer schmerzen. In den letzten Jahren hatte sich ein Schorf über sie gelegt, dick genug damit er sein eigenes Leben weiterleben und darin auch Freude finden konnte. 

Aber fort war die Wunde deshalb nicht. 

Was Mo‘Ann behauptete war im Grunde eine Unmöglichkeit und doch reichte die Behauptung aus, um den Schorf von Clarence‘ alter und wohl tiefster Wunde zu reißen und ihn erneut so verletzlich zu machen wie in dem Moment, als seine Kinder zu Tode gekommen waren. 

Die Worte jener Frau hatten schon jetzt die Fähigkeit, Clarence in Verzweiflung oder aber in ein Hochgefühl zu stürzen. Wenn sie log, dann würde es so sein als würde er seine Kinder erneut verlieren. Und ob er jenen Verlust nochmal ertragen würde, dass konnte Matthew nicht sagen und er hoffte, dass er es auch niemals herausfinden musste. 

Der Mann der Cassiel nun ins Gesicht schaute sah müde und erschöpft aus. Aber auch jung und verletzlich. Im Augenblick war er weder ein großer Kräuterkenner noch der Führer eines Jägerclans. 

Im Moment war er einfach Clarence Sky, ein Vater ohne Kinder - und das war in etwa so, wie ein Vogel ohne Flügel.

Es brach Matthew das Herz seinen Liebsten so zu sehen und doch musterte er ihn weiterhin, lauschte still seinen Worten und ließ zu, dass der Blondschopf seinen Mantel öffnete. 

Der Blick der graublauen Iriden legte sich auf jene Tasche, die Bilder und Brief beherbergte.

„Du würdest deine Mutter ebenso erkennen, wie ich meine…“, flüsterte er leise auf die Frage des Größeren hin. Er wusste, dass das stimmte. Es spielte keine Rolle wie lange man geliebte Menschen nicht sah, in dem Moment da sie vor einem standen, erkannte man sie. 

Vielleicht nicht im Gesicht, aber an einzelnen Merkmalen. An den Augen, an der Stimme. An kleinen Gesten die so unverwechselbar waren, dass das Herz sofort begriff wen man vor sich sah. 

Und wie Clarence kurz darauf einräumte, hatte er selbst seine Kinder zweifellos erkannt. Es waren keine Mädchen die so ähnlich aussahen, es waren keine Puppen. Es waren Harper und Cordelia Sky. 

Und doch fürchtete der Mann der sonst nichts fürchtete, dass sie nicht real waren. Gespenster aus einer Zeit die es nie gegeben hatte. Erweckt nur für diese Bilder, damit sie ihm wehtun konnten. 

Als Clarence ihn schließlich bat, den Brief nochmals für ihn vorzulesen, schluckte Matthew kurz und nickte. 

Der Inhalt des Briefes gab wenig Aufschluss über den Verbleib der Kinder oder darüber wie sie sie zurückgeholt hatten. Aber er war die aktuell einzige Verbindung zu ihnen und Matthew verstand, dass es für Clarence wichtig war alles zu erfahren was nur möglich war. 

„Natürlich lese ich ihn dir vor.“, er würde ihm den Brief duzende Male vorlesen, wenn der Blondschopf wollte. 

Ohne darüber nachzudenken, legte er die Hände an die Wangen des Blonden und reckte sich für einen zarten Kuss zu ihm hinauf. 

„Du bist nicht alleine. Egal was kommt. Ich bin an deiner Seite.“ sagte er leise und doch bestimmt, bevor seine Hände den Größeren wieder freigaben und er sich daran machte sich zu entkleiden. 

Als er den Mantel ausgezogen und aufgehängt hatte nahm er den Umschlag heraus und ging auf Socken durch den Flur und zur Küche, wo er das Bündel auf den Tisch legte. 

Kurz sah er in den Flur zurück, betrachtete Clarence wie er sich die Winterkleidung auszog, dann wandte er sich ab um Wasser aufzusetzen, entschied sich aber im letzten Moment nochmal um und griff stattdessen zu einer Flasche aus Steingut. 

„Ich glaube wir können heute was stärkeres vertragen als Tee.“, kommentierte er sein Tun und goss etwas von dem Met in einen kleinen Topf. Da noch ein Fitzelchen Restglut im Ofen vor sich hin glomm, schaffte es Cassie jene Glut frisch zu schüren, sodass Clarence diesen Job nicht übernehmen musste. 

Trotzdem näherte sich der Blonde dem Herd, nicht jedoch weil er überprüfen wollte ob Matthew das Feuer nicht doch wieder erstickte, sondern um behutsam seine Arme um ihn zu schlingen. 

Für jenen kurzen Moment drängte sich Matthew an den Hünen, schmiegte sich bereitwillig und nähesuchend an ihn und schloss die Augen.

Ein kurzer, stiller Kuss wurde in seinen Nacken gehaucht und am liebsten hätte sich Matt nun umgedreht, hätte den Älteren bei sich gehalten und ihn selbst abermals geküsst - auf das sein Mann spürte, nicht allein zu sein mit jener Last die er trug. 

Doch noch bevor er das tun konnte, löste sich die Umarmung wieder von ihm und die Wärme und Nähe verschwand, als Clarence an den Tisch ging und sich setzte - und Matthew wieder seiner selbstgewählten Aufgabe überließ, ihnen heißen Met zuzubereiten. 

Es dauerte nur wenige Minuten, da war die Flüssigkeit im Topf soweit erhitzt, dass sich feine Dampfschwaden in der Luft kräuselten und den Geruch von Alkohol, Apfel, Honig und Gewürzen im Raum verteilten. 

„Wenn diese Kröte es wirklich wagt jemanden wegen dem Teppich herzuschicken, dann pinkle ich ihr das nächste mal auf den Tisch.“

Kurz sah er über seine Schulter zurück um zu prüfen ob Clarence auf jene Bemerkung vielleicht mit einem Schmunzeln reagierte, so wie Cassie es beabsichtigt hatte. Aber der Blondschopf saß reglos an seinem Platz und studierte eines der Fotos. 

Die anderen Bilder lagen ausgebreitet vor ihm und würden sicher später ebenso intensiv studiert werden. 

Schweigsam goss Matt die heiße Flüssigkeit nun mehr in ihre Becher und brachte sie zum Tisch, um gegenüber von Clarence platz zu nehmen. Behutsam schob er den heißen Becher zu ihm herüber, sorgsam darauf achtend die Fotografien nicht zu berühren. 

„Sie wird mehr wollen als dich zum Anführer machen, das ist dir klar, schätze ich.“, er griff nach dem Brief den er vorhin bereits gelesen hatte und von dem sich der Blonde weitere Informationen erhoffte. 

„Wenn stimmt was sie behauptet… dann hat sie uns in der Hand. Sie wird nicht damit zufrieden sein, dass du den Clan übernimmst.“

Trotzdem wünschte sich Cassiel, dass Mo‘Ann nicht gelogen hatte. Er wünschte sich, dass diese Kinder am Leben waren, es ihnen gut ging und sie zurück zu ihrem Vater kamen - der sie abgöttisch liebte und so lange geglaubt hatte, sie für immer verloren zu haben.


Clarence B. Sky

Obwohl Clarence an der Seite des großen Nagi Tanka niemals so wirklich alleine gewesen war, war er auch niemals wirklich in Gesellschaft gewesen.

Nathan Abaelardus hatte weder ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm aufgebaut, noch eine väterliche Attitüde an den Tag gelegt. Er war in Städten und Metropolen abends nicht in Begleitung des Blonden in Gaststätten gegangen um einen zu heben und auch seine privaten Sozialkontakte kannte Claire nur aus Erzählungen – wenn überhaupt. Die einzigen Treffen, zu denen er ihn begleitet hatte, waren jener geschäftlicher Natur. Er kannte die Anführer der Clans vom Norden bis hinab in den tiefsten Süden, vom verwilderten Westen bis hinüber in den sonnigen Osten.

Er kannte Gepflogenheiten der Regionen genauso wie er fähig geworden war sich – mal besser, mal schlechter - in diversen Sprachen mit den Menschen auszutauschen und war ein Experte darin geworden Klatsch und Tratsch in Kneipen zu lauschen oder Erzählungen richtig zu interpretieren, um die neuesten Schlagzeilen überliefert zu bekommen, wenn er sich schon des Lesen und Schreibens verweigerte. Im Kontakt zu anderen war er gewesen, aber Freundschaften hatten sich daraus nie erschlossen. Auch in Falconry Gardens war mancher eher auf Distanz zu ihm geblieben, weil man als Schüler von Nagi Tanka Auserwählter wie Sonderling zugleich war. Unterm Strich war er also immer in Begleitung gewesen, aber nur selten in wirklicher Gesellschaft.

Geändert hatte sich das erst in dem Augenblick, als er Matthew Reed kennengelernt hatte. Erst seitdem war Clarence nicht mehr alleine gewesen – und hatte sich auch nie wieder alleine gefühlt. Vor allem an diesem Abend nicht und auch nicht mit seinen Sorgen, die unweigerlich auf ihn hinein strömten.

Es brauchte keiner Worte des Jüngeren um zu wissen und zu spüren, dass er mit Matthew an seiner Seite niemals alleine war. Trotz der vergangenen Tage, die zwischen ihnen lagen wie ein unsichtbares Tuch das per se niemanden voneinander trennte aber am Ende doch den Blick von der einen auf die andere Seite verwehrte, änderte das nichts an der Essenz und der Unabdingbarkeit ihrer Bindung zueinander. Es gab nichts, das ihn jemals von seinem Mann würde trennen können und obwohl das hier und jetzt erst der Beginn einer hoffentlich lebenslangen Reise mit Matthew war, hatten sie gemeinsam schon mehr Tiefen gemeistert als manche Ehe, die bereits seit Jahrzehnten hielt.

Ihn ausgerechnet in diesem Moment zu umarmen, ihn an sich zu ziehen und schweigend eines Kusses zu bedenken, war nicht etwa das Entschuldigen der letzten Tage oder ein unausgesprochener Dank für die zahlreichen Verunglimpfungen Mo’Anns, welche die alte Schabracke mehr als verdient hatte. Wie Matthew da so am Ofen stand, die verbliebene Glut mit Anzündhölzern schürend und im Begriff Met aufzukochen um ihrer beider Nerven zu beruhigen, erinnerte Clarence einmal mehr daran, dass Matthew nicht nur Freund, Geliebter oder Ehemann war. Nicht nur jemand, der seinen Namen unter ein Stück Papier gesetzt hatte und dem es am Ende doch leicht fiel die Füße in die Hand zu nehmen und ihn zu verlassen sobald die Dinge schwieriger wurden. Schon lange vor ihrer Ehe, vor ihrem ersten Kuss war der Dunkelhaarige zu seinem Partner geworden. Sie teilten Essen und Schlafplatz miteinander, hatten eine Form der Gleichberechtigung in ihrer Partnerschaft wie viele sie vielleicht niemals erreichen würden und auch ihr Vertrauen ineinander war schon früh über jedes vernünftige Maß hinaus gegangen. Getrost würde Claire seinem Mann nicht nur sein Leben, sondern auch essentielle Entscheidungen völlig überlassen – zumindest dann, wenn es nicht darum ging hitzköpfig und mit Scheuklappen auf den Augen die Witwe des gütigen Mannes zu ermorden – und sich getrost völlig zurücknehmen, wenn es nötig wäre um irgendetwas zu erreichen. Cassies gute Absichten für ihre Partnerschaft hatte Clarence noch nie in Frage gestellt und selbst wenn der Jüngere im ein Messer in den Rücken rammen würde wäre er sich noch sicher, dass der Kerl damit irgendeinen ausgetüftelten Plan verfolgte, der ihnen am Ende in die Karten spielen würde.

So viel Vertrauen in einen anderen Menschen zu haben war in ihrer Welt genauso selten wie es dumm war und doch zeigte es Clarence immer wieder auf mit welcher absoluten Bedingungslosigkeit er diesen Mann liebte. Ohne Matthew wäre er sicher schon lange unter der Erde und am Ende hatte er ihm nicht nur sein Leben zu verdanken, sondern ein gemeinsames Leben – und zwar eines von jener Sorte, von dem der Jäger früher niemals gedacht hätte, jenes Glück jemals mit einem anderen Mann zu finden.

Still betrachtete er in seiner Hand eines der wenigen Fotos, auf dem die beiden Mädchen gemeinsam zu sehen waren ohne dabei zu wirken, als halte man ihnen hinter der Kamera gerade eine beängstigende Waffe entgegen. So viele Jahre lang hatte er sie nicht mehr gesehen außer auf den verblassten Bildern in seiner Bibel und in seiner Erinnerung, dass es ihm ganz seltsam vorkam sie so farbenfroh und voller Details betrachten zu können. Es war seltsam sich darüber zu freuen sie überhaupt zu sehen während man gleichzeitig Kinder betrachten musste, die sich ganz offensichtlich vor den Dingen fürchteten die um sie herum geschahen; ein Umstand, der ebenso wie Hoffnung und Glück ein schlechtes Gewissen hinterließ und ihm noch immer einen schweren Stein in die Magengrube pflanzte, der ihm heiß und unangenehm von unten her auf die Brust drückte.

„Ich weiß nicht, ob dieses Weib jemals mit irgendetwas zufrieden sein wird außer mit sich selbst“, murmelte Clarence gedankenabwesend und betrachtete sich die Wälder und Wiesen im Hintergrund der Fotografien. Bei manchen bildete er sich ein Wege um seine alte Heimat zu erkennen, einen groben Hinweis vielleicht darauf, in welche Richtung diese Menschen unterwegs waren. Aber wenn er ehrlich war, dann konnten die schneebedeckten Wege überall und nirgendwo sein, denn ganz im Gegensatz zu den Kindern würde er irgendwelche Bäume nicht unter tausenden wiedererkennen. „Was auch immer sie sagt oder verlangt… wir müssen einen Weg finden dafür zu sorgen, dass sie nur vermeintlich am längeren Hebel sitzt. Wenn sie uns erstmal in die Ecke getrieben hat, kommen wir da nie wieder raus.“

Müde von all den Abgründen, die sich an diesem Abend aufgetan hatten, ließ er das Foto auf den Tisch sinken und suchte sich durch den Rest, der vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lag. Auf manchen waren die beiden Mädchen gar nicht zu sehen sondern nur fremde Gesichter von fremden Menschen, von denen er noch nie jemanden gesehen hatte. Sie trugen weder Uniformen noch einheitliche Kleidung und dennoch hatte ihre Art zu kleiden etwas an sich, das sie aus der breiten Masse definitiv abheben würde. Wer waren diese Leute? Was ermächtigte sie dazu derart mit dem Leben anderer umzugehen und wieso um alles in der Welt ausgerechnet diese Kinder?

„In dem Brief… steht da etwas davon, was der Grund für all das hier ist?“, vielsagend deutete er über das Chaos der Bilder hinweg, das längst keinem Zeitstrahl mehr folgte. Die Fotografien waren derart durcheinander geraten, dass er nicht mehr sagen konnte welches wohl zuerst entstanden war und welches zuletzt oder welche der abstrusen Untersuchungen seiner Kinder vor der anderen geschehen war. Noch immer wurde ihm bei dem Anblick von dem kleinen Lockenkopf ganz anders wenn er sah, wie sie vor einem der Wägen im Schnee stand, um vermessen zu werden. Nur in Unterhemd und kurze Hose gekleidet. Wie sehr musste sie gefroren haben währenddessen?

Scharf atmete er ein und biss sich von innen auf die Wangen, den schmerzenden Kloß im Hals unterdrückend der in ihm aufwallte und von dem er so wenig zulassen wollte, dass er ihn übermannte. Sich all diesen Gefühlen hinzugeben, die diese Bilder in ihm aufrührten, würde heißen sich verletzlich zu machen und Mo’Ann die Oberhand zu geben und nichts davon wollte er angesichts dessen, mit wie wenig Wahrscheinlichkeit diese Kinder lebten. Wieder lebten. Und doch waren sie hier zu sehen, auf diesen Bildern, ohne einen einzigen der vielen Kratzer und Wunden, die ihre Mutter ihnen in der letzten Stunde ihres Lebens zugefügt hatte.

„Ich meine, ich… ich hab verstanden, dass sie irgendwas wegen Ruby-Sue nachsehen wollen oder so. Aber ich will wissen, wer sich das hier ausgedacht hat. Hat Mo’Ann diese Menschen geschickt, um ein Druckmittel gegen uns zu generieren? Oder hat sie davon erfahren und versucht diesen Leuten die Kinder abzuringen? Ich versteh das nicht. Wenn sie nichts mit dem hier zu tun hat – und so klingt es in dem Brief, als wäre sie irgendeine Zuschauerin die sich nur informieren lässt – dann müssen diese Leute hier auf die Idee gekommen sein das zu tun“, er tippte auf eines der Fotos das er schon in der Bibliothek betrachtet hatte, mit einer Runde Fremden am Feuer. „Aber wieso interessieren sich Fremde für Ruby-Sue oder meine Kinder – und wichtiger noch, warum sollten sie gewillt sein die einfach herzugeben damit Mo’Ann sie uns aushändigen kann, wenn sie sie doch…“ – unbeholfen gestikulierte er mit der Hand über die Fotografien der Vermessungen hinweg, denn es wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen, dass jemand seine Kinder untersuchen wollte wie Vieh auf dem Markt.

Letztlich entschloss er sich, seine Nerven mit einem großen Schluck des erhitzten Met zu beruhigen, den Matthew ihnen aufgekocht hatte. Der Alkoholgehalt war im Vergleich zum verdünnten Wein genau das, was er jetzt brauchte und Cassie hatte Recht, dass das hier viel besser war als Tee.

Kurzerhand nahm er noch einen zweiten kräftigen Schluck, bevor er die Tasse wieder vor sich abstellte um sie nicht einfach gleich zu Gänze zu leeren.

„Wenn wir nicht herausfinden was das für eine Truppe ist und mit wem wir es tatsächlich zu tun haben, hat sie uns ewig in der Hand. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wie Mo’Ann Leuten wie denen hier vorgeschaltet ist.“


Matthew C. Sky

Clarence war ein Mann, der die Dinge immer schon mit sich ausgemacht hatte. Er jammerte und klagte nie, er schaute nicht neidvoll auf andere oder ließ sich über die Ungerechtigkeit des Schicksals aus. 

Aber Matthew hatte längst gelernt trotzdem zu erkennen wann es Clarence nicht gut ging. Er musste nicht weinen oder das offensichtliche benennen. Ein Blick in sein Gesicht und in seine Augen machte deutlich wie es um sein Seelenheil bestellt war und es schmerzte Cassie zu wissen, dass der Blonde so sehr litt. 

Es waren keine offenen Wunden die er versorgen konnte sondern Mo‘Ann hatte Clarence mit etwas getroffen gegen das es keine Medizin gab: mit Hoffnung. 

Die Hoffnung auf eine zweite Chance mit seinen Mädchen. 

Und mit ihr ging auch die Angst einher, sie wieder zu verlieren. Ob sich die alternde Witwe das Ausmaß ihrer Behauptung so vorgestellt hatte? 

Vermutlich schon, brauchte sie die Kooperation des Blonden doch offensichtlich unbedingt. 

Auf die vielen Fragen seines Mannes hatte Cassiel keine Antworten und auch das machte Situation so schwer erträglich. 

Mit leisem Seufzen nahm der Jüngere am Tisch Platz und musterte seinen Gegenüber aufmerksam. Wie gern würde er ihm die Last und die Angst nehmen, würde ihm Antworten geben können und wenn es in seiner Macht stünde würde er ihm seine Töchter hier und jetzt zurückgeben. 

Aber nichts davon konnte er. 

„Der Brief…“, Matt langte nach dem Stück Pergament, faltete es auf und betrachtete sich die sauberen, scharfen Buchstaben. Der Schreiber war geübt und gebildet - es gab keine Rechtschreibfehler und die Ausführung der Linien war präzise. 

„Ich glaube nicht das etwas darin steht das uns weiterhilft.“, er nahm einen Schluck von dem Met und räusperte sich. 

„Was diese Leute mit deinen Kindern wollen… Ich habe keinen Schimmer. Es ist als wäre alles nur inszeniert um dich gefügig zu machen… aber dieser Aufwand wird wohl kaum betrieben nur damit du Odette den Platz streitig machst.“ - so viel wusste Cassie dann doch. 

Sein Blick schweifte von dem Brief hinüber zu einem der Bilder mit den Mädchen. Sie waren hilflose kleine Mündel, ausgeliefert jenen Fremden deren Intentionen im Verborgenen lagen. 

„Wir werden rauskriegen wer diese Leute sind. Versprochen.“ -  

Abermals nahm er einen Schluck heißen Met, dann widmete er sich wieder dem Brief und begann damit ihn vorzulesen. 

„Verehrteste Annedore,

Ich schreibe Dir heute erneut, um Dich an den aktuellen Begebenheiten teilhaben zu lassen. Insofern ich mich recht entsinne, sind seit meinem letzten Brief an Dich bereits einige Wochen verstrichen und ich kann mir denken, mit welcher Aufregung du Dich den Neuigkeiten entgegen sehnst.

 

Wie Du sicher noch weißt, war die Anreise mehr als beschwerlich und wenngleich die Vorbereitungen schon auszehrend waren, hätte ich nie geglaubt welche Kräfte das Wetter einem zusätzlich abverlangt, wenn der Boden fast bis auf das Grundwasser gefroren ist.

 

Ich wundere mich noch immer darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit einem die ortsansässigen Einwohner den Weg erklären und welche Freundlichkeit einem entgegen schlägt, wenn man ihnen nur nachdrücklich genug den kalten Stahl einer Waffe in den Nacken drückt, denn dafür sind die Menschen im Madman Forest eigentlich nicht bekannt. Aber ein Teufel ist, wer schlecht über diese Menschen denkt.“ - Matthew seufzte leise, sah kurz über den Brief hinweg zu Clarence und las anschließend weiter. 

Erstaunlicherweise sind unsere beiden Errungenschaften robuster als es auf den ersten Blick den Anschein gemacht hat. Wir haben auf der Rückreise einen unserer Gehilfen an den Schnee verloren, doch im Wagen beim Ofen hielten es die Bündel aus, an denen kaum mehr dran ist als Haut und Haar. Mittlerweile sind wir angekommen und wenngleich es mir wie Verschwendung vorkommt, unsere Vorräte an Geiseln zu verlieren, so ist es doch eine gute Investition in den Erhalt unseres Druckmittels. 

 

Keines der Mündel spricht aus freien Stücken mit uns, was daran liegen mag, dass man sie zuhause zur Vorsicht gegenüber Fremden erzogen hat. Die Jüngere der beiden hat es ein paar mal versucht, doch ihre große Schwester mahnte sie zur Zurückhaltung. 

Es ist ein Wunder sie lebendig zu sehen und doch wage ich nicht, die Früchte unserer harten Arbeit zu schmälern, in dem ich jenes Wort laut ausspreche. Es ist viel mehr Wissenschaft und der Segen jener Kraft, die zu verstehen wohl nur du imstande bist.“ - Matt stutzte kurz und betrachtete die letzte Zeile. 

„…die zu verstehen wohl nur du im Stande bist... Das geht direkt an sie. Und es klingt, als würde sie doch mehr sein als nur jemand dem man Bericht erstattet.“ Mo‘Ann war ihnen vielleicht nicht vorgeschaltet. Vielleicht war sie es aber doch. Sie wussten es nicht und taten sicherlich gut daran sie nicht zu unterschätzen. 

„Zu meiner Überraschung scheinen sich beide vollumfänglich zu erinnern. Besonders das ältere Kind scheint die Bedeutung dessen zu begreifen, was ihr und ihrer Schwester vor Jahren widerfuhr. In unseren Tests zeigen sich beide bisher unauffällig, es gibt keine Hinweise, dass die Mutter ihre Gabe an ihre Töchter vererbt hat. Obwohl Ruby-Sue Sky unzweifelhaft eine Hexe der Kategorie eins war, so zeigen ihre Nachkommen keinerlei dahingehende Tendenzen, die Tests sind jedoch noch nicht abgeschlossen.

 

Unser gemeinsamer Freund hat großes Interesse an dem Wohlergehen der beiden Kinder. Jeden Tag erkundigt er sich nach den neuesten Befunden. Und wahrlich: wäre ich nicht in den Prozess involviert, ich würde nicht glauben können, dass diese Kinder etwas anderes sind als ganz normale Mädchen. Ihre Existenz straft die Gesetze der Natur Lügen und ich wage kaum mir auszumalen welche Visionen wir noch erfüllen können nun da der Tod keine Bedeutung mehr hat. 

Aber auch abseits jener neuesten Entwicklung gibt es viele Erkenntnisse die ich bei Deinem nächsten Besuch gern mit Dir teilen möchte. Ich brenne darauf, Deine Meinung zu einigen interessanten Thesen zu erfahren. 

Bis dahin verbleibe ich hochachtungsvoll als Dein treuer Freund.“

Matt ließ das Pergament sinken und rieb sich angestrengt mit den Fingern über die Schläfen. 

„Jede Menge Informationen - aber nichts wirklich nützliches.“ - er lehnte sich zurück und wandte den Blick aus dem Fenster obwohl er draußen in der Dunkelheit ohnehin nichts mehr sehen konnte. 

„Ich denke… ich denke wir sollten morgen nochmal mit ihr reden. Du musst… deine Töchter sehen. Wir beide müssen sie sehen um zu wissen ob… ob all das stimmt.“

Es waren nicht seine Kinder und trotzdem nahm ihn all das mehr mit als er gedacht hätte. Jene Mädchen gehörten nicht in die Hände dieser fremden Männer. Sie gehörten nach Hause. Zu ihrem Vater - der sie ebenso brauchte wie sie ihn.


Clarence B. Sky

Was diese Leute mit seinen Kindern wollten. Dass er seine Töchter sehen musste. Dass seine Kinder hierher gehörten, zu ihm.

Seine Kinder.

Seine Töchter.

All das waren Dinge, die schon seit Jahren kein Mensch mehr zu ihm gesagt hatte – und die in den vergangenen Stunden so oft auf ihn einprasselten, dass es Clarence beinahe wahnsinnig machte.

Mit den Unterarmen auf den Tisch und Matthew entgegen gelehnt saß er am Tisch, belauschte jedes einzelne geschriebene Wort das sein Mann laut vorlas. Seine graublauen Iriden klebten regelrecht an den fremden Lippen, beinahe als könne er befürchten Cassie läse einige der Sätze tonlos um sie vor ihm verborgen zu halten obwohl er wusste, dass das völliger Unsinn war.

Es ist als wäre das alles nur inszeniert‘ hatte der Jüngere beiläufig gesagt und selbst die Äußerungen seines eigenen Mannes versuchte sein Kopf mittlerweile schon so zu zerlegen und zu interpretieren wie er es mit dem Brief tat. Glaubte Cassie doch nicht daran, dass die beiden Mädchen wieder lebten? Glaubte er daran, aber hielt dieses ganze unsinnige Geschwafel von Tests und irgendwelchen Kategorien für Humbug?

Nervös kratzte er mit dem Nagel des Daumens über jenen Stumpf hinweg, an dem früher sein intakter Ringfinger gesessen hatte. Schon seit dem Essen bei Mo’Ann hatte diese alte Angewohnheit wieder zu ihm zurück gefunden und auch jetzt nahm sie ihren Lauf, kaum da Matthew begonnen hatte den Brief laut vorzulesen anstatt nur die Hälfte zu überfliegen so wie in der Bibliothek.

Robuste Errungenschaften nannte man seine Kinder, obwohl an ihnen nur Haut und Haar war. Dabei wirkten sie nicht besonders abgemagert auf den Bildern, aber eben auch nicht wohlgenährt. Sie waren beide die Kinder eines langen, unheimlich tiefen Winters gewesen und wenn dieser Kerl aus dem Brief die Kinder schon zu dünn fand, hätte er den Blonden zu der damaligen Zeit mal sehen sollen. Clarence hatte alles getan um seine beiden Mädchen irgendwie durch all diese kalten Monate zu bringen, hatte sich kaum selbst noch etwas über gelassen und das wenige Geld, das sie besessen hatten, für neue Schuhe der Kinder ausgegeben als für Kleidung für sich selbst. Sie waren keine unauffälligen, ganz normalen Mädchen, die sich gegenseitig mahnten. Harper und Cordelia waren so viel mehr als das – doch über all die wundervollen Dinge, welche die beiden ausmachten, verlor dieser Fremde kein einziges Wort. Kein einziges. Nur darüber, dass sich beide vollumfänglich erinnerten und das ältere Kind begriff, was das bedeutete.

Schon an Mo’Anns Tisch hatte ihn dieser Satz mitten ins Herz getroffen und auch nun, wo Matthew ihn erneut vorlas, schmerzte er nicht weniger als vorhin schon. Was das bedeutete warf mehr Fragen auf als Clarence Antworten darauf wissen wollte. Erinnerten sie sich an ihre furchtbaren letzten Minuten, die von Schmerz und Leid geprägt gewesen waren? Erinnerte sich Harper an all die panischen Schreie und an den von Blut verschmierten Schürhaken, mit dem ihre eigene Mutter noch über ihrer kleinen Schwester gestanden hatte, während Clarence versucht hatte die Tür zur Haus aufzubrechen?

Wusste sie was es bedeutete aus einem Jahre währenden Schlaf zu erwachen, während dem man selbst um keinen Tag gealtert war?

Still presste er die Handballen gegen seine Augen und vergrub sein Gesicht darin, während der Hüne für einen Moment die Luft anhielt um den Schmerz in seiner Brust zu unterdrücken, der ihm langsam die Kehle empor kroch. Er wollte das alles nicht. Weder Mo’Ann die Genugtuung überlassen ihn derartig aus der Bahn zu werfen, noch dieses endlose Leid das mit all diesen scheußlichen Erinnerungen einher ging – und auch wollte er nicht dieses elende Gefühl von Hoffnung oder Freude auf ein von Fremden vermeintlich herbeigeführtes so unsinniges Wunder haben, das nicht gottgegeben, sondern absolut gottlos anmutete.

Es dauerte einen Augenblick bis Clarence es schaffte sich wieder zu sammeln und all jene Bilder in seinem Kopf zu zähmen, die unweigerlich mit dem Tod seiner beiden kleinen Mädchen einher gingen. Tonlos rieb er sich mit den Fingern die wenigen Tränen aus den Augenwinkeln, die er nicht geschafft hatte mit reinem Trotz zu unterdrücken und trotzdem war es erst der Rest des Mets der ihm Kraft schenkte sich wieder zu besinnen, indem er den Becher mit zwei großen Schlucken leerte.

Verhalten seufzte der Blonde, der sich im Moment weniger wie ein großer unbesiegbare Bär fühlte, sondern viel mehr wie der traurige Spielball einer glatzköpfigen Alten.

„Das ist… nicht nichts Nützliches.“

Natürlich war es absoluter Humbug und viel sinnloses Geschwafel von jenem Kerl, der sich nicht weniger wichtig nahm als Mo’Ann selbst. Aber dass ihre verfluchten Freunde die gleichen Attitüden besaßen wie sie, war Clarence irgendwie klar.

Kurz schwieg er einen Moment um nach den richtigen Worten zu suchen und seine Gedanken in eine klare Linie zu bekommen, doch das war schwerer als gedacht. Schließlich schüttelte er den Kopf nur wirr und ließ es damit gut sein, bevor er sich unruhig wieder vom Tisch erhob. Weit führte ihn sein Weg jedoch nicht, denn schon kurz darauf fand erst der zusammengefaltete Lappen aus der Küche seinen Weg auf den Tisch neben die Fotografien, bevor schließlich der heiße Topf mit Met darauf Platz nahm. Jedoch nicht, ohne seinen Becher neu zu befüllen und den wenigen Platz in dem seines Mannes aufzugießen.

„Dieser Kerl… der ja offensichtlich nicht mal den Anstand hat mit seinem beschissenen Namen zu unterschrieben damit wir wissen wie er heißt, gottverdammt“, Clarence nickte gen Brief, der noch immer in der Hand seines Mannes ruhte. „Er schreibt… dass der letzte Wisch Wochen her ist und er da scheinbar schon von der Reise nach Willow Creek berichtet hat. Wenn er sich also jetzt erst wieder meldet und bei den Fotos nur welche dabei sind von einem Lager, das… irgendwann zeitnah entstanden sein muss, dann waren sie einen längeren Weg unterwegs dorthin. Aber nicht weit genug um sich mehr als ein Mal melden zu müssen auf der Reise.“

Zumindest klangen die Worte des Fremden recht vertraut und gewillt sich rege auszutauschen. Wenn Bedarf bestanden hätte und die ach so beschwerliche Anreise länger gedauert hätte, wäre sicherlich mehr Schriftverkehr entstanden.

„Und er schreibt, dass… ich weiß es nicht mehr“, langte der Blonde über den Tisch hinweg zum Briefkopf des Briefes, um ihn ein wenig hinab zu ziehen und einen Blick darauf zu werfen. Nun war es aber so, dass Clarence sich mit der Handschrift dieses Kerls ja auf normalem Wege schon schwer getan hatte – die Zeilen auf dem Kopf stehend zu sehen, machte das Ganze nicht besser. „Irgendwas davon, dass Mo’Ann ihn besucht – aber Mo’Ann macht keine weiten Reisen von denen ich wüsste, wenn sie nicht gerade in den letzten zwei Jahren damit angefangen hat die Welt für sich zu entdecken. Sie besucht irgendwelche Freunde in der Region, aber ist nie länger weg als vielleicht zwei, drei Wochen. Große Reisen macht sie nicht alleine, das heißt wenn sie irgendjemanden irgendwo weiter weg besucht“, er tippte auffordernd auf das Pergament, ganz so als wäre die Antwort damit offensichtlich, „dann muss irgendjemand aus dem Clan sie begleiten und derjenige weiß, wo er das Miststück ablädt. Entweder das – oder dieser Kerl lebt so nah an Falconry, dass sie keine Eskorte dorthin braucht, sondern es als regionale Ausflüge verbucht.“

Das schränkte den Radius ihrer Suche drastisch ein – zumindest dann, wenn der Aufenthaltsort des Verfassers auch der Aufenthaltsort der beiden Mädchen war.

„Von noch jemandem ist die Rede. Einem gemeinsamen Freund. Was steht über den noch da drin?“, forderte er von Matthew zu wissen, ganz so als könne sein Mann noch ein paar extra Zeilen herbei beschwören, die er beim zweiten Lesen des Briefs noch immer übersehen hatte.


Matthew C. Sky
 

Diese Kinder waren nicht die Kinder eines Fremden oder entfernten Verwandten. Es waren nicht die Töchter eines Freundes oder einer Familie von nebenan. 

Jene Kinder die auf den Bildern zu sehen waren, waren die Kinder von Clarence Sky und das machte sie zu einem Teil von ihm. 

Matthew, der in seinem Leben keinen Menschen je mehr geliebt hatte als den Blonden, wusste, dass jene Mädchen - sollte es sie wirklich geben - fortan ein Teil ihres gemeinsamen Lebens sein würden. 

Es würde keinen Weg zurück in die Zweisamkeit geben.

‚Zeit ist ein Spiegelbild auf dem Wasser‘ - kam es ihm in den Sinn, ein Spruch wie er ihn irgendwann mal gehört hatte. 

Und in der Tat: nichts was heute so war würde morgen noch so sein. Das Vergangene lag hinter ihnen und war nur noch ein Spiegelbild auf dem Wasser. Eine verzerrte Erinnerung. 

Die Zeit, in der es nur Clarence und ihn gegeben hatte war vorbei. 

Und obgleich jener Gedanke offensichtlich war, so war Matthew dennoch bewusst, dass er absolut jeden Schritt den es brauchte um die zwei Mädchen zurückzuholen, mitgehen würde. 

„Ich glaube…“, setzte Matthew vorsichtig an, legte den Brief flach auf den Tisch und strich die Ecken vorsichtig ganz glatt. 

Clarence wollte mehr über den Verfasser jener Zeilen erfahren, er wollte so viel mehr wissen sodass er vielleicht einen Hinweis auf die Dinge bekam die nicht im Brief standen. 

Und fragte man Matthew, so waren es ohnehin die Dinge welche nicht in dem Brief standen, auf die es ankam. 

So ging der Schreiberling nicht darauf ein, wie dieses Kunststück der Wiedererweckung bewerkstelligt worden war oder weshalb die Kinder lediglich in Unterhemd und kurzer Hose zum Vermessen auf den Bildern festgehalten waren. Es wurde nicht darauf eingegangen weshalb man die Kinder zurückgeholt hatte - aber nicht die mörderische Hexe welche ihre Mutter gewesen war. Viele Dinge wurden nicht thematisiert und vielleicht war ihr Fehlen ohne Belang - vielleicht aber auch nicht. 

„Ich glaube diese Bilder… und dieser Brief… sind nicht was sie zu sein scheinen. Es ist…“, er leckte sich über die Lippen und zögerte, während Clarence ihm neuen Met einschenkte.

Die Situation war vertrackt und das Nervenkostüm des Blonden ein löchriges, fragiles Ding. Die Tränen waren Cassie nicht entgangen auch wenn er keinen Versuch unternommen hatte sie dem Anderen von den Wangen zu wischen. Manche Tränen, das wusstest er zu gut, mussten geweint werden und jene die in den Augenwinkeln seines Liebsten geglänzt hatten, waren nur der Anfang. Dessen war Matthew sich sicher. 

Das Gefühl, dass irgendetwas nicht richtig war mit dem Brief und den Bildern, hatte ihn schon in der Bibliothek der Alten beschlichen. Aber er hatte das Gefühl nicht klar benennen können - und konnte es auch jetzt noch nicht so wirklich. Deshalb zögerte er auch bei der Auswahl seiner nächsten Worte.

„Es ist… die Art der Formulierungen und auch die Fotografien selbst die… die auf mich wirken als… naja… sie wirken gestellt auf mich. So als will jemand etwas zeigen das… das so nicht gewesen ist.“

Er schluckte, sah unsicher zu Clarence und zog eines der Bilder welches verdeckt gewesen war, hervor. 

Auf dem Foto sah man Cordelia neben einem Planwagen stehen, sie trug eine Decke um die Schultern die den Großteil ihres Körpers bedeckte. Etwas unterhalb ihrer Knie endete der Stoff jedoch und zeigte nackte kleine Waden welche in Halbschuhe mündeten. Cassie tippte auf das Foto, leckte sich nochmals über die Lippen und versuchte seine Gedanken in sortierter Reihenfolge vorzutragen. 

„Sie hat keine Winterkleidung an. Hier nicht. Und hier nicht. Und hier auf dem Bild auch nicht. Und Harper ebenfalls nicht.“ nacheinander deutete er auf verschiedene Bilder. 

„Sie tragen dünne Kleidung. Eher… sommerlich oder so, als würde man von drinnen nur mal schnell rausgehen für eine kurze Erledigung...“ -

Etwa für ein paar Bilder. Vom Foto zu Clarence schauend wartete er kurz ob der Blondschopf ihm folgen konnte, aber der Wildling schien nicht zu verstehen was Matthew meinte. 

„Als sie gestorben sind… da war Winter, das hast du mir mal erzählt. Und ich… Ich frage mich… warum haben sie nicht die Sachen an, mit denen sie beerdigt wurden? Und warum… warum sollten sie losgefahren sein um deine Töchter zurückzuholen aber ohne passende Winterkleidung mitzunehmen?“

Soweit fasste er erstmal seine Beobachtungen zusammen - die er als Außenstehender vermutlich besser machen konnte weil er emotional nicht so sehr mitgerissen wurde wie Clarence. 

„Der Verfasser drückt sich eindeutig gebildet aus. Er nutzt Begriffe wie ‚involviert‘, ‚Thesen‘ und er schreibt von ‚Visionen‘ - aber er räumt auch ein, nicht verstehen zu können wie es möglich war, was ihnen gelungen ist.“

Nun sah Cassie wieder zu dem Brief und las besagte Stelle nochmals laut vor. 

„Es ist viel mehr Wissenschaft und der Segen jener Kraft, die zu verstehen wohl nur du imstande bist.“

- „Das klingt für mich nicht nach dem Kopf einer Truppe die im Winter losgeschickt wird um das Grab deiner Töchter zu öffnen, um sie zu den Lebenden zurückzuholen. Es klingt nicht mal so als würde der Verfasser wissen was genau passiert ist.“

Wenn man so wollte dann warf es ein merkwürdiges Licht auf die gesamte Unternehmung. 

„Ich glaube… sie leben, Claire. Das glaube ich wirklich… nicht weil ich mir vorstellen kann wie sie es geschafft haben, aber weil ich glaube Mo‘Ann hätte sonst eine Lüge erfunden, die weniger leicht als solche zu entlarven ist. Aber auf der anderen Seite… glaube ich nicht, dass diese Bilder auf dem Weg zurück aus eurer Heimat entstanden sind. Ich glaube nicht… dass es diese Reise so gegeben hat. Der Verfasser schreibt, dass nur Mo‘Ann jene Kraft versteht mit der es möglich war jenes Wunder zu vollbringen. Und er schreibt, dass er sie bei ihrem nächsten Besuch einiges fragen will. Das Datum des Briefs liegt acht Tage zurück. Ich wüsste keine bekannte Siedlung in diesem Umkreis - aber das bedeutet erstmal nichts… Es passt allerdings dazu, das sie nicht weit reisen muss. Für den Fall, dass das Datum eine Finte ist, weil sie vielleicht damit gerechnet hat das wir das Schreiben mitnehmen… rücken Siedlungen wie Merton und O‘Creeks Valley in die engere Wahl.“ - Siedlungen die nah genug waren als das die Witwe ohne Begleitung dorthin aufbrechen konnte. 

„Wenn Cordelia und Harper an diesem Ort sind, dann zweifle ich nicht daran, dass Mo‘Ann maßgeblich daran beteiligt war sie ins Leben zurückzuholen und dann muss sie in den letzten Wochen oder Monaten öfter dort gewesen sein.“ - nun endlich schien Clarence zu verstehen worauf Cassiel hinauswollte und eventuell vielleicht hatte er sogar eine Idee zu der Frage die Matthew ihm als Nächstes stellte, nachdem er einen Schluck Met getrunken hatte. 

„Welche Reisen hat diese Frau unternommen, seit du wieder hier bist? Wenn wir das herausfinden, finden wir auch Cordelia und Harper.“


Clarence B. Sky

Clarence, der in seinem Leben schon bereits einiges gesehen und erlebt hatte, hätte sich das hier niemals vorstellen können. Er hatte hässliche Mutanten gesehen, wie Städter sie sich nicht einmal in ihren schlimmsten Träumen würden ausmalen können. Dämonen, die Menschen derart besessen und von innen heraus zerfressen hatten, dass ihre labilen Hüllen ihnen unter dieser Last faulig von den eigenen Knochen gerutscht waren. Er hatte Brände gesehen die halbe Dörfer verschlungen hatten. Berge von ihrer höchsten Spitze genauso wie das offene weite Meer, in dem er mit seinem Mann geschwommen war. Aber hätte er gedacht, dass er eines Tages mit seinem Mann in der gemeinsamen Wohnung sitzen und Bilder von seinen Töchtern in den Händen halten würde?

Niemals.

Still betrachtete er die dargebotene Fotografie von seiner kleinen Cordelia, eingewickelt in eine warme Decke mit ihren kleinen nackten Beinen. Sie wirkte zerbrechlich und klein unter dem grauen Gebilde, fast so als würde sie sich nicht unter Stoff einmummeln sondern versuchen sich hinter einem Felsen zu verstecken, um all den Fremden um sie herum zu entkommen – und vielleicht malte sie sich genau solch ein Szenario gerade in ihrer Fantasie aus. Vielleicht wirkte alles nur wie ein Rollenspiel auf sie, bei dem sie einfach mitmachen musste, um am Ende zu gewinnen. Bei Gott, er hoffte so sehr, dass sie es nur als Spiel verstand.

‚…-estorben sind… da war Winter, das hast du mir mal erzählt. Und ich… Ich frage mich… warum haben sie nicht die Sachen an, mit denen sie beerdigt wurden? Und warum… warum sollten sie-‘, stellte Matthew seine Thesen auf, während Claires Blick auf der weißen, unbedeckten Haut der Kinder haftete und er sich unweigerlich fragte, in welcher Kleidung sie überhaupt beerdigt worden waren. Hatte man ihnen ihr gutes Sonntagskleid angezogen, das sie immer in der Kirche getragen hatten? Oder hatte man ihnen überhaupt etwas anständiges angezogen, nach all dem was auf diesem Hof passiert war und für das man ihn angeklagt hätte, wäre er nicht als Nagi Tankas Anhang aus seinem eigenen Zuhause geflohen?

Clarence wusste es nicht, aber dafür schienen ihm andere Dinge recht offensichtlich zu sein, die Matthew nicht bedacht hatte.

„Wenn ich planen würde mir im tiefsten Winter Geiseln zu nehmen… dann hätte ich auch keine Winterkleidung für die dabei“, schüttelte er unmerklich den Kopf und deutete auf das Bild von einer seiner Töchter im Planwagen, eingerollt auf einer kargen Pritsche neben dem Ofen. „Wem kalt ist, der rennt nicht weg. Ein Erwachsener weiß, dass er das nicht überleben würde – und ein Kind, das keine Ahnung von diesen Dingen hat, bleibt einfach von sich aus dort wo es warm ist.“

Ein Kind, das hoffentlich keine Ahnung von Dingen wie Leben oder Sterben hatte.

„Ich… ich weiß trotzdem was du meinst. Vielleicht sind sie näher als gedacht und diese Bilder nur gestellt, damit es… wenigstens den Anschein macht, dass sie sonst wo sein könnten und es sich nicht lohnt nach ihnen zu suchen. Aber vielleicht stimmt das Datum nicht – oder es stimmt doch, aber der Brief kam nicht mit einem Boten, sondern mit einem Falken und der Verfasser sitzt irgendwo an der anderen Seite des Kontinents.“

Kurz blieb Clarence still, bevor er uneins mit sich und all diesen Überlegungen brummte und sich durch den Bart strich. Es gab so viele mögliche Theorien wie Bilder auf dem Tisch lagen doch wenngleich die Fotos offen zu erkennen waren, waren all die anderen Möglichkeiten zu ihrer Entstehung alles andere als offensichtlich, wenn sie nicht an mehr Informationen kamen.

„Ich muss die anderen fragen was in den letzten Monaten los war. Keine Ahnung wo Mo‘Ann in den vergangenen Wochen überall war. Ich war nicht damit beschäftigt wo sie ist“, sortierte der Jäger schließlich wieder seine Gedanken und ließ den Blick über den Tisch schweifen, auf dem vor wenigen Tagen noch Karten, Pergamente und Zeitungen ausgebreitet gewesen waren. Erst hatte er über Wochen hinweg seinen vermissten Ehemann gesucht, jetzt suchte er mit seinem wiedergefundenen Ehemann seine wiedererweckten Kinder. In was für einer verrückten Welt lebte er eigentlich?

Schließlich nahm er schweigend noch einen Schluck Met, bevor er sich von all den traurigen Gesichtern seiner Kinder löste und wieder Matthew betrachtete. Dass der Dunkelhaarige hier mit ihm saß und all die Optionen besprach die es gab und die sie hatten, war nicht selbstverständlich. Nichts band Cassie an diesen Stuhl außer vielleicht das unsichtbare Band ihres Eheversprechens, er musste sich all das hier nicht antun – und dennoch war er nach dem Essen mit Mo’Ann wieder zurück mit ihm in die Wohnung gekommen, hatte ihnen Met erhitzt und hielt mit dem Blonden eine Lagebesprechung ab.

„Egal was die letzten Tage schon passiert ist oder was noch kommen wird. Du weißt, dass ich das alles hier nicht verlieren will, oder? - Dich und mich, meine ich“, fügte er ruhig an, falls nicht offensichtlich war, worauf Clarence hinaus wollte. Das Treffen mit Oliver hatte ihnen hart zugesetzt und das heutige Abendessen, das eher einem Abendfasten geglichen war, war nicht besser gewesen als die Offenbarung Afarits. Es taten sich gerade Leichen in allen Kellern auf, die man besser unter Tonnen von Schutt begraben hätte.

 „Mo’Ann ist… ich bezweifle nicht, dass sie ist wie Nathan. Er wusste immer was man sagen oder tun muss, um Menschen zu manipulieren und sicher ist sein Miststück von Ehefrau nicht besser als er. Wenn es darauf hinaus läuft, dass sie versucht uns zu trennen oder gegeneinander auszuspielen, dann dürfen wir sie nicht gewinnen lassen. Egal welchen hasserfüllten Samen oder Zweifel sie ausstreut, ihre Gedanken dürfen in unseren Köpfen keine Früchte tragen. Dann hat sie uns an der Angel.“


Matthew C. Sky

Vielleicht hatte Clarence recht und das Fehlen von Winterkleidung war eher ein Beleg für die Wahrhaftigkeit der Dokumentation als für ihre Inszenierung. Aber Matthew glaubte es nicht. 

„Wenn ich plane, Geiseln zu nehmen… kostbare Geiseln, Geiseln die eigentlich nicht mehr am Leben sind… dann riskiere ich nicht deren erneuten Tod durch eine beschwerliche Reise im Winter. 

Tote Geiseln sind weitaus leichter dorthin zu bringen wo sie hin sollen. Und wie auch immer… sie dann wieder zu den Lebenden zurückgebracht wurden… das dort zutun wo ich sie haben will, erscheint mir klüger. Aber…“, er zuckte die Schultern und seufzte. 

„Ich weiß doch auch nicht. Nichts ergibt richtig einen Sinn…“

Cassie fuhr sich durch die Haare, lehnte sich zurück und schwieg einen Moment lang. 

Seit sie die Harper Cordelia im Hafen von Rio Nosalida zurückgelassen hatten, war nichts mehr so einfach wie zuvor. Die Dinge hatten sich auf eine Weise verkompliziert, wie es Matt damals nie hätte für möglich gehalten. Er hätte sagen können, dass sie das Boot niemals hätten verlassen sollen und das es ein Fehler war an Land zu gehen und würde er diese Dinge sagen, so wäre es das was er in Momenten wie diesen wirklich empfand. 

Er wollte nicht all diese Probleme haben, er wollte nichts wissen von Afarit oder von Mo‘Anns abartigen Plänen. 

Aber er empfand noch mehr als das. Matthew wusste, dass sie niemals die Chance gehabt hätten auf ein richtiges Zuhause, dass sie weder Gabe noch Lucy kennengelernt hätten. Er hätte nicht Cam und Adrianna getroffen und in sein Herz geschlossen und Clarence… Clarence hätte nie die Chance bekommen seine Kinder zurückzubekommen. 

Sich zu wünschen niemals von Bord des Schiffes gegangen zu sein wäre das selbe wie sich zu wünschen, all jene Menschen nie kennengelernt zu haben. Und es wäre schrecklich egoistisch gewesen. 

Deshalb schwieg Matthew nun auch, denn das letzte was er wollte war, seinen Mann zusätzlich zu verletzen. 

Dass Clarence in den letzten Wochen seinen Fokus nicht auf Mo‘Ann gerichtet hatte klang im ersten Moment wie ein Vorwurf - aber schon im nächsten Augenblick relativierte sich der Eindruck wieder. 

Clarence sah ihn über all die Bilder hinweg an und der Dunkelhaarige erwiderte seinen Blick schweigend. Er war ratlos, hatte keine echte Idee. So viel war in der letzten Zeit passiert, dass er das Gefühl hatte gar nicht mehr wirklich mitzukommen. 

Er wollte eine Pause von alledem, wollte zurück an Deck des Bootes welches in der Sonne trieb und sanft schaukelte. 

Über ihm war nichts als blauer Himmel und unter dem Boot war nichts als blaues Wasser. Er wollte die salzige Meeresbrise spüren, wollte mit den Hunden am Strand entlang laufen und Fisch zum Abendessen verspeisen. Und er wollte mit Clarence an einem Lagerfeuer unter Palmen sitzen, mit ihm lachen und seinen Geschichten lauschen. Er wollte sich nackt auf seinen Schoß setzen, ihn küssen und sich von ihm nehmen lassen. 

Er wollte Rum aus dem Bauchnabel des Blonden schlürfen, wollte mit ihm Lesen üben und an seiner Handschrift arbeiten. Er wollte mit ihm albern sein, wollte Luftschlösser mit ihm bauen und tausend Dinge mehr. 

Aber stattdessen waren sie beide hier - es war Winter geworden, sie waren gestrandet in einem Wust an Offenbarungen und Schwierigkeiten, waren zum Spielball der Frau geworden die mit der Nemesis Matthews verheiratet gewesen war. 

Nichts schien mehr richtig zu sein. Nichts schien mehr einfach zu sein. Und nichts schien so uneinholbar zu sein wie die Unbeschwertheit der Vergangenheit. 

Clarence‘ Worte waren es schließlich, die den Jüngeren aus seinen Gedanken rissen und ihn zurück ins Hier und Jetzt holten, wo die Realität meilenweit von seinen Wünschen abwich. Es schien, als hätte der Blondschopf seine verdrießlichen Gedanken gelesen und versuchte nun sie zu entkräften. 

Zu hören, dass er nicht verlieren wollte, was sie beide hatten tat auf eine Weise gut wie es kaum in Worte zu fassen war. Und auch wenn Cassie nicht daran gezweifelt hatte so berührte ihn das Gesagte. 

Ohne darüber nachzudenken lehnte er sich nach vorne, streckte die Hände nach denen des Hünen aus und umfing selbige. 

„Sie wird niemals einen Keil zwischen uns treiben. Eher noch friert die Hölle zu.“ - Mo‘Ann mochte Übung darin haben andere zu manipulieren und so zu lenken, dass sie für sie die Drecksarbeit erledigten. 

Aber sie vergaß, dass sowohl Clarence als auch er selbst bestens vertraut mit den Taktiken ihres Mannes waren. Sie wussten wie dieses Spiel ablaufen würde und deshalb würde Mo‘Ann es nicht gewinnen. 

„Wir müssen herausfinden wo die beiden untergebracht sind. Und wir müssen herausfinden was dieses Reptil wirklich will. Es muss mehr dahinterstecken, dass du die Clanführung übernimmst als wir im Moment verstehen.“ 

Sanft drückte Cassiel die Hände des Blonden und schenkte ihm ein vages Lächeln. 

„Du wirst mich nicht verlieren, egal was passiert.“ - auch wenn sie niemals wieder so frei und unbeschwert sein würden wie in seiner Erinnerung. Matt liebte jenen Mann vor sich und auch wenn er sich keine Illusionen darüber machte, dass ihr Leben fortan ein gänzlich anderes sein würde, so wollte er es dennoch mit ihm verbringen. 

„Ich bleibe bei dir…auch wenn alle Wünsche sich erfüllt haben und alle Träume geträumt sind. Das Versprechen hab ich dir gegeben und ich habe nicht vor es zu brechen.“


Clarence B. Sky

Von Geiseln sprach Matthew. Von erneuten Toden und Lebenden und toten Geiseln. Weil sich tote Geiseln leichter dorthin bringen ließen wo sie hin sollten.

Mit Unbehagen und stillem Trotz blickte ihn eine der toten Geiseln von den Bildern herauf an, ein Blick den Clarence nur allzu gut von seiner Tochter Harper kannte und der sich nicht zusammenbringen ließ mit dem Gedanken an tote Geiseln, lebende Geiseln, wiedererweckte Geiseln oder Wiedererweckte oder Geiseln im Generellen.

Was er sah waren zwei unschuldige, hilflose Kinder. Seine Kinder und keines der beiden passt ein einen Zusammenhang mit Geiselnahme oder der Aushebung irgendwelcher Gräber, aus denen man die Reste ihrer Knochen entnommen hatte um sie an einen unbekannten Ort zu entführen und damit zu experimentieren.

Schon seitdem sie an der reich gedeckten Tafel in der Bibliothek gesessen hatten, lagen ihm all die Enthüllungen wie eine glühende Kugel aus Metall im Magen und sie kühlte nicht ab während der Begriffe, die unweigerlich fallen mussten während sie sich über diese Sache unterhielten. Ihm war schlecht und der Met half zwar seine Nerven zu beruhigen, aber vielleicht hätte sein Mann besser noch ein Magenbitter oder ein wenig Kräuterschnaps unter den Honigwein gezogen um das Sodbrennen zu bekämpfen, das zunehmend in ihm aufstieg.

Es mochte nichts Hochprozentiges geben, aber diesen Umstand machten die Hände des Jüngeren schließlich wett, die sich warm und vertraut über seine eigenen legten. Clarence wusste, dass sie einander niemals einen Grund geben würden aneinander zu zweifeln und doch war es das eine etwas zu wissen, aber etwas ganz anderes solche Dinge laut auszusprechen und einander hören zu machen was man fühlte. Nicht nur die eigenen Ängste, sondern auch Zuneigung und Vertrauen, die man für den anderen empfand.

Ein kurzes Lächeln legte sich über die Lippen des Blonden, das gleichsam zuversichtlich wie auch melancholisch anmutete. Denn dass er ihn nicht verlieren würde, egal was kommen möge, hatte Matthew ihm auch damals vor seinem Aufbruch aus Denver versprochen. Was danach geschehen war, waren Wochen der Trennung und der Ungewissheit gewesen und es lag ihm auf der Zunge Cassie vorzuwerfen, er möge besser nichts versprechen was er nicht halten konnte. Aber all diese kleinen Neckereien und Vorwürfe waren hinfällig geworden, nun da sein Mann und er zum Glück längst wieder vereint waren – und noch viel mehr Gewicht als dieser Umstand hatten die Worte die Matthew fand um ihm begreiflich zu machen, dass sie sich nicht erneut trennen lassen würden.

Das Unbehagen ob ihrer vertrackten Lage wich einem weicheren Ausdruck in seinen graublauen Iriden, während er seinen Gegenüber musterte und für einen Moment an eben jenen Tag zurück dachte, an dem Cassie ihm dieses Versprechen gegeben hatte. Gut hatte der Taugenichts ausgesehen in seinem Anzug, noch besser sogar, nachdem er auch seine Schuhe vom nächsten Straßenrand wieder eingesammelt und angezogen hatte. Seit diesem Tag war viel geschehen und den Anlass für derart feinen Zwirn hatte es leider auch nicht mehr gegeben. Dreck, Blut und Schweiß verfolgten sie seit ihrer Hochzeitsreise und hatten fast schon vergessen gemacht welch unbeschwertes Leben sie in der Villa der Hurenkönigin in der Metropole am Meer geführt hatten.

„Du hast auch versprochen, dass wir uns hier in Falconry keine drei Meter mehr voneinander entfernen und keiner mehr ohne den anderen vor die Tür geht. Trotzdem musste ich heute Morgen alleine zum Bäcker, weil es dir zu kalt war“, neckte Clarence ihn schließlich doch und strich dabei mit den Daumen sachte über die Fingerrücken seines Mannes hinweg. Nun gut, ein wenig geflunkert war das Ganze dann doch, Matthew war gewillt gewesen mitzukommen – aber er hatte so lange alleine dafür gebraucht sich aus dem Bett zu schälen, dass Claire vor lauter Magenknurren keine Geduld mehr gehabt hatte noch länger auf ihn zu warten.

Nachdenklich fuhr er mit dem Daumen über Cassies Ehering hinweg, der das Gegenstück zu seinem eigenen war und der noch immer so blank poliert aussah wie am ersten Tag. Rückblickend war es beschämend, dass er seinen Mann dazu gedrängt hatte ihre Ehe vor Adrianna und Cameron zu verheimlichen anstatt sie als das zu sehen was sie war:

Ihrer beider größte Stärke und ein unheimlich wahrhaftiges Geschenk, dessen Wert manch andere niemals begreifen würden, die aus ganz banalen Gründen wie Status oder Gewissen vor den Altar traten.

Was Clarence ihm damals in Coral Valley versprochen hatte, war sein absoluter Ernst und auch Matthew – der zwar nicht religiös war, aber durchaus den Wert von Zeremonien kannte – hatte am Tag ihrer Eheschließung gespürt was es mit ihnen gemacht hatte, sich dieses Versprechen zu geben. Es waren mehr als nur bloße Worte, sondern ein unsichtbares Band, das sie an diesem Tag zwischen einander geknüpft hatten und das man mit aller Aufmerksamkeit pflegen musste wenn man nicht wollte, dass es eines Tages einfach so wieder zerriss.

Komm her… komm zu mir“, bat er den Dunkelhaarigen schließlich leise und umgriff eine seiner Hände fest, ihn mit sanftem Zug dazu dirigierend sich von seinem Stuhl zu erheben und um den Tisch herum zu kommen.

Wach und aufmerksam beobachtete er Matthew währenddessen, fast so wie man ein scheues Tier im Blick behielt von dem man befürchtete es durch eine falsche Bewegung verscheuchen zu können anstatt es erfolgreich herbei zu locken. Doch ganz so wie Matthew es versprochen hatte, blieb er auch jetzt bei ihm anstatt vorm Blonden zu flüchten.

Wortlos rückte er mitsamt seinem Stuhl ein wenig zurück, doch nur um mehr Platz zwischen der Tischkante und sich zu schaffen und seinen Mann schließlich sachte auf seinen Schoß hinab zu ziehen wo er Matthew viel lieber sitzen hatte als irgendwo in der anderen Hälfte des kleinen Küchenbereichs.

Es war nicht so, als hätten sie sich in den zurückliegenden Tagen gar nicht mehr berührt oder einander gar gemieden und doch waren die Momente wirklicher Nähe so rar gewesen, dass Matthews vertrautes Gewicht auf seinem Schoß beinahe schon etwas Erleichterndes an sich hatte.

„Ich glaube, ich… begreife das alles erst dann, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Richtig gesehen, nicht auf buntem Papier“, fügte er nach kurzem Zögern an und blickte von den Bilden zu Matthew empor. Vorsichtig schob er seine Arme um die Taille seines Mannes, sich sachte gegen die Brust des Jüngeren lehnend, dort wo er schon immer die meiste Beruhigung fand wenn er aufgewühlt war – nämlich nahe an Cassies Herzschlag und dicht an seine wohltuende Wärme gedrängt, die ihm etwas Frieden spendete. „Wenn wir das durchziehen, werden wir werden die kommenden Wochen keine Freude mit Odette und den Trotteln haben, die sich ihre Freunde schimpfen. Dann ist ihr feindseliges Gehabe uns gegenüber erst der Anfang, wenn sie nicht schnell lernen wo ihr neuer Platz ist. Keine Ahnung ob dir zwei Minuten alleine mit denen dann noch ausreichen“, spielte er auf die kurze Eskapade an die sich vorhin alleine dadurch ergeben hatte, dass sie im Haus des Clans aufgetaucht waren. Normalerweise war Clarence derjenige, der dazu neigte Unklarheiten mit anderen auf die schnelle und faustreiche Weise direkt zu klären. Trotzdem schaffte Ryan es absolut verlässlich Cassie mit nur wenigen Worten so zu triggern, dass es den Hünen nicht wundern würde, sollte seinem Mann irgendwann die Faust ausrutschen.


Matthew C. Sky

Alles was Mo‘Ann ihnen an diesem Abend hingeworfen hatte, waren ein paar Brocken kümmerliche Informationskrumen. 

Gerade genug um sicherzustellen, dass sie beide in der Spur laufen würden aber nicht annähernd genug um verlässlich eigene Rückschlüsse zu ziehen. 

Jene Frau war unsagbar gewieft und dennoch hatte sie sich mit den falschen angelegt. 

Das Lächeln welches Clarence dem Jüngeren schenkte war warm und liebevoll und doch melancholisch. Matthew wusste, dass sein Mann zutiefst verunsichert und zutiefst verletzlich war nun, da seine Kinder plötzlich wieder Teil der lebendigen Welt geworden waren. 

Als Erinnerung abgespeichert und nach vielen Jahren ihres Todes auch akzeptiert, musste der Wildling plötzlich eine neue Realität akzeptieren. 

Und wie sollte das so einfach funktionieren?

Er presste die Lippen aufeinander und musterte seinen Mann über den Tisch hinweg, erhob sich aber ohne zu zögern als Clarence ihn darum bat. 

Seit der Offenbarung von Afarit waren sie auf Abstand gegangen ohne, dass es einen Streit oder auch nur eine Auseinandersetzung gegeben hatte. 

Die Existenz des Dämons war etwas, dass Matthew an sich schon in Zweifel gezogen hätte - eine Verbindung zu ihm zu haben war vollkommen außerhalb dessen, was er sich vorstellen konnte. 

Und trotzdem war es da, ein Band zwischen ihm und jener Wesenheit und die Verwirrung die damit einherging hatte sie beide gleichermaßen betroffen. 

Ungeachtet dessen nahm Matthew nun auf dem Schoß des Hünen Platz, legte die Unterarme auf den Schultern des Blonden ab und blickte nach unten in sein vertrautes Gesicht. 

Clarence war ein schöner Mann, mit Augen so grau wie das Meer an einem verregneten Tag. Und in jenem Grau gab es blaue Sprenkel in der Farbe von Eiswasser. Es waren Augen die kühl und hart sein müssten - und es eine zeitlang auch gewesen waren. Aber diese Zeiten waren lange vorbei und während der Jüngere ihn so betrachtete und ihm zuhörte, da wurde ihm einmal mehr bewusst wie sehr er sein Leben mit ihm teilen wollte. 

Es mochten Hürden um sie herum auftauchen wie Schneeglöckchen nach dem Winter, es spielte keine Rolle. 

„Ich glaube, selbst wenn du sie mit eigenen Augen siehst und in die Arme schließt… wirst du es nicht begreifen können. Nicht sofort jedenfalls.“ 

Aber wenn es wahr war und die beiden wieder am Leben waren, dann war der Preis den sie gerade zahlten sehr klein für den Gewinn. 

„Aber wenn es wahr ist… was ich glaube, dann werde ich mit Freuden der Erzfeind dieser Odette und ihren Handlangern sein. Ob diese Leute mich mögen kümmert mich nicht. Ich gebe ihnen gern noch ein paar Gründe mehr, mich nicht leiden zu können.“ Matthew winkelte einen Arm an und legte seine Hand auf den Hinterkopf des Blondschopfs. Sanft aber bestimmend drängte er den Kopf seines Mannes an seine Brust und hielt ihn in einer schützenden Umarmung. 

„Im Grunde ist es ganz egal was sie von uns will. Wir werden es tun… weil Harper und Cordelia es wert sind.“

Es war eigentlich unmöglich, dass sie wieder lebendig waren - und doch glaubte Matthew, dass sie es waren. Irgendwie. Durch irgendeinen Zauber oder durch Wissenschaft der Alten. 

Sie wussten im Grunde nichts von der Welt und ihren Grenzen - das hatte ihn die Existenz von Afarit bereits gelehrt. Und war er nicht selbst tot gewesen und zurückgekehrt? Nichts das einst sicher gewesen war, war noch sicher. Schier alles schien variabel zu sein und die Dinge welche einst selbstverständlich gewesen waren, waren es plötzlich nicht mehr. Insofern war Matthew - der ewige Skeptiker was Geister und Ghoule betraf - ein Stück weit geläutert worden. 

Er verlagerte sein Gewicht etwas und gab Clarence einen Kuss auf die Schläfe. 

„Sie sind alles wert.“

Die Sonne mochte fortan im Westen auf- und im Osten untergehen, die Meere mochten sich in Sand und die Wüsten sich in Oasen verwandeln: 

die Mädchen auf den Fotografien waren alles wert

Jedes Mühsal, jedes etwaige Opfer. Und das war sicher

„Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als ich sagen kann. Und ich will, dass du weißt… was auch immer passiert, du bist damit nicht alleine.“ 

Die zwei Kinder auf den Bildern waren nicht seine Kinder. Er kannte sie nicht, hatte nie mit ihnen gesprochen. Und trotzdem war er gewillt alles für sie zutun. Clarence trug eine unheimliche Last auf den Schultern - doch er musste sie nicht alleine tragen. 

„Wir kriegen das hin, so wie wir immer alles hingekriegt haben. Und wenn sie erst wieder bei ihrem Daddy sind, dann wird alles gut werden. Sie werden über das Geschehene hinwegkommen und sie werden ein wunderbares Leben haben. Wir werden auf sie aufpassen und sie werden alles bekommen was sie brauchen…“

- aber das war nicht ganz richtig, wie Cassiel mit einem Lächeln einräumte: „…und vielleicht auch alles was sie möchten.“

Die Ereignisse waren nicht nur verwirrend und beängstigend. Sie boten auch eine Chance auf ein Leben wie Clarence es immer schon gewollt hatte. Und gerade jetzt, da der Blonde so verloren war, sollte er den Mut nicht verlieren. „Und bis dahin… bis dahin passe ich auf dich auf.“


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