Merton
07. Januar 2211
Was Matthew dachte oder was er meinte zu wissen waren zwei Dinge, die oftmals nicht damit einher gingen, was tatsächlich war.
Ceyda hatte nie den Verstand verloren. Vermutlich im Gegensatz zu Miguel, der anfangs einen recht passablen und brauchbaren Eindruck gemacht hatte, bevor er sich etwas zu sehr dafür interessiert hatte, den ganzen Tag Lucy hinterher zu stellen und der daraufhin zeitnah von ihrer Runde abgespalten worden war. Ceyda hatte sich ihm gemeinsam mit Ximena angeschlossen und doch war der Verbleib der anderen beiden bis heute nicht geklärt worden; vielleicht hatten sie ihr Leben an das verloren, was aus Ceyda geworden war. Vielleicht hatten sie sich noch rechtzeitig von ihr getrennt, um gemeinsam ihr eigenes Glück zu versuchen. Vielleicht war Miguel am Ende ganz durchgedreht und hatte damit erst aufgebrochen, was bis dato ruhig in der jungen Frau geschlummert hatte. Sie würden es nicht erfahren.
Was auch immer es war, das ihre kurzweilige Reisegefährtin schließlich von innen heraus zerstört hatte: Clarence hoffte inständig, dass nichts ähnliches auch auf seinem Mann lag oder etwas anderes ernsthaftes nicht mit ihm stimmte. Etwas, das sich nicht durch ein bisschen von dem wieder richten ließ, was Cassie als Hokuspokus bezeichnen würde… oder noch schlimmer, etwas das in seinem Blut war anstatt nur in ihm drin.
Immerhin konnte er sich darüber im Augenblick keine weiteren Gedanken machen, denn zu seinem Glück wie zu seinem Unglück kam Matthew im Rahmen der Vetala auf eine Sache zu sprechen, die schon lange keinen Raum für Gespräche mehr zwischen ihnen gefunden hatte. Obwohl ihm klar war, dass sein Mann diese Erinnerungen wohl nie mehr in seinem Leben vergessen würde, so hatte er sie doch wenigstens in tiefster Versenkung erhofft. An einem Ort in Cassies Hirn, das so dunkel und unzugänglich war, dass er sie nur selten wieder emporholen würde.
Du warst schon fort hätte ihm völlig ausgereicht und die Erzählungen des Jüngeren nicht in ihrer Aussagekraft geschmälert, doch der Dunkelhaarige ließ es sich nicht nehmen ihm in einer eindeutigen und schmerzhaften Geste zu schildern, was er damit meinte. Still presste Clarence die Lippen zusammen und schüttelte sein Haupt auf eine Weise, die besagte, dass er nicht weitersprechen sollte – und doch ließ der Kerl es sich natürlich nicht nehmen das Geschehen des Traumes weiter auszumalen. Der Schmerz, der damit in den Iriden seines Mannes einher ging, war ihm ein noch unliebsamerer Anblick als die schwarz eingefärbten Skleren des Sehers und so war es schließlich Oliver, den der Blonde nun seinerseits stoisch betrachtete, nur um seinen Blick davor zu bewahren sich zurück über Matthew zu legen.
Von den Flammen, die den Traum der Vetala zerfressen und zu Staub hatten werden lassen, hörte Clarence heute zum ersten Mal. Einen Vorwurf machte er ihm deshalb nicht, immerhin gab es keine Erfahrungswerte die einem sagten, ob dieses Ende normal war oder nicht. Auch der Blonde hätte darauf keine Antwort gewusst – immerhin war die Zahl derer, die einen Angriff solcher Wesen überlebt hatte, doch vergleichsweise gering. Auch hier zweifelte er nicht daran, dass er damals in seiner Prüfung auf irgendeine Art und Weise selbst das Versuchskaninchen gewesen war, um das Wissen und damit die Macht seines damaligen Lehrmeisters weiter auszubauen. Aber wie so oft ließ sich das Nathan nicht mit handfesten Mitteln nachweisen.
Mürrisch gestimmt beobachtete er Oliver dabei, wie dieser seinen Mann aufmerksam musterte. Anstelle des prüfenden Blickes eines Sehers war die Neugierde eines Jägers in seine wachsamen Augen getreten und nach einem kurzen Zögern musterte er auch Clarence erneut, ganz so als warte er auf eine Bestätigung oder einen Einspruch zu den Erlebnissen, die der Dunkelhaarige ihm geschildert hatte. Doch eine Antwort blieb er ihm schuldig, weshalb der Seher schließlich nachhakte – denn in einem unbeschwerten Traum dabei beizuwohnen, wie der eigene Partner sich erschoss, widersprach sich ihm aus offensichtlichen Gründen.
„Wir waren nicht getrennt dort. Ich vermute… dass ihr Nest nicht mehr genug Kraft hatte, um ausreichend Energie für mehrere Nahrungsquellen zur Verfügung zu stellen. Sie haben alle zusammengepfercht. Wir haben im gleichen Traum auch andere Gefangene gesehen, aber sie waren… kaum mehr als die Schatten ihrer selbst. Als ich aufgewacht bin, habe ich sie bei uns gefunden. In ihren letzten Zügen“, füllte Clarence die letzten Lücken die es ob der einfachen Erzählung benötigte, um für seinen Clanbruder ein Verständnis für das Geschehene zu entwickeln.
Ihre Erfahrungen mit den Vetala war ein Thema, das normalerweise an der großen Tafel des Clans einen ganzen Abend füllen würde. Er hätte jedes Detail vorzutragen an das er sich erinnerte, man würde analysieren und mutmaßen. Mo’Ann würde stapelweise Bücher aus der Bibliothek schleppen von Artikeln, an die sie sich erinnerte – und würde versuchen neue zu verfassen, um aus dem Geschehenen zu lernen und ihrer aller Verständnis von diesen Wesen zu erweitern.
Aber seit seiner Rückkehr war nichts mehr normal und Clarence hatte wochenlang vermieden über seine gemeinsame Reise mit Cassie zu sprechen. Immerhin war die Wahrscheinlichkeit zunehmend gewachsen, dass sein Mann nicht wieder zu ihm zurück kommen würde… und seine Erinnerungen an ihn wären das einzig Kostbare gewesen, das Claire noch von ihm gehabt hätte und was ihm ganz alleine gehören würde, niemandem sonst.
„Mhh… bemerkenswert“, zerschnitt Olivers anerkennendes Flüstern schließlich die Stille. Doch nicht nur das außergewöhnliche Erlebnis an sich war es, das ihn zu beeindrucken schien, sondern auch die Beteiligung eines völlig Fremden. Entweder war es das Glück eines dummen Tölpels gewesen, das den Gleichaltrigen dem Tod des Blonden hatte hinterher stolpern lassen, oder das vorausschauende Geschick eines Könners. Dinge, die sich vermutlich erst dann in Erfahrung bringen ließen, wenn man mehr Zeit in dieses Gespräch investierte als gerade die Möglichkeiten dazu bestanden. „Von Clarence ist man so manches lebensmüde Gehabe ja gewöhnt. Was eure bisherige Reise angeht, scheint es, als hätte er in dir einen passablen Partner für diese Neigung gefunden.“
Vetala, Zeppelinabstürze, lebensbedrohliche Dämonen- und Mutanten-Angriffe. Das war in wenigen Monaten mehr, als andere in einem ganzen Leben an Erfahrungen sammelten und trotzdem standen die beiden heute gemeinsam und halbwegs lebendig vor ihm, wie Oliver mit einem Nicken in Matthews Richtung anerkennend quittierte.
Dass diese außergewöhnliche Reise mit der Rückkehr des Dunkelhaarigen nach Falconry Gardens wohl noch kein Ende nahm, nahm der Seher mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen wahr, der noch immer kein Wort darüber verloren hatte was seine dunklen Augen sahen und was nicht.
„Was mit dir stimmt oder nicht stimmt… das ist ein dehnbarer Begriff“, nahm er schließlich den Faden wieder auf, indem Oliver auch die Wortwahl Matthews aufgriff. „Vielleicht könnte ich dir aus dem Stehgreif schneller die wenigen Leute in der Stadt aufzählen, die als einzige ganz richtig sind. Vielleicht schneller die wenigen, um die wir uns ernsthaft Sorgen machen sollten. Und vielleicht sind davon noch weniger auf die Weise nicht richtig, die du meinst. Also ist weniger die Frage wichtig, was mit dir nicht stimmt – sondern ob wir uns Sorgen darum machen sollten, was mit dir ist. Erkennst du den Unterschied?“
Oliver war sich dessen nicht sicher, immerhin schien Matthew und sein vorheriger Ausbruch darüber, dass er die Situation mit dieser fremden Ceyda schon nicht verstanden hatte, nicht gerade für seine Auffassungsgabe zu sprechen. Deshalb versuchte er es erneut, verständlicher dieses Mal wie er hoffte.
„Du bist kein zu enges Kleidungsstück. Nicht nur, weil ich es nicht sehe – sondern weil du längst unter dem gerissen wärst, was in dir steckt. Bist du eine Hexe?“, abwägend legte er in einer rhetorischen Geste den Kopf von rechts nach links, sich der Antwort auf diese Frage ähnlich wie der Blonde längst bewusst, ganz im Gegensatz zu Matthew. „Vermutlich bist du das nicht. Ich müsste dein Blut sehen um es sicher zu wissen. Aber wärst du eine Hexe… wieso hast du deine Macht dann nicht unter Kontrolle? Wieso zeigt sich dein Feuer nicht dann, wenn du es willst?
So funktionieren solche Kräfte nicht. Clarence weiß das, deshalb bist du hier. Weil dein Mann die offensichtlichen Möglichkeiten ausgeschlossen hat. Erleichtert darüber, dass du keine Hexe bist… und besorgt darüber, was sonst mit dir sein mag.“
Eine kurze Pause ließ ihn zwischen den beiden umher blicken, ruhelos getrieben von dem was er sah und der Frage danach wie das Leben einst gewesen war, als er sich nicht um derlei Dinge hatte kümmern müssen.
„Du könntest verfolgt sein. Aber dann wärst du mehr das Opfer dieser Macht und nicht das Ziel, das geschützt wird. Aber vor was schützt dich das Feuer, mh? Vor Vetala und Dämonen“, abwägend musterte er Matthew, als würde er etwas auf der wenigen Haut von ihm suchen, die die dicke Winterkleidung ihm präsentierte. „Aber nicht vor einem Absturz. War es da, als der Mutant dich und Cameron Barclay angefallen hat? Oder hat es dich schon früher geschützt? Oder erst ab einem bestimmten Moment? So viele offene Fragen, aber ich höre wenig Berichte von dir.“
Weil er Angst hatte etwas zu bestätigen, wenn er es sich nur endlich eingestand – oder weil etwas nicht wollte, dass er es verriet? Vielleicht würde die Antwort auf diese Frage sich bald finden.
„Du glühst“, fasste Oliver schließlich in zwei einfachen Worten zusammen die für ihn eine so offensichtliche Aussagekraft hatten, dass er mit den fragenden Blicken in den fremden Gesichtern im ersten Moment nichts anzufangen wusste, bevor er sich spezifizierte: „Deine Aura ist bedeckt von Glut. Sie ist nicht in dir oder auf deiner Haut. Sondern… wie Pollen im Frühjahr, wenn man an einem frischen Feld wandert und der Wind sie einem auf die Kleider weht. Wenn man sie berührt und sie danach auf einem haften. Aber wo wurdest du berührt und wann, das ist die Frage. Und wieso kommt es wieder? Weil es will oder weil es muss? Vielleicht ist es vernarrt in dich oder verankert an dir. Vermutlich letzteres, denn sonst wäre es nicht da gewesen und wäre gefragt worden, wer es ist.“
Eindringlich ließ er in der Kälte seinen Blick am Dunkelhaarigen entlang schweifen, weiterhin auf der Suche nach etwas, das sich ihm verbarg.
„Ein Anker also, ein Dämonenmal oder… ein Paktschwur vielleicht. Zieh dich aus, wir suchen danach.“
Einen passablen Partner für Clarence‘ lebensmüde Neigungen nannte Oliver ihn und krönte seine Einschätzung mit einem schmalen Lächeln.
Matthew schätze die Sache ganz anders ein. Er war nicht ebenso lebensmüde wie sein Gatte - er hatte viel mehr alles in die Waagschale geworfen um Clarence jene Todessehnsucht auszutreiben.
Und obwohl der Vorfall mit den Vetala nicht die Schuld des Blonden gewesen war, so würde Matthew nie vergessen können was sein Mann getan hatte. Wie er kryptisch zu ihm gesprochen und sich dann erschossen hatte. Dieser Anblick hatte sich auf ewig in das Gedächtnis des Jüngeren gebrannt wo er nie mehr verschwinden würde.
Letztlich - so führte der Glatzköpfige weiter aus - kam es bei ihrer Unterredung nicht darauf an festzustellen ob Matthew völlig normal war. Sondern ob der Grad seiner Abnormität gefährlich war. Für ihn selbst - aber vor allem für sein Umfeld.
Matt - der sehr wohl verstand was der Typ meinte - nickte angespannt auf die Frage hin ob er das verstanden hätte und suchte abermals Clarence‘ Blick. Der Blonde war sein Anker in dieser unkalkulierbaren Situation und obwohl er wusste, dass Clarence mit seinem Latein am Ende war was ihn betraf - sonst wären sie jetzt nicht hier - sprach aus seinen Kandisaugen die kindliche Hoffnung, dass sein Mann alles wieder in Ordnung brachte.
Ganz so als würde ihm spontan des Rätsels Lösung offenbart.
Heureka!
Aber sein Mann klatschte sich nicht plötzlich an die Stirn als ihm die Erleuchtung kam - denn es kam ihm keine solche.
Bei dem Wort Hexe huschte jäh der Schatten von Sorge über die verkniffenen Züge des Blonden und Matthew wich - intuitiv- einen kleinen Schritt nach hinten weg. Er verabscheute sich dafür, konnte aber nicht anders. ‚Hexen werden verbrannt, dass weißt du doch wohl? Und nicht nur im Madmen Forest, sondern überall auf der Welt.‘
Und wie viele der Brennenden waren wirklich Hexen? Vielleicht eine aus Fünfzig? Eine aus Hundert? Was, wenn der Seher ein Scharlatan war und plötzlich würde er HEUREKA ausrufen.
‚Sehet da ist eine Hexe, der Teufel ist im Leib des jungen Mannes - brennt ihm die Sünde aus den Gliedern! Verbrennt ihn! Verbrennt ihn bevor er unsere Gemeinde verwünscht!‘
Panik drohte in Matthew aufzuwallen und er ballte die Hände zu Fäusten, angespannt verharrte er an Ort und Stelle - sein Blick wechselte zwischen Oliver und Clarence hin und her. Clarence, der ihm mal von Benedict erzählt hatte. ‚Davon das er verbrannt wurde und du weißt, Clarence hat zugesehen. Er hat zugesehen…‘
Matthew zwang den Gedanken nieder. Der Mann von damals war nicht der Mann der jetzt neben ihm stand. Jener Mann würde nicht zulassen, dass man ihm auch nur ein Haar krümmte. Niemals.
Bei unzähligen Gelegenheiten hatte sein Mann den Kopf für ihn hingehalten, war wenn nötig über Leichen gegangen… er würde nicht zusehen wie man ihm wehtat. Er würde es nicht zulassen.
Dass der Seher ihn nicht für eine Hexe hielt änderte vorläufig nichts an der Angst die Matthew verspürte - denn das gesamte Gespräch war viel zu sensibel. Was dieser Fremde über ihn sagen würde, würde ein Urteil sein das man nicht anzweifelte. Niemand würde das wagen. Was jener Mann entschied zu sehen und zu sagen würde auf alle Zeit an ihm haften.
Doch noch urteilte Oliver nicht über ihn. Er stellte eine Reihe Überlegungen an, stellte Fragen von denen Cassiel der Kopf schwirrte und stellte schließlich zwei Worte wie ein Gesetz zwischen sie.
Du glühst.
Matthew runzelte die Stirn, streckte eine Hand vor sich aus und betrachtete sie - als hätten die Worte des Mannes das Unsichtbare plötzlich sichtbar gemacht. Auch Clarence blickte perplex drein und so sah sich der Glatzköpfige genötigt weiter ins Detail zu gehen.
Was er sagte hörte sich so völlig unwahrscheinlich an, dass Cassiel ihn ungläubig betrachtete und ihn schon fragen wollte ob er noch richtig tickte. Aber zu seiner eigenen Verwunderung hörte sich der Fremde sehr überzeugt an. Er beschrieb jenes Glühen dermaßen bildhaft als würde er es tatsächlich sehen und was noch wichtiger war: er sprach so zügig und ohne Scheu davon wie ein Mann der davon ausging, dass man ihm glauben würde, weil er eben nichts als die Wahrheit sprach.
Cassie, der zwar die Worte hörte und verstand, konnte all die Fragen des Typen nicht beantworten. Er konnte sich auch nicht erklären wovon der Mann eigentlich redete und woher jenes Glühen nun kam.
‚Vielleicht verarscht er mich nur. So eine Art schräger Jäger-Witz auf meine Kappe.‘ - vielleicht. Der Gedanke gefiel ihm - nur konnte er ihn selbst nicht so recht glauben.
Ungläubig schüttelte er den Kopf und suchte erneut Clarence‘ Blick so als würde der Blonde ihm jetzt irgendwie helfen können.
Erst als Oliver vorschlug, dass sie hier und jetzt nach dem Dämonenmal suchen wollten, blickte Matt wieder zu dem Schwarzäugigen.
Unvermittelt brach er in Gelächter aus ob der absurden Idee und der Art wie unverwandt Oliver sie vorgetragen hatte.
Da standen sie nun: drei Männer in den besten Jahren, an einem kalten Wintertag neben einem Ochsenwagen - und Matt sollte sich nackig machen. Haha sehr unterhaltsam.
Aber damit war bewiesen, dass es sich wirklich um einen Witz gehandelt hatte. Einen, dem Cassie fast aufgesessen wäre.
„Der war gut.“, räumte Matthew erheitert ein.
„Wirklich nicht schlecht… nicht schlecht…“, er lachte noch immer amüsiert und die Erleichterung in seinem Blick trat unmittelbar ein. Keine Dämonen, keine Hexen, kein Glühen.
Dass er der einzige war, der lachte fiel ihm schon nach wenigen Sekunden auf und sein Lächeln wurde erst unsicherer und schmaler, bevor es ganz erlosch.
„Das war dein Ernst? Du erwartest von mir, dass ich mich ausziehe? Jetzt? Hier?“, plötzlich klang der Dunkelhaarige nicht mehr erheitert sondern verärgert. Es war nicht nur ein lächerlicher Vorschlag, sondern es brachte ihn in eine schambehaftete Situation von der Oliver nicht wissen konnte. „Sorry Freundchen, aber ich werd gern geküsst bevor ich gefickt werde.“, entgegnete er giftig und taxierte den Fremden auf eine Weise die deutlich machte, dass das Eis urplötzlich wieder sehr dünn geworden war.
Ausgerechnet Clarence war es, der sich schließlich mit einem Räuspern und missgestimmten Brummen zurück ins Zentrum Matthews rückte und nun war es der Blonde der sich den ablehnenden Blick des Jüngeren einfing.
„Was? Was willst du mir sagen, hm? Dass ich mich irgendwo im Nirgendwo ausziehen sollte, weil dein Freund es so will?“ - er klang giftig und wenig amüsiert, aber in seinen Augen war ein launischer und angriffslustiger Ausdruck getreten. Einer der zu sagen schien: nur zu, fordere mich heraus.
In Clarence‘ Gesicht stand die Anspannung eines Mannes geschrieben, der sehr gut wusste, dass Dämonenmale oder Paktschwüre eine ernstzunehmende Sache waren. Ein derartiges Brandmal war nicht weniger invasiv als die zahllosen Tätowierungen die Jäger auf der Haut trugen, um damit einerseits ihre Geschichte und ihre Zugehörigkeit zu einem Clan zu erzählen – andererseits, um darin Symbole und Siegel zu verbergen, die sie vor den übermächtigen Dingen schützen sollten, denen sie sich regelmäßig aussetzten.
Oliver, der damals fast noch ein Neuankömmling im Clan gewesen war, hatte kaum Bann- oder Schutzmale auf seiner Haut getragen, als er besessen worden war. Doch selbst wenn, hätte ihn auch das vielleicht nicht vor jenem starken Wesen bewahrt, das in ihn gefahren war. Vor manchen Dingen da draußen gab es keinen Schutz und kein Verstecken, ebenso wenig wie sie sich in Denver vor dem hätten verbergen können, was aus Ceyda geworden war. Das einzige, was gegen jenes Wesen geholfen hatte, waren Matthews Hände gewesen. Aber nicht einmal die Erfahrung am eigenen Leibe reichte dem Dunkelhaarigen dazu aus um zu verstehen, dass das alles hier weit mehr als nur ein schlechter Scherz war.
Was der Seher vermutete, war bei genauer Betrachtung mehr als plausibel und Clarence konnte nachvollziehen wie Oliver zu seiner Schlussfolgerung kam. Ein Einfall, der clever war und mit dem sehenden Blick eines Zersplitterten eine Geling-Garantie besaß, die ihnen schneller zu Klarheit verhelfen würde als Claire alleine es je hinbekommen hätte – vorausgesetzt, das in Denver und Miami Geschehene läge wirklich an einem Mal oder an einem Pakt, der auf seinem Mann lastete. Eine Vorstellung, die zwar Fragen beantwortete, aber am Ende vermutlich mehr Probleme neu verursachte, als bestehende zu lösen.
Die Sorge und Anspannung, die mit Olivers Worten beim Blonden einher gingen, wurden nicht etwa durch die ernste Lage genährt in der sie sich befanden, sondern schon wenige Sekunden später mit Füßen getreten, als das Gelächter seines Mannes die Stille durchschnitt wie seine scharfe Axt es vor wenigen Monaten mit dem Arm Adriannas getan hatte. Dabei war es nicht nur so, dass Ungläubigkeit bei Matthews Reaktion eine Rolle spielte – wobei… die vielseitigen Gründe waren dem Blonden am Ende eigentlich auch relativ gleich. Viel mehr war es die offene Verachtung, die er nicht etwa Oliver, sondern ihrer ganzen Situation entgegen brachte und nichts von alledem war für Clarence auch nur irgendwie nachvollziehbar. Nicht, weil er dem Seher mehr vertraute als natürlich Cassie es bei dem für ihn Fremden tat. Nicht, weil es um eine Welt ging, die sein Mann schon immer für Humbug hielt und derer er nicht mal dann Respekt entgegen brachte, wenn sie ihm mitten in den Kopf schoss. All das war nicht neu für Clarence und ebenso wenig war es seine Verärgerung darüber, wie wenig ernst Matthew manche Dinge nahm.
Nicht nachvollziehbar war es für ihn wie der Jüngere derart reagieren konnte, wenn es letztlich um sie beide ging – denn das ging es, falls sich das, was unbekannt in seinem Mann schlummerte, ihnen eines Tages mehr Probleme bereitete als ihnen aus selbigen heraus zu helfen.
Angespannt biss Clarence die Zähe aufeinander und taxierte mit seinem Blick Matthew, dessen Art mit der Situation umzugehen so dermaßen mit der Ernsthaftigkeit kollidierte die der Blonde bei diesem Thema empfand, dass es regelrecht eine innerliche Wut in ihm aufkochte, wie nur Cassie es schaffte. Dieser Kerl konnte ihn manchmal mit den einfachsten Dingen auf die Palme bringen und wo er früher auf Wanderschaft einfach im Unterholz verschwunden wäre um sich in Einsamkeit wieder von diesem Torfkopf zu beruhigen, fand er sich ausgerechnet jetzt in einer Situation wider, in der er sich weder einfach so entfernen, noch aber seinen Frust über ihre gemeinsame Lage vor Oliver an Cassie auslassen konnte – selbst dann nicht, als sein Mann ihn mit angriffslustigem Blick genau dazu herausforderte.
Eine unangenehme Stille lag zwischen ihnen. Eine jener Sorte die nur zu gut bekannt war, immerhin gab es Gründe dafür, dass sie sich früher gegenseitig so oft an den Hals gegangen waren. Das Talent sich gegenseitig zur Weißglut zu treiben, verlor sich nicht einfach nur durch eine Ehe und ein bisschen Liebe.
„Abwehrmechanismen könnten eine Form der…“ - „Nein“, schnitt Clarence ihm mit einer abwehrenden Handbewegung das Wort ab, kaum dass Oliver versucht hatte die Lage mit einer weiteren Vermutung zu durchdringen. Vieles würde er sich von dem Seher anhören. Ideen, Schlussforderungen, Vermutungen was an seinem Mann haften könnte – oder eben nicht. Bei Mutmaßungen, die seine Zurechnungsfähigkeit in Frage stellten, hörte die Sache allerdings auf.
„Matthew ist einfach ein ignorantes Arschloch“, mit unnachgiebigen Blick fixierte er seinen Mann bei seinen Worten, bemüht darum seine Tonlage im Zaum zu halten, um seiner inneren Erregung nicht freien Lauf zu lassen. „Jemand, für den das alles hier Nonsens ist. Matthew kann noch so viel passieren, am Ende ist das trotzdem alles nur Einbildung und Illusion. Dinge, die sich alle ordentlich erklären lassen, wenn man sie nüchtern betrachtet. - Nur eben nicht damit, was sie wirklich sind.“
Schnaubend versuchte er seine Anspannung etwas loszuwerden, immerhin brachte ein handfester Streit sie in diesem Moment auch nicht weiter. Das, was ihn gerade am meisten störte, gehörte außerdem nicht hierher. Nicht mitten ins nirgendwo, nicht in die Ohren von Oliver. Vor allem nicht in die Situation, in der sie sich gerade befanden.
„Haben wir im Augenblick nicht genug Probleme, zu denen wir keine Antwort haben?“, wollte er von seinem Mann wissen und deutete vielsagend in die Richtung, in der hinter zwei Stunden Karrenfahrt durch die Kälte irgendwo Falconry Gardens lag. Sie hatten nicht nur keine Antworten, sondern auch genug Scheiße am Dampfen die sie davon abhielt, irgendwann mal irgendwo zur Ruhe zu kommen. Sie würden weglaufen können vor Mo’Ann, vor der Bruderschaft. Sie könnten Menschen, die in ihr Leben getreten waren, einfach ignorieren und hinter sich lassen. Aber was sie trotz allem mitnehmen würden war Das da, was auch immer es war. Die einzige Komponente, die sie immer auf Schritt und Tritt verfolgen würde, waren sie gerade im Begriff wenigstens ein stück weit aufzudecken und zu verstehen. Doch wie so oft schob Cassie auch hier die Verantwortung von sich, weil es immer einfacher war Dinge zu ignorieren als ihnen ins Gesicht zu blicken.
„Niemand hat gesagt, dass du dich nackt machen sollst“, versuchte er schließlich trotz seiner Anspannung einzulenken, was ihm - gefühlt - mehr schlecht als recht gelang. „Es ist scheißkalt. Niemand von uns hat Lust hier zu sein und keiner will mit dir tauschen. Aber wir sind nicht hier weil es Spaß macht, sondern weil ich mich um dich sorge.“
Was ihm auf der Zunge lag, war: Ich hab Angst um dich, du dämliches Arschloch.
Aber vielleicht war Matthew einfach zu blind um die Ernsthaftigkeit ihrer Lage zu begreifen – und sie wurde auch nicht angenehmer unter den wachsamen Blicken Olivers, die zwischen ihnen umher huschten.
Clarence war wütend, Clarence war sogar richtig stocksauer.
Matthew - der ein Meister darin war jene Emotion bei dem Blonden zu triggern - blickte selbigen unerschrocken und trotzig an.
Er hatte keine Angst vor der Wut des Wildlings und gerade jetzt wollte er sogar, dass es eskalierte. Er wollte nämlich nicht hier sein und über diesen Mist reden. Clarence sollte ruhig sagen was ihm gerade sauer aufstieß - und siehe da! Er tat es auch!
Die Aussage, dass Matthew ein ignorantes Arschloch sei, quittierte dieser mit einem freudlosen Lachen.
„Na klar bin ich das.“, bestätigte er ketzerisch und fixierte den Größeren angriffslustig. Die gesamte Situation stand einmal mehr kurz vor der Eskalation und für einen langen Moment schien es so als würde Matt auch nicht auf die vermeintlich ruhigere Ansprache reagieren.
Verächtlich schnaubte er und verengte die Augen kurz zu schmalen Schlitzen. Clarence war nicht in seiner beschissenen Lage, er wurde hier nicht beglotzt, bewertet, eingeschätzt - wie auf einer Viehauktion. Und trotzdem hatte er die Nerven ihn ein Arschloch zu nennen und von ihm Gehorsam einzufordern.
„Du kannst mich mal.“ sagte er schließlich und die Wut in seiner Stimme verlieh ihm etwas unterschwellig bedrohliches.
Oliver wechselte einen Blick mit Clarence und sah dann wieder zu Matthew welcher seinen Blick erwiderte. „Und du kannst mich auch mal.“ - er wich einen Schritt zurück, doch statt zu gehen und sich weiter stur zu stellen, fing er an, seinen Mantel aufzuknöpfen. Wütend löste er den Schal von seinem Hals und warf ihn auf den Karren, ebenso seinen Mantel. Sein Atem kondensierte vor seinen Lippen, trotzdem schob er - noch immer sichtlich angekotzt - die Ärmel seines Pullovers nach oben, auf das Oliver seine Unterarme mustern konnte.
Du musst dich nicht fügen.
Er zögerte einen flüchtigen Augenblick lang, dann bückte er sich um die Schürsenkel seiner Stiefel zu lösen. Großer Gott, er wurde schon allmählich verrückt.
Er wird nicht sehen, was er erwartet.
Er wird nicht verstehen was er sieht.
Cassie schüttelte den Kopf und blinzelte. Vor seinen Augen flimmerte plötzlich die Luft und der Schnee um seine Stiefel herum schmolz dahin als würde die Sommersonne ihn bekämpfen.
Erst jetzt hielt er inne, sein Atem kondensierte nicht mehr vor seinen Lippen und der Schnee auf seinen Haaren und Schultern schmolz zu feinen Rinnsalen. Die Kälte die noch Sekunden vorher in seinen Gliedern gesteckt hatte war verschwunden und als er sich wieder aufrichtete, da flimmerte die Luft um ihn herum wie sie es nur an heißen Sommertagen zutun pflegte.
„W-was… was ist hier los?“, er blickte zu Clarence , blass und ängstlich. Aber es war nicht der Blonde dessen Antwort in seinem Kopf dröhnte.
Sie können dir nichts antun.
Ich bin bei dir und ich bin das Feuer.
Willst du das ich sie verbrenne?
Wasserdampf von schmelzendem Schnee stieg von den Schultern Olivers auf als die Hitze sich über ihn legte und Matthew wusste mit unumstößlicher Gewissheit, dass der Mann binnen Sekunden in Flammen aufgehen würde.
„Nein!“ rief Cassie energisch! „Nein! Nein, will ich nicht!“, sei Herz raste wie verrückt und er blickte hektisch zwischen Clarence und Oliver hin und her ob einer von ihnen plötzlich Feuer fing. Beide hörten die Stimme nicht aber die Hitze die den Schnee immer mehr dahinschmelzen ließ sprach eine eindeutige Sprache. Rings um sie herum schneite es noch immer, doch in ihrem Triangel gab es nichts mehr von den weißen Flocken.
Sag jenem der sieht, dass seine Augen nicht für das Feuer gemacht sind. Er glaubt seine Begegnung mit Andras würde ihn schützen, doch es gibt keinen Schutz vor mir.
„Ich…was? Wer bist du?“
Ich bin das Feuer. Ich bin das Inferno.
Das erste und das letzte.
Stille, Matthew wartete verwirrt - doch vorerst sprach die Stimme nicht erneut. Die Kleidung des Glatzköpfigen schwelte nicht länger, aber heiß war die Luft noch immer.
„Ich…“, fing er an und leckte sich nervös über die Lippen, den Blick hatte er auf Oliver gerichtet in dessen schwarze Augen Sorge getreten war, wenn nicht sogar Angst. Und Angst war berechtigt.
Als die alles verzehrenden Flammen jener unheilvollen Nacht schließlich erstarben, war es nichts als endlose und alles verschlingende Schwärze, die ihnen blieb. Tiefste Stille, die in der Weite widerhallte und für einen langen Moment blieb die Frage, ob die Flammen sie gleich mit verzehrt hatten um sie von dieser Welt zu tilgen.
Um die ganze Welt zu tilgen.
Schon jetzt wusste Clarence, dass der Tag gelaufen war. Egal was bei ihrem Treffen mit Oliver herauskommen würde oder nicht, die Stimmung zwischen ihnen war im Keller und würde sich so schnell nicht mehr kitten lassen. Nicht durch das sachte Drücken eines Knies, noch durch ein liebevolles Tätscheln oder einen Kuss.
Es gab Dinge, die standen als unausgesprochene Selbstverständlichkeit zwischen ihnen und über die diskutierten sie auch nicht. Hätte Cassie tatsächlich vor wenigen Tagen nachts Mo’Ann meucheln wollen und wäre einfach losmarschiert, Clarence hätte ihn – wären alle einlenkenden Worte ohne Erfolg geblieben – nicht alleine ins offene Messer rennen lassen. Hätte Matthew beschlossen, dass er nicht länger in Falconry bleiben wollte und würde seine Sachen packen, Clarence würde seinen Mann niemals alleine losziehen lassen und alleine zurück bleiben. Auf der anderen Seite war es Matthew, der wusste, wann es besser war sich den Wünschen des Blonden zu fügen und so widerwillig er dabei auch sein mochte, er tat es. Doch diese Art der Selbstverständlichkeit hatte ihren Preis, der sich auf unbestimmte Zeit durch ihren schief hängenden Haussegen abbezahlen würde.
Angespannt beobachtete Clarence den Seher, welcher seinen schwarzen Blick wachsam auf seinen Mann geheftet hielt, als dieser damit begann sich seiner Sachen zu entledigen. Auf der einen Seite war Clarence erleichtert darüber, dass Matthew ihnen nun keine lang anhaltende Szene machte und womöglich das ganze Treffen abbrach, nachdem er zuvor noch zugestimmt hatte erfahren zu wollen, woher die erlebten Geschehnisse ruhten. Eine fehlende Mitarbeit hätte am Ende zudem mehr Fragen aufgeworfen als Probleme gelöst. Doch auf der anderen Seite schuf Matthews freigelegte Haut nun auch Raum dafür Dinge zu erkennen, die Oliver vermutete. Dinge, die sich nur schwer beherrschen ließen – oder noch schlimmer: Dinge, die im schlimmsten Fall noch dramatischer waren als das, was bereits ausgesprochen zwischen ihnen stand.
Abermals biss der Blonde angespannt die Zähne aufeinander und versuchte im tiefen Schwarz der fremden Skleren zu erahnen, welche Dinge er auf der Haut seines Mannes wohl zu erblicken vermochte, die Clarence stets verborgen geblieben waren. Das Gefühl, dass Oliver mehr sah als er selbst, machte ihn wahnsinnig – kannte er nicht jeden Zentimeter von Cassies Haut besser als jeder andere sonst? War nicht er es, Matthews Ehemann, der unter den bunten Farben und Zeichnungen verheilte Narben mit den Fingern nachfuhr, verblichene Wunden einstmals selbst versorgt oder an manchen Schuld getragen hatte?
Erst die ängstlichen Worte des Jüngeren waren es die seinen gedankenverlorenen Blick wieder von Oliver lösten, aufgeschreckt durch den von Furch geschwängerten Unterton, der in der Stimme des Dunkelhaarigen mitschwang und den Clarence in den ersten Sekunden gar nicht erst zuzuordnen wusste. Was um sie herum geschah, nahm derart schnell seinen Lauf, dass er nicht mal wusste wohin mit sich; in Matthews Gesicht erkannte er blankes Entsetzen das sich auf ihm niederschlug wie auf jemandem, der ungewollt eine Kettenreaktion aus purem Chaos entfacht hatte und sein panisches Umher blicken zwischen Oliver und ihm ließ Clarence grob erahnen, dass es bei seiner aufgebrachten Frage nicht etwa darum ging, eine Horde Plünderer würde sie gerade aus dem Hinterhalt überfallen.
„Was zur…“ – das, was ihm angesichts des zunehmenden Brennens seiner Finger auf den Lippen lag, blieb ihm erstickt im Halse stecken als die plötzliche Hitze seiner Haut so schnell zunahm, dass es dem Blonden jedwede Flüssigkeit aus dem Leibe zu ziehen schien. Sein Mund war trocken geworden vor sirrender Wärme und noch während er sich den Handschuh von der einen Hand zog, konnte er spüren, wie lauwarmes Wasser auf ihn niedertropfte – eine Mischung aus schmelzendem Schnee und seinem eigenen Schweiß, der sich in Rinnsalen den Weg seine Stirn hinab bahnte.
Schreie seines Mannes schossen schallend zwischen dem kleinen Stück Wald, ihrem Karren und ihrem Dreiergespann umher und unter hektischen Blicken erkannte er Cassie, dem noch immer die Panik ins Gesicht geschrieben stand; Oliver, von dessen Mantel er hätte schwären können er würde in der Kälte des Winters kondensieren, wenn es nicht plötzlich so verdammt heiß zwischen ihnen geworden wäre und… unheimlich viel zertretene Wiese, wo eben noch dichte Schneedecke gewesen war.
„Andras… war das sein Name, ja?“, hörte er Oliver fragen, in dessen Stimme etwas Defensives und Lauerndes getreten war. Einem Kämpfer gleich, der bereit war in eine Schlacht zu ziehen, wenn es von ihm erwartet wurde. Still betrachtete sich Clarence den Schnee um sie herum, der sich in einer scharfen Kante zu ihrer kleinen Gruppe abhob und eine regelrechte Grenze zur Außenwelt gebildet hatte, als hätte man den Platz für sie extra frei gehoben. „Frag deinen Freund nach seinem Namen – nicht wer er ist. Er soll dir Antworten geben.“
Eine mutige Forderung wie Clarence fand, der sich verloren mit den entblößten Fingern über die Stirn strich, die sich noch immer feucht anfühlte. Die Haut auf seiner Hand war rot geworden wie nach einem langen Marsch durch den Wald im Sommer, wenn man zwar nicht der direkten Sonnenstrahlung ausgesetzt, aber trotzdem überhitzt war. Am Rande ihrer warmen Kuppel erkannte Clarence, wie der Schnee noch immer in dicken Flocken fiel, nur um sich ab einem bestimmten Punkt in Regentropfen zu verwandeln, der sich schließlich in heißen Dampf auflöste – als schneie es durch ein offenes Fenster in einen viel zu heißen Raum hinein, der bereit war alles in sich zu zerkochen und zu zergaren, wenn man die Temperatur nur weit genug empor drehte. Selbst die eben noch zertrampelte Wiese zu ihren Füßen hatte sich zertrocknet niedergelegt und bei genauem Hinsehen erkannte Clarence, wie sich die ersten Spitzen der traurigen Grashalme langsam braun färbten.
„Wenn deine Augen nicht für Feuer gemacht sind… brennt er sie dir vielleicht aus“, waren die ersten Worte, für die Clarence schließlich wieder monoton die Stimme erhob. „Vielleicht brennt er uns beide bis auf die Knochen aus. So wie die Vetala. Und Ceyda.“
Abwesend rieb er seine feuchten Finger aneinander, an denen die Mischung aus Schweiß und Schnee klebte und als er sich erneut hilflos zwischen ihnen umblickte erkannte er, dass seine Füße ihn unbemerkt einige Schritte weiter zurück getragen hatten. In eine Sicherheit, die es in der erhitzten Kuppel ganz offensichtlich nicht gab. Für niemanden außer Matthew – nicht mal für Matthews Ehemann.
Schwer schluckte der Blonde, versuchte die aufkeimende Angst in sich auf ein Mindestmaß zurück zu drängen und spürte unter der aufwallenden Furcht nichts weiter zurück bleiben als Trauer und eine unsägliche Leere. Er war hierhergekommen um von dem Seher zu erfahren, dass sie die Dinge schon gerichtet bekamen. Dass zwar nicht alles in Ordnung mit seinem Mann war, aber die Dinge auch nicht so schlecht standen, dass sie sich ernsthafte Sorgen machen mussten.
Doch gerade war letzteres das, was von ihm Oberhand ergriff.
Mahnend streckte er die Hände vor sich aus und machte eine stille Geste die besagte, dass niemand von ihnen im Augenblick etwas unüberlegtes tun oder sagen sollte. So schnell wie die Hitze über sie gekommen war und so bedrohlich wie sie sich anfühlte wagte Clarence nicht zu bezweifeln, dass… Wasauchimmer nicht zögern würde Matthew hier alleine im Schnee zurück zu lassen, wenn sie die dargebotene Drohung ignorierten. So viel war sicher.
Mit kontrollierten Atemzügen musterte er Cassie auf… irgendwelche Zeichen, irgendein Schwelen oder irgendeine Glut oder… irgendetwas das so wirkte, als könne sein Ehemann verletzt sein.
„Sag mir, mit welcher logischen Schlussfolgerung erklären wir das hier, mh?“
Flimmernde Luft, Hitze wo einst Frost und Schnee war und jene Stimme die überall zu sein schien.
Irgendwo hatte er das schon einmal erlebt. Irgendwo. Früher.
Matthew versuchte sich zu erinnern, versuchte zu verstehen was hier vor sich ging und weshalb er das Gefühl eines Déjà-vu einfach nicht loswurde. Er hob eine Hand an die Stirn und rieb sich darüber, wich noch einen Schritt zurück und taumelte.
Es ging ihm nicht schlecht aber er fühlte sich merkwürdig schwach und ausgelaugt. Lag es an dem plötzlichen Wechsel der Temperatur? Daran, dass er versuchte etwas zu begreifen das er für unmöglich gehalten hatte? Oder daran, dass sich in seinem Kopf die Gedanken überschlugen?
Er streckte eine Hand nach dem Karren aus um sich zu stützen und einen Moment lang glaubte Matthew, dass er ohnmächtig werden würde. Seine Knie fühlten sich schwammig an, er schwitzte und in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken - und immer wieder sah er Feuer. Feuer überall….
„Andras…war das sein Name, ja?“ - echote es in seinen Gedanken und Bilder einer unaussprechlichen Kreatur fluteten seinen Kopf.
Ein Wesen aus schwarzem Nebel mit roten Augen. Sein Haupt war das einer Krähe, sein Körper der eines Menschen und er sprach in der Zunge der Toten.
Heftig nickte Cassiel mit dem Kopf und zwang sich, den Glatzköpfigen anzusehen. Oliver musterte ihn lauernd und mit abwartendem Ausdruck - er hatte Angst, da war Matt sich sicher, aber er war auch interessiert - was der Dunkelhaarige absurd fand.
„Nach seinem Namen…?“, wiederholte er verunsichert und leckte sich über die Lippen die nach Metall schmeckten als hätte er den Mund voller Blut.
Wie im Schnee. Als der Mutie dich erwischt hat. - dachte er und ja, ja das stimmte, aber es war nicht alles. Es war nur ein Teil.
„Wie… wie ist dein Name?“, fragte er in die Stille ihres Triangels hinein, während er sich noch immer an dem Karren festhielt.
Doch die Stimme schwieg, sie gab keine Antwort und Matthew glaubte schon, dass sich daran auch nichts mehr ändern würde, als er sie erneut vernahm. Dunkel und tief und lodernd.
Mein Name kann in keiner Zunge der Menschen genannt werden. Es ist die Sprache der ungeformten,
die Sprache der Toten.
Matthew blickte zu Clarence welcher noch weiter auf Distanz gegangen war und der entsetzlich verunsichert aussah.
„Dann nenne den Namen unter dem die Menschen dich kennen!“ - forderte er und die Hitze in der Luft nahm einen Augenblick lang bedrohlich zu bevor die Temperatur wieder fiel.
Ich bin das grosse Feuer, ich bin can tak ini. Eure Zunge nennt mich Afarit, das letzte Inferno.
Dieses Mal hörte Matt die siedende Stimme nicht in seinem Kopf, sondern sie durchschnitt die Luft und füllte sie mit dem Geräusch hungriger Flammen. Eine nicht menschliche, archaische Lautmalerei in der es knisterte und knackte als züngelte Feuer um einen trockenen Scheit Holz. Mit erhobenen Händen stand Clarence da, eine deutlich sichtbare Geste der Deeskalation. Nie zuvor hatte Matthew so deutlich die Angst im Blick des Blonden gesehen, die Angst davor bis auf die Knochen zu verbrennen… Und nun, da Afarit nicht mehr nur zu Matthew sprach, schien es jener Furcht noch mehr Nährboden zu verleihen. Die feinen Härchen auf Cassiels Armen stellten sich auf als wäre die Luft elektrisiert und noch immer fühlte er sich als müsste er mehr wissen. Als würde ihm ein entscheidendes Detail fehlen.
Du bist can tah inoh , die Glut von Can Tak.
Jener der sieht wird nicht begreifen. Sehen ist nicht verstehen. Verstehen ist nicht Erkennen.
In der Stimme schwang ein Knistern wie von Flammen mit. Düster und bedrohlich und gleichsam warm und vertraut. Woher vertraut? Matthew verstand es noch immer nicht aber er wusste, dass er es verstehen sollte. „Woher… woher kennen wir uns?“, fragte er schließlich und als die Stimme jetzt sprach - da tanzten Funken hell wie Diamantstaub durch die Luft. Die Ochsen setzten sich unvermittelt erschrocken in Bewegung und zogen den Karren weiter bis sie etliche Meter später wieder hielten.
„Wenn ich… Can Tah bin, was sind die anderen?“ - er sah zu Oliver der im Augenblick weniger furchtsam war als Clarence, dann fügte er an:
„Niemand wird hier verbrannt. Niemand!“ - daraufhin tanzten abermals Funken durch die Luft und das Grollen das jene Funken begleitete ließ Schnee als Regen von den Bäumen regnen.
Sie sind soma für can Tak. Soma für Can Tah.
Cassiel blickte zwischen Oliver und Clarence hin und her und obwohl er nicht verstand was Soma bedeutete, so hatte das Klangbild der Formulierung etwas bedrohliches an sich, weshalb er wiederholte:
„Niemand wird verbrannt.“ - Stille machte sich nun mehr zwischen ihnen breit, doch die Wärme blieb erhalten weshalb es dumm gewesen wäre zu glauben, dass sie nur noch zu dritt wären.
Jener der sieht wird deinen Tod fordern.
Wurde die Ruhe jäh durchschnitten.
„Nein. Nein, vorerst nicht. Ich denke…ich denke du irrst dich.“ - er blickte abermals zwischen Oliver und Clarence hin und her und betrachtete den Blonden schließlich länger.
„Clarence würde das nicht zulassen.“ - dies sagte er mit vollster Überzeugung, ganz gleich welcher Disput vorhin noch stattgefunden hatte. Er zweifelte nicht an Clarence, zweifelte nicht daran, dass er das Treffen mit den besten Absichten im Sinn arrangiert hatte.
Für Oliver würde er freilich nicht bürgen - aber das würde Matthew für niemanden außer den Blonden tun.
Die schwarzen Skleren waren nicht für Emotionen gemacht. Das hatte seinen guten Grund. Verbergen was war, verbergen was oder wer gesehen wurde. Verbergen, auf wen sich Reaktionen bezogen und verbergen, wenn auf jemandem ein Blick länger lag als nötig – weil dort vielleicht mehr gesehen wurde, als gut für das allgemeine Ohr war.
Und doch ließ sich Angst nicht verbergen. Solche, die sich in jeder Falte eines Gesichts abzeichnete, ganz gleich wie sehr es mit bunten Farben bedeckt war.
Olivers Haut brannte noch immer von der stillen Drohung, die man ihm entsendet hatte. Sein Mantel schwelte und fast wirkte es, als sei er in der Kälte des Winters einen Marsch gelaufen, der sich nun durch die entstandenen Temperaturunterschiede abzeichnete. Aber es war mehr als das. Unter seinem Revers konnte er den beißenden Geruch von verschmortem Haar riechen und als er für einen Moment auf seine Hände hinab blickte, da erkannte er, dass die feinen Härchen auf seinem Handrücken zu kurzen Stoppeln verkommen waren. Solche, von denen er sich nun mit einem kurzen Streichen die braun verkrümmten Reste wischte. Wie damals als Kind, wenn man sich aus Spaß mit dem Feuerzeug des Vaters die Unterarme fasziniert flambiert hatte.
Eine ähnliche Faszination war es, die trotz aller Furcht in seinem Gesicht ruhte. Es war nicht das Verkennen von Gefahr oder das Ignorieren einer Größe, gegen die man machtlos sein würde. Es war das Spiel mit dem Feuer, so wie man es als Kind betrieben hatte – und wenngleich Oliver Hazel es als Belastung empfand in seiner Umgebung mehr in den Menschen zu Sehen als für seine Augen bestimmt war, so war er trotz allem nichts anderes als ein zündelndes Kind in dem das Herz eines Pyromanen schlug, der sich von Gefahr und Unbekanntem anziehen ließ wie die Motte vom Licht.
‚Afarit‘, formten seine Lippen tonlos den entborgenen Namen aus, der sich zwischen sie legte wie eine dunkle Wand aus Feuer. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, wie der Blonde unmerklich zusammenfuhr im Angesicht des brennenden Loderns, das sich in der Stille des Schnees ausbreitete wie ein unaufhaltsamer Waldbrand. So jedoch nicht Matthew, der Ihn bereits schon vor allen anderen gehört hatte. Und so nicht Oliver, der einen solchen bereits schon einmal als namenlose Stille in seinem Kopf kennengelernt hatte, während er selbst tief in seinem Innersten eingesperrt und zur Ruhe gebettet gewesen war.
Wachsam und interessiert bewegten sich seine vor Ehrfurcht noch immer geweiteten Augen umher, versuchten jenseits der Glut zu erkennen was sich von Afarit für ihn offenbarte und doch blieb nichts außer das, was ihre erhitzte Kuppel bildete. Mäandernd zog sich das Flimmern über sie hinweg, durch sie hindurch und schien sich auf das Zentrum dessen zuzubewegen, wo in der Brust des Dunkelhaarigen das Nest der prächtigen Glut loderte. Sich verdichtend und Funken werfend, während das knisternde Lodern der fremden Stimme seinen Ursprung offenbarte und damit selbst jene Wesen von ihrer Seite vertrieb, die sie vor allem Greifbaren hätten schützen können – denn selbst die beiden Hunde wagten es nicht mehr sich in die Nähe ihrer hitzigen Gesellschaft zu wagen. Da waren die Tiere vielleicht durchaus schlauer als der Blonde und er.
„Jener der sieht sieht viel zu gerne als das zu töten, was ihm die Freude eines guten Rätsels bereitet“, griff er die Wortwahl der formlosen Stimme schließlich auf und betrachtete sich das Mäandern, das Ursprung und Ende des Zentrums des Dunkelhaarigen war. „Afarit versteht nicht, dass nicht jeder Mensch von seiner Angst geleitet wird. Nicht alles muss sterben, nur weil es anders ist. Nur Tod fordert Tod.“
Eine Rechnung, die selbst ein nicht-menschliches Wesen begreifen sollte. Nicht umsonst schien sich dieses Wesen so bedroht zu fühlen, dass es ohne Umschweife seinen Gefährdern eine Warnung verpasste. Daraufhin nicht eine ähnliche Reaktion zu erwarten wäre töricht, selbst für einen Dämon. Kriege gab es bereits so lange wie diese Welt alt war und Afarit sollte mehr Kämpfe gesehen haben als sie alle zusammen – in dieser und in allen anderen Welten.
Still hatten Olivers Schritte ihn wieder in seine alte Bahn zurück geführt. Vorbei dort, wo bis eben noch in der Kälte ihr Wagen gestanden hatte, auf dem die Waren hoffentlich heil geblieben war. Vorbei an Clarence‘ Ehemann, der nun keine Stütze an dem Karren mehr fand und alleine dastand auf weiter weißer Flur, fernab seines Mannes, der die Hand zu einem nahen Tannenast hinüber streckte und die Spitze brach, welche unter der Hitzewallung braun geworden war. Wie abgetrennt von der einen zur anderen Welt, fiel auf das vertrocknete Braun, das bis vor wenigen Augenblicken noch lebendige Nadeln gewesen waren, der geschmolzene Schnee als Regen hinab, während hinter der unsichtbaren Trennmauer noch immer dichtes Weiß auf lebendiges Grün fiel. Deutlich stiegen von der erhitzten Haut des Blonden Hitzeschwaden hinauf, als er mit der Hand die warme Kuppel verließ. Ein faszinierendes Spektakel, das Oliver sich ewig und noch länger hätte betrachten können.
Dort, wo bis eben noch seine geschlagene Schneise im Schnee zu sehen gewesen war, zierte nun platte Wiese und trockener Waldboden ihre kleine Runde. Wie eingebrannt wirkte ihr Untergrund unter sie und schien gleichfalls wie ein Mahnmal für sie alle drei, sich bloß nicht aus dieser deutlich gezogenen Grenze zu entfernen, wenn sie nicht erneut den Zorn von Can Tak auf sich ziehen wollten. Was auch immer jener Titel in der anderen Welt auch für eine Bedeutung haben mochte.
Oliver, der im wahrsten Sinne schon viel gesehen hatte in seinem Leben, hatte selten gehört. Für gewöhnlich gab es keinen Kontakt zwischen Ihnen und den Menschen, jedenfalls nicht in einer Form, in der sie keine Vase besaßen um sich kundzutun und sich eine stimme zu verschaffen. Doch Afarit nahm Matthew nicht zur Vase. Dennoch war er mächtig genug, um sich Gehör zu verschaffen und sich bemerkbar zu machen… was äußerst seltsam war. Denn warum sollte ein Wesen, das so viel Macht besaß, dennoch über so lange Zeit hinweg an einem einfachen Menschen haften? Wieso, wenn es sich daraus nicht eigene etwaige Vorzüge verschaffte?
„Matthew scheint länger die Glut von Can Tak zu sein, als wir es begreifen. Wie lange begleitet Afarit ihn schon auf seinem Weg?“, wollte er schließlich von der formlosen Gestalt, die sich ihm noch immer nicht zeigte, wissen; eine -zumindest für ihn- offensichtliche Frage. Vielleicht ließen sich damit zeitlich gewisse Begebenheiten eingrenzen, gewisse… Vorkommnisse oder Unfälle im Leben des Dunkelhaarigen, die erklärten, wann und wo sich dieses Wesen an den anderen gebunden hatte.
Der Gedanke, dass all das hier nur ein Traum war, barg einen gewissen Trost und Komfort und Matthew wollte sich jenem hingegeben.
Seltsam entrückt nahm er wahr, wie Clarence seinen Arm von sich streckte und nach einem dürren Ästchen langte welches auf ihrer Seite des Triangels verdorrt und jenseits des Radius schneebedeckt war.
Er spürte die Hitze, er hörte sein Blut in den Ohren rauschen und er spürte den Kupfergeschmack im Mund.
Konnte ein Traum so echt sein?
Die Antwort lautete nein.
Oliver schien von der Entwicklung der Dinge zwar beeindruckt und besorgt - aber bei Gott er hörte sich auch interessiert an, so als sei ihr kleines Happening mit einer nicht-körperlichen Dämonenstimme ein Ereignis, dem er nicht abgeneigt war.
„Ein gutes Rätsel?“, hakte der Dunkelhaarige nach und bedachte Oliver mit einem irritierten Blick.
Sein Mund war trocken und er fühlte sich noch immer so, als würde ihm die Antwort auf die Frage fehlen die Oliver stellte. Obwohl er sie kennen sollte. „Du kennst mich schon lange…richtig? Nicht erst seit…seit dem Absturz.“ - woher er das nahm, wusste Matthew selbst nicht so recht denn nach allem was er bisher gehört hatte, war es die wahrscheinlichste Vermutung, dass Afarit ebenfalls in einer Dämonenbüchse gefangen gewesen war und durch den Absturz Freiheit erlangt hatte. Eine Freiheit, die ihm nichts nütze - weshalb er sich Matthew als Vase ausgesucht hatte.
‚Das könnte so sein.‘ dachte er. Und gleich darauf ‚Aber so ist es nicht.‘
Verwirrt blickte er auf seine Hände hinunter, spreizte die Finger und musterte sie als würden seine Hände irgendetwas erklären.
Manche Rätsel sind nicht dazu bestimmt gelöst zu werden. Manche Dinge sollten ungesehen bleiben.
„Nein, nein… ich kann mich erinnern.“, kam es Matthew über die Lippen wobei er sich gequält anhörte. „Ich weiß, dass ich es wissen müsste. Ich verstehe nur nicht, weshalb ich es nicht kann.“
Er klang verzweifelt und in seinen dunklen Augen war ein Ausdruck von hilfloser Überforderung getreten. Er wollte die Dinge verstehen, er wollte Antworten und vor allem wollte er, dass Clarence keine Angst vor ihm haben musste. Die Temperatur, die noch immer bedrohlich warm war, sackte nun um einige Grad ab wodurch der unmittelbare Eindruck verschwand, kurz davor zu stehen in Flammen aufzugehen.
Nur Tod fordert Tod.
Wiederholte die glühende Stimme Olivers Worte bestätigend.
Der Tod durch Flammen ist der reinste Tod.
Wünscht Can Tah Inoh Antworten auf seine Fragen?
Zögernd leckte sich Matt über die Lippen, dann nickte er.
„Ich erinnere mich… Ich erinnere mich an den Geschmack von Blut im Mund und an… an Schmerzen.“ - er blickte zu Clarence und präzisierte:
„Nicht von Feuer…“ so als würde dieses Detail wichtig sein. Vielleicht war es das ja sogar wirklich.
Die formlose Stimme grollte. Es klang wie das Geräusch von fernem Donner. Das Flimmern in der Luft welches verschwunden gewesen war als die Temperatur gefallen war, kam wieder auf - beschränkte sich nun jedoch auf die Luft unmittelbar um Matthew herum.
Du kennst die Antworten nicht,
weil du sie nicht kennen kannst.
Can Tak hat sie dir genommen.
„Warum? Warum hat Can… warum hast du sie mir genommen?“ - er klang ungeduldig und wütend - was in Anbetracht der Situation vielleicht gefährlich war, aber auf der anderen Seite hatte er jedes verdammte Recht wütend zu sein.
Zu deinem Besten.
Lautete die schlichte Antwort und Matthew - der mit vielem gerechnet hatte aber nicht damit - blickte ungläubiger denn je zu Oliver, so als müsste der Seher mit alledem zurechtkommen und es begreifen.
Es dauerte einen Moment - ein Augenblick gewichtiger Stille - dann erhob sich Afarits Stimme erneut. Dieses Mal war sie lauter.
‚Näher. Die Stimme ist näher.‘ - dachte Cassie und wusste instinktiv, dass er richtig lag.
Wünscht Can Tah inoh zu sehen?
Ich kann ihn sehen lassen.
Ihn und jenen der rätselt und jenen der schweigt.
Doch Vorsicht: was einmal erblickt wurde,
kann nie mehr ungesehen sein.
Nur Tod löscht gesehenes aus.
Matthew schluckte hart gegen den Kupfergeschmack in seinem Mund, zögerte aber nicht zu nicken.
„Ich wünsche zu sehen.“ - seine Stimme war fest und bestimmend und doch tat sich einen Moment lang nichts. Die Luft schien stillzustehen, die Temperatur hatte sich auf ein angenehmes Niveau eingependelt und und trotzdem war die Anwesenheit Afarits überdeutlich spürbar.
Um sie herum fiel noch immer lautlos der Schnee, aber zu der Stille des Winters mischten sich - erst leise, dann immer lauter anschwellend - Geräusche die nicht in das Hier und Jetzt passten.
Ein unregelmäßiges Stapfen welches unnatürlich hallte.
‚Schritte. Eilige Schritte. Jemand rennt… Und hinkt.‘
Cassie blinzelte, sein Blickfeld trübte sich ein und er rieb sich über die Augen um es wieder zu klären. Doch statt sich aufzuhellen wurde es noch dunkler, alles um ihn herum wurde finster - was aber nicht an ihm lag, sondern daran, dass die Umgebung sich verdüsterte.
Der Wald, der Schnee, der Himmel und der Boden… alles wurde von einem so tiefen Schwarz verschluckt als wäre die Welt plötzlich ausradiert worden. Als gäbe es nichts mehr außer dem Nichts.
Und sie schienen zu dritt in vollkommener Schwärze zu treiben.
Dann wuchsen aus dem Nichts allmählich Konturen und jene brachten sie an einen Ort der fernab von Falconry, Merton oder Coral Valley lag.
Schritte hallen von nackten, schroffen Wänden wider. Sie sind schnell und rhythmisch - ein Schritt immer leicht abweichend von jenem zuvor. Zaghafter. Außerhalb des Takts. Immer wieder - und damit einen eigenen, asynchronen Takt bildend.
Der unebene Boden ist feucht und es riecht nach verfaulter Erde, nach Moos, nach Knochen.
Fahle Wurzeln drängen sich durch Spalten und Risse im Gestein, sie sehen aus wie Leichenfinger.
Keuchen mischt sich zu den eiligen Schritten, es ist der pfeifende Atem eines Menschen der Todesangst hat. Kein Wunder an jenem Ort.
Es ist Nacht und der volle Mond wird von skurrilen Wolken umspielt. Sie scheinen ihn zu umgarnen, mit ihm zu spielen.
Dann verschlucken sie ihn.
Ein Schatten wird auf die Wände geworfen, verzerrt und überdimensioniert wird er zu einer grausigen Missgeburt mit schiefen Schultern, dürren Armen und deformiertem Schädel. Jene schwarze Gestalt ist einzig und allein deshalb sichtbar, weil die milchigen Wurzeln der bleichen Bäume über ihnen schwach leuchten.
Ihr Glimmen lässt den Schatten tanzen und anschwellen - gleichsam wie die nackten Wände den Klang der dazugehörigen Schritte verstärkt.
Der Rhythmus des Laufs wird jäh gestört und kurz wird der Schatten an der Wand zu einem schwarzen Klumpen, aus dem lediglich noch Arme zu definieren sind.
Ein dumpfer Schrei folgt, als der Schatten, der ein Junge ist, zu Boden geht und sich die Knie und Hände an dem kantigen Steingrund aufreißt.
Der rasselnde Atem geht jetzt noch schneller während er einen Moment lang benommen auf allen Vieren verharrt. Sein Kopf hängt zwischen den schmalen Schultern nach unten und die Augen hält er fest geschlossen. Er schmeckt frisches Blut auf der Zunge weil er sich auf selbige gebissen hat.
Der Junge weiß nicht, wo genau er ist - aber er weiß, dass er sterben wird, wenn die Männer ihn einfangen und deshalb rappelt er sich endlich wieder auf. Er taumelt und droht erneut hinzufallen - doch dieses Mal hält er die Balance und setzt seinen Weg fort. Zuerst macht er ein paar langsamere Schritte, wobei er mit dem linken Fuß nicht richtig auftritt.
Schließlich läuft er schneller, dann rennt er - entgegen seiner längst aufgezehrten Kräfte - weiter.
Ein Auge des Jungen ist fast vollständig zugeschwollen. Auf jener Seite des Gesichts - es ist die rechte - hat sich ein dunkelvioletter Fleck gebildet der bis hinunter zu seinen aufgeplatzten Lippen reicht.
Das Auge welches nicht geschwollen ist weist Einblutungen auf. Trotzdem: er sieht genug um den von der Decke hängenden Stalaktiten auszuweichen.
Der Weg, der eigentlich kein richtiger Weg ist, verjüngt sich zunehmend und obwohl der Junge Angst vor der Enge und Finsternis hat, so hat er noch mehr Angst vor den Männern die hinter ihm her sind.
Hinkend rennt er weiter, vorbei an leuchtenden Pilzen deren Myzel sich wie schimmernde Spinnweben über die kantigen Felsen spannt.
Verfolgt man ihn noch? Er weiß es nicht, aber die wilde Panik und das Entsetzen treiben ihn weiter voran.
Mittlerweile muss er um jeden Atemzug kämpfen, seine Brust schmerzt und jeder Schritt ist eine Qual.
Der Junge stolpert erneut, fällt mit dem Gesicht voran und bleibt liegen. Nur langsam dreht er den Kopf und stöhnt benommen.
Warmes Blut rinnt ihm von der aufgeplatzten Stirn hinunter zur Augenbraue, von dort tropft es zu Boden. Er weiß, dass er nicht mehr rennen kann. Selbst dann nicht, wenn die Männer ihn einholen. Wenn sie ihn hier finden würden, würde er es einfach zulassen.
Und so würde alles enden.
Das Schniefen des Jungen hallt von den schroffen Wänden, dann noch eins… und noch eins, ehe das Kind seine fragile Beherrschung wieder zurückgewinnt.
Schwerfällig kommt der Knabe auf die Beine, schont den linken Fuß und sieht sich um. Viel gibt es nicht zu erblicken. Hinter ihm ist nur Schwärze in der vereinzelt die Leichenfinger-Wurzeln schweben. Etwa fünf bis sechs Meter vor ihm liegt eine Wand. Eine Sackgasse ist es nicht, wie der Junge feststellt, als er hinkend etwas näher kommt.
Es gibt einen Spalt im Gestein, der ist so schmal, dass der Knabe zweifelnd einen Arm in die Dunkelheit vor sich schiebt um nach Widerstand zu tasten. Seine Hände pochen schrecklich von dem Sturz. Sie fühlen sich klebrig an von Blut und Dreck.
Langsam tritt er noch näher an die Wand, schmiegt den Brustkorb vorsichtig gegen den Fels während er mit dem Arm in dem Spalt tastet. Seine Finger streifen über feuchten Stein. Er fühlt ein paar Unebenheiten aber wenn vor ihm das Ende der Höhle liegt, so kann er es nicht erreichen. Der Junge mit dem lädierten Gesicht zieht den Arm schließlich zurück und beginnt, sich seitlich durch den Spalt zu quetschen. Die ersten Meter funktionieren gut, dann wird es so eng, dass er Panik bekommt. Er kann kaum noch atmen und unterdrückt ein lautes Schluchzen nur mit Mühe - falls sie ihn hören können.
Irgendwann wird der Weg wieder etwas breiter, er muss über einen Berg aus Gestein klettern und als das geschafft ist bleibt er wieder stehen.
Mittlerweile gibt es keine Wurzeln die schwach leuchten aber es gibt trotzdem eine spärliche Lichtquelle.
Über die Steinwände ziehen sich rötliche Symbole, sie pulsieren und leuchten schwach.
Der Junge kann nicht lesen was an den Felsen steht - obwohl er eigentlich lesen kann, hat er jene Schriftzeichen noch nie vorher gesehen. Humpelnd geht er schließlich weiter. Der Blutgeschmack in seinem Mund ist nun sehr stark. Er rührt nämlich nicht von seiner Zunge, das weiß er. Der Geschmack kommt von etwas anderem, etwas in ihm drin ist kaputtgegangen als der Mann mit der alptraumhaften Maske ihn getreten hat.
Seine Schritte sind mittlerweile langsam und schlurfend geworden, er stützt sich mit einer Hand an der Steinwand neben sich ab und schaut beim Gehen zu Boden.
Um ihn herum werden die fremdartigen Symbole in den Wänden häufiger und ihr pulsieren kräftiger. Fast wie etwas Lebendiges glimmen sie auf und verlöschen, kehren zurück um wieder zu verblassen.
Der schmale Gang führt nach unten und das Kind setzt bedächtig einen Fuß vor den anderen. Er humpelt nun so stark, dass es mehr ein Vorwärtsschleppen denn Gehen ist.
Unten angekommen schlägt ihm Hitze und Dunkelheit entgegen. Es riecht stärker nach Erde und modernden Knochen. In der Luft scheint wenig Sauerstoff zu sein, denn er muss um jeden Atemzug hörbar ringen. Hier nun gibt es keine Symbole mehr, nur einen weiteren Spalt in der Finsternis durch den sich der Knabe presst - weil er den Rückweg ohnehin nicht mehr schaffen würde - und das weiß er auch.
Es macht ihn traurig zu wissen, dass dies das Ende ist. Trotz allem was er gesehen hat und trotz allem was passiert ist. Er wünscht sich, er hätte ein anderes Leben gehabt, er wünscht sich das selbe für all die anderen Kinder die noch auf der Farm sind.
Während der Junge sich vorwärts bewegt taucht in der Dunkelheit wieder ein Leuchten auf. Zuerst ist es nur ganz schwach doch mit jedem Schritt wird es kräftiger.
Er passiert die letzte Engstelle - die ist so eng, dass er glaubt steckenzubleiben, aber letztlich schafft er es.
Dahinter ist ein runder Raum, die Wände sind tiefschwarz. An einer Wand spannt sich ein Netz aus glühenden Adern. Es pulsiert.
Darunter, direkt an die Felswand gekettet, liegt ein Wolf.
Er ist riesig. Sein Fell bleich wie der Mond. Bleich wie Knochen.
Er hebt den Kopf zu dem Jungen, dann erhebt er sich zur Gänze.
Die Ketten hindern ihn daran sich auf den Knaben zu stürzen.
Das erste lebendige Wesen das er sieht, seit man ihn hier verbannt hat.
„Komm näher.“, sagt er in der gemeinen Zunge. Der Zunge der Menschen.
„Warum kannst du sprechen?“, fragt der Bursche und kommt hinkend näher. Sein eines Auge ist nur ein schmaler Schlitz inmitten von geschwollenem Gewebe das aussieht, als würde es aufplatzen wenn man es berührte.
Das andere Auge aber sieht trotz dem Rot im Weiß neugierig aus - nicht ängstlich.
„Ich sterbe, oder? Deshalb kannst du reden. Ich bin ohnmächtig geworden und das hier ist alles… ein Traum, nicht wahr?“
Der bleiche Wolf knurrt verächtlich.
Seine Augen glimmen so rot wie Feuer.
„Man hat mich eingesperrt. Vor unzähligen Jahren. Ich wurde angebunden und mein Gefängnis versiegelt. Sag mir, Kind… fürchtest du mich?“- der Junge bleibt stehen und betrachtet den Wolf. Sein Pelz ist glatt und sauber, die Schnauze gespickt mit dutzenden Zähnen.
„Ich denke nicht.“, antwortet der Knabe nach einer Weile des Grübelns. Er hat schon schrecklicheres gesehen, so merkwürdig das auch klingen mochte.
„Wieso hat man dich eingesperrt?“ will er wissen und nun legt die Bestie die Ohren an. Speichel tropft von ihren Lefzen.
„Weil sie mich fürchten. Sie sperren ein, wovor sie Angst haben. Aber warum bist du hier?“
„Ich bin weggelaufen. Ich war… auch eingesperrt.“
Der Junge setzt sich, er schmeckt Blut im Mund und als er hustet, da sprenkelt es seine Lippen. Nun setzt sich auch der Wolf unmittelbar vor den Knaben. Seine rotglühenden Augen blicken dem Kind ins Gesicht.
„Ein schlimmes Gefühl, oder etwa nicht?“, der Junge nickt.
„Lass mich frei und ich will dich retten. Du blutest aber ich kann machen, dass es aufhört. Ich kann dich gesund machen.“
Säuselt der Wolf, seine Stimme klingt wie nichts vergleichbares auf der Welt. Blechern und knurrend.
„Hast du Böses getan und wirst du es wieder tun, wenn ich dich befreie?“ will das Kind wissen und nun ist es an dem Wolf zu überlegen.
„Ein Wolf der Schafe reißt… tut der Böses? Ist es schlecht zutun was in der eigenen Natur liegt?“
„Wenn man anderen damit wehtut.“, entgegnet der Junge sofort. Eine gute Antwort, findet der Wolf. Naiv aber nicht minder gut.
„Wer hat dir wehgetan?“ - „Die ganze Welt.“, antwortet der verletzte Bursche trostlos, und der Wolf glaubt ihm.
Eine Weile sitzen sie gemeinsam schweigend auf dem Boden, dann sagt der Junge leise: „Ich befreie dich, wenn du meinen Freunden hilfst. Sie leben oben… oben in einem Heim. Sie sind eingesperrt und können nicht weg. Befrei sie. Kannst du das?“
Die Schnauze der Bestie verzieht sich zu einem unnatürlichen Grinsen, die Augen lodern.
„Ja.“, sagt sie. „Ich kann ihnen helfen. Ein Gefallen für einen Gefallen. Du musst dich entscheiden.“
Der Bursche blickt ihn mit seinem guten Auge an. Da liegt eine Traurigkeit in seinem Blick, die nicht dort sein sollte.
„Ich kann dich retten oder deine Freunde. Entscheide dich schnell, bevor du zu schwach wirst, mich zu befreien.“
Der Junge muss nicht lange nachdenken. Er erhebt sich wobei er das Gesicht vor Schmerzen verzieht.
„Hilf ihnen.“ - die Kreatur knurrt, durch den auferlegten Bann dazu verpflichtet die Wahrheit zu sprechen:
„Wenn du mich losmachst ist dies dein Tod.“ - aber das lässt das Kind nur kurz zögern. Es hat sich entschieden.
„Versprich, dass du sie rettest.“, sagt der Junge der frisches Blut schmeckt und kaum merklich weint. Er hat Schmerzen, er ist verzweifelt, er ist traurig, er hat Angst. Er denkt an seine Mutter, an seinen Bruder und wünscht sich ein Leben welches er nie hatte.
Aber er kniet sich erneut vor den Wolf, legt die Hände um seinen Hals und löst das eiskalte Halsband. Es ist ganz dünn und fein, wie ein einzelnes Haar. Trotzdem hat es gehalten.
Noch während er das Band hält, ergreift die Kälte von ihm Besitz - sie kriecht seine Hände und Arme empor, vereinnahmt seine Kehle.
Der Junge lässt das Halsband fallen doch es ist längst zu spät. Er japst nach Luft - bekommt aber keine. Ein gesunder Mann hätte es vielleicht vermocht der innewohnenden Macht ein paar Sekunden standzuhalten. Der lädierte Knabe hingegen hat keine Chance.
Nun da die Kette fort ist, ist die Gestalt in die man ihn gezwungen hat nicht länger stark genug ihn zu beherbergen. Feuer bricht sich aus den Augen des Wolfes Bahn, taucht die finstere Höhle in gleißendes Licht. Nichts davon sieht das Kind noch.
Lodernd schwebt der Dämon über dem toten Jungen.
Das gute Auge blickt starr in die Leere.
Frisches Blut, das wohl letzte, glänzt auf seinen Lippen.
„Die ganze Welt.“ - grollt die tiefe Stimme aus den Flammen. Sie klingt zornig und mächtig.
Ein Gefallen für einen Gefallen - so lautet ihre Abmachung die kein wirklicher Pakt ist und die zu halten das Wesen dennoch vorhat.
„Die ganze Welt.“, wiederholt es erneut die Worte während es auf den toten Jungen blickt, dessen Körper gebrochen ist. Mit einem wilden Brüllen stieben Funken aus den Flammen. Sie regnen hernieder auf den Knaben, durchdringen seine Kleidung, seine Haut, lassen ihn einen Moment lang von innen leuchten.
Afarit pflanzt etwas von seiner Glut in das Kind dessen Brust sich schließlich unter einem neuen Atemzug hebt.
„Komm.“, sagt der Dämon leise und der Junge erhebt sich. Es ist nicht der Bursche der ihm folgt, nur dessen Körper - aber das macht nichts. Afarit weiß, dass der Körper halten wird bis getan ist was getan werden sollte. Und dann wird er dem Knaben seinen Körper zurückgeben.
Denn der Junge ist nicht mehr nur ein Junge.
Der Junge ist Can Tah Inoh. Der Junge ist die Glut von Can Tak.
Es ist der 16. November 2195. Die Nacht, in der die Villa des gütigen Mannes bis auf die Grundmauern niederbrennt.
Als die alles verzehrenden Flammen jener unheilvollen Nacht schließlich erstarben, war es nichts als endlose und alles verschlingende Schwärze, die ihnen blieb. Tiefste Stille, die in der Weite widerhallte und für einen langen Moment blieb die Frage, ob die Flammen sie gleich mit verzehrt hatten um sie von dieser Welt zu tilgen.
Um die ganze Welt zu tilgen.
Wenngleich er den lädierten Jungen noch nie zuvor in diesem Alter gesehen hatte und auch nicht wusste welche Flucht ihn in die Katakomben der Höhle vertrieben hatte, so wusste Clarence jedoch durchaus wann sie waren und was dem jungen Matthew Reed in den Tagen zuvor im Groben geschehen war. Er wusste wenn er verloren hatte, welch schlimmen Bildern er beigewohnt hatte – und wusste auch, dass noch viel, viel mehr hinter ihm lag als die wenigen Dinge, von denen sein Mann ihm bereits berichtet hatte.
Ob Oliver sich der Szenerie in ihrem vollen Umfang bewusst war oder nicht, vermochte der Blonde nicht zu sagen. Vielleicht war es Afarit, der ihm ein grobes Gespür für die Hintergründe eingab oder er ließ den Seher im Ungewissen mit einem fehlenden Kontext. Etwas, das Clarence sich erhoffte – denn auch seine Lücken wurden nicht durch eine Eingebung geschlossen um ihm mehr Wissen zu geben als das, was das letzte Inferno ihn sehen ließ. Zu seinem Glück, wie der Jäger fand.
So dunkel wie die endlose Schwärze um sie herum war, so wenig kroch nach den lodernden Flammen jener Nacht etwaige Kälte einem hier unter die eigene Kleidung. Er erwartete die modrige Kühle eines Kellers, der weitestgehend verlassenen Höhle vielleicht oder das dunkle Nass eines tiefen Schachts in dem man gefangen gehalten wurde, bis einem erlaubt wurde sich wieder freier zu bewegen. Doch stattdessen war sie weiterhin da, die unheilvolle Hitze des Infernos, die für die Dauer der Vision eben jene unangenehme Hitze aufwies, mit der Afarit sie zu Beginn bedroht und angemahnt hatte.
Nur Tod fordert Tod.
Worte, die Oliver so leicht und doch so gewichtig über die Lippen gekommen waren, dass sie seitdem wie ein Gesetz zwischen ihnen standen. Niemand trachtete Matthew hier nach seinem Leben, also gab es auch für Afarit keinen Grund sie abzustrafen. Fremde Männer und die ganze Welt hatten Matthew den Tod gebracht, also hatte auch das große Inferno dabei geholfen im Gegenzug Tod einzufordern. Eine einfache Gleichung.
Einfach und wirkungsvoll – und doch zweifelte Clarence nicht daran, dass das verborgene Wesen nicht erst das Ableben seines Schützlings abwarten würde, um sich an seinen Teil des Pakts zu halten.
Ein gleißender Schrei war es schließlich, welcher seine körperlose Hülle im Dunkel zusammenfahren ließ, nur um den Bruchteil einer Sekunde später nicht minder aufzuschrecken.
Ich soll dir sagen, dass deine Augen nicht für das Feuer gemacht sind. Deine Begegnung mit Andras schützt dich nicht, hörte er die Worte Matthews still in seinen Ohren nachklingen und für einen Moment war es Clarence, als habe Er sie damit auf die Probe gestellt. Gleißend brannte schneeweißes Licht von jetzt auf gleich in seinen Augen und machte ihn blind, ließ ihn wenige Schritte umher taumeln und dabei über unebenen Untergrund stolpern, den Afarit freigelegt hatte. Was einmal gesehen wurde, kann nie mehr ungesehen sein – und noch während er sich blinzelnd umher tastete, nahmen unter seiner aufgekeimten Angst doch langsam wieder Formen, Konturen und Farben zu.
„Cassie?!“ - So langsam wie das große Inferno sie zuvor in die Dunkelheit entführt hatte, so schutzlos und unvorbereitet hatte er sie wieder der dichten weißen Schneedecke ausgesetzt, die noch immer in seinen Augen schmerzte und ihn nur bedingt seine Umgebung erkennen ließ. Innerhalb ihres klar abgegrenzten Kreises war die zuvor noch platte Wiese nun zu dunklen Kokeln verkommen, aus deren Glutnestern sich dann und wann noch immer schwelend die Hitze absetzte. Wie auf der Farm des gütigen Mannes, ging es Clarence durch den Kopf während er noch immer auf seinem Gesicht die Hitze der lodernden Flammen spürte, die eben jene Villa verzehrt hatte, in der sein Mann seine schlimmsten Jahre verbracht hatte.
Unruhig blickte er sich auf der Suche nach seinem Mann um, erkannte Oliver der schmerzverzerrt die Handballen auf seine Augen gedrückt hielt – vermutlich im ersten Moment das Gleiche wie Claire vermutend, nämlich dass Afarit ihm eine Lehre bereitet hatte – und fand schließlich, nachdem er sich kurz mit den Fingern durch die Augen gerieben hatte, noch immer an Ort und Stelle den Dunkelhaarigen. Heil, unverletzt – und vor allem lebendig, ganz im Gegensatz zu der Vision, an der Afarit sie hatte teilhaben lassen.
„W-Was… was war das?“, wollte er schließlich von ihm wissen, ganz so als er warte er von Matthew, dass der Jüngere durch das Gesehene eine plötzliche Eingebung erlitten hatte, die ihm hatte die Schuppen von den Augen fallen lassen. So als müsse er irgendeine Antwort darauf haben, was jene Männer mit ihren Ritualen bezweckt oder in ihren geheimen Gängen vor der Welt versteckt hatten. Welche Dämonen sie beschworen oder welche Geister sie dort unten verärgert hatten, nur um… ja. Um was genau mit ihnen zu bezwecken?
„Wieso… wieso war er… d-dort unten…?“, hörte er Oliver atemlos mutmaßen, der langsam den Mut gewonnen hatte die Hände von den Augen zu nehmen. Man hörte ihm an, dass dem Glatzkopf jeglicher Kontext weit mehr fehlte als dem Blonden und wie verbissen er darin war mehr über Afarit zu erfahren, der auf eine Art und Weise mit ihnen in Kontakt trat, wie man es nur selten von Dämonen oder Daseinsformen von Dort erlebte.
Aber Afarit selbst war das was Clarence nur am Rande interessierte, während er Matthews Brust an eben jener Stelle taxierte, in die der Dämon seine Glut wie einen Samen gepflanzt hatte. Einen Samen, der gekeimt war um seinem Mann neues Leben einzuhauchen.
Ein Leben, das vielleicht gemeinsam mit jener lebenserhaltenden Glut wieder erlosch, wenn man es wagte den Pakt zwischen Afarit und Cassie zu lösen.