Merton
07. Januar 2211
Ja, eine sehr gute Frage, die Matthew da stellte. Warum zum Teufel sollten sich bloß Geister oder Dämonen mit dem Dunkelhaarigen abgeben, hm? Das wusste Claire wirklich beim besten Willen nicht zu sagen.
„Ich weiß ja nicht mal, warum ich mich mit dir abgebe im Moment“, murmelte der Blonde verdrossen und weit in die Welt hinaus, während er seinen Blick überall hin schweifen ließ – nur nicht zu dem nervenden Anhängsel neben sich, das ihm gerade genauso gut tat wie ein Kieselstein in einem kniehohen Schnürstiefel.
In Augenblicken wie diesen hier musste der Jäger wirklich scharf nachdenken und gut überlegen was genau ihn damals dazu bewogen hatte Matthew zu bitten ihn zu heiraten. Vielleicht hatte er sich auch einfach nur zu sehr bezirzen lassen von diesem Mann, der so unverschämt gut ausgesehen hatte mit seiner nassen Haut im engen Zuber des Blauer Hund. Vielleicht war Claire selbst auch einfach noch zu sehr von Glückshormonen aufgeputscht gewesen, weil die beiden Hundewelpen so niedlich gewesen waren und ihre kleine Gang frisch komplettiert hatten. War es vielleicht möglich, dass ihm in der Schneekälte Coral Valleys irgendwelche wichtigen Hirnareale abgestorben waren, die ihn hatten verkennen lassen wie sehr ihm dieser Schnösel oftmals auf den Sack ging, sobald der Kerl wieder eine seiner Launen hatte?
Theatralisch seufzte Clarence: „Also, ich fasse zusammen. Wenn ich dir sage, dass ich daran glaube was in der Bibel steht, dann hältst du mich für einen leichtgläubigen Irren. Aber wenn du mal irgendwo was von Selbstentzündungen gelesen hast, dann gibt es das auch und dann muss das auch jetzt bei deinem kleinen feurigen Intermezzo der Fall gewesen sein, ja? Hab ich das so richtig verstanden?“ – Nicht, dass er diesen Kerl jemals verstanden hätte. So sehr sein Mann für ihn in vielen Dingen auch wie ein offenes Buch war, glich Cassie ihm in genauso vielen Momenten wie ein Buch mit sieben Siegeln, das er wohl niemals würde öffnen und verstehen können.
Unmerklich schüttelte er den Kopf während sie sich wieder ihrem Karren näherten, voller Unverständnis darüber wie man so kurzsichtig sein konnte wie Matthew und wie man es nur schaffte, so stumpf Probleme weg zu ignorieren. Falls es überhaupt Probleme sein würden, wovon Clarence hoffte nicht ausgehen zu müssen. Was das anging, wirkten sie auf den ersten Blick wie aus völlig unterschiedlichem Holz geschnitzt… wobei man erst beim dritten oder viertem Blick gewahr wurde, wie ähnlich sie sich doch eigentlich mit diesem Talent waren.
Kumpelhaft und aufmunternd klopfte er dem Jüngeren auf den Rücken, während dieser vor ihm den Karren erklomm. Wenn es um ihre eigenen Probleme ging und darum Dinge zu ignorieren bis sie einem regelrecht ins Gesicht sprangen, waren sie beide wahre Meister in diesem Metier. Ohne die Rückkehr seines Mannes hätte der Blonde vermutlich auch noch die entzündete Wunde an seinem Arm weiterhin ignoriert, ebenso wie Cassie es weit von sich weg schob, dass irgendwas nicht mit ihm stimmte. Aber wehe, es ging darum, dass der jeweils andere von ihnen etwas hatte… Clarence würde Berge versetzen und ganze Seen trocken heben, wenn am Ende des Tages nur alles mit Cassie in Ordnung war und nicht weniger würde der Dunkelhaarige an ihm herum mäkeln und ihn mit Gewalt zum Arzt schleppen, wenn er nicht damit angefangen hätte vor den Augen seines Mannes brav die Tabletten einzunehmen, die der alte Pillendreher ihm zusammengezaubert hatte.
„Wenn irgendwas schiefgeht, glaub mir, dann werde ich deine lieblichen Worte zusammen mit meinem gebrochenen Herzen mit ins Grab nehmen“, gab er ihm schließlich grantig zurück, nachdem Clarence noch für einen Augenblick unentschlossen am Tritt des Karrens verharrt und den Dunkelhaarigen mit Widerwillen im Blick gemustert hatte. Wieso um alles in der Welt musste dieser Kerl sowas fürchterliches von sich geben und ihm schon jetzt einen Vorwurf einreden, obwohl noch gar nichts nennenswertes geschehen war? Erfahrungsgemäß und ihrem Glück nach, wären die Dinge heute alle ganz und gar wunderbar verlaufen so wie Clarence sich das vorgestellt hatte – doch nun hatte Cassie mit seiner unbedachten Äußerung die Büchse der Pandora geöffnet, da war er sich ganz sicher. Ganz alleine an seinen schlechten Entscheidungen konnte das ja kaum liegen, immerhin war Clarence bekannt für gute Pläne.
Fürs nächtliche Erstürmen eines Feldes zum Beispiel.
Oder fürs einen kleinen Spaziergang über den Hafenmarkt.
Oder für einen Flug mit dem Zeppelin, um sich Fußweg zu sparen.
Verdammte Axt.
„Ach, du elender…“, holte er Luft, hielt jedoch selbige schließlich inne und verkniff sich stattdessen die zynische Beleidigung, die ihm auf den zusammengepressten Lippen lag. Stattdessen schüttelte er verärgert den Kopf, während er neben Cassie den Karren erklomm und sich ins kalt gewordene Leder der Sitzbank plumpsen ließ. „Du kannst mich heute echt mal. Ich verstehe nicht, wieso du immer so-“
„Fahr“, unterbrach es ihn aus dem Rücken und ließ Clarence unmerklich zusammenfahren, der erst jetzt aus dem Augenwinkel hinter sich ein fremdes Beinpaar erkannte, das bequem von der großen Kiste herab hing. Auf selbiger hatte es sich ein nicht weniger warm eingepackter Mann als er selbst bequem gemacht, dessen Aufstieg er weder auf den Karren, noch auf die verladene Ware bemerkt hatte – Matthew sei Dank, der ihn mit seinem Talent den Blonden auf die Palme zu bringen völlig von Dingen um sie herum abzulenken wusste. Eine Schwäche, die ihm vor seiner Ehe nur selten unterkommen wäre.
Wortlos blickte er zu Oliver hinauf, der sie durch die Kiste gut und gerne drei Köpfe überragte und der einen kleinen Beutel voller Münzen im Innenfutter seines Mantels verschwinden ließ, bevor dessen tiefschwarzen Augen den Blick des Blonden still erwiderten. Clarence wusste, dass es weit unangenehmer war von Sehern betrachtet zu werden, die durchaus hellere Iriden besaßen und deren blauer oder grüner Blick einem so tief bis in die Seele stach, dass es einem ganz anders dabei werden konnte. Oliver Hazels Augen machten seinem Nachnamen zwar alle Ehre, aber dass sein stechender, wacher Blick sich aus dem tiefen Schwarz und den dunklen Tätowierungen seines Gesichts weniger abhob als eine andere Farbe es getan hätte, machte es dennoch nicht angenehmer ihn direkt im Nacken sitzen zu haben.
Dunkel hob sich seine Silhouette von der Kiste ab, die Mittagssonne direkt im Rücken, während seine braunen Iriden langsam aus dem Antlitz des Blonden über Brust und die unvollständigen Finger hinweg zu den Händen des Dunkelhaarigen glitten, in denen die Zügel des Karrens lagen. Clarence entging dabei nicht, dass Olivers Augen dabei teilweise ihren Weg verloren und abzuschweifen schienen – eine Eigenart die genauso ein gutes Zeichen sein konnte wie sie auch Unheil bedeutete, das man nicht gebrauchen konnte.
„Fahr“, wiederholte der Gleichaltrige schließlich ruhig, auf eine Weise die Clarence nicht gefiel – weil sie ihn an einen Straßenbanditen erinnerte, die zu einem in den Wagen sprang und forderte einen zu entführen, ohne sich dabei etwas anmerken zu lassen.
Matthew musste es gar nicht so direkt sagen, der Blonde begriff auch so, dass er nicht gerade für seine guten Entscheidungen bekannt war.
Sicherlich fand auch ein blinder Bär mal ein Böckchen - ebenso wie das visuell eingeschränkte Huhn mal ein Korn fand - aber oft genug hatte Clarence sich nicht gerade mit guten Ideen hervorgetan.
Matthew vertraute ihm allerdings trotzdem, was ihn vermutlich zu dem größeren Trottel von ihnen beiden machte.
Aber nur weil er ihm vertraute bedeutete das nicht, dass er die Idee auch gut fand. Denn das fand er nicht.
Wenn irgendetwas mit ihm nicht stimmte, dann glaubte er nach wie vor, dass Clarence derjenige sein würde der ihn wieder hinbekam. Er würde improvisieren -wie so häufig - es würde vielleicht nicht ganz glatt laufen, aber am Ende glatt genug.
Für ihn reichte das und sich in die Hände eines Fremden zu begeben war etwas, dass ihm naturgemäß missfiel. Er hatte nicht alle seine Freunde aus der Kindheit überlebt weil er so gutgläubig und vertrauensselig war. Er hatte seine Lektion schon vor langer Zeit gelernt und diese besagte nun einmal, dass…
Ungewollt zuckte Matt zusammen als die unbekannte Stimme hinter ihnen ein einzelnes Wort anwies.
Fahr. So als sei er ein verdammter Kutscher der seinen Lebensunterhalt damit verdiente Leute und Waren von A nach B zu bringen.
Ohne aufzustehen drehte er den Oberkörper nach hinten und blickte zu dem Typen auf, welcher da auf einer der Kisten saß.
Die Sonne stand ihm im Rücken weshalb der Seher kaum mehr als eine dunkle Gestalt war - aber Matthew erkannte genug um sich unbehaglich zu fühlen.
Es waren beileibe nicht die zahllosen Tattoos die kaum mehr einen hellen Flecken Haut durchblitzen ließen und es war auch nicht der Mangel an Haupthaar. Es waren seine Augen. Sie wirkten schwarz wie zwei polierte Onyxe. Als hätte man einer Puppe jene Steine eingesetzt anstelle von treu blickenden Glasaugen. Clarence hatte erwähnt, dass die Augäpfel von Sehern eingefärbt wurden um sie für Außenstehende als das zu kennzeichnen was sie waren. Und sicherlich hatte Matthew sich das halbwegs vorstellen können… in der Realität allerdings war der Anblick - selbst geblendet von der Sonne - verflucht unheimlich.
Einen winzigen Moment schwieg Cassiel und blickte zu dem Kerl auf, dem sein Mann sein Leben anvertraute.
„Nah. Ich habs nicht so gern anonym. Bevor ich dich und Blondie durch die Walachei kutschiere würd ich gern wissen mit wem ich das Vergnügen habe.“ - seiner Stimme hörte man sein Unbehagen nicht an sondern es klang, als würde der Kerl auf der Kiste rein gar nichts ungewöhnliches an sich haben. Auch den Namen des Fremden wusste er natürlich, aber Matthew konnte es nicht gut leiden überrumpelt zu werden.
Kein bisschen sogar.
Aber hier waren sie nun alle drei und steckten in dieser misslichen Situation fest. Er unterdrückte den Impuls unbehaglich hin und her zu rutschen oder den Blick abzuwenden. Letzteres war der Kerl sicher gewohnt aber Matt hielt den Augenkontakt aufrecht.
„Ich mach sogar den Anfang. Mein Name ist Matthew - ich schätze das weißt du, aber nichts geht über eine persönliche Vorstellung finde ich.“ - vielleicht war der Typ okay. Vielleicht war er loyal. Vielleicht waren er und Addy sowas wie best buddies - aber für Matthew war er ein Fremder den kennenzulernen unter keinem sehr guten Stern stand.
„Ich bin eigentlich nur hier, weil ich muss. Und mit hier meine ich, hier auf diesem Karren, mit dir. Für gewöhnlich traue ich Leuten nicht, von denen behauptet wird sie wüssten oder sehen mehr als andere. Aber ich traue Clarence und der traut dir.“, er kniff die Augen etwas zusammen wegen dem vermaledeiten Sonnenlicht und taxierte den Fremden.
Warum sollte er etwas anderes als die reine Wahrheit sagen? Es wäre heuchlerisch so zutun als würde er sich über ihr Kennenlernen freuen - nicht weil er glaubte der Kerl sei nicht ok, vermutlich war er das, aber die Umstände machten alles verkrampft und hässlich und unsagbar unangenehm. Und wenn es unangenehm für ihn war, dann konnte es das auch für die anderen zwei sein.
Noch immer musterte Cassiel ihn und versuchte an der Mimik des Anderen zu erkennen ob dieser schon irgendetwas sah. Aber genauso hätte er einem Opossum ins Gesicht schauen können um zu erfahren ob es tot war oder nur tot spielte.
Blondie nannte Cassie ihn zum Auftakt seines Monologes. Ein Kosename, der zumeist nur unter vier Augen Nutzung fand und der lediglich dann von seinem Mann vor anderen verwendet wurde, wenn er es nicht bleiben lassen konnte auch noch einen kleinen Seitenhieb in seine Richtung zu verteilen.
Es hatte eine Zeit gegeben – und die war noch gar nicht so lange her – da hatte Matthew mit ihm genauso geredet wie er es nun mit Oliver tat. Das Déjà-vu, welches damit einher ging, zeigte Clarence einmal mehr wie sehr sich seitdem der Umgang zwischen ihnen gewandelt hatte. Aber es zeigte ihm auch auf, wie gut sie einander mittlerweile kannten. Weit über Floskeln, über kleine Sticheleien und den üblichen zwischenmenschlichen Umgang hinaus.
Wie ein kleiner überraschter Kanarienvogel saß er da, den man überrumpelt hatte und der daraufhin anfing wild herum zu schnattern, weil die Gitter seines Käfigs eine einfache Flucht nicht zuließen. Das lose Mundwerk, das Clarence früher als übermutige Furchtlosigkeit empfunden hatte, war Cassie auch trotz Ehe geblieben, selbst wenn sein Ehemann schon lange nicht mehr das Ziel jener oftmals spitzen Worte abbildete. Genauso charmant und liebenswert wie Cassie sein konnte wenn es um etwas ging oder er etwas wollte – Liv jedenfalls hatte Matthew nach seiner Ankunft Claire gegenüber als sehr höflich und sympathisch beschrieben – so konnte er auch austeilen. Konnte sich verteidigen oder jemand anderen in seine Schranken weisen. Konnte machen, dass man sich von Matthew entweder umschmeichelt oder taxiert fühlte. Zweifelsohne wollte er Oliver keinen Raum geben um sich selbst durch ihn unwohl zu fühlen oder den Anschein erwecken, er habe vor dem Seher etwas zu befürchten. Doch selbst Clarence, der tagtäglich das haltlose Geschwätze des Jüngeren gewöhnt war wenn sie auf Wanderschaft waren, fiel das informationsgeschwängerte Schnattern heute auf. Ein Umstand, von dem er nicht wusste adäquat darauf zu reagieren – immerhin war die momentane Situation alles andere als entspannt oder unterhaltsam. Auf der anderen Seite aber gab es zweifelsohne gute Gründe wegen denen er sich schon früh zu Matthew hingezogen gefühlt hatte und zwei davon waren sicherlich auch das lose Mundwerk des Jüngeren und seine Dickköpfigkeit.
Eben jener machte die Begebenheiten ihres heutigen Treffens mehr als deutlich und was wirken mochte als würde Cassie mit der Tür ins Haus fallen oder als wäre er unhöflich dem Seher gegenüber, war im Grunde genommen vielleicht genau das Richtige um aufzuzeigen, dass sie nichts zu verbergen hatten. Am Ende des Tages konnte keiner von ihnen sagen welche Dinge genau Oliver sah und welche nicht und das Treffen mit einer Lüge zu eröffnen mochte in den Augen des Glatzkopfes vielleicht aussehen, als hätten sie mehr Dinge zu verschleiern als sie vorgegeben hatten.
„Matthew also“, wiederholte der junge Mann über ihnen monoton, der während der Vorstellung des Unbekannten zum Teil zwischen ihnen umher gesehen hatte, bevor er schließlich den Blick abwendete und ihn über die Straße vor ihnen gleiten ließ. Am Rande der Siedlung, fernab des zerfallenen Dorfplatzes und wieder näher an der unberührten Schneelandschaft zwischen der Stadt und Merton, wirkte das Dorf fast schon wieder einladend. Aber Clarence sah an der Art wie die braunen Iriden durch das tiefe Schwarz hinweg schwammen, dass es nicht der schöne jungfräuliche Schnee war, den Oliver sich betrachtete. „Ich sagte, du sollst fahren. Meinen Namen hat dir…“ – Eindeutig lag dem Kerl etwas auf der Zunge, eine Äußerung von der er widerwillig überlegte sie sich zu verkneifen, kaum dass er zurück auf den Schamanen blickte und dessen entsetztes Antlitz sah. Leider blieb sein kurzes Hadern ohne Erfolg. „…Blondie sicher mitgeteilt. Der Weg ist lang und manche Ohren hören mehr als man denkt. Wir werden irgendwo halten müssen, wo wir weit genug vom Rest weg sind. Also fahr.“
Eine kurze Stille legte sich zwischen sie, unterbrochen nur vom Scharren und Knarren des alten Scheunentores, das von den Helfern zurück in seine Schlösser befördert wurde, nun wo die Waren auf dem Karren verladen worden waren. Per se hatte Oliver nicht unrecht – immerhin waren sie schon lang genug unterwegs und würden bei ihrem Glück auch erst am späten Nachmittag wieder ankommen, erneut durchgefroren bis auf die Knochen. Aber wo er zwischendrin eine Rast einlegen wollte, erschloss sich ihm nicht. Ein Umstand, den man aber vielleicht besser nicht hitzig vor all den fremden Ohren ausdiskutierte, sondern auf dem Weg außerhalb der Siedlung
„Fahr einfach“, wies Clarence schließlich nach kurzem Zögern an seinen Mann gewandt an, dem er beschwichtigend eine Hand aufs Knie gelegt hatte, ohne es selbst zu merken. Aber vielleicht hatte er das auch nur getan, um seine eigenen Nerven nach dem Vorwurf des Jüngeren wieder etwas zu beruhigen.
„Matthew also…“, echote es von oben herab… als hätte dieser Typ das nicht schon vorher gewusst. Cassie, der tatsächlich kurz davor stand mit den Augen zu rollen gefiel der Ton des Fremden ganz und gar nicht - weil er sich unberechtigterweise so anhörte als hätte er ihm irgendetwas zu befehlen.
Wer sich bemerkbar machte in dem er nur ein einziges Wort anwies und wer dann noch nicht mal den Anstand besaß sich vorzustellen, der hatte bei Matthew naturgemäß schon keinen Stein im Brett.
Vielleicht war das Gebaren des Sehers auch ein typisches Jäger-Ding, raue Schale, weicher Kern… Blabla.
Auch Clarence war bei ihrem ersten Aufeinandertreffen eher reserviert gewesen und Adrianna regelrecht unterschwellig feindselig.
Nur Cameron die Elster Barclay war aus anderem Holz geschnitzt und Matthew stellte gedanklich fest, dass es der verfickten Jägerzunft besser zu Gesicht stünde mehr Leute wie Cam anzuheuern.
Aber das half ihm jetzt auch nicht weiter.
Ungerührt blickte Cassie zu dem Fremden empor und verzog noch nicht einmal hauchzart seine Miene als der Kerl seinen Mann ebenfalls Blondie nannte. Unter anderen Umständen hätte ihn das eventuell vielleicht amüsiert. Nicht so heute.
Und als sei jener Mensch darauf erpicht, dass Matt ihn gleich hier und jetzt beleidigte um ein Handgemenge zu provozieren - selbiges schaffte er zuverlässig - in dessen Verlauf dem Typen vielleicht die Nase gebrochen werden würde, blieb er bei der dreisten Forderung und setzte noch das Wörtchen also davor um seiner Anweisung mehr Nachdruck zu verleihen. „Also fahr.“
Mit wachen und taxierenden Augen musterte Matthew den Sitzenden und wog ab wie sehr er das Fass zum Überlaufen bringen sollte.
Er war hier, weil sein Mann ihn darum gebeten hatte - soweit so gut. Aber er war ganz bestimmt nicht hier damit ein unhöflicher Penner ihn herumkommandierte.
„Wow.“, jetzt zeigte er ein freudloses Lächeln und in seine Augen war ein herausfordernder, ketzerischer Ausdruck getreten der ganz ohne Worte verriet, dass Matthew einer Eskalation nicht abgeneigt war, sie sogar suchte wenn der Kerl nicht einen Gang runter schaltete.
„Kaum vorstellbar aber der Tag könnte noch schlechter werden.“, verkündete er sonnig. Der Subtext - gar nicht mal so versteckt - war jedoch durchaus als Drohung zu interpretieren und lautete:
Ich sorge dafür, dass es ein richtig hässlicherTag wird. Bestimmt auch hässlich für mich aber auf jeden Fall hässlich für dich.
Wenn Matthew auf eine Sache allergisch reagierte, dann darauf bevormundet oder angewiesen zu werden.
Der Fremde genoss weder sein Vertrauen noch seinen Respekt nur weil er beides von Clarence hatte.
Diese Art der Vorschusslorbeeren gab es nicht.
Es war einzig dem Einlenken seines Mannes zu verdanken, dass die Situation zwischen Oliver und Matthew nicht direkt zu Anfang völlig kippte.
Beschwichtigend legte der Blonde seine Hand auf Matthews Knie und blickte ihn an, wobei es einen Moment brauchte bevor auch Cassie ihn ansah. Die Worte Fahr einfach waren im Grunde genommen ebenso eine Forderung wie von Seiten des Typen hinter ihnen. Doch der Unterschied lag darin, dass Clarence ihn anweisen durfte - immerhin standen sie sich näher als nah und zweitens klang es mehr nach einer Bitte.
Kurz zögerte der Dunkelhaarige noch, suchte in Clarence‘ Gesicht eine Antwort auf die unausgesprochene aber unausweichliche Frage danach, warum Oliver eine Pause machen wollte.
Eine Pause hieß doch, dass er etwas sah. Denn würde er nichts sehen, dann würde er einfach sagen das alles einwandfrei war - und damit gut. Kein Anlass irgendwo anzuhalten weil es nichts zu besprechen gab.
Doch im Gesicht seines Mannes stand keine Antwort geschrieben und letzten Endes war es jetzt ja sowieso zu spät, oder?
Mit einem unvermittelten Schnalzen und einem starken Wink mit den Zügeln veranlasste er die Ochsen dazu sich plötzlich und ruckartig in Bewegung zu setzen, was den ungebetenen Passagier kurz aus dem Gleichgewicht brachte. Und fast wäre ihm dabei ein ganz besonderer Coup gelungen und der Kerl wäre von seiner Kiste abgeschmiert und zwischen die restliche Fracht gerutscht.
‚Verdammt!‘ dachte er ‚Nächstes Mal dann.‘ er schmunzelte schadenfroh und lenkte die Ochsen über den Markt, wobei das Geruckel ihm eine tiefgreifende Genugtuung verschaffte in dem Wissen, wie unbequem es ihr Passagier haben musste.
Als das Kopfsteinpflaster schließlich durch den matschigen Feldweg abgelöst wurde und die Zivilisation von Merton damit allmählich hinter ihnen lag, ließ Matt die ersten fünfzehn Minuten ihres Weges kaum eine Unebenheit im Boden aus, durch die er den Karren nicht aus Versehen lenkte. Irgendwann jedoch verstärkte sich der Druck auf seinem Knie deutlich und sein Blick wanderte neben sich zu Clarence welcher keine Miene verzog. Der Blonde hätte ihm offen sagen können aufzuhören jedes Schlagloch zu suchen - aber stattdessen schaute er vollkommen neutral auf den Weg und würde seine Hand nicht unsichtbar den Druck erhöhen, Matthew hätte überhaupt nichts von dem Signal aufzuhören mitbekommen.
Aber sein Mann hatte genug - und zum Glück für den Blondschopf bestand sein zweites unbestreitbares Talent darin, Matthew zu beschwichtigen, ihn für sich zu gewinnen und ihn spüren zu machen, dass sie beide zusammengehörten. Deshalb hörte Matthew schließlich damit auf, auf passiv-aggressive Weise gegen den Fremden vorzugehen in der Hoffnung er möge entweder von seiner blöde Kiste rutschen oder zumindest Schwielen am Arsch kriegen.
Stattdessen nahm er für einen kurzen Moment die Zügel in eine Hand und legte die andere über die seines Mannes auf seinem Knie.
Er tätschelte die Pranke ein paar mal still und ohne ihn anzusehen, ihm signalisierend, dass er verstanden hatte und das er - egal wie sehr ihn die Situation stresste - noch immer mit an Bord bei dieser beschissenen Idee war.
Was es ihm bedeutete Matthew an seiner Seite zu haben, würde der blonde Jäger wohl niemals mit gottgegebenen Worten beschreiben können. Denn das, was er für den jungen Mann an seiner Seite empfand, ging über bloße Verbundenheit und Zuneigung viel weiter hinaus.
Vielleicht war es nur Verliebtheit, die er zuvor noch nie in einem derartigen Umfang empfunden hatte oder einfach nur das erfüllende Gefühl nach all den Jahren der Einsamkeit nicht mehr alleine auf der Welt zu sein. Doch das wagte Clarence zu bezweifeln, vor allem in jenem Moment da sich die Hand des Jüngeren über seine legte um ihn still zu tätscheln. Ganz wortlos und beinahe beiläufig – und der Bär wusste, dass es viel mehr war als nur eine bloße Geste der Aufmerksamkeit.
In bloßen Berührungen konnten ganze Welten an Informationen liegen und so wie Matthew es mit den Monaten geschafft hatte den Bären und die feinen Nuancen seines Brummens zu interpretieren, so war auch sein Ehemann für Clarence oftmals wie ein offenes Buch. Ganz zweifelsohne – so fühlte es sich jedenfalls an – verstand er an vielen Tagen den Jüngeren sogar besser als sich selbst und manchmal war ihm, als sei Cassie ein großer Teil seiner selbst, der dem Christen so lange gefehlt hatte.
Mit Cassie fühlte er sich unglaublich heil und die Dinge, mit denen er einst im Unreinen gewesen war, fühlten sich seltsam unbedeutend an. Wie eine Wunde, die ihm lange Zeit Last bereitet hatte und die plötzlich von einem Tag auf den anderen in den Hintergrund rückte, weil sich über Nacht Schorf auf die tiefe Verletzung gelegt hatte. Eines Tages würde von den einstigen tiefen Kerben und Verlusten in seinem Leben nichts mehr übrig bleiben als helle Narben, verheilt und verblasst im Angesicht des langen und erfüllenden Lebens, das er mit seinem Mann geführt haben würde… und all die Dinge, die einstmals geschehen waren, würden nicht mehr sein als der kurze Auftakt aus einem der Bücher, die Cassie ihm vorgelesen hatte. Wichtig um die Geschichte zu verstehen – aber vergessen und verblasst im Angesicht all der erfüllenden Abenteuer, die danach geschehen waren.
Offen musterte Clarence seinen Nebenmann während dieser ihn tätschelte. Er sah gut aus, die Zügel in einer Hand und mit stolz erhobenem Blick auf die weiße Landschaft vor ihnen. Stolz und ein bisschen zu aufbegehrend für einen Mann in seiner Lage, aber eben jene Dickköpfigkeit hatte den Jüngeren schon oft dazu gebracht, sich mit purer Willenskraft aus den unmöglichsten Situationen zu befreien. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ihm die oftmals freche und aufmüpfige Seite des Dunkelhaarigen missfiel, auch wenn er niemals offen dazu beitragen würde ihn in diesem Gebaren zu unterstützen. Und doch reichte ein einfaches Drücken des fremden Knies und ein einfaches Tätscheln aus, damit der Karren allmählich wie von Zauberhand viel sanfter fuhr… weil in einer einfachen Geste von ihnen ganze Gespräche, ganze Welten lagen, aus der sie andere auszuschließen wussten und die ihnen beiden ganz alleine gehörten.
Still fing Clarence mit dem Daumen einige der fremden Finger auf sich ein, kaum dass die sich ein letztes Mal über ihn legten, und hob dabei die Hand des Jüngeren an seine Lippen, um ihm einen kurzen Kuss auf selbige zu hauchen. Egal was Oliver auf seinem Mann sehen würde oder auch nicht, am Ende war es nicht der Glatzköpfige den es zu beschwichtigen galt, sondern sein Mann um den er sich sorgte. Darum, ob etwas Nachhaltiges nicht mit ihm in Ordnung war oder es etwas gab, das den Frieden ihrer kommenden Jahre in Bedrängnis bringen würde. Selbst wenn Oliver auf ihm etwas sehen würde, das ihn so sehr beunruhige dass er sofortige Vorsichtsmaßnahmen einzuleiten gedachte, war es nicht die Aufruhr im Clan, die Clarence fürchtete. So weit gedachte er es nämlich kaum kommen zu lassen, ganz gleich in welche Bredouille es sie bringen würde ohne den Seher in die Stadt zurück zu kehren.
„Fahr da vorne rechts ran. Hier ist es so gut wie überall anders auch“, durchbrach die Stimme Hazels plötzlich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder die Stille, gefolgt von sanftem Druck auf seiner Schulter, und machte, dass der Blonde abermals unmerklich zusammenfuhr. Dass er ihm eine Zigarette entgegen hielt – ob als Friedensangebot oder zur Beruhigung vor dem anbrechenden Untergang, wusste er dabei nicht zu sagen – machte es nicht besser. Wenn dieser Typ ein Talent hatte, dann war es Clarence kalt zu erwischen, vor allem nach einer schier ewig anmutenden stillen Fahrt durch weiße Schneehölle. Er hatte diesen Winter wirklich satt.
Es dauerte noch einen Moment bis sie zum Stehen kamen, doch kaum so geschehen war es schließlich Clarence, welcher als erster vom Karren stieg. Die Zigarette in seinem Mundwinkel tat zwar gut, aber nicht so gut wie ein deutlich kräftigerer Tee mit Rum es getan hätte, wenn sie denn noch welchen hätten. Das vermaledeite Pack in Merton hätte die Kanne aber auch ruhig wieder auffüllen können.
„Also“, begann der Blonde schließlich, zu Oliver empor blickend welcher noch immer auf seiner Kiste saß. Ob der Eintopf in ihm arbeitete und ihm nicht gut tat oder ob sein Magen damit begann ihm vor Aufregung schwer im Bauch zu liegen, konnte Claire nicht mit Sicherheit sagen – aber schlagartig fühlte er sich deutlich elender als auf der Hinfahrt. Vielleicht lag das aber auch nur an Matthews wildem Fahrstil. Oder daran wie Oliver ihn mit seinen tiefschwarzen Augen taxierte. Eine Geste, die Unbehagen in ihm auslöste das wuchst, je länger Hazel ihn schweigend musterte und damit immer mal wieder mit seinen Blicken abschweifte - still Dingen folgend die er sah und die sich zweifelsohne der Wahrnehmung seiner Umwelt entzog.
„Was Blondie wissen will… das weiß ich. Aber was will Matthew wissen, frage ich mich“, setzte der Glatzkopf schließlich ruhig an, an seiner Zigarette ziehend und den Blonden taxierend. Clarence hörte ihm an, dass die indirekte Frage nicht an ihn gestellt war, obwohl Oli ihn betrachtete – aber das waren feine Nuancen die man zu interpretieren lernte, wenn man den jungen Seher bereits eine Weile kannte.
Stillen Spuren folgend, war es schließlich der Dunkelhaarige auf den sich die Aufmerksamkeit des Sehers legte; in Oliver lag eine Ruhe die Clarence nicht gefiel und er konnte dabei nicht mal sagen warum das so war.
„Jemand, der nicht freiwillig hier ist und vielleicht gar nicht wissen will, was um ihn herum geschieht. Oder der vielleicht gar nicht will, dass Blondie es weiß.“
Zwischen Clarence und Matthew… zwischen ihnen beiden gab es eine Verbindung, die über alles erhaben war.
Selbst über die Sorgen der nahen Zukunft.
Ob das bei allen Paaren so war, wusste Matthew nicht - aber er wusste, dass er sowas vor Clarence nie gefühlt hatte.
Das allumfassende Gefühl richtig zu sein. Am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, in der richtigen Gesellschaft.
Sie hatten sich damals in der Kirche von Coral Valley mehr versprochen als nur das Glück oder Unglück miteinander zu teilen. Allein das wäre schon bemerkenswert gewesen - aber es war nicht die Quintessenz ihrer Beziehung.
Die Quintessenz war… Matthew dachte darüber nach, mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen während er weiter nach vorne auf die Straße blickte. Sein Handrücken kribbelte noch von dem liebevollen Kuss des Bären und die feinen Härchen in seinem Nacken hatten sich unsichtbar aufgerichtet.
‚Die Quintessenz ist irgendeine Art von Magie. Die von der guten Sorte.‘ Dachte er seinen Gedanken zu Ende und glaubte, dass er damit richtig lag. Sie hatten etwas das sie verband und das ging über ein Gelübde oder einen Treueschwur hinaus.
Noch ein paar Minuten lenkte er den Wagen schweigend durch den Schnee wobei er die Zügel wieder in beide Hände genommen hatte.
Verhaltener Schneefall hatte eingesetzt als die Stimme des ungebetenen Fremden von hinten ertönte und verfügte - zu etwas anderem schien der Kerl nicht befähigt zu sein - dass Matthew ein paar Meter weiter anhalten sollte.
‚Fick dich.‘, dachte er gallig - aber Clarence zu Liebe sagte er das nicht sondern lenkte den Wagen rechts an die Seite.
Der Weg war breit genug falls andere Unglückselige hier vorbeikamen und gleichzeitig beidseits flankiert von Wald.
Dort wo er schließlich hielt gab es zu ihrer Rechten einen kleinen Wall sodass der Wind hier weniger Schnee hingeweht hatte als ein paar Meter weiter oder auf der gegenüberliegenden Seite.
Bis auf das Schnaufen der Ochsen und das Ächzen der Bäume unter der Schneelast, war es vollkommen still.
Bis Clarence schließlich vom Karren stieg - die Zigarette die der Glatzköpfige ihm angeboten hatte rauchend - und mit einem schlichten „Also“ alles ausdrückte was es im Moment auszudrücken gab.
Der Kerl an den die Frage gerichtet war machte sich aber nicht die Mühe freiheraus zu antworten. Seine Erwiderung war stattdessen mehr eine Gegenfrage und irgendwie auch eine Unterstellung und Matthew konnte beides nicht leiden.
„Nenn ihn nicht so.“, zischte er missfällig als Oliver seinen Mann Blondie nannte. Aber ebensowenig wie vorhin schenkte der Typ Matthew auch jetzt keine wirkliche Beachtung. Als er Clarence wieder bei seinem Spitznamen nannte hatte Matt genug und stand von seinem Platz auf. Jetzt war er es, der den Kerl überragte und auf ihn heruntersah und er war ihm so nahe gekommen, dass es durchaus bedrohlich wirkte.
Die Bewegung mit der er aufgestanden und sich umgedreht hatte war schnell und geschmeidig gewesen und hatte dem Anderen - sollte er denn gewollt haben - keine Chance gelassen zurückzuweichen.
„Für wen genau hältst du dich, hm?“, Oliver hatte den Kopf etwas in den Nacken gelegt und blickte zu ihm auf. Seine schwarzen Augen mochten andere einschüchtern, Cassie nicht. Cassie hatte weitaus bedrohlichere Dinge gesehen als Oliver. Letzterer schwieg derweil stoisch, woraufhin Matthew weitersprach.
„Ich sag dir wofür ich dich halte, Zuckerschnäuzchen. Du bist ein eingebildetes Arschloch das sich für so besonders hält, dass es selbst die einfachsten Höflichkeitsfloskeln nicht nötig hat. Aber jetzt hab ich eine Neuigkeit für dich: Höflichkeit ist das verfickte Mindestmaß an Unaufrichtigkeit das ich erstmal von jedem verlange.“
Nun erhob sich der Kerl der unerheblich größer war als Matt, was diesen nicht daran hinderte seine Stellung zu halten.
Sollte das hier in ein Handgemenge ausarten würde Cassie sicher nicht den Schwanz einziehen.
„Mir ist scheißegal ob du das kannst, was Clarence und dein Clan glaubt oder ob du nur Scharade spielst. Aber sei dir sicher, dass ich keine Psychospiele mit dir spielen werde. Dieser Mann da unten ist der einzige Grund warum ich hier bin, hast du verstanden?“
Er nahm an, dass der Kerl das hatte. Noch immer schwieg Oliver und es machte den Eindruck als sei die ganze Sache nur einen Tropfen vor der Eskalation.
„Wenn du nochmal andeutest ich könnte ihm gegenüber unehrlich oder nicht offen sein, dann werden wir zwei einen echt beschissenen Tag haben. Comprende?“
Einen Moment lang schwiegen sich beide nun an, beide einander taxierend wie Wölfe von denen keiner zurückweichen wollte. Es war das Glück aller Beteiligten, dass Oliver darauf verzichtete etwas provokantes zu erwidern, sodass Matt schließlich etwas zurückwich, vom Karren sprang und kurz im Halbkreis um selbigen lief.
Die frische Luft, der Abstand und die Bewegung machten, dass er sich wieder etwas entspannte. Himmelherrgott, eines Tages brachte sein Temperament ihn noch um.
„Also?“ wiederholte Matthew schließlich die Frage seines Mannes. Oliver war unterdessen ebenso von dem Karren gestiegen und hatte den undeutbaren Blick auf ihr Umland gerichtet. Als würde er mehr sehen als Schnee und Bäume.
„Clarence hat dir gesagt was er glaubt. Ich glaube…“ gar nichts wollte er sagen, aber das stimmte nicht ganz. Nicht seit Ceyda.
„…ich weiß nicht was ich glauben soll.“, räumte er deshalb nach kurzem Zögern wahrheitsgemäß ein und betrachtete den Fremden ohne erkennbare Scheu oder Unbehagen.
„Wenn es stimmt, dass du Dinge sehen kannst die anderen verborgen bleiben, dann solltest du längst wissen was ich will. Ich will wissen ob Clarence recht hat oder sich irrt.“
Wild und unbändig flimmerte die kalte Luft um den Dunkelhaarigen herum. Wie über einem Häufchen Glut, in dem noch immer Hitze loderte und das bereit war zu einem Feuer entfacht zu werden, wenn man es darauf anlegte. Dass seine Worte Benzin waren, das sich triefend über eben jene Glut ergoss, hätte Oliver auch erkannt ohne mit den Augen eines Sehers gesegnet zu sein. Und doch fuhr er die tanzenden Schichten des anderen entlang. Schillernd wie die Flügel einer Libelle das dunkle Tannengrün hinter sich brechend. Den Schnee verbergend. Das Eis zu fließendem Gold schmelzend.
Konturen, zerfließend wie metallische Farbe in Öl, brachen sich in ihrer Umwelt, brandeten um den jungen Mann umher und hüllten ihn in einen Kokon aus Farben und Formen, während er sich vor Oliver erhob und erbost auf ihn einsprach. Unmerklich zuckten seine Mundwinkel – nicht mehr als ein kurzer Schatten, der genauso gut eine erschrockene Reaktion auf das plötzliche Aufbauen des Fremden sein mochte. Nicht mehr als ein Hauch, der Erheiterung über das Aufbrechen des anderen ausdrückte. Nicht mehr als ein Schauern ob der Kälte, die über ihnen und zwischen ihnen lag. Und doch spürte Oliver auf seinen Skleren die Wärme des Flimmerns das auf Matthew lag und in dessen Kaskaden die Leidenschaft, die seine Glut in Wallungen verssetzte.
In seinen kandisfarbenen Iriden lag ein Selbstverständnis und eine Härte, die Oliver nicht oft beim ersten Aufeinandertreffen bei anderen erblickte. Es war eine ähnlich schroffer Anblick wie er ihn manchmal noch in Adrianna erkannte, wenn er sie dabei beobachtete auf Fremde zuzugehen. Verteidigend. Selbstverliebt. Zweifelnd. Offenbarend.
Wusste dieser Mann, was er alles über sich verriet ohne es zu verraten?
Aber wer wusste schon überhaupt, was man über sich selbst verriet, wenn man doch umso mehr versuchte im Verborgenen zu bleiben?
Ruhig zog Oliver an seiner Zigarette, mittlerweile selbst vom Karren hinab gestiegen und seine gute Kiste sich selbst und der restlichen Fracht überlassend. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich einen Wagen in Merton geliehen und wäre selbst schon am frühen Morgen zurück in die Stadt gefahren. Stattdessen war er nun hier in der Kälte, zwischen Ochsen und Bäumen und zwei Männern, die ihm nicht geheuer waren. Der eine angespannt und geladen bis unter die Ohrläppchen. Der andere ein Mörder, dessen Vergehen geduldet und an der großen Tafel totgeschwiegen wurde, weil Mo’Ann stattdessen wasauchimmer mit ihm in der Bibliothek auszudiskutieren hatte. Längst könnte er Zuhause sein. Bei den Kindern, bei Daisy.
Stattdessen war er hier. Mit dem axtschwingenden Geladenen und dem mörderischen Fanatist.
Was ein Montag.
„Temperamentvoll, dein Matthew“, war schließlich das Erste was ihm über die Lippen kam, bevor er nochmals einen Zug nahm und seinen Blick über den umliegenden Wald schweifen ließ. Still floss dunkles Holz ineinander, zerlief in schwarzer Wurzelmasse und spaltete sich in dunklen Pulsationen auf, wann immer er dahinter einen Herzschlag erhaschte. Heller. Dunkler. Kräftiger. Leiser. Unbedeutend. Kalt.
Warm. Laut. Ochsen. Es. Menschen. Flimmern. Er. Es. Gold. Matthew Sky.
„Hat Addy wohl vergessen zu erwähnen. Da war die reißerische Geschichte mit der Axt einfach spannender.“ – Nicht, dass er sich gerne anhörte wie man seine Freundin einen Arm kürzer machte. Oder dass Adrianna sich tatsächlich noch an vieles vom Absturz erinnert hätte. Aber diesen Kerl da, den hatte sie dennoch in höchsten Tönen gelobt. Ganz ohne wilde Geschichten über fragliche Dinge, die eventuell vielleicht jemand mit seinen Augen erhascht haben mochte. Und die man rein sicherheitshalber abgeklärt haben wolle.
Über die glimmende Glut seiner Zigarette hinweg blickte er hinüber zu Clarence, dessen Abbild sich verlief wie kalte Ölfarbe unter warmem Terpentin. Geschmeidig, bedrohlich – und unzweifelhaft dem schwachen Flimmern entgegen, in dessen Rhythmus jene Konturen sanft pulsierten, die Oliver unweigerlich an jemand anderen erinnerten.
„Clarence…“, wiederholte er schließlich zur Güte - anstelle des lieb gewonnenen neuen Spitznamens für Sky – und ließ es sich dabei nicht nehmen mit dem Blick den zarten Auswüchsen zu folgen, die sich wie zäher Honig aus dem warmen Flimmern ergossen. „Clarence glaubt an vieles. Und sieht oft noch mehr als er glaubt. Und manchmal hofft er auf Dinge, die gar nicht da sind. Aber am liebsten ignoriert er das, was offensichtlich ist. Das liegt in seiner Natu-“ - „Meine Natur ist aber nicht das, was uns hierher führt“, unterbrach der Blonde ihn mit einem unmerklichen Nicken gen Matthew.
„Nein… mhh, nein, natürlich ist sie das nicht. Sondern seine ist es. Und die von Matthew.“ Ein undeutbares Schmunzeln legte sich schließlich über Olivers Lippen, unter dem er kopfschüttelnd den Rest seiner Zigarette vor sich in den Schnee warf, wo die Glut mit einem leisen Zischen erstarb. „Und was genau ist es, das dich und Clarence ins schöne Merton zu mir führt? Ich vermute nicht, dass…“
Zögerlich musterte er den Dunkelhaarigen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Unter dem dumpfen Knarzen einer unberührten Schneedecke hatte er sich mit langsamen Schritten in Bewegung gesetzt, den wohl etwa Gleichaltrigen umkreisend, um sich das Elend auch aus einem anderen Winkel betrachten zu können. „Ich vermute nicht, dass ein Kribbeln in den Haarspitzen oder eine juckende Narbe einen Seher nötig machen. Oder dass so offensichtliche Dinge wie ein bisschen Hokuspokus nicht von einem Jäger wie… deinem Mann behoben werden könnten.“
Aufmerksamkeit war etwas das man dem Jungen der Cassie einst gewesen war, früh eingetrichtert hatte. Er hatte aufmerksam sein müssen schon lange bevor der gütige Mann ihn abgeholt hatte.
Die Männer seiner Mutter waren allesamt Arschlöcher gewesen, manche hatten sich früher oder später offenbart - aber letzten Endes war es immer darauf hinausgelaufen, dass er und David höllisch aufgepasst hatten sie nicht zu verärgern.
Und das war manchmal verdammt schnell gegangen. Manchmal hatte es sogar gereicht, dass sie da waren.
Die Eigenschaft misstrauisch und vorsichtig zu sein, war Matthew also quasi in die Wiege gelegt worden und zugleich hatte sich eine weitere - in dem Zusammenhang bemerkenswerte - Eigenschaft herausgebildet.
Trotziger Mut, gepaart mit unerschütterlichem Lebenswillen. Es wäre um ein Vielfaches wahrscheinlicher gewesen hätte sich aus dem misshandelten Jungen ein scheuer, unsicherer Mann entwickelt. Einer von der Sorte der lieber still war, den Blick gesenkt hielt, versuchte niemals aufzufallen und niemals anzuecken. Mehr ein huschender Schatten als ein aufrechter Mann.
Und doch war das Gegenteil eingetreten. Jener Trotz und Mut waren es, den Oliver in den dunklen Iriden Matthews wahrnahm. Der junge Mann hatte Angst, dies war ebenso offensichtlich wie der lautlose Schneefall um sie herum. Aber Matthew weigerte sich, sich von jener Angst übermannen zu lassen. Er weigerte sich deshalb, weil er wusste es würde ihn angreifbar machen. Noch mehr als er es ohnehin schon war.
Oliver hatte eine Art ihn zu mustern, wie ihn noch nie jemand gemustert hatte. Irgendwie war es so als würde der Glatzköpfige gar nicht ihn direkt ansehen sondern immer haarscharf an ihm vorbei. Seine schwarzen Augen machten die Bewegung seiner Pupillen fast unsichtbar, aber wenn man ganz genau hinsah, dann konnte man erkennen, dass sein Blick rastlos hin und her schweifte.
‚Seine ist es. Und die von Matthew…‘ echote es in Cassies Kopf und er presste die Lippen aufeinander. Er hatte den Impuls zurückzuweichen aber er widerstand ihm.
Stattdessen musterte er den Seher und wog für einen Moment ganz genau ab was er ihm sagen sollte.
„Ins schöne Merton. Die schönen Seiten des Kaffs wurden mir bisher vorenthalten.“
Aber das tat nichts zu Sache, oder? Um Merton ging es nicht. Um Clarence ging es nicht.
Es ging um ihn.
Und um ihn selbst.
Die schwarzen Augen des Fremden tasteten an ihm entlang, fuhren über ihn hinweg wie Finger und machten, dass er sich unwohl fühlte.
Wenn er die Wahl haben würde - eine richtige Wahl - hätte er sich jetzt auf den Karren gesetzt und wäre losgefahren. Weg von den rastlosen Augen von denen er den Eindruck hatte sie körperlich zu fühlen.
Aber es würde nichts bringen wegzufahren, dafür war es nun zu spät und weil er wusste, er würde nicht ewig weglaufen können wusste er auch, dass er jetzt da durch musste.
‚The only way out is trough‘ - wer hatte das noch gleich gesagt? Roger Frost? Nein, nicht ganz aber nahe dran…‘ schließlich verwarf er den Gedanken an das Zitat und schüttelte sacht den Kopf.
„Ich…“, Matthews Stimme klang belegt und zögerlich - so sehr, dass er sich räusperte und schließlich neu anfing.
„Nachdem der Zeppelin abgestürzt war und wir Überlebenden uns sortiert hatten, haben wir begonnen im Wrack nach Verletzten zu suchen. Nach Vorräten, nach Waffen, Kleidung… alles was nützlich war. Einmal bin ich mit Ceyda in das Wrack rein.“
Er dachte zurück an Denver und an die Dinge die dort passiert waren, an die vielen Toten, an den Absturz… daran wie sie zu viert beim Frühstück gewesen waren als das Flugschiff plötzlich vom Himmel gefallen war.
Er dachte daran wie Clarence plötzlich weg war. Einfach so.
Blass geworden sah er zu dem Blonden hinüber als müsse er sich vergewissern, dass er es wirklich geschafft hatte.
„Ceyda konnte mich glaub ich nicht besonders leiden, aber wir haben uns weitestgehend in Ruhe gelassen. Wir waren beide am Fittesten also sind wir aufgebrochen in dem Wrack nach Verletzten Ausschau zu halten und da drin… da drin war es merkwürdig.“
Er zuckte die Schultern.
„Es ist nichts passiert, nichts was erklärt was später mit ihr passiert ist. Aber ich glaube trotzdem dort drinnen hat es angefangen. Danach war sie… viel allein. Hat die Einsamkeit gesucht, war abweisend.“
So viel zu Ceyda zu der er nie ein gutes Verhältnis gehabt hatte aber die ihn auch nicht hatte tot sehen wollen.
„Sie hat sich verändert. Zuerst nur in ihrem Verhalten… Aber zum Schluss…“ Hilflos suchte er erneut Clarence‘ Blick der ihm helfen sollte zu beschreiben was aus der jungen Frau geworden war.
„Zum Schluss war von ihr nichts mehr übrig. Es war als würde ihr Körper… als würde… etwas Großes in ihr sein und sie von innen heraus zerreißen. Als wäre sie… ein zu kleines Kleidungsstück. Sie ist… aufgeplatzt, ihre Augen waren schwarz… schwärzer als deine… und ihr Gesicht sah aus als würde es… schmelzen. Sie hat… vollkommen den Verstand verloren. Sie hat… immer wieder nach meinem Namen gefragt. Hysterisch und wütend.“
Angespannt und nachdenklich schwieg er nun still und musterte den Mann mit den schwarzen Augen. Er wartete darauf ob dieser bereits genug gehört hatte - aber ganz offenkundig war das nicht der Fall, weshalb Cassie schließlich weitersprach.
„Sie… ES … hat uns angegriffen. Mittlerweile war von Ceyda nichts mehr übrig, das Ding was uns attackiert hat war riesig. So riesig wie… nun… wie die Häuser der Alten. Es hat uns eingeschlossen mit… einer Art… Wall aus… was weiß ich was. Und sich selbst in einen Kokon oder dergleichen verwandelt. Es hat… weiterhin gefragt wer ich bin.“
Nun versuchte er sich an einem nervösen Lächeln aber es misslang.
„Ich habe den Wall berührt. Es tat weh. Mir aber auch ihr. Es war… merkwürdig, weil Clarence es nichts ausgemacht hat dieses Zeug anzufassen. Als ich das letzte Mal diese Wand angefasst habe… hat sie gebrannt… von einer auf die andere Sekunde hat sie Feuer gefangen. Die Barriere, die Tentakel, der Kokon… sie.. es… ist verkohlt. Sie hat geschrieen und ihr Fleisch ist… verdampft? Keine Ahnung ob man es so sagen kann aber… alles was am Ende übrig war, war schwarze Kohle die bei Berührung zu Asche zerfallen ist.“
Einen winzigen Moment zögerte er noch, dann beendete er seine Ausführung mit den Worten:
"Das war's. Mehr ist nicht passiert."
Längst schon war seine Zigarette zischend im Schnee versiegt und hatte ihren Untergang gefunden – ähnlich wie die Fremde, von deren Untergang Matthew berichtete. Von Kleidungsstücken und Zerreißen sprach er. Von Schwärze und von Schmelzen. Von Verdampfen, Hysterie und Wut.
Unruhig zuckte das Flimmern seiner Konturen. Einer Gemütslage gleich, die man weniger seinen Worten, umso mehr aber Matthews Blicken ansah. Immer wieder schaute er hilfesuchend zu seinem größeren Partner hinüber und Oliver wurde nicht müde zu erkennen, was sich so offensichtlich offenbarte wie der Schnee unter seinen Füßen kalt war.
Manchmal vergaß er wie es früher gewesen war. Als die Welt noch still gewesen war unter seinem Anblick. Als die Menschen rosig gewesen waren und Worte nichts weiter als Laute und Melodien. Als eine süße Lüge, verpackt unter einem warmen Lächeln, noch eine sichere Wahrheit gewesen war und das Spiel mit der Liebe ein aufgeregtes Fangen und Jagen. Als Schreien und Wut einem noch Angst gemacht hatte ob der Vergänglichkeit von Beziehungen und der Anblick eines anderen so langweilig wie das eigene Antlitz im Spiegel betrachten zu müssen.
Auch als er die beiden jungen Männer bereits umrundet hatte, hielten ihn seine Füße nicht vor Ort sondern trugen ihn weiter. Eingebettet in die Abdrücke seiner eigenen Schritte, waren seine Runden nicht mehr als der Hauch einer vereinzelten Wanderschaft. So wie sie alle nur der Hauch eines einzigen Lebens waren und ihre Wanderung einst ein Ende haben würde. Von den meisten von ihnen zumindest.
Noch immer wärmte seine Glut die dunklen Iriden des Jägers, der die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt. So wie man es in den Ausstellungsstätten großer Städte tat, wenn man sich davor bewahren wollte unüberlegt etwas anzufassen, von dem man besser die Finger ließ. Nicht, dass es je geschadet hätte. Nicht, dass es je mehr als eine Verbindung zwischen hier und Dort gegeben hätte als das Sehen. Nicht, dass irgendein Seher jemals etwas an Dort gerüttelt hätte.
Aber Matthew hatte es.
Hatte Es berührt und den Preis dafür gezahlt. Hatte den Wall berührt und durchbrochen und Es die Kosten dafür tragen lassen, was zwischen ihnen geschah.
Triefend zog sich mittlerweile das Gold hinüber wie filigrane Spinnenweben, an denen sich frischer Morgentau gesammelt hatte. Einer mehrgliedrigen Perlenkette gleich, die mal hier, mal dort gerissen war und ihre Einzelteile verlor. Wie flüssiges Metall verlor sie sich auf dem Schnee. Verblasste, verwehte. Verlor sich in ihre Atome und ging dorthin zurück, wo sie gekommen war. Von Dort. Reckte sich erneut aus den dunklen Konturen des Älteren dem Flimmern entgegen, während sich aus dem Flimmern goldene Fäden entsandten, um eins zu werden mit seinem Gegenpart. Vereint in Ruhe und Gleichsamkeit. Durchtrennt in Unruhe und Bewegung.
Still folgte Oliver dem güldenen Schein, der in seiner Umrundung der beiden Männer wieder in das kühle Dunkel überging, welches das Zentrum des Blonden umgab. Beruhigend und grün. Wie satte Baumwipfel über einem überschatteten Waldboden. Wie feuchtes Moos im Spätsommer. Wie die endlosen Tiefen eines feuchten Grabs im Moor.
„Sie war besessen. Länger als gut für sie war“, brach Clarence schließlich die unangenehm gewordene Stille wieder auf, nachdem Oliver nach seiner nunmehr dritten Runde vor ihnen zum Stehen gekommen war und ihn schweigend betrachtet hatte. Ihm war die hilflose Ausführung seines Mannes nicht entgangen und doch war es nicht an ihm dem Seher zu berichten, was Matthew dabei durch den Kopf- beziehungsweise in diesem Fall durch die Hände gegangen war.
Sie hatten darüber gesprochen, dann und wann. Doch die meiste Zeit – das musste Clarence zugeben – hatte er versucht zu vermeiden sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was zwischen Cassie und Ceyda geschehen sein mochte. Aber letzten Endes half es nicht, das Offensichtliche einfach zu ignorieren. Davon würde es weder aus ihrem Leben verschwinden, noch ihnen helfen – vor allem dann nicht, wenn derlei Dinge noch einmal geschehen würden… und dazu vielleicht noch in Gegenwart solcher Leute, die weit weniger verschwiegen damit umgehen würden wie er selbst oder Hazel.
„Die Dinge, die sie am Ende erschaffen hat, waren… waren anders als ihr Kern. Als hätte sie keine Energie mehr gehabt um mehr als nur eine Illusion zu erschaffen – zumindest dachte ich das, bis Matthew sie berührt hat. Vielleicht wollte sie aber auch niemanden von uns aufhalten, sondern… etwas anderes.“
Zögerlich blickte er zwischen Olivers dunklen Augen umher, so als könne er darin Antworten auf jene Fragen finden, die ihm seitdem durch den Kopf gingen. Doch er fand darin nichts anderes außer die Dunkelheit, durch die sie seit jeher beide tappten.
„Etwas anderes“, wiederholte der Kahlköpfige monoton, wonach ihm ein kurzes Schmunzeln durch die Mundwinkel zuckte. „Mag sein.“
Auf eigentümliche Weise musterte Oliver ihn bis hinab zu seinen Stiefeln, bei denen er kurz hängen blieb. Aus Gewohnheit vielleicht, weil die meisten in der Stadt ihn jahrelang nur barfuß erlebt hatten. Schließlich wanderten die tiefschwarzen Skleren wieder an ihm hinauf, über sein Antlitz hinweg und über ihn hinaus, bevor der Seher ein vages Kopfschütteln andeutete. Fast hatte er dabei etwas väterliches. Etwas, das keine Energie mehr hatte um mit seinem Zögling zu schimpfen.
Während Clarence ihm mit zusammengezogenen Brauen hinterher blickte, verständnislos über die kryptischen Blicke seines Gegenübers, legte sich Olivers tastender Blick schließlich wieder hinüber auf Matthews, dessen Wärme einen anzuziehen vermochte wie das Licht die Motte.
„Hat es gefragt wer du bist?“, legte er dabei sachte den Kopf schief und klang dabei, als hätte er bis eben alles getan außer dem Monolog des Dunkelhaarigen zuzuhören – bevor er seine Frage konkretisierte: „Oder… hat es dich gefragt, wer du bist?“
Beinahe abschätzig hob er dabei die Brauen und musterte seinen Gegenüber, ähnlich wie er es zuvor mit Clarence getan hatte.
„Oder hat es Clarence gefragt, wer du bist? – Hat es das?“, wollte er an den Blonden gewandt wissen, woraufhin eine kurze Stille entstand.
„Ich habe keinen Zweifel daran, dass es gefragt hat“, warf Claire schließlich nach kurzem Zögern ein, woraufhin Hazel abwägend den Kopf von einer Seite auf die andere wiegte.
„Aber du hast es nicht gehört. - Nur du hast es gehört. Aber wieso denkst du, dass es eine Frage an dich war? Weil deine Ohren es gehört haben? Nicht alles von Dort ist für uns bestimmt. Meistens bleiben Sie unter sich“, fasste der Seher das Offensichtliche zusammen, das sich den meisten Hier einfach nicht erschloss.
Still setzten sich seine Schritte wieder in Bewegung, während er ruhelos ein weiteres Mal seine beiden Bittsteller umrundete um sich das warme Flimmern zu betrachten, das sich um Matthew legte und alle Farben brach, die um ihn herum in ihn einströmten.
„Manchmal suchen Sie sich eine Vase um mit dem Hier in Kontakt zu treten. Das ist das, was du gesehen hast. Das ist das, was wir ‚besessen sein‘ nennen“, fasste er dem Dunkelhaarigen schließlich zusammen, was Clarence bereits wusste – und was er seinem Partner sicher bereits im Laufe der gemeinsamen Zeit vermittelt hatte. Oder auch nicht. Wer wusste das schon zu sagen.
„Manche von uns sind bessere Vasen als andere. Manche sind ein stabiles Gefäß für Sie. Andere zerbrechen unter dem Druck. Oder zerreißen… wie ein zu enges Kleidungsstück“, fasste er die Beschreibung des anderen auf, damit er besser verstand. „Aber nicht alle von Ihnen suchen sich eine Vase. Manche sind… ruhend. Oder gefangen. In Gegenständen oder Dämonenbüchsen. Waren nicht auch ein paar Jäger an Bord, von den irren Mexikanern? Die schleppen alle vier Jahre einfach alles zu uns ein, für ein bisschen Ruhm und Ehre…“
Abermals schüttelte Oliver verdrießlich mit dem Kopf und angesichts dessen, dass auch ihre Gruppe den Zeppelin nehmen wollte um zeitnah zum Hunters Chase zu gelangen, war die Theorie nicht besonders abwegig, die Hazel andeutete. Aber letztlich ging es nicht darum, welche Schmuggelware Golden Cross zu ihnen einführte. Sondern wie eben jene auf Matthew reagiert hatte.
„Wir sind vor ein paar Monaten auf Vetala getroffen. Die Umstände waren andere, aber das Ergebnis das gleiche. Verkohlt bis auf die Knochen, als wären sie verbrannt. Aber es gab kein Feuer dort wo wir waren und… die nähere Umgebung war auch nicht davon befallen“, lenkte Clarence schließlich das Thema wieder dorthin zurück, wo es im Moment hingehörte. Über mexikanische Jäger konnten sie auch auf dem Heimweg noch diskutieren.
„Und diese Vetala… wollten die auch wissen, wer du bist?“, wollte er seinerseits von Matthew erfahren, vor welchem er letztlich wieder zum Stehen kam, das warme Kandisfarben seiner Iriden musternd als könne er darin mehr erkennen als nur Sprenkel und flammenden Lebenswillen.
„Willst du denn wissen, wie die Antwort auf die Frage lautet?“
Alles an dieser Unterredung war merkwürdig. Bedrohlich. Zäh.
Unter den Blicken des Fremden fühlte Matthew sich auf eine Weise schutzlos wie er es unmöglich beschreiben könnte, aber noch immer stand er aufrecht da und folgte Oliver mit den Blicken.
Er kuschte nicht, weigerte sich irgendwie Schwäche oder Angst zu zeigen und sehnte sich doch so sehr danach den Typen wieder loszuwerden.
Es war nicht so, dass seine Musterung ihm wehtat, aber sie war irgendwie unangenehm weil sie so intensiv war und weil der Kerl so wenig sagte. Es war unbehaglich jemandem ausgesetzt zu sein der vielleicht mehr über einen selbst wusste - umso mehr, weil jener Mann ein Fremder war. Er war kein enger Freund, er war nicht Clarence. Er war ihm völlig unbekannt und doch wusste dieser Typ vielleicht worauf Clarence keine Antwort gehabt hatte. Der Blonde hatte das Thema stets gemieden und dagegen hatte Matthew auch nicht energisch etwas eingewendet - weil es leicht war die unsichtbaren Dinge auszublenden. Vielleicht war ja gar kein Problem da. Aber so lief es eben nicht.
Dass Clarence schließlich Olivers Aufmerksamkeit auf sich lenkte in dem er von Ceyda sprach und seine Mutmaßungen anstellte, war eine willkommene Rettung aus der unbehaglichen Situation. Doch der Moment war nicht von Dauer.
„Ich…Ich verstehe das alles nicht!“, entfuhr es Matthew schließlich aufgebracht. Natürlich hatte sie ihn das gefragt, wen auch sonst? Wenn Clarence es nicht gehört hatte, dann hatte das Ceyda-Ding zu ihm gesprochen. Irgendwie über Telepathie oder wie man das auch immer nannte.
„Sie hat mich gefragt. Sie hat… einfach immer wieder wissen wollen wer ich bin. Das war verrückt weil… wir uns kannten, sie meinen Namen wusste. Das kam mir gleich alles irre vor… Aber die ganze Situation war irre. Sie war durchgedreht und ich dachte, das ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass sie den Verstand verloren hat.“
Mit der Geduld eines Lehrmeisters der einem besonders begriffsstutzigen Kind eine einfache mathematische Formel erklärte, erzählte ihm Oliver nun von Vasen, Dämonenbüchsen. Dinge, mit denen Matthew sich nie beschäftigt hatte weil er vieles davon schlicht für Humbug hielt. Sollte Golden Cross eine solche Büchse mitgebracht haben, dann war diese vermutlich durch den Absturz zerstört worden und hatte in Ceyda eine nicht allzu stabile Vase gefunden.
Das klang plausibel.
Abermals suchte Matthew den Blick seines Mannes aber dieser sah Oliver an und berichtete plötzlich von einem Ereignis das deutlich weiter zurücklag. Von den Vetala. Die Erinnerung an jenes Aufeinandertreffen war glasklar und damit auch der Schmerz über den Selbstmord seines Mannes. Aber letztlich hatte der Tod sie gerettet - ‚Klingt wie etwas, dass in einem beschissenen Haiku-Heftchen steht.‘
Aber sterben hatte er ihn sehen und dieser Anblick war das Zerstörerischste was er je mitansehen musste.
Matthews Blick verdunkelte sich und er presste die Lippen aufeinander als er zurückdachte an jenen Tag im Juni. Den Blick wandte er ab, richtete ihn in die Ferne und hörte zu ohne sich einzumischen.
Doch bei einer Aussage wurde er hellhörig und schüttelte schließlich sacht den Kopf und zog überlegend die Augenbrauen zusammen.
„Das stimmt nicht.“, sagte Matt nach einem Augenblick in dem er intensiv über die Geschehnisse nachgedacht hatte.
Die Bibliothekarin, die Bücher die Clarence angefragt hatte, der merkwürdig verlassene Ort bei dem alles richtig und alles falsch gewirkt hatte. „Es war wie ein Traum in einem Traum. Wie in Cascade Hill als…“ Abermals schüttelte er den Kopf und verwarf den Gedanken, weil der verblühte Garten mit seinen toten Rosen hier nicht hingehörte.
„Du warst schon fort.“, sagte er stattdessen und seine Stimme klang leer und widerstrebend, wie bei jemandem der über eine bestimmte Sache weder reden noch nachdenken wollte aber beides tun musste.
Er nahm den Blick von der Natur die sie umgab und richtete ihn wieder auf Clarence, legte den Zeigefinger unter sein eigenes Kinn und betätigte mit dem Daumen einen imaginären Abzug.
„Dein Hinterkopf hatte sich schon in Blut und Knochen verwandelt deshalb hast du es nicht mehr gesehen. Aber kurz nachdem du dich erschossen hast ist alles in Flammen aufgegangen.
Die ganze Bibliothek, jedes Regal mit jedem Buch darin, der Boden… die Decke, die Bibliothekarin. Einfach alles.“
Es war ein Inferno gewesen. Aber er hatte schon mal ein solches Feuer gesehen, oder? Er hatte schon mal die Hitze solcher Flammen gespürt. Irgendwie war es ihm damals nicht neu erschienen und auch nicht beängstigend. ‚Es hat mich nichts geängstigt weil Clarence tot war. Ich hatte keine Angst mehr für irgendetwas anderes übrig.‘
Ein Gedanke der sich wahr anfühlte und Matthew entschied sich die Sache damit zu beenden.
„Wie mein Hiersein beweist habe ich es wenige Augenblicke später getan wie du…“ - jetzt blickte er zu Oliver dessen Frage er bisher nicht beantwortet hatte, nun aber darauf zurückkam.
„Während wir in diesem Traum oder in dieser Illusion waren… was auch immer… hat mich niemand gefragt wer ich bin. Wir waren fast die ganze Zeit über allein… das kam mir lange auch nicht komisch vor aber diese Vetala sorgen wohl dafür, dass man… unbeschwert ist.“ er zuckte die Schultern. Es tat nichts zur Sache, diese Wesen waren zu holen Blöcken geworden. Aschekrusten, vereinzelt waren noch Knochen da gewesen, aber ein Großteil ihrer Körper war einfach weg.
„Wenn mit mir… etwas nicht stimmt und du sehen kannst was es ist… dann will ich es wissen. Deshalb sind wir hier.“
Und das war die Quintessenz. Allem Argwohn zum Trotz, er wollte es wissen. ‚Die Neugier ist der Katze Tod.‘ dachte er dabei und wusste doch, dass er keinen Rückzieher machen würde.