<- ZURÜCK          WEITER ->


Zuhause

03. Januar 2211


Matthew C. Sky

Dass der Blondschopf nie mit einem Ja auf die im Zuber gestellte Frage gerechnet hatte, wusste Matthew längst. Clarence hatte ihm bereits davon erzählt und trotzdem zauberte die Erinnerung an damals ein kurzes und kleines Lächeln auf Matthews Lippen. 

Sie waren beide naiv und unbedarft gewesen und in vielerlei Hinsicht waren sie es noch immer - und Matthew hoffte, es würde auch immer ein bisschen so bleiben. 

Clarence war niemand der leicht zu überraschen war, er war ziemlich überlegt und wog in der Regel die verschiedenen Optionen stets gegeneinander ab. Dass er ausgerechnet jene wichtige Frage gestellt hatte ohne sich gedanklich damit auseinanderzusetzen, dass Matthew vielleicht zustimmte… war amüsant. 

„Und ich…als du mich damals gefragt hast, dachte ich nie… naja… dass du es ernst meinst. Ich hab ja gesagt, weil ich dachte… näher werde ich nie an eine Familie kommen als vielleicht für ein paar Tage so zutun als würdest du mich heiraten. Bevor dir klar werden würde was für ein Kerl ich eigentlich bin. Und dann würden wir aufhören darüber zu reden und… alles würde wieder sein wie vorher.“

Dahingehend hatte er sich ebenso geirrt wie Clarence, welcher mittlerweile die Linien auf seiner Handfläche nachzeichnete als könne er darin seine Zukunft lesen. Wie so ein Jahrmarktschwindler. 

Nachdenklich war die Stimme des Blonden geworden während er erzählte. Von Familiennamen, von der Hoffnung damit würde die Vergangenheit Matthews zu etwas werden, das ihm selbst fremd war. Es waren zweifellos Wünsche und Ideen, welche naiv und unbedarft waren. Es hätte so schön sein können, würden die Dinge nur so funktionieren. Aber manchmal waren alle guten Hoffnungen vergebens. 

„Das ist… ein schöner Gedanke und ich glaube… eine zeitlang habe ich das selbst geglaubt.“ erwiderte der Dunkelhaarige kleinlaut. 

„Hab gedacht, wenn ich deinen Namen trage dann hab ich die Vergangenheit soweit abgeschüttelt, dass sie mich nie mehr einholen kann. Und eine Weile war es auch so. Bis das mit Sally passiert ist.“

Der Vorfall mit der Minderbemittelten hatte ihn erstmals zurück in die Realität geholt und unmissverständlich aufgezeigt, dass es seiner Vergangenheit scheißegal war wie er hieß. 

„Du hast damals erzählt, dass sie nicht auf eigene Faust gehandelt hat sondern beeinflusst wurde. Und obwohl wir beide gewusst haben unter wessen Einfluss sie stand… hast du sie umgebracht und wir haben beide so getan als sei die Sache damit erledigt.“

Er presste die Lippen wieder aufeinander, mit den Augen dem Finger folgend welcher über seine Handfläche fuhr. 

„Aber das war falsch.“ Eine Feststellung an der er nach allem was passiert war nicht mehr zweifelte und das hörte man ihm auch an. 

Und wenn Nagi auch der gütige Mann war - was er war, auch daran zweifelte der Dunkelhaarige nicht - dann war Mo‘Ann mehr als nur seine Witwe. Dann war sie gefährlich und sie am Leben zu lassen oder so zutun als sei die Vergangenheit abgeschlossen, würde früher oder später sein Leben kosten. 

„Ich habe meinen Vater beinahe umgebracht und bei Gott ich schwöre, dass ich mir nichts mehr wünsche, als das es mir damals gelungen wäre.“, sagte er bitter und mit einer Stimme so dunkel wie seine Augen. Dass er just in diesem Moment eine weitere Wahrheit aussprach von der Clarence noch nichts wusste, wurde ihm schon den Bruchteil einer Sekunde später bewusst. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in seinem Magen aus ob der unbedachten Offenbarung- aber die Worte konnte er auch nicht wieder einfangen. Er leckte sich über die Lippen und fuhr sich mit der freien Hand nervös durch das Haar. Eigentlich hatte er dem Blonden in einem anderen Rahmen davon erzählen wollen… 

„Aber es ist… mir damals nicht gelungen. Er ist nicht tot. Und deshalb… werden diese Leute nicht aufhören. Egal wohin wir gehen, sie werden dort sein oder jemanden schicken.“

Adrianna mochte mit dem Tod Nagis ihre Rache bekommen haben und vielleicht würde sie auch verstehen warum Mo‘Ann ebenfalls sterben musste. Aber dazu müsste Matthew ihr von White Bone erzählen. Ihr und jedem der am Komplott beteiligt gewesen war. 

„Claire… ich… ich weiß so vieles nicht über diese Leute und auch nicht über mich selbst. Aber ich weiß, dass wir nirgends sicher sein werden so lange diese Menschen noch atmen.“ - unsicher blickte er nach oben und fing das Graublau der fremden Iriden ein. Jene Augen, die er so sehr liebte. 

„So vieles haben die mir genommen. Mir und unzähligen anderen. Sie sollen nicht auch noch mein Leben mit dir kriegen.“, unsicher leckte er sich über die Lippen und zögerte einen Moment ehe er leise aber mit fester Stimme bat:

„Sag mir, was wir deiner Meinung nach tun sollten. “


Clarence B. Sky

Sally umgebracht zu haben war definitiv nicht die Formulierung, die Clarence bevorzugte. Für die junge Frau hatte man in der Ratsgemeinschaft von Cascade Hill City entschieden, dass die beiden Fremden über Sally Mitchell und ihren Verbleib würden richten dürfen und Matthew, der von seiner schweren Kopfverletzung definitiv noch zu geschwächt gewesen war um derlei bedeutsame Dinge zu entscheiden, war von seinem vergleichsweise klaren Ehemann überstimmt worden. Und dann hatte man die junge Frau ihrem rechtmäßigen Urteil überführt.

So oder so ähnlich jedenfalls klangen die Erzählungen um die Abenteuer auf Cascade Hill deutlich besser, doch Claire bemühte sich nicht, den Jüngeren zu korrigieren. Was das anging, würden sie vermutlich sowieso nie auf einen Nenner kommen und viel wichtiger als diese Sally Mitchell war sowieso das, was Matthew kurz darauf von sich gab.

Dass Rouge bei weitem mehr war als nur Matthews einstiger Lehrmeister, stand bereits seit ihrem Aufeinandertreffen mit dieser irren Maus in Coral Valley im Raum. Mit Fotografien und einer spitzen Zunge bewaffnet, hatte sie versucht Cassie Dinge von jener Sorte einzubrennen, gegen die sich so ziemlich jeder halbwegs normale Kopf sofort verschloss, wenn eine Irre Stuss zu reden begann. Von… Lügen und Intrigen hatte sie gesprochen und davon, dass die Dinge nie so gewesen waren, wie sie bis heute schienen. Was davon wahr war und was nicht, das würden sie weder nach ein paar alten Bildern, noch nach de Geplapper einer aufgedrehten Fremden wirklich herausfinden können. Dann und wann hatten sie das Thema angeschnitten, jedoch ohne ihm wirklich ernsthafte Beachtung zu schenken und mehr als ein eventuell vielleicht war nie aus ihren Ausführungen geworden.

Doch hier saß er nun, Matthew Sky, und erzählte von seinem Vater, als habe er niemals auch nur für eine Sekunde daran gezweifelt, dass an dieser Geschichte ein Körnchen Wahrheit klebte. Und dabei erwähnte er völlig beiläufig, dass sein Vater ja beinahe von ihm umgebracht worden, aber nicht tot war.

Das Streichen seines Daumens über die Rillen in der fremden Handinnenfläche versiegte zunehmend. So ganz verstand er nicht worauf sein Mann da hinaus wollte, denn anstatt auf diese Wendung weiter einzugehen von der man meinen könnte sie wäre irgendwie von Bedeutung, sprach Cassie weiter über diese anderen Typen, die im Gegensatz zu Nagi und Rouge namenlose Gesichter waren – irgendwo draußen in der Welt und vermutlich ferner noch als ihre Harper Cordelia im Hafen von Rio Nosalida.

Was sie Clarence‘ Meinung nach tun sollten, das war plötzliche die Frage aller Fragen, nachdem sich Matthew die letzten Tage ganz alleine für sich seine Pläne ausgemalt und den Blonden außen vor gelassen hatte. So, wie er sich ja scheinbar öfter Dinge ganz alleine nur in seinem Kopf ausmalte, ohne darüber nachzudenken, ob sie praktikabel waren – oder der Wahrheit entsprachen.

„Was… was soll das heißen, du hast ihn beinahe umgebracht und er ist nicht tot?“, wollte Clarence nach einer ausgedehnten Stille wissen, während derer er sich nicht etwa überlegt hatte wie nun vorzugehen war, sondern während derer er versucht hatte sich daran zu erinnern, ob er die letzten Tage oder Monate irgendetwas verpasst hatte. War er vor ein paar Tagen in ihrem Gespräch irgendwie unaufmerksam gewesen… zu verklärt dadurch, dass sein Mann endlich zu ihm zurück gefunden hatte? Oder hatte er nur einfach irgendeine wichtige Info überhört, als sie die vergangenen Tage schon einmal über das Thema Mo’Ann gesprochen hatten?

Ungelenk straffte er seine Schultern und entzog seine Hände der seines Mannes, nur um sich mit den Ellenbogen auf seinem Schneidersitz aufzustützen und die Finger vor sich zu verschränken. Mit zusammengezogenen Brauen musterte er abwechselnd die kandisfarbenen Iriden seines Mannes, die ihm vertrauter waren als seine eigenen und suchte darin irgendetwas, das seinen beiläufigen Nebensatz als einen Versprecher oder eine Vermutung enttarnte, die Matthew vielleicht hegte. Doch beides fand er nicht darin.

„Du musst doch wissen, ob er tot ist oder nicht. Ich meine… du bist Söldner. Du wirst doch wohl hoffentlich wissen welche Verletzung sitzt oder wie jemand aussieht, der den Löffel abgegeben hat. Seit über zwei Jahren erzählst du mir, dass du ihn umgebracht hast, und jetzt ist er- was? Von den Toten wieder auferstanden?“, wollte Clarence wissen, der gerade weder den Gedankengang, noch die Informationsweitergabe oder -herkunft des Dunkelhaarigen nachvollziehen konnte. Er selbst erzählte Matthew ja immerhin auch nicht davon, dass Nagi nicht wieder zurück kommen würde, wenn er sich dessen nicht selbst zu hundert Prozent versichert hätte.

„Wer sagt, dass er noch lebt… dieser Frank Doolittle, den du getötet hast? Falls du das hast?“


Matthew C. Sky

Frank Doolin hatte in den letzten Minuten seines absurden Lebens so einiges gesagt. Vieles war Matthew schon bekannt gewesen, noch mehr allerdings nicht. 

Es hatte einen Plan gegeben ihn und Clarence miteinander bekannt zu machen. Aber da er der Bruderschaft nicht hatte beitreten wollen und Clarence den Gläsernen getötet hatte, hatten sie kurzfristig umdisponieren müssen. Und dann…dann waren die Dinge aus dem Ruder gelaufen. 

Dass Le Rouge noch lebte war eine Information gewesen von der Matthew nicht nur ein bisschen schockiert gewesen war, aber er hatte keinen Grund an den Worten des Mannes zu zweifeln. Eher noch wollte er anzweifeln, dass jener der im Volksmund als Le Rouge bekannt war, sein Erzeuger war. Aber auch das gelang ihm nicht recht. 

Als der Blonde ihm seine Hand entzog fühlte sich das für Matthew ungewohnt unwirsch an und doch respektierte er die Distanz welche der Andere just in dem Augenblick suchte. 

Nähe konnte man nicht erzwingen, dann war sie nicht echt. 

Und zwischen ihnen war alles echt und sollte es auch bleiben. 

Also musterte er den Größeren ohne ihn zu bedrängen. 

„Ich hätte…es dir eher sagen sollen.“, räumte er schließlich ein, wobei sich diese Worte in seinen eigenen Ohren schal und abgenutzt anhörten. 

Clarence verstand von einer Sekunde auf die andere nichts mehr und ganz ähnlich hatte sich auch Cassie gefühlt, nachdem er Doolin getötet und Zeit gehabt hatte zu realisieren was genau passiert war. 

‚Du wirst doch wohl hoffentlich wissen welche Verletzung sitzt…‘ und ja, das konnte man wohl voraussetzen. 

„Ich war damals offensichtlich nicht in der Verfassung es richtig einzuschätzen.“, fasste Matthew das Offensichtliche in Worte und schwieg daraufhin eine Weile. 

„Doolin hat mir erzählt, dass der ursprüngliche Plan es war,…dass du und ich ein Team werden. So wie…Nagi und Rouge. Du solltest eines Tages sein Nachfolger sein und ich der vom Roten. Aber die Dinge sind falsch gelaufen…erst hast du dieses Schwein getötet und dann habe ich auch noch Nein gesagt, als die mich für ihre Bruderschaft wollten. Und von da an…“, Matthew machte eine ausladende Geste und schüttelte schließlich den Kopf über all die Dinge die im Anschluss passiert waren. 

„Er sagte…es waren sechs Tage. Sechs Tage und die dazugehörigen Nächte in denen die mich gejagt und…und…und mir wehgetan haben. Und dann ließen die mich laufen, nur um mich wieder einzufangen.“

Nachdenklich schloss er die Augen und rief sich das Geschehen ins Gedächtnis zurück. Bilder, Stimmen, der Geruch von versengtem Fleisch. „Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern.“ - nicht an alles, aber an genug.  „Der Kampf mit Rouge…“, erneut schüttelte er den Kopf. „Es kam mir vor als seien die Dinge jemand anderem passiert und nicht mir. Ich erinnere mich, dass ich ihn angeschossen habe und da war dieses Messer…das aus Jade…mit dem Pferdekopf.“ - jenes Messer hatte er lange Zeit mit sich geführt, sowie eine ganze Reihe anderer Souvenirs des Roten. 

„Er hat es mir zwischen die Rippen gestoßen…Du wirst dich vielleicht noch daran erinnern… du hast das Loch geflickt. Ich erinnere mich, dass ich selbst angeschossen wurde. Aber nicht von Rouge…Rouge lag nur noch da…überall war Blut, ich hab ihm das Gesicht zerschnitten…Ich hab…ich war sicher er sei tot. Ich war so sicher, dass ich ihn getötet habe….“

Egal wie oft er versuchte sich an jene blutigen Morgenstunden zu erinnern, kein Detail fiel ihm ein welches ihm rückblickend verriet, sich getäuscht zu haben. „Er hatte diese Öllampe dabei. Sie hing…sie hing an dem Sattel seines Pferdes. Ein Fuchs mit…mit blauen Augen.“ - an den erinnerte er sich noch ganz genau. 

„Das Pferd ist gestürzt, damit hatte ich nichts zutun.“ das war ihm absurderweise wichtig es Clarence wissen zu lassen. 

„Rouge ist gefallen und dann…dann hab ich auf ihn geschossen. Ich hab ihn in den Bauch getroffen. Und als zweites in die Brust. An einem… g-guten Tag und bei klarer Sicht hätte ich ihn mitten in sein schwarzes Herz erwischt. Aber… es war dunkel und ich hatte n-naja…keinen guten Tag.“

Er lächelte zwar, aber es war ein bitteres Lächeln und in seine Stimme hatte sich ein aufgewühltes Schwanken geschlichen welches auch sein unechtes Schmunzeln nicht kaschieren konnte. 

„Ich hab dann…auf seinen Kopf gezielt, aber stattdessen hab ich seinen Hals erwischt. G-ging glatt durch… hab ich gesehen und das…das hätte es eigentlich sein sollen. Es war ein Treffer der…wie sagtest du so schön? Einer der gesessen hat.“ - wieder lachte er nervös und freudlos und musterte Clarence einen Moment, bevor er wieder nach unten schaute und auf seine Hände, die nervös mit dem Saum seines Unterhemdes spielten. 

„Er sah da schon so aus als…naja…wäre er auf dem Weg in die Hölle, aber der Wichser wollte nicht aufgeben und da kam die Scherbe von dieser Lampe ins Spiel...er hat versucht zu schreien, aber er h-hat nur Blut gespuckt und versucht mich von sich zu schieben... und dann…dann war er irgendwann tot."

Le Rouge, der Mann der ihn jahrelang an der kurzen Leine und gleichsam unter den Fittichen gehalten hatte, hatte aufgehört sich zu wehren, hatte aufgehört zu strampeln, er hatte das Messer losgelassen welches er in Matthew versenkt hatte und hatte mit dem verbliebenen Auge in die Leere des Todes geglotzt. "Bei Gott ich hätte schwören können er wäre es.“

Der Zorn darüber es nicht zu Ende gebracht zu haben tilgte die Unsicherheit aus seiner Stimme. 

„Aber wenn ich etwas über die Menschen weiß dann, dass Totgeweihte nicht lügen. Und was Doolin angeht…nun... der ist tot. Und ich habe sichergestellt, dass er wusste was kommt. Er behauptete, dass Rouge überlebt hat und ich… wüsste nicht warum er diesbezüglich lügen sollte.“, wahrlich das hätte dem Grünen rein gar nichts gebracht. "Wir...wir wissen überhaupt nicht wer die Männer waren denen wir gefolgt sind. Wir wissen nur...was sie uns wissen lassen wollten. Und das...muss aufhören."


Clarence B. Sky

Während Matthew sprach, erinnerte sich Clarence. Vorrangig an viel Blut – eingetrocknetes wie auch frisches. Sein Findling war von Kopf bis Fuß damit bedeckt gewesen und als er versucht hatte ihn mit abgekochtem Wasser irgendwie sauber zu bekommen, war Matthews Haut darunter weiß wie Schnee gewesen. Nicht vor Unschuld, sondern ausgeblutet wie ein geschächtetes Schwein, dessen Borsten man versuchte heiß abzubrühen.

Trotzdem hatte sich dunkles Blut aus seinen Wunden erhoben, als Claire mit seiner gebogenen Nadel in das fremde Fleisch gestochen hatte. Dann und wann hatte der Fremde gestöhnt, doch der Schamane hatte nicht sagen können ob aus Erschöpfung oder tatsächlich deshalb, weil dieses tote Stück Menschlein doch noch etwas von seiner Lage mitbekam. Eine seiner zahllosen Wunden hatte der Blonde ihm ausgebrannt und der Geruch von verbranntem Fleisch hatte dabei ihr Lager erfüllt, fast so wie wenige Wochen zuvor, als er das noch bei jemand anderem getan hatte.

Die meiste Zeit der kommenden Tage hatte der Jäger neben seinem Findling gehockt und ihn beobachtet. Manchmal hatte er versucht die Sekunden mitzuzählen um herauszufinden, wie viele Stunden an diesem Tag schon wieder verstrichen waren. Manchmal hatte er einfach nur da gesessen und sich selbst die hervorgetretenen Venen auf den Unterarmen und Handrücken nachgemalt, die begonnen hatten von seinen dürren Armen hervor zu stechen als wollten sie ihn dazu überreden, sich mit einem Messer doch einfach selbst ein Ende zu setzen anstatt seinen Körper weiter so zu quälen.

Manchmal hatte er aber auch einfach nur vor dem dunkelhaarigen Findling gehockt und ihm beim Atem zugesehen, so als warte er nur darauf, dass der fremde Brustkorb endlich damit aufhörte sich zu heben und zu senken.

Erst als ihm nach wenigen Tagen klar geworden war, dass der Kerl aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz doch nicht ins Gras beißen würde, hatte Clarence damit angefangen die Habseligkeiten des anderen und auch seine eigenen rund um ihr Lager herum zu vergraben. Fremden konnte man nicht vertrauen – im Madman Forest noch weniger als sonst wo auf der Welt – und nicht mal für sich selbst hatte Claire in seinem Zustand noch die Hand ins Feuer legen können. Weder hatte er beklaut, noch in den wenigen Minuten seiner kurzen Schläfchen durch die Hand eines anderen sein Ende finden wollen und so hatte er gehockt und geharrt. Nur mit den Sachen die er am Leib trug, mit dem Jüngeren vor sich und einem Feuer, das er immer so weit auf Sparflamme hatte brennen lassen, dass niemand sie fand oder ergriff.

Dass Matthew also in dem Moment, als sie beide das erste Mal aufeinander getroffen waren, keinen guten Tag gehabt hatte, konnte Clarence ihm ohne darüber zu diskutieren abkaufen. Vermutlich hätte er selbst in solch einem Augenblick ebenfalls geglaubt, Rouge wäre tot… so wie er sich bei Cassie auch oft nicht sicher gewesen war und ihm deshalb Stunde um Stunde einfach nur beim Atem zugesehen hatte.

Stöhnend löste sich Clarence aus seiner Starre des Unverständnisses und rieb sich mit beiden Händen kräftig durchs Gesicht, nachdem er vom Bett aufgestanden war. Dass er sich bei seiner Ankunft in Falconry schon erschöpft gefühlt hatte, war nicht mehr mit dem Gefühl zu vergleichen was er nun fühlte, kaum da sein Mann die Karten offen gelegt hatte. Sein Ehemann – der ihm zweifelsohne schon am Abend seiner Ankunft von diesen Neuigkeiten hätte berichten können, die sicher noch mal einiges verändert hätten. Sie hätten sich seit Tagen schon um einen Plan kümmern können… und hätten gemeinsam vor allem eben jene Puzzleteile zusammensetzen können, die zweifelsohne jeder von ihnen beiden auf irgendeine Art und Weise schon seit Jahren mit sich trug.

„Na… so lange du dieses Mal weißt, dass wenigstens Doolin auch wirklich tot ist… ist das ja schon mal was wert“, kam der Ältere nicht umhin seine Enttäuschung über die gesamte Situation in Worte zu kleiden. Er wollte nicht vorwurfsvoll klingen und trotzdem fühlte sich das, was er schon seit Tagen hätten wissen können, wie ein fieser Schlag ins Gesicht an.

Kopfschüttelnd ging Clarence hinüber an den Herd und öffnete die Ofentür um einen dicken Scheit Holz nachzulegen, obwohl die Flammen eigentlich noch kräftig brannten. Vermutlich rührte das Frösteln, das er verspürte, eher weniger von der Temperatur in ihrer Wohnung als viel mehr von den Erzählungen seines Mannes und trotzdem konnte es ja sein, dass ein bisschen Nachlegen seinem Missempfinden dennoch half.

Davon, dass man sie zu den Nachfolgern dieser Männer hatte machen wollen, sprach Matthew. Dass man sie hatte einander vorstellen wollen, um das Werk von Nagi und Rouge als Team eines Tages weiter zu führen. Dass diese Leute ein und dieselben waren, die für Cassies Vergangenheit und die seiner Freunde verantwortlich waren… aber auch für das, was mit Claires Kindern geschehen war – zumindest hatte der Jüngere das am Abend seiner Ankunft angedeutet. Trotzdem ging es in den meisten Sätzen noch immer nur um Matthews eigene Rache, seine eigenen Pläne, seine eigenen Gedanken dazu was er Claire wissen lassen wollte und was nicht… und der Blonde wusste nicht, ob er dafür Verständnis haben oder ihm diese Haltung ankreiden sollte.

„Ich…“, setzte Clarence schließlich an, strich mit den flachen Händen über die hölzerne Arbeitsplatte der Küchenzeile vor sich und verstummte schließlich wieder. Weder wusste er was er davon halten sollte, dass man sie hatte zusammenführen wollen und sie nun miteinander verheiratet waren, noch wusste er zu sagen wie er in seinem Kopf zusammenbringen sollte, dass dieser Frank Doolin vor seinem Ableben tatsächlich bestätigt zu haben schien, was Cassie vor wenigen Tagen noch als eigene These in den Raum geworfen hatte. Hatten Nagi und der Rote gemeinsame Sache gemacht? Wann und wo sollte das Geschehen sein?

Kopfschüttelnd griff Clarence nach einem von den Gläsern, die zum Abtropfen neben dem Spülbecken auf einem Handtuch standen, und schüttete sich einen Schluck kalten Kräutertee ein, den er am Nachmittag gekocht hatte. Obwohl sie dann und wann über Le Rouge gesprochen hatten, wusste Clarence insgesamt doch erheblich wenig aus Cassies gemeinsamer Zeit mit diesem Mann und konnte daher nur für sich reden als er schließlich die Stimme wieder erhob, kaum, da er seine trocken gewordene Kehle mit einem Schluck Tee angefeuchtet hatte. Eigentlich wäre ihm Whisky gerade deutlich lieber, fiel ihm da auf.

„Bis auf wenige Monate nach etwa zwei Jahren... hab ich die meiste Zeit unserer gemeinsamen Jahre an Nathans Seite verbracht. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich alles über ihn weiß oder bei jedem seiner Geschäfte dabei war. Aber zu behaupten, dass ich nur seine rechte Hand gewesen wäre wie er seiner Tochter oder dem Clan erzählt hat… wäre auch gelogen. Ich weiß durchaus, dass er mehr in mir das Fortbestehen seines Lebenswerks gesehen hat als in seinem eigenen Kind.“

Nachdenklich nahm er noch einen Schluck vom Tee, entschied sich dann aber doch um und begann damit einige der wenigen Schranktüren zu öffnen. Sicher hatte er aus der Zeit, die er hier verbracht und auf Cassie gewartet hatte, noch irgendwo ein paar angebrochene Falschen Schnaps herum stehen; dass er ad hoc nichts fand, sprach dabei eher für die Einsamkeit in der er ausgeharrt hatte und nicht etwa dafür, dass er in dieser Zeit besonders abstinent gelebt hätte.

„Wir waren in vielen Städten unterwegs. Ein paar Mal in Poison Ivy, Avanzamento und oft an und hinter der Grenze nach Mexiko. Manchmal hat sich Nathan mit Leuten getroffen die ich kennenlernen sollte, manchmal hat er mich außen vor gelassen. Meistens haben wir uns mit irgendwelchen fremden Clans getroffen um Abkommen zu schließen… oder auch, um Dispute zu klären“, erinnerte er sich vage an eine bestimmte Zeit ihrer Reisen, die nicht immer gut geendet hatten. Vor allem wandernde Jäger, ohne festen Hauptsitz und nur darum bestrebt Arbeit in Gold umzusetzen oder… fehlende Bezahlung durch ‚Gesetzlosigkeit‘ wieder auszugleichen… eben jene losen Vereinigungen waren es, die Clans in Kleinstädten wie hier als vermeintlich gefundenes Fressen sahen. Der Grey Eagle bot Schutz – aber er verhinderte auch das eilige Hinzukommen von Hilfe von außen, sollte es hart auf hart kommen.

Nagi hatte ein Talent dafür besessen sich Freunde zu machen, aber eine seiner besonderen Vorlieben lag zweifelsohne darin, sich innerhalb von kürzester Zeit Feinde zu machen – und aus Feinden tote Feinde. ‚Das Kämpfen lernt am besten der, der den höchsten Einsatz wagt‘, das war sein Motto gewesen und nichts hatte er seinen Schüler so gerne einsetzen lassen wie seine eigene Unversehrtheit. Was es hieß um Leben und Tod zu kämpfen, hatte er nicht nur ein Mal durch eine von Nagis spontane Kriegserklärungen erfahren… und was es hieß sich Nathans Meinung nach ‚lebendig zu fühlen‘, das hatte Clarence versucht ihm nachzuempfinden. Eine Weile jedenfalls.

„Ich weiß nichts davon, dass er sich mit einer… Bruderschaft oder irgendwelchen Leuten mit komischen Namen getroffen hat“, ließ er seine Erinnerungen Revue passieren und versuchte dabei selbst in den tiefsten und frühesten Erlebnissen zu kramen, die er mit Nagi gesammelt hatte. Aber wenn sein einstiger Lehrmeister zu diesen Leuten gehört hatte, musste er zu irgendeiner Zeit auf irgendeine Weise Kontakt zu ihnen gehabt haben. Vor allem dann, wenn Nagi und Rouge ein Team gewesen sein sollten.

„Wir waren oft bei Esther. Esther O’Brien von den White Walkers aus Varlan. Und davor bei ihren Eltern Catelyn und Aiden, als sie noch den Clan geführt haben“, zählte Clarence Namen auf, die ihm am ehesten in den Sinn kamen, wenn er an die Reisen mit Nagi dachte und an die Kontakte, die sein Lehrmeister am innigsten gepflegt hatte.

„Bei den Typen von Slaughtermans Hell waren wir. Aber die bringen sich ständig gegenseitig um, um sich die Leitung abzujagen. Eigentlich waren wir da nur wegen deren Schwarzmarkt, für Waffen und für Munition… und nicht, weil Nathan dort jemand speziellen treffen wollte. Wir haben… einen Jack Masters ein paar Mal getroffen. Mal in Avanzamento, mal haben wir ihn in einer Villa hinter der Grenze im Norden besucht zusammen mit einem Adam… irgendwas“, erinnerte er sich. Aber dabei war es nie um Geschäftliches gegangen – jedenfalls nicht in den Momenten, in denen Clarence dabei gewesen war. Tatsächlich hatte Nathan auch manche Leute einfach nur als Freunde bezeichnet und ihre Treffen als wohlverdiente Auszeit, die sich Clarence hatte nehmen sollen um sich auf seine eigenen Angelegenheiten zu konzentrieren. „Einen Redwhyne hat Nagi ein paar Mal getroffen, aber eher auf Durchreise, um irgendwas mit dem zu tauschen oder zu handeln. Ich weiß nicht mehr was genau. Und wir haben einen… Claudio Castogiovanni hier gehabt und bewirtet wie einen Fürsten… und waren ihn ein paar Mal mit Mo’Ann besuchen. So ein Typ, ähnlich wie sie – eher den Büchern und der Wissenschaft zugeneigt als dem aktiven jagen. Ich glaube, den kannten die beiden schon eine halbe Ewigkeit. Vermutlich schon lange bevor Nathan hier in Falconry angekommen ist oder Mo’Ann kennengelernt hat. Sagt dir irgendjemand davon was?“


Matthew C. Sky

Zu sehen wie Clarence sich durch das Gesicht rieb nachdem er das Bett verlassen hatte machte deutlich, dass der Blonde im Augenblick äußerst angespannt war. Ein Zustand wie man ihn nicht allzu oft bei Clarence sah. 

Matthew seufzte und fuhr sich nun seinerseits durch das Haar. Er wusste sehr wohl, dass es ein Fehler gewesen war Clarence nicht gleich bei seiner Rückkehr alles zu erzählen. Aber er hatte es nicht verschwiegen in der Absicht es nie zu berichten - sondern einen besseren Zeitpunkt zu finden. 

Ein Vorhaben welches nicht unbedingt geglückt war, sah man sich den Blondschopf an und wie er umhertigerte. 

Er war wütend oder zumindest  enttäuscht - was Matthew beides nicht gern sah, allerdings konnte er die Situation jetzt nicht mehr ändern. 

Was ihn selbst betraf… so hatte er in den vergangenen Monaten Zeit gehabt sich mit den Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Ein Luxus den der Andere gerade nicht besaß. Und deshalb war es sein gutes Recht nun angefressen und überfordert zu sein. Aber typisch für den Blonden, erging er sich nicht in dieser negativen Emotion sondern er versuchte stattdessen das Wesentliche in den Fokus zu stellen. Konstruktiv zu sein. 

Diese Fähigkeit war Matthew selbst nicht unbedingt gegeben. 

„Nathan…“ spie er den Namen angewidert aus und blickte zu Clarence. 

Ein viel zu feiner Name für ein Monster wie ihn.“

Dieser Mann hatte sich für besser gehalten als alle anderen. Er hatte nicht einfach im Affekt einen Anderen erschlagen oder versehentlich in eiligem Galopp ein Kind umgeritten welches zu Tode kam. 

Dieser Mann hatte eine ganze Maschinerie an Grausamkeiten geschaffen, hatte überall duzende und aberduzende Leben zerstört. 

Matthew winkelte schließlich die Beine an und legte seine Unterarme als Brücke auf seine Knie - vorerst ohne den Kopf darauf zu betten. 

Er verfolgte Clarence mit den Augen, lauschte auf seine Erzählungen und versuchte sich vorzustellen wie der Mann vor ihm, sein Mann, der Lieblingsschüler und Auserwählte des Mannes gewesen sein konnte, der ihn an seinem neunten Geburtstag vom heimischen Hof aufgekauft und noch am selben Abend zum ersten Mal vergewaltigt hatte. 

Wie zur Hölle konnte das sein?

Doch statt sich weiter in Gedanken wie diesem zu verstricken, versuchte Cassie konstruktiv bei der Sache zu bleiben und zuzuhören was der Blondschopf noch weiter zu erzählen hatte. 

Nachdenklich berichtete er von seinen Reisen mit Nathan und davon, dass sie einige große Städte besucht hatten. Darunter auch Metropolen wie Avanzamento und Poison Ivy. 

Beide Metropolen waren jedoch keine Schnittstellen und nun bettete Matthew doch das Kinn auf seine Arme über den Knien. Er lauschte weiterhin aufmerksam doch hatte er den Blondschopf nun nicht mehr im Blick. 

Erst als der Name White Walkers fiel, hob Matt den Kopf und sah wieder zu Clarence, denn dieser Clan sagte ihm durchaus was. 

„Die haben mich aufgegriffen!“ - warf er augenblicklich ein, als wäre diese Tatsache auch ein unumstößlicher Beweis für alles andere. 

„Nachdem ich entkommen bin, bin ich über die nördliche Grenze geflohen und nach einigen Wochen hat mich ein Trupp der Walkers gefunden und mit nach Varlan genommen. Dort hab ich später Rouge getroffen… Das könnte doch was bedeuten, oder nicht?“

Cassiel zuckte die Schultern in einer hilflosen Geste die zu sagen schien, dass es vielleicht auch gar nichts hieß. 

Der Name Jack Masters sagte ihm nichts und auch auf irgendeinem Schwarzmarkt hatte er sich mit Rouge nie aufgehalten. 

Allerdings klingelte bei Adam ganz leise etwas… wobei er hier nichts wirklich zusammenbekam. Nachdenklich kaute er sich auf der Innenseite einer Wange herum, ein Tun welches er erst schlagartig sein ließ als Clarence einen weiteren Namen in den Ring warf. Nämlich Redwhyne. 

So beiläufig erwähnt klang der Name weitaus weniger imposant als dem Wichser lieb sein konnte, Matthew hingegen brach schlagartig in Gelächter aus. Da waren sie nun, zwei Kerle die nach all den Jahren zum ersten Mal richtig über ihre Vergangenheit redeten und schon nach kürzester Zeit einer Verbindung zwischen ihren Leben fanden. 

Wie weit hätten sie schon sein können, hätte dieses Gespräch eher stattgefunden? Unter Lachen wiederholte Matthew Clarence‘ Worte: 

„Einen Redwhyne hat Nagi ein paar Mal getroffen…“ 

Cassiel atmete durch, wischte sich mit den Händen über die Wangen und blickte zurück zu Clarence. Ein Bein streckte er wieder aus, den Unterarm lässig über dem angewinkelten Knie hängen lassend. 

„Redwhyne.“ wiederholte er. „Glückwunsch, du hast ihn kennengelernt. Sein Name ist Beliar Redwhyne. Das ist der richtige Name von Le Rouge.“ - und wenn es bisher keine stichhaltige Verbindung gegeben hatte, nun hatten sie eine. 

Über Varlan ließ sich noch streiten, es war eine große Stadt in der viele Leute kamen und gingen  - aber über Treffen mit Le Rouge nicht. 

„Schätze… das bedeutet dann wirklich was, hm?“ - abermals fuhr er sich durch die Haare, wobei er wieder fassungslos kurz kicherte. 

„Kannst du…dich an irgendwas spezielles erinnern bei den Treffen? Wann und wie oft das war? Ich hab ihn…“, er dachte kurz nach und überschlug kurz den zeitlichen Ablauf. Immerhin lag alles schon viele Jahre zurück. 

„…Ende 2197 in Varlan kennengelernt. Ich hab ihn beklaut, er hat mich aufgegriffen…hat mit gesagt, ich schließe mich ihm entweder an und lerne wie man stiehlt ohne erwischt zu werden, oder ich verliere eine Hand. Die Entscheidung fiel mir nicht schwer.“

Früher war ihm das nicht ungewöhnlich erschienen, denn er war von einem Ort gekommen wo es schlimmere Strafen gegeben hatte. 

„Wenn ich so zurückdenke…dann waren wir häufig in Coral Valley. Mehrmals im Jahr. Er war mit Jeyne befreundet und hat uns bekanntgemacht. Hmmm… warst du mit Nagi je dort?“


Clarence B. Sky

Ob Nathan nun ein guter oder ein schlechter Name für einen bösartigen Menschen war, das blieb offen und Clarence wollte sich über derlei Banalitäten keinen Kopf machen. Unzweifelhaft gab es sicher unzählige andere Menschen auf der Welt, die ähnlich unscheinbare Namen wie Nathan besaßen – und genauso viele von ihnen hatten Spitznamen, die ihr Dasein noch abstruser machten. Wieso bekamen schlechte Menschen überhaupt Spitznamen? Begriffe oder Rufnamen, die sich manch einer in liebevoll gemeinter Manier ausdachte und die jene Bösewichte manchmal bis an ihr Lebensende begleiteten?

Wenn es nach anderen Leuten ging, war Clarence sicher auch kein guter Mensch und alleine der Gedanke daran, dass er von jemandem Bärchen oder Claire genannt wurde, wäre manchem bestimmt zuwider. Was das anging, gesellten sich ihre eigenen Namen wohl zweifellos in die viel zu feine Namensreihe zu Nathan ein. Der Blonde hatte noch nie darüber nachgedacht, ob das für seinen einstigen Lehrmeister ein guter oder ein schlechter Vorname war und wenngleich er um einige der Verbrechen dieses Mannes schon vor Matthews Erzählungen sowie Verknüpfungen gewusst hatte, so wäre er nie auf die Idee gekommen, jene sechs Buchstaben in die Waagschale zu seinen Taten zu werfen.

Nathan.

Nathan Abaelardus.

Der Mann, der Matthew Reed Unaussprechliches angetan und Clarence Sky als seinen Liebling auserkoren hatte.

Nathan – und auf der anderen Seite sein Freund Redwhyne. Beliar Redwhyne.

Sein guter alter Freund Redwhyne, mit dem er sich treffen wollte um in Erinnerungen zu schwelgen, während Clarence sich ein paar schöne Tage in der Stadt machen sollte.

So unterschiedlich wie ihr beider Verhältnis zu Nathan „Nagi Tanka“ Abaelardus war, so unterschiedlich war Matthews und seine eigene Reaktion auf die Schnittstelle, die sich mitten im Gespräch plötzlich ganz unterwartet aus einem Gespräch entflocht. Eine kleine Anekdote am Rande war er nur, dieser Freund, den Nagi dann und wann getroffen hatte. Trotzdem erschütterte er eine ganze Existenz alleine dadurch, dass er gerade abermals eine unerschütterliche Brücke zu dem Leben schlug, das Clarence führte.

Fast schon ein bisschen manisch klang Matthew, während er unter Gelächter die Worte des Blonden echote und schließlich giftig den Namen jenes Mannes ausspie, den Claire bislang nur unter dem Namen Le Rouge kennengelernt hatte. Sein ruheloses Suchen nach einem Namen, nach einer Verbindung oder irgendetwas ähnlichem fand in eben jenem Moment ein Ende, beinahe schon mit einem Punkt am Ende des Satzes anstelle eines Ausrufezeichens. Glückwunsch, du hast ihn kennengelernt. Das ist der richtige Name von Le Rouge.

Auf einem Foto hatte er ihn erahnen können, jenen Mann, dessen Mantel so rot war wie sein Name. Harriet hatte es bei sich gehabt – wie jener Mann, den sie als Matthews Vater vorgestellt hatte, von der vermeintlichen Mutter seines Mannes umarmt wurde. Sein Gesicht war nicht zu sehen gewesen und trotzdem erinnerte sich Clarence noch heute gut an diese Augen, die ihn wach und lauernd, ja beinahe belustigt begutachtet hatten wie eine seltene Art im Tierpark einer großen Metropole.

Beliar Redwhyne also… ja. Das bedeutet dann wohl wirklich was“, stimmte er ihm monoton zu und nickte leicht, während er sich die hölzerne Arbeitsplatte der Küchenzeile betrachtete. Parallel zog sich die Maserung des Holzes nebeneinander her – unerschöpflich, unendlich, gleich bis ins Verderben, nur um dann und wann zusammenzulaufen oder sich wieder voneinander zu trennen. Mal hier, mal da waren die Parallelen unterbrochen von dunklen Malen, die sich wie ein Tumor mahnend aus der Maserung erhoben, doch nicht ohne dabei die Regelmäßigkeit der gleichbleibenden Abstände zu stören. Fast so ein bisschen wie bei ihnen beiden, die sie nun plötzlich Parallelen erkannten, wo vorher nur Chaos geherrscht hatte.

Unruhig strichen seine Finger dem Muster im Holz nach, fast so, wie er damals über das blutverschmierte Rot von Cassies Mantel hinweg gestrichen hatte, als er den Jüngeren im Wald aufgegriffen und davon befreit hatte.

„Ich hab ihn… Ich hab ihn nicht begleitet, wenn er sich mit Redwhyne getroffen hat. Meistens hat er mich für ein paar Tage in einer nahen Siedlung oder in einer Stadt gelassen, bis er mich irgendwann wieder dort abgeholt hat. Ein paar Mal sind wir irgendwo in verlassene Lager marschiert und haben Pakete oder Briefe abgeholt, die er dort für Nathan deponiert hat. Vielleicht drei, vier Mal im Jahr“, erinnerte er sich vage, denn dadurch, dass er bei den Treffen nie direkt dabei gewesen war, hatten sie sich nie so eingebrannt wie die mit Jack oder Claudio.

Mit zusammengezogenen Brauen blickte er vom Holz auf hinaus aus dem Küchenfenster, hinter dem die schneebedeckten Bäume in den Himmel ragten, die ihr Grundstück vom Nachbarn abgrenzten. Ruhig und friedlich wirkte die Nacht draußen in der Stadt – ganz anders als Clarence sich gerade tief innerlich fühlte.

„Ganz am Anfang, als er begonnen hat mich auszubilden… hat er mich als Prüfung irgendwo in den Wäldern ausgesetzt. Ich weiß nicht mehr wo, es waren vielleicht… drei, vier Monate. Später hat er mir von einer Freundin und zum ersten Mal diesem Redwhyne erzählt, mit denen er in dieser Zeit Geschäfte gemacht hat. Das war vielleicht… zweiundzwanzig-zwei oder -drei vielleicht. Wenn du in dieser Zeit schon bei ihm warst, vielleicht hat Rouge etwas erwähnt oder ihr wart in dieser Zeit dort?“


Matthew C. Sky

Clarence so zu sehen…war ein Anblick den Matthew nicht gewöhnt war. Denn obgleich der Blonde nicht hochemotional wurde, so sah man ihm doch an aufgewühlt zu sein. 

Dinge, die schon viele Jahre zurücklagen gewannen plötzlich in einem Maße an Bedeutung, wie sie es beide nicht erwartet hatten. 

Der Mann den Matthew als gütigen Mann und Clarence als Nathan kannte waren ein und die selbe Person und doch auch wieder nicht. 

Matthew leckte sich über die Lippen und fing die Untere schließlich mit den Zähnen ein, auf ihr herumkauend während er dem Älteren zuhörte. 

Dass er nicht bei den Treffen zwischen Rouge und Nagi dabei gewesen war, dass Nagi ihn zu Beginn der Ausbildung im Wald ausgesetzt hatte… Erzählungen dieser Art, die das ungute Gefühl in Matthews Magengegend noch zusätzlich stärkten. 

„Er hat dich ausgesetzt wie einen Hund…typisch.“, kommentierte er giftig ohne Clarence dabei anzusehen. Dieser Mann der in White Bone die Hölle auf ihre Welt gebracht hatte, hatte sich im Laufe der Jahre nicht geändert. Vielleicht war das Heim weg und vielleicht nannte er sich Nagi Tanka statt der gütige Mann - aber er war noch immer das selbe sadistische Schwein. Die Sorte Mensch die Erfüllung darin fand, das Leben anderer mit Schmerz und Angst zu füllen. Matthew atmete tief durch, versuchte die Gedanken nicht weiter in jene Richtung abschweifen zu lassen - weil er wusste, würde er sich einmal erlauben nun weiter in diese Richtung zu denken, würde es aus diesem finsteren Abgrund kein Entkommen mehr geben. 

Abermals fuhr er sich durch die Haare, dieses Mal gegen den Strich von hinten nach vorn und verkrallte sich kurz in seinem eigenen Schopf. 

„Jetzt wo du es sagst…“, ergriff er schließlich neuerlich das Wort, erzwungen ruhig. 

„Ich erinnere mich an einen Ort den wir öfter aufgesucht haben. Das war… irgendwo nördlich von Pine Grove. Man ist über Stunden einen versteckten Pass hochgeritten, nicht sehr steil, aber der Weg war eng und zugewachsen. Als man oben war, waren da zwei, drei verfallene Baracken. Ich glaube es war mal eine Ranch oder so… Von oben konnte man den Ohio sehen…“

Matthew schwieg kurz, sich in Gedanken zurückversetzend an jenen Ort. 

„Es war irgendwie friedlich dort.“, fasste er schließlich zusammen. 

„Wir waren manchmal für ein paar Tage dort. Rouge sagte mir, dass er dort freier denken könne als irgendwo sonst. Dass er Dinge immer klarer sieht, wenn er dort war. Ich hab ihn ein paar mal beobachtet wie er Briefe geschrieben hat. Manchmal hat er auch Dinge von dort mitgenommen. Er hat nie ein Geheimnis drum gemacht, dass er dort Zeug abholt oder auch zurücklässt.“ - an jenem namenlosen Flecken Welt hatte der Rote ihm nie auch nur ein Haar gekrümmt - was nicht selbstverständlich war, wie Cassiel noch in Varlan, am Tage ihres ersten Treffens, hatte lernen müssen. Manchmal hatten sie dort am Feuer gesessen und der Rote hatte ihm aus Büchern vorgelesen - alte Geschichten von einer noch älteren Welt. 

„Von der Zeit her könnte es passen. Im ersten Jahr nach unserem Aufeinandertreffen war ich keinesfalls mit ihm dort. Das war definitiv später.“ Das erste Jahr über hatte er noch öfter mit dem Gedanken gespielt abzuhauen, aber Le Rouge hatte das immer irgendwie gewittert. Wie ein Bluthund der den Schweiß der Beute wahrnehmen konnte. 

„Einmal als wir dort waren…war er stocksauer, irgendetwas stand in so einer verdammten Notiz, dass er sie zerknüllt und ins Feuer geworfen hat. Auf meine Frage was los sei hat er irgendetwas von einer schlechten Lieferung geantwortet. Sinngemäß sowas wie ‚Eine ganze Charge ist Schrott. Alles musste vernichtet werden.‘ - ich hab mich nicht getraut weiter nachzufragen…“ - nun zuckte er die Schultern und blickte verdrossen zu Clarence hinüber welcher noch immer in der Küche stand. Der Größere wirkte überfordert und anders als sonst wie so oft, nicht mit sich im Einklang. Der Blonde war über Jahre hinweg jeden Tag und jede Stunde mit Nagi zusammen gewesen. Er hatte seinen Lehren gelauscht, hatte versucht sie zu befolgen. Zweifellos hatte der Kerl seinen Mann manipuliert, hatte ihm Geschichten von Wölfen und Schafen erzählt. Davon, dass manche dazu geboren waren Futter zu sein und andere dazu bestimmt waren zu fressen. Hatte er aus Clarence einen Wolf machen wollen?

Wahrscheinlich. Und noch wahrscheinlicher war, dass er es auch geschafft hatte. Und letztlich - und das war ein Gedanke der etwas tröstliches in sich barg - hatte der so geschaffene Wolf seinen Schöpfer getötet. 

Was jedoch blieb war der Schatten einer Frage, die zu stellen sich Matthew nicht wagte und die er soweit von sich wegschob wie irgendwie möglich. 

Nämlich die Frage danach was Clarence an sich gehabt hatte um den gütigen Mann zu faszinieren. In Matthew hatte er nichts weiter gesehen als ein goldenes Schäfchen. Eine Ware. Eine Geldquelle. 

In Clarence jedoch… den hatte er als Nachfolger gesehen, ein absurder, widerlicher Gedanke der Cassies Unbehagen schürte. 

‚Er ist nicht sein Nachfolger. Er ist es nicht, weil er es nicht sein wollte.‘  ging es Matthew durch den Kopf. Allein, dass er sich das sagen musste war schon ungerecht dem Blonden gegenüber und Cassie hoffte inständig, dass der Bär ihm seine Gedanken nicht ansah. 

„Warum kommst du nicht wieder her zu mir, hm? Du machst mich ganz nervös, wenn du da so in der Küche stehst.“, Cassie klopfte neben sich auf das Bett welches er sich mit Clarence teilte. 

Seit Jahren teilten sie alles miteinander. Unterschlupf, Nahrung, Münzen, Gedanken. Und die Vergangenheit würde daran nichts ändern. Nicht, wenn sie es nicht zuließen. Und Matthew war entschlossen es nicht zuzulassen. 


Clarence B. Sky

‚Er hat dich ausgesetzt wie einen Hund…typisch‘, ließ Matthew ihn im Hintergrund wissen und sprach damit von einer Seite Nathans, die er so nie wahrgenommen hatte. Dass es damals weder angenehm, noch eine freudige Erfahrung gewesen war so von seinem einstigen Lehrmeister behandelt zu werden, war Clarence schon immer bewusst gewesen – aber umso freudiger war Nagi gewesen, als er nach einigen Wochen zurück gekehrt war nur um festzustellen, dass sein Schützling es geschafft hatte am Leben zu bleiben.

War er so entzückt gewesen wie jemand, der seinen Hund irgendwo zum Sterben angebunden und wider Erwarten doch noch lebendig wiedergefunden hatte?

Ja… ja, vielleicht war das damals so gewesen… doch der Blonde hatte das bislang niemals auf diese Weise gesehen und diese neue Sichtweise auf seine Erinnerung eröffnete damit einen Interpretationsspielraum, von dem Claire langsam flau in der Magengrube wurde.

Fühlte es sich so an, wovon Cassie eben noch gesprochen hatte? Dass andere mehr über sein eigenes Leben wussten als er selbst?

Schlagartig wurde aus einem Leben, von dem er dachte sich seiner Erfahrungen bewusst gewesen zu sein, Erinnerungen, die auf wackeligen Beinen standen. Es wurden Dinge, die womöglich schon immer anders gewesen waren als sie schienen und eventuell vielleicht hatte seine eigene Wahrnehmung ja nie gestimmt. Eventuell vielleicht war er den anderen aus dem Clan nie voraus gewesen, hatte nie das Glück besessen von Nagi besser behandelt worden zu sein als der Rest… sondern war am Ende doch auch nur Opfer seiner perfiden Psychospielchen gewesen, wie dieser Mann sie schon mit unzähligen anderen betrieben hatte.

Während Matthew von dem alten zugewachsenen Pfad sprach, der hinauf führte zu den verfallenen Baracken, sah Clarence Nathan vor sich her laufen. Geritten waren sie damals nur bis der kleinen Siedlung Pine Grove, ein Ort an dem mehr Menschen begraben lagen als noch lebendig auf den Äckern schufteten. Die Leute dort waren verhalten,  nicht gerade einladend Fremden gegenüber. Noch Nagi und sein Begleiter waren mit der Zeit dort bekannt geworden und wenngleich sie nicht regelmäßig dort gewesen waren, hatte man ihnen trotzdem irgendwann wohlwollend für ein paar Tage die Pferde untergestellt.

„Wir sind den Pfad immer zu Fuß hoch. Ein elender Tagesmarsch. Auf dem Rückweg hab ich mir mal an dem schmalen Weg, der an den Felsen entlang führt, den Knöchel verknackst. Da ist jedes Mal mehr weg gebrochen… ich dachte immer, irgendwann wird der Weg nicht mehr passierbar sein, wenn wir da noch zwei, drei Mal lang gehen“, erörterte er Cassies Erzählungen zu den verfallenen Baracken weiter, denn sein Mann musste nicht mehr davon berichten um ihn begreifen zu machen, dass sie von ein und demselben Ort sprachen. Noch immer blickte er durchs Fenster hinaus in den Garten, doch statt der Dunkelheit sah er jenen Mann vor sich, dem er so lange gefolgt war. Nur das Nötigste war in seinem Rucksack gewesen, weniger noch als Clarence bei sich trug und wenn es ihm gelungen wäre sich von Luft und Licht zu ernähren, sicher wäre Nagi dann sogar ohne Gepäck gereist.

Die kleinste Baracke hatte schon kein Dach mehr besessen, doch der hohe steinerne Kaminschacht hatte den Jahren und der Witterung stand gehalten. Sich wie ein Mahnmal in den Himmel erhebend und von einer Vergangenheit berichtend, als die Dinge noch bequem und heimelig gewesen waren dort oben. Sein Lieblingsort war das gewesen, damals – als er noch jung gewesen war und er mit seinen guten Freunden dort oben Zeit verbracht hatte.

„Nagi hat immer Briefe im Kamin versteckt, von der Hütte, die ganz hinten am größten Baum stand. Da war… von innen ein Brett eingezogen oder ein Stein. Ich weiß es nicht. Da hat er seine Nachrichten an Redwhyne deponiert“, erinnerte Claire sich daran, wie Nagi mit hochgeschlagenen Hemdärmeln durch den Schacht getastet und sein Päckchen dort abgelegt hatte. „Manchmal, wenn er größere Sachen da gelassen hat… ist er in der Scheune auf den Boden gestiegen. Da war eine beschlagene Kiste, glaube ich… unter Laub und verdorbenem Stroh. Er hat einen Schlüssle bei sich gehabt, ich nehme also an, da oben muss was Verschließbares gewesen sein.“

Wie seltsam es doch war, über Erinnerungen von ein und demselben Ort zu reden, ohne gemeinsam dort gewesen zu sein. Als Clarence zurück auf die Arbeitsplatte vor sich sah, erkannte er, dass sich auf seinen Unterarmen die hellen Härchen vor Unbehagen in die Luft gereckt hatten und für einen Moment stellte er sich die gleiche Frage, die Matthew bereits am Abend seiner Ankunft gestellt hatte – wie wahrscheinlich war es, dass ausgerechnet sie beide sich trafen und nun miteinander verheiratet waren?

Wie es war, wenn man unfreiwillig Gefühle für jemanden empfand, das wusste Clarence längst. Jahrelang hatte er an der Seite einer Frau verbracht, für die er auf wahnsinnige Weise eine Zuneigung empfunden hatte… doch ohne diese Gefühle bis tief in sein Herz zu empfinden. Was er für Cassie empfand, war völlig anders als das, was Ruby-Sue ihn hatte spüren lassen. Es war intensiver, überwältigender und vor allem war es unschuldiger – nämlich auf jene Weise, wie er schon damals begonnen hatte Schwärmereien für andere Jungs zu empfinden, lange bevor diese Hexe in sein Leben getreten war.

„Ich weiß was du meinst….“ - Dass Matthew sich unbehaglich fühlte wenn Clarence in der Küche stand, konnte der Blonde ihm nicht übel nehmen und dieses Empfinden entsprach nicht etwa Zweifel an ihnen beiden, sondern ihre unabdingbare Sehnsucht danach, einander nahe zu sein. Sie waren fast seit dem ersten Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, unzertrennlich und selbst Zwischenstopps in Ortschaften hatten daran nichts ändern können. Über Jahre hinweg war ihre Freundschaft zu einem engen Vertrauensverhältnis heran gewachsen und aus jenem Vertrauen war schließlich eine Liebe entsprungen, die nicht etwa nur auf überbordenden Gefühlen baute, sondern aus tiefer, echter Verbundenheit zueinander.

Einen Moment betrachtete er Cassie schweigend, wieder zu ihm gewandt und an der Küchenzeile lehnend, bevor er sich von selbiger Abstieß und die kurze Distanz an das Fußende des Bettes überquerte. Noch auf der Decke ihrer Hunde zum Stehen kommend, strich er dem Jüngeren kurz durchs Haar, bevor er die andere Hand an das Kinn seines Mannes legte und sich zu ihm hinab beugte. Gefühlvoll aber fest war der Kuss, den er Matthew schenkte – und der keinen Spielraum ließ daran zu zweifeln, dass sie hier beieinander waren, weil sie beieinander sein wollten. Es mochte der Plan anderer gewesen sein oder auch nicht, man mochte sie bewusst zueinander geführt haben oder es war purer Zufall gewesen… Clarence war das egal. Er liebte und er vertraute seinem Mann und daran würde keine Vergangenheit etwas ändern, ganz gleich wie hart sie die beiden jungen Männer einholen würde.

Kurz leckte er sich über die Lippen, dem Geschmack seines Mannes nachspürend, während er sich wieder aufrichtete, noch immer strich er mit einer Hand durch das kurze dunkle Haar des Jüngeren. Er sah unverschämt schön aus mit seinem frischen Haarschnitt und seinen kandisfarbenen Augen, deren Blick Clarence regelmäßig um den Verstand zu bringen wussten.

Augen, die nichts gemein hatten mit jenem Mann, der Matthews Vater sein sollte.

Ich… muss dir etwas sagen. Etwas, das ich dir schon früher hätte sagen sollen. Aber…

Der Hüne schüttelte nach kurzem Schweigen sachte den Kopf, denn es gab Dinge, für die man manchmal einfach keine Erklärung fand. Dass der gütige Mann und ein einstiger Clananführer die gleiche Person war, zum Beispiel… aber auch, dass ein Totgeglaubter nach all den Jahren doch noch lebte. Wann war der richtige Zeitpunkt für solche Offenbarungen? Gab es einen richtigen Zeitpunkt überhaupt? Und was machte es aus einem, aus den Augen eines anderen betrachtet?

Nachdenklich begann er mit dem Nagel des Mittelfingers an seinem Daumen herum zu knibbeln, nachdem er sich von Cassie gelöst hatte um neben ihm auf der Bettkante Platz zu nehmen. Eindringlich betrachtete er seinen Mann, der ihm so oft das Gefühl gab ein guter Mensch zu sein, dass Clarence es manchmal selbst schon glaubte. Aber würde Matthew ihn auch noch so sehen wenn er wusste, warum Clarence ihn damals von diesem vermaledeiten Baum geholt hatte…?

„Ich hab dir mal davon erzählt… dass Plünderer nachts bei uns auf dem Hof waren, als ich noch ein Junge war. Sie haben meine Eltern getötet und ich war danach eine Weile bei… Benedicts Eltern, bis es mir wieder besser ging.“

Besser war relativ nach den Erfahrungen, die Clarence damals gemacht hatte. Dinge, von denen er Matthew nicht erzählt hatte – so wie sonst auch niemandem. Es hatte sich damals in Willow Creek und den umliegenden Siedlungen innerhalb des Madman Forest von ganz alleine herum gesprochen was auf dem Hof der Skys passiert war und außerhalb seiner Heimat hatte es nie wieder einen Grund gegeben näher darüber ins Detail zu gehen.

Nervös kratzte der Blonde an seiner Nagelhaut, während er Cassie musterte und dabei tief durchatmete.

„Meine Mutter hat uns damals im Verschlag der Hühner versteckt, aber mein Dad… ist im Haus geblieben. Er hat wohl gehofft, er könnte die Männer vertreiben. Manchmal… sind immer irgendwelche Leute von außerhalb gekommen und haben jemanden von uns überfallen, weil sie dachten… wir wären leichte Beute oder so. Meistens hat es gereicht ein bisschen um sich zu schießen, aber… aber das hat es damals nicht“, begann er leise und senkte seinen Blick schließlich an Cassie hinab auf seine Knie, im Versuch möglichst jene Bilder aus seinem Kopf aufzuschließen, die unweigerlich bei der Erinnerung an jene Nacht hervor zu brechen drohten.

„Sie haben-…“, er biss sich kurz auf die Unterlippe, entließ sie jedoch wieder und zwang sich weiter zu sprechen.

„S-Sie haben… meinem Dad ziemlich weh getan“, versuchte er schließlich die passenden Worte zu finden, die eher daran erinnerten, wie ein Kind die Situation beschrieben würde. Aber nichts anderes war er damals gewesen und auszusprechen, was genau sie getan hatten, würde die Sache nur noch greifbarer machen. „Meine Mutter ist irgendwann… Aus dem Hühnerverschlag raus weil sie es nicht mehr ausgehalten hat und dachte, sie könne ihn irgendwie davor bewahren. Weil sie…“ – dumm war, lag es ihm auf der Zunge – ein Satz den er nicht beendete, weil er es nicht übers Herz brachte so über jene Frau zu sprechen. Die Erinnerung an seine Eltern war nach mehr als zwanzig Jahren schon verblasst, sie waren mehr Jahre tot als sie mit Clarence verbracht hatten. Trotzdem tat es unheimlich weh an sie zu denken. Fast mehr noch, als es ihn bei Harper und Cordelia schmerzte.

„Ich war damals noch nicht aufgeklärt, aber ich… ich bin mir heute ziemlich sicher, dass… diese Männer… meine Mutter ziemlich lange geschändet haben. S-So klang es jedenfalls und… u-und ich glaube, dass mein Dad… mhh…“, unruhig pflückte er sich ein paar Fusseln von der Hose und räusperte sich unwirsch. „Ich hab ihn… noch eine Weile gehört. Ganz leise nur und i-irgendwann… nicht mehr. Nur noch meine Mutter. E-Es waren… nicht viele Männer. Zwei sind… ums Haus gelaufen und haben mich gesucht. Aber ich… ich b-bin nicht raus gekommen.“

Wie alt war er damals wohl gewesen? Zwölf, dreizehn etwa? Er war größer gewesen als die anderen Jungs seines Alters, lang und schlaksig, zumindest optisch seinem eigentlichen Alter bereits voraus. Alt genug jedenfalls, um bereits seinen Mann zu stehen und seine Mutter zu schützen. Aber das hatte er nicht getan – stattdessen hatte er sich weiter versteckt wie ein Tier, zu ängstlich um sich zu verteidigen.

Schwer schluckte Clarence den schmerzenden Kloß hinunter, der ihm im Hals saß und es ihm für einen Moment schwerer machte weiter zu reden. Seine Sicht war verschwommen, etwas das sich auch dann nicht wirklich änderte, als er sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen wieder trocken wischte.

„Irgendwann kam einer er beiden Männer am Hühnerstall vorbei. I-Ich d-denke er… wollte nur austreten. Aber er hatte eine Laterne dabei und hat mich… durch den Spalt der Bretter hindurch gesehen. Er hat ganz… nein, er hat nicht leise mit mir gesprochen, aber er hat… hat auch nicht nach den anderen gerufen. Er war groß und… seine Augen… waren stechend blaugrün, als er mich gemustert hat. Er hat…“

Kurz schwieg Clarence, verzog kurz den Mund und hob erstmalig wieder den Blick zu Cassie hinauf, während er den Kopf schüttelte.

„Es ist egal, was er gemacht hat. Alles, woran ich mich noch immer erinnern kann, war… dieser Mantel, den er trug. Ganz rot vom Blut meiner Eltern, das dachte ich, und… an seinen Namen, als die anderen ihn gerufen haben, nachdem meine Mutter keine Geräusche mehr gemacht hat. Belial. D-Das dachte ich all die Jahre, aber…“ – er zuckte hilflos mit den Schultern, denn auf einen R oder ein L am Ende, schien es nun nicht mehr anzukommen.

„Und dann… habe ich dich gefunden. Mit einem Mantel, den ich in dieser Farbe seit damals nirgendwo wiedergefunden habe und von dem ich nicht sagen konnte, ob er... ob er rot ist, weil er voll von Blut ist oder rot, weil er schon immer diese Farbe hatte. Ich weiß nicht, o-ob dich…“, er zögerte, weil er eigentlich nicht wissen wollte wie Matthew reagierte oder was er von ihm denken würde, wenn er erfuhr, was Clarence damals durch den Kopf gegangen war. Aber er würde es auch nicht ertragen nicht zu wissen, wie sein Mann diese Information auffassen würde.

„Ich weiß nicht, ob ich dich… ob ich dich damals in meinem Zustand mitgenommen hätte, wenn du nicht diesen Mantel bei dir gehabt hättest… oder was ich mit dir getan hätte, wenn du mir nicht irgendwann erzählt hättest, dass du ihn getötet hast.“

Doch die Frage war nicht nur, was das über Clarence als Mensch aussagte.

Die Frage war vor allem: Wenn Nagi und Rouge beide ein Team waren… was hatten dann beide in dem gleichen Dorf und auf dem gleichen Hof zu suchen, wenn auch zehn Jahre versetzt voneinander?

Mit verzogenem Gesicht rieb sich der Ältere schließlich über den Bauch, sich nicht sicher, ob ihm nur noch flau im Magen war, oder ob ihm einfach nur noch schlecht wurde.


Matthew C. Sky

Man hätte annehmen können, dass Matthew überrascht war zu hören, wie Clarence eben jenen Ort beschrieb von dem sie bis dato beide geglaubt hatten ihn als einziger von ihnen beiden zu kennen. 

Doch die schmucklose Wahrheit war, dass der Dunkelhaarige nicht länger an Zufälle in Bezug auf sie beide glaubte. 

Zu viele Weichen waren im Vorfeld gezielt gestellt worden, zu viel Zeit und Mühe in ihrer beider Ausbildung investiert worden als das man sie nicht für einen bestimmten Zweck hatte nutzen wollen. 

Ihre Wege hatten sich gekreuzt ohne sich wirklich über den Weg gelaufen zu sein, wobei Matthew diesen Punkt noch nicht gänzlich ausschloss. 

Was er aber sehr wohl für sich ausschließen konnte war, sich noch länger dem Luxus der Ungewissheit hinzugeben. 

Er wusste genau welchen Kamin Clarence meinte, er sah Rouge in seiner Erinnerung noch ganz genau dünne Umschläge oder kleine Päckchen durch die erloschene Feuerstelle schieben, unter Verrenkungen hatte er von unten nach oben gelangt und abgelegt was später der gütige Mann hatte finden sollen. 

Matthew sah auch den Stall vor sich. Glasklar abrufbar aus seiner Erinnerung. Ein paar Schindeln hatten gefehlt oder waren in Schieflage geraten aber sonst war das Gebäude noch recht gut in Schuss gewesen.  Es bestand nicht der kleinste Zweifel daran, dass Clarence mit seinem Lehrmeister den selben Ort besucht hatte wie Matthew mit Le Rouge. 

Und man konnte sagen das bedeutete etwas. 

Und was es bedeutete… das wurde mehr und mehr auch Clarence bewusst, dessen Gesicht so ernst und verhangen wurde, wie Matthew es von früher noch kannte. Düstere Gedanken hatten ihn eingenommen so wie schwarze Gewitterwolken einen blauen Himmel vereinnahmten und das Sonnenlicht verschluckten. 

Angespannt betrachtete Matthew ihn. 

Jenen Mann, auf den er offensichtlich nicht zufällig getroffen war - sondern der ihn hatte finden sollen. 

Jenen Mann, der der Lieblingsschüler eines unaussprechlichen Monsters gewesen war. 

Jenen Mann, von dem er wusste er war selbst zu schlimmen Dingen fähig. 

Jenen Mann, den er mehr liebte als sein eigenes Leben und das von jedem Menschen sonst auf der Welt. 

Es war ein seltsamer Moment zwischen ihnen, ein Augenblick während dem sie sich beide schweigend ansahen und musterten. Was Matthew vor sich sah war sein bester Freund, die Liebe seines Lebens und der Mann mit dem er eine Zukunft wollte. Was Clarence sah während er Matthew musterte…wusste der Jüngere nicht zu sagen, was es schwer für ihn machte still sitzen zu bleiben. Aber er blieb es dennoch - und schon wenig später setzte sich der Blondschopf in Bewegung und erlöste Cassiel von seiner Unsicherheit. 

Innerlich aufatmend entspannte er sich wieder ein bisschen und schloss instinktiv ergeben seine Augen als Clarence ihm durch das Haar strich und ihn kurz darauf küsste. 

Es war ein Kuss der Liebe - keiner aus Vernunft… und wie sehr er diesen Kuss gebraucht hatte, das fühlte der Jüngere erst als er ihn empfing. 

Sein Herz wurde leichter und er lehnte sich dem Größeren entgegen. Kurz hob er seine Hand und strich mit den Fingern durch den Bart seines Liebsten, so wie er es seit ihrem allerersten Kuss vor den Toren von Coral Valley immer schon tat. 

Und als Clarence die Berührung ihrer Lippen wieder aufhob, da öffnete Cassiel die Augen wieder und erwiderte den Blick seines Mannes. Er wollte sagen, dass er ihn liebte - doch die Worte blieben unausgesprochen auf seiner Zunge liegen, just in dem Moment erkennend, dass noch immer Düsternis in den Augen des Größeren lag. 

Irritiert musterte er seinen Mann, welcher sich schließlich zu ihm auf das Bett setzte und sich zögerlich über die Lippen leckte, ehe er einen Satz sagte der die aufgekeimte Erleichterung direkt wieder erstickte. 

Ich… muss dir etwas sagen. Etwas, das ich dir schon früher hätte sagen sollen. Aber…

So oder so ähnlich fingen zumeist die schlimmsten Offenbarungen an und Matthew versuchte sich innerlich gegen das zu wappnen, was Clarence so sehr beschäftigte. 

Angespannt, still und aufmerksam hörte der Jüngere dem Anderen zu und nickte stumm, als dieser das Thema auf ein Ereignis lenkte, von dem er Matthew bereits vor einiger Zeit berichtet hatte. 

Dass die Eltern des Blonden ermordet worden waren wusste er…und dennoch versetzte es Matthew nicht nur einen kurzen Stich im Herzen, sondern es breitete sich ein sengender Schmerz in seiner ganzen Brust aus, so sehr tat es ihm weh den Blonden leiden zu sehen. 

Nur allzu bildhaft konnte er sich Clarence vorstellen wie er als Junge, kaum älter als vielleicht zehn Jahre, jenem Martyrium hatte beiwohnen müssen. Dinge zu sehen, zu hören, sich auszumalen… und permanent in Panik versetzt, dass man ihn auch finden könnte. 

Was Angst mit einem Menschen machte, das wusste Matthew nur allzu gut und umso schlimmer machte es die Erzählung der er lauschte. 

Die Stimme des Größeren klang vorsichtig und zögerlich, er rang nach Worten die richtig waren… aber es gab für falsche Erlebnisse keine richtigen Worte. Schweigend legte Matthew seine Hand auf Clarence‘ Knie und streichelte beruhigend darüber hinweg. 

„Ich weiß…das haben sie. Schon gut, Baby.“ - Clarence stand selten neben sich, aber jetzt gerade tat er es und bei Gott: Matt konnte es ihm nicht verdenken. Was er als Kind im eigenen Zuhause erlebt hatte war grausam und bestialisch. Es wühlte ihn auf und Matthew wünschte sich von ganzem Herzen, dass er ihm etwas von seinem Schmerz abnehmen könnte. 

Worauf der Blonde hinauswollte…das verstand Matthew nur allmählich aber als er es tat, da nahm das Unbehagen mit einem Schlag fast schon monströse Ausmaße an. 

Unbehaglich rutschte Matthew hin und her, streichelte über das Knie des Blonden und musterte ihn ganz genau. 

„Du warst noch jung, Baby…Du hättest nichts tun können. Du hättest…sie nicht retten können.“, flüsterte er ihm zu, bereits jetzt auf eine Weise alarmiert wie es nur Liebende in Bezug auf den anderen sein konnten. 

„Dass du überlebt hast…ist…alles was deine Eltern wollten. Sie sind…sie wären…stolz auf dich.“

Vielleicht wäre es klüger und passender gewesen, hätte er einfach nur zugehört, doch Clarence so zu sehen tat ihm selbst im Herzen weh und noch bevor der Blondschopf jenen verhängnisvollen roten Umhang erwähnte, lehnte Matthew sich nach vorne und nahm den Blonden kurz in den Arm, ehe er ihm einen kleinen Kuss auf die Wange gab. 

Was der Größere aber schließlich sagte, welche Verbindung er herstellte, dass ließ mit einem Schlag alle Farbe aus Matthews Gesicht weichen. 

Sein Herz schien für ein paar Schläge lang auszusetzen und die Zeit stand für Sekunden still - Sekunden die zu einer Ewigkeit wurden, während Clarence sprach und Matthew begriff. 

Wie Säure bahnte sich das Verständnis und gleichwohl das Entsetzen seinen Weg durch die Blutbahnen des Jüngeren, ließen ihn ungläubig und fassungslos dreinschauen während die Wahrheit in seinen Geist sickerte. 

Le Rouge war dort gewesen. In jener Nacht in der Clarence zum ersten Mal seine Familie verloren hatte. Er war dort gewesen, hatte gemordet, hatte zerstört, hatte auseinandergerissen was zusammengehörte. Und nur der Teufel wusste, was er vielleicht noch getan hatte…

Matthew musste nicht dort gewesen sein um jenen Mann vor sich zu sehen. Ein Mann mit dunklen Haaren und stechenden Augen, mit markantem Kinn und einer geraden, spitzen Nase. Er hatte das Gesicht eines Raubvogels, scharfkantig und einprägsam und seine Augen funkelten kalt. Es hatte nie auch nur ein Funken Wärme in ihnen gelegen so lange Matthew ihn gekannt hatte. Und in jener Nacht auf dem Hof der Skys war das sicher nicht anders gewesen. 

„…es ist egal was er gemacht hat…“, Cassiel, der geglaubt hatte ihm könne unmöglich noch kälter werden, erstarrte regelrecht vor Entsetzen während der Blonde weiterredete. Doch alle Worte die auf jenen Satz folgten waren weit weg. Für den Jüngeren gab es gerade nur eine einzige Frage zu stellen und nur eine einzige schreckliche Befürchtung. 

Eine, die mit der Offenbarung des Blonden nichts zutun hatte. Noch immer sah Matt ihn an, hörte ihm zu und fühlte sich selbst mit jeder Sekunde elender. Der Schmerz des Größeren war so pur und so schrecklich offensichtlich, dass es Cassiel schließlich nicht mehr aushielt. 

Er lehnte sich nach vorne und schlang unvermittelt und fest beide  Arme um den Blondschopf ehe er ihn an sich zog, in eine feste, beschützende Umarmung aus der er ihn auch nicht wieder freigab. 

Tränen schimmerte in seinen Augen und sein Herz raste ebenso wie seine Gedanken. 

„Es tut mir leid…“, flüsterte er zuerst, während er Clarence über den Nacken strich. „Wenn…ich davon gewusst hätte, hätte ich den Mantel nie behalten. Ich wusste nichts davon, dass Rouge dort war…Ich wusste nichts von seiner Beteiligung und…wenn ich es gewusst hätte, hätte ich dich den Mantel in tausend Fetzen schneiden und verbrennen lassen.“ 

All die Zeit hatte er den Mantel als eine Art Trophäe getragen. Er hatte Rouge alles nehmen wollen, ihn all der Dinge berauben die er besaß. Nur deshalb hatte er das Kleidungsstück und zahlreiche andere Dinge mitgenommen. 

Für ihn waren es damals Beweise seines Sieges gewesen - den auszukosten er nicht lange in der Lage sein würde, so seine damalige Annahme. 

„Jeden Tag hab ich dich damit an ihn erinnert…Du hättest es mir sagen sollen…dann…hättest du ihn nie wieder ansehen müssen.“

Dass Clarence auf etwas ganz anderes hinauswollte, dass er sich schuldig fühlte weil er Matthew damals nicht in einem Akt der Gnade oder Selbstlosigkeit gerettet hatte…jene imaginäre Schuld war für den Jüngeren so absurd und unvorstellbar, dass er das Geständnis des Blonden gar nicht als solches auffasste. 

„Baby…w-was…was hat er damals getan? Hat er d-dich…?“ er schluckte hart, zögerte und hielt Clarence fest bei sich, ihm schließlich einen Kuss auf sein Ohr drückend. „Hat er d-dir wehgetan…? Dich irgendwie…n-naja…dich angefasst…?“ - Matthew wusste nicht was er tun würde, sollte die Antwort auf jene Frage Ja lauten. Aber schon jetzt wusste er, dass Le Rouge dem Tod geweiht war.  Er hätte ihn schon damals töten sollen…doch den Fehler es nicht zutun würde er kein zweites Mal begehen. 

„Ich liebe dich, h-hörst du. Ich liebe dich immer.


Clarence B. Sky

‚Dass du überlebt hast…ist…alles was deine Eltern wollten‘, ließ Matthew ihn leise wissen und tief in seinem Inneren wusste Clarence genau das auch. Er war selbst Vater . beziehungsweise war es gewesen, in einem anderen Leben – und er wusste aus eigener Erfahrung, dass nichts auf der Welt wichtiger war als das Überleben des eigenen Kindes, kaum da man es zum ersten Mal im Arm hielt und sah. Es war eine bedingungslose Liebe, die man erst begriff wenn man selbst Kinder hatte… ein Gefühl, das gänzlich anders war als das zu den Eltern, dem Partner oder es vermutlich zu Neffen, Nichten, Geschwistern, Patenkindern oder sonstigen Menschen war, die einem nahe stehen konnten. Blickte man das erste Mal in diese wachen dunklen Augen dieses kleinen Geschöpfes, während es mit seinen Fingern nach einem langte, veränderte sich die ganze Welt um einen herum und so wie eine Kompassnadel sich immerzu gen Norden ausrichtete sobald man sie empor hob, so würden sich alle Entscheidungen und guten Gedanken fortan nur noch um dieses Kind drehen.

Clarence sah noch immer die wachen Augen seiner Mutter vor sich, die ihn mit einer derartigen Entschlossenheit anblickte, dass es ihm selbst brennende Tränen neu empor schießen ließ, die seinen entrückten Blick jedoch nicht verließen. Gail Sky war eine Frau gewesen, die… die so einfach gewirkt hatte in ihrer Art. So unbedarft und manchmal etwas tapsig. So unschuldig. Clarence konnte nicht an sie denken ohne auf ihrer Haushaltsschütze Grasflecken zu sehen, weil sie beim Hereinholen der frischen Wäsche mal wieder den vorbeiziehenden Wolken nachgeschaut oder nach ihrem Mann Ausschau gehalten hatte, dabei selbst über die eigenen Füße fallend. Ihr Lachen hatte manchmal den ganzen Hof eingenommen und wenn er an sie dachte, konnte er mit jeder Faser seines Herzens verstehen, warum sein Dad sie für den besten Menschen der Welt gehalten hatte. Wenn sie sonntags nach der Kirche Brot gebacken hatte, war die ganze Küche mit dicken Mehlstaub bedeckt gewesen und nicht selten hatte Claire neben ihr Tiefe oder Pflanzen mit dem Finger auf die bemehlte Holzplatte gemalt, während sein Vater scherzhaft darüber schimpfte, dass sie wegen Gails Unachtsamkeit im Winter alle verhungern würden.

Aber sie waren nicht im Winter verhungert. Es war warmer Sommer gewesen, als seine Mutter ihm mit diesem wachen Blick das Hemd bis oben hin zugeknöpft und ihre Strickjacke ausgezogen hatte, um sie ihm über den Schoß zu legen, damit er tief in der Nacht nicht anfangen würde zu frieren.

Hatte Gail damals schon gewusst, dass sie nicht mehr zu ihm zurück kommen würde um ihn zu holen?

Hatte sie entschieden, dass sie lieber im Tod mit ihrem Mann vereint sein wollte als ein Leben alleine mit ihrem Sohn zu führen?

Der Blonde verzog kurz den Mund und biss sich von innen auf die Wangen, um über all diese und noch mehr ungestellte Fragen nicht länger nachzudenken, die ihn seit nunmehr sicher zwei Jahrzehnten begleiteten. Natürlich hatte sie gewollt, dass ihr Kind überlebte – aber sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht was aus ihrem Kind werden würde, wenn sie es alleine auf dieser Welt zurück ließ. Ob sie stolz auf ihn wäre oder nicht, das war eine Frage die sich Clarence nur selten stellte wenn er an seine Mutter dachte; denn an den meisten Tagen – so kam es ihm zumindest vor – war es einfacher einfach nur wütend auf sie zu sein anstatt zu hoffen, dass sie noch irgendwo war und von dort auf ihn Acht gab.

Matthews Umarmung, in der er den Älteren fest umschlungen hielt, fühlte sich wie eine wärmende Decke an und gleichsam für den Moment doch so weit entfernt, dass seine Anspannung darunter nur langsam nachließ. Noch immer fühlte sich sein Mangen an, als hätte er sich gerade in seinem Bauch einmal herum gedreht und Claire schloss in einem stillen Seufzer kurz die Augen, während dem er seine Hand Nähe suchend auf den fremden Schenkel neben sich legte.

Ruhelos strich sein Daumen über den vertrauten Untergrund, eine liebevolle Geste derer er sich oft nicht verwehren konnte während sie nebeneinander saßen und die ihm auch nun wieder ein bisschen Ruhe zu schenken schien, während der Jüngere ihn noch immer fest bei sich behielt. Warm und wohltuend spürte er die Küsse seines Mannes auf Wange und Ohr nachkribbeln und lehnte sich schließlich sanft gegen den Dunkelhaarigen, dessen Nähe sich so unheimlich gut anfühlte.

Fast hatte er in all den Wochen ohne Cassie vergessen wie sich das anfühle. Wie es war, wenn man seinen besten Freund bei sich hatte. Wie es war bedingungslos geliebt zu werden, ganz gleich welche dunkle Last man bei sich trug oder welchen Fehler man begangen hatte. Wie es war behütet zu werden, anstatt immer nur stark sein zu müssen.

Matthew wieder bei sich zu haben bedeutete nicht, nur, nicht mehr alleine zu sein – sondern sich auch endlich wieder ein bisschen mehr Zuhause zu fühlen, selbst wenn Falconry Gardens nicht ihr Zuhause war.

Schließlich, nach längerem Schweigen, schüttelte Clarence still den Kopf, beinahe wie aus dem Kontext gerissen. Doch er ließ seinen Mann nicht länger im Ungewissen.

Nein, nein… nein, er… hat mich nicht angefasst. T-Tut mir leid, wenn es… danach klang“, wisperte er leise, sich wohl darum bewusst, welchen dunklen Beigeschmack ein derartiges Thema für Matthew hatte. Der Blonde hatte ihn nicht glauben machen wollen, dass so etwas geschehen war und vielleicht hätte er seine Worte besser wählen sollen, denn ihm Angst zu machen war das Letzte, was Clarence wollte. „Er hat mich… mich entdeckt und… irgendwas davon gelabert, dass ich… dass ich…“

Ja, was hatte er erzählt, dieser Mann in seinem blutverschmierten Mantel und der Fackel in der Hand?

Clarence konnte sie noch sehen, die Flamme, wie sie in diesen blaugrünen Augen tanzte. Das ist der Teufel, der Teufel, war ihm damals durch den Kopf geschossen und der Name dieses Monsters hätte nicht besser auf diesen Gedanken passen können. Von Kindheit an war ihm eingetrichtert worden, dass außerhalb der Wälder das Fegefeuer lauerte und nur der Teufel allein dazu in der Lage war, von den sicheren Pfaden abzuzweigen, die ihre Gemeinde mit den sicheren Häfen außerhalb verband. Das ist er, hörte er noch seine eigenen Gedanken, während er über die Schulter hinweg hinter sich durch die Spalten in den Holzplanken spähte, hinauf zu diesem Mann, von dem er nichts erkennen konnte außer seinen stechenden, lodernden Blick und seinen roten Mantel, der im Schein der Fackel regelrecht zu brennen schien.

Du bist eigentlich schon zu alt. Aber es wird schon gehen‘, hörte er die dunkle, rauchige Stimme des Monsters hinter sich raunen und kurz darauf das prägnante Geräusch von Knöpfen, die sich mit Gewalt aus ihren Ösen lösten. Die Fackel, die er in seiner Hand gehalten hatte, war irgendwann während seiner wenigen Worte ins Gras gesteckt worden und hatte die Schatten seiner Wangen dunkel über seine Augäpfel hinweg geworfen – was den Jungen im Hühnerverschlag davor bewahrt hatte weiter diesen stechenden Blick zu ertragen, während sich unter dem roten Hut des Fremden dessen Lippen dann und wann auf dem totenkopfartigen Antlitz geöffnet hatten.

Ob er noch anderes zu ihm gesagt hatte, wusste Clarence nicht mehr. Aber er konnte sich an das Gefühl erinnern, als dieser Mann ihm in der Kälte der Nacht durch das Holzspalier ins Gesicht und über den Hals gepisst hatte. Wie sich sein beißender Urin in das bis oben zugeknöpfte Hemd und in die Strickjacke seiner Mutter gesogen hatte – und dass er sich wider Erwarten nicht gleich wieder eingepackt hatte. Dass er dann und wann gegrunzt hatte, er solle es nicht wagen wegzusehen. An animalische Geräusche. Und daran, dass es irgendwann vorbei gewesen war. Bis die Stimme des Teufels nicht mehr das Weinen und Jammern seiner Mutter übertönt hatte, ihn schließlich wieder alleine zurück lassend bei den Hühnern, in Pisse und Angst.

 

Clarence hatte seit damals nicht darüber nachgedacht was in jenen Minuten geschehen war, geschweige denn mit jemandem darüber geredet. Auch jetzt fasste er seine Gedanken über jene Nacht nicht in Worte, sondern starrte schweigend vor sich hin, während er die berechtigte Fragen des Jüngeren Revue passieren ließ, die er sich selbst als Erwachsener nie auf diese Weise gestellt hatte. Über das widerliche Gefühl von diesem Mann ins Gesicht gepisst zu bekommen, hatte er sich nie hinaus gefragt, was der Mann im roten Mantel mit dem blonden Kind bei den Hühnern getrieben oder was Barthy Junior da damals vor seinen Augen gesehen hatte, während der rote Teufel ihn angegrunzt hatte, bloß seinen Blick nicht abzuwenden.

„Ich glaube, es wäre besser gewesen, hätte er es getan“, erhob er schließlich ungewohnt fest seine Stimme und sah erstmals wieder zu Matthew auf. Sein Blick wirkte entrückt, so wie der eines Kindes, das in seinem Leben schon zu viel gesehen hatte und nicht mehr zurück fand zu jener Zeit der Unschuld, in der es noch heil und alles in Ordnung gewesen war. „Ich glaube, es wäre besser gewesen, hätte er mich angefasst oder mir weh getan. Das glaube ich wirklich.“

Vielleicht wäre er dann zu abgelenkt gewesen für den Anblick, den er vorgefunden hatte, nachdem er sich am Morgen zurück ins Haus getraut hatte, bevor er für Stunden unter sein Bett gekrochen war. Oder er hätte Ruby-Sue eher zugetraut den Mädchen weh zu tun, wenn er am eigenen Leib erlebt hätte, zu was Erwachsene in der Lage waren.

Vielleicht hätte Gott dann aufgehört ihn damit zu strafen ihn heil zu lassen, während er allen anderen weh tat, die er so sehr liebte.

Vielleicht hätte Gott dann auch Matthew heil nach Hause kehren lassen, anstatt ihn in der Eisöde den Mutanten zum Fraß vorzuwerfen und ihm damit solchen Kummer zu bereiten.

Ich bin… so unbeschreiblich froh, dass du wieder da bist. Und dankbar, dass es diesen elenden Mantel im Zeppelin vermutlich in tausend Fetzen zerrissen hat. Tu mir nur einen Gefallen und… kauf dir den Rest unseres Lebens einfach keine roten Jacken oder Mäntel mehr, ja?“, traurig streichelte er über Cassies Oberschenkel hinweg, den er noch immer sanft in seiner Hand hielt. Egal was diese beiden Männer ihnen in der Vergangenheit genommen hatten und ganz gleich, dass sie nur dieses gemeinsame Leben führten weil man ihnen das alles genommen hatte… sie beide waren noch da. Gemeinsam.

Und Clarence stellte diese Liebe nicht in Frage.


<- ZURÜCK          WEITER ->