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Zuhause

03. Januar 2211


Matthew C. Sky

Neujahrsnächte und ganz besonders auch die Morgen danach waren für Matthew mehrheitlich unangenehm und nicht selten auch etwas peinlich gewesen. Nämlich dann, wenn man den Rausch hinter sich gelassen hatte und nach dem ersten verkaterten Blinzeln feststellte, dass der Ort an dem man gelandet war bei Tageslicht weit weniger angenehm aussah wie noch Stunden zuvor. Und richtig unangenehm wurde es, wenn man dann auch noch feststellte, dass die Dorfprinzessin doch eher in Richtung Stallmagd ging. Aber selbst wenn das Mädchen auch bei Tageslicht schön und das Haus ordentlich war, so hatte dies die Sache nicht leichter gemacht. 

Zu verschwinden ohne erwischt zu werden war ihm nicht immer gelungen, auch wenn er seine Technik im Laufe der Zeit immer mehr verfeinert hatte. Sich davonzuschleichen wie ein Dieb - der er durchaus auch so manches mal gewesen war - war in Falconry Gardens zum Glück nicht nötig gewesen. 

Den Morgen nach dem Jahreswechsel hatten Clarence und er einfach verschlafen und waren erst weit nach Zwölf überhaupt wieder erwacht. 

Zu dieser Zeit hatte man in der kleinen Stadt bereits begonnen die Spuren des Fests wieder zu beseitigen. Straßen wurden gefegt, die Buden abgebaut. Die Wimpel und Girlanden hingegen blieben noch an den Fenstern, Dächern und Zäunen. Als gutes Omen für das neu angebrochene Jahr würde der Festschmuck noch die nächsten dreißig Tage zu sehen bleiben, ehe man ihn schließlich verräumte bis zur nächsten Jahreswende. 

Die beiden jungen Männer beteiligten sich an den Aufräumarbeiten in keiner Weise, einmal schlug Clarence halbherzig vor, dass sie sich anziehen mussten um sich wenigstens mal kurz bei den anderen blicken zu lassen und so zutun als würde man helfen. 

Ein nobler Gedanke, wie er nur von Clarence kommen konnte… und wie er nur von Matthew im Keim zu ersticken war. 

Erst am Tag darauf verließen sie die Wohnung wieder, es gab nach wie vor genug zutun und darüber hinaus fand im Haupthaus des Clans eine Zusammenkunft aller Jäger statt. An jenem Treffen durften auch die Angehörigen der Clanmitglieder teilnehmen  - zumindest eine Zeit lang. In jener Zeit wurde Essen aufgetafelt und diverse Pläne für das Jahr erörtert - wobei man nicht ins Detail ging. Danach tauschte man sich in ungezwungener Runde etwas aus, bevor jene gingen die nicht direkt zum Clan gehörten. 

Es war bei jenem Event als Matthew zum ersten Mal auf Mo’Ann traf. Eine Frau mit eigenwilligem Äußeren, deren Augen wach wie die eines Raubvogels waren. 

Als sie einander vorgestellt wurden, da ließ sie sich nicht anmerken ob sie Matthew in irgendeiner Form zuordnen konnte. Sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen und doch hatte Matthew keinen Zweifel daran, dass sie wusste wer er war. 

Mit einem augenscheinlich höflichen Nicken hatte sie auf das Schmuckstück gedeutet, welches Matthew an jenem Tag an einer Kette um den Hals trug. Es war der goldene Ring mit dem auffällig grünen Stein in der Mitte. 

„Ein wunderschönes Schmuckstück. Sicher ein Unikat.“ - bei jenen Worten hatte sie wie eine Sphinx gelächelt und Matthew direkt in die Augen geblickt. So als würde nicht der Ring selbst es sein, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Vielleicht weil sie ihn schon kannte.

 „Danke. Es ist ein Erbstück.“ - hatte Matthew erwidert und dabei nicht minder freundlich gelächelt - nur das jenes Lächeln seine Augen nicht erreichte. An jenem Tag hatten Mo‘Ann und Matthew einander zum ersten Mal direkt gegenübergestanden und obgleich das Treffen und der kurze Austausch banal hätte sein können, so hatten sie beide auf subtile Weise dem anderen zu verstehen zu geben, dass man wusste wer da vor einem stand. Ohne Zweifel war Mo‘Ann eine gewiefte Frau, kein Dummchen welches unvorbereitet durch das Leben taumelte ohne zu wissen wie ihr geschah. Und obwohl Clarence ihm schon so manches über jene Frau berichtet hatte, so wirkte sie auf Matthew doch beinahe enttäuschend klein und ganz und gar nicht beeindruckend. Wach und klug sicherlich. Und doch war sie nicht mehr als eine Frau die ihren Zenit an Lebenszeit bereits überschritten hatte. 

Die Sonne war längst untergegangen und Clarence und Matthew waren bereits seit einiger Zeit wieder zuhause. Mit bei ihnen waren Kain und Abel welche es sich in der Diele - möglichst weit weg vom wärmenden Feuer - bequem gemacht hatten. Cassie - der sich bereits fertig fürs Bett gemacht hatte, ließ sich rücklings auf die Matratze fallen und seufzte laut. 

Die Arme ausgebreitet blieb er liegen und starrte an die Decke. 

„Morgen. Morgen ist der Tag.“ - es war unnötig zu erwähnen was für einen Tag er meinte und ohnehin klang es so, als würde er das mehr zu sich als zu Clarence sagen. „Du weißt wo sie die Nacht verbringt, richtig? Und du weißt wie man reinkommt ohne gesehen zu werden.“ - soweit waren die Dinge klar. Mehr allerdings nicht - was selbst für ihre Verhältnisse ein dürftiger Plan war. Nachdenklich verfiel er wieder in Schweigen, wobei er auf seiner Unterlippe herum kaute.


Clarence B. Sky

Mit eng zusammengezogenen Brauen versuchte Clarence den Buchstaben zu folgen und tat sich doch mehr als schwer damit, das handgeschriebene Herbarium zu entziffern. Natürlich hatte er die ersten drei der insgesamt fünf Bände nicht gelesen, sondern sich einfach das aus dem Bücherregal der Clanbibliothek genommen, das ihm gerade vor die Nase gestürzt war.

Ohne Zweifel war das Buch älter als vermutlich jeder hier in Falconry, obwohl es definitiv aus ihrer Zeit stammte. Dickes, schweres Leder fasste die Pergamentseiten ein, geziert durch ein handgefertigtes Kräuterbildnis, das man vorne auf dem Buchdeckel eingearbeitet und mit Farbe verziert hatte. Claire hätte beim Aufschlagen der Seiten schwören können, dass man echte Blätter und Kräuter getrocknet und in die Seiten eingearbeitet hatte, doch als er mit den Fingern darüber gestrichen war, hatten sich die detaillierten Abbildungen doch tatsächlich als Malerei entpuppt – und zwar von derart exquisiter Art, dass selbst ein Schamane wie er den Darstellungen keine Kritik hätte aufzwingen können.

Eigentlich war Matthew der Künstler unter ihnen, aber nicht zuletzt die Zeichnungen waren es zuletzt gewesen, die ihn das Buch hatten mitnehmen lassen – denn jetzt, wo er versuchte sich näher mit dem Inhalt des Lehrbuchs auseinander zu setzen, fand sich der Blonde beinahe in purer Verzweiflung wider.

Gly…phs… Gyn…f…scho… filla pancake… Carniofilla….,formten seine Lippen tonlos eben jene Buchstaben zusammen, die für ihn in Verbindung alle überhaupt keinen Sinn ergaben. Bislang hatte er sich mit leichter Literatur irgendwie über Wasser halten können um seine knäpplichen Lesekünste zu verbessern und nicht zuletzt die einfachen Lernhefte, die er mit Lucy und Gabe gefunden und bearbeitet hatte, hatte ihm bei einigen Dingen ein Licht aufgehen lassen, wo Erklärungen seines Mannes ihn noch im Dunkeln gelassen hatten.

Selbst die Briefe, die er hinaus in die Welt geschickt hatte um nach Cassie zu suchen, waren bei weitem nicht fehlerfrei gewesen. Da halb nicht mal das dicke Wörterbuch ihm richtig, das Mo’Ann ihm aufs Auge gedrückt hatte weil sie der Ansicht gewesen war, dass man mit seinem Kauderwelsch am Ende nur den guten Ruf des Clans schädigen würde. Von den Fachbegriffen Gypsophila paniculata und Caryophyllaceae war er also noch weit entfernt, auch wenn das Schaubild daneben ihm eindeutig verriet, dass es irgendwo in diesem Text wohl um Schleierkraut gehen musste.

Dass ihm der Kopf schon wieder dröhnte und die Augen von den ganzen Buchstaben weh taten, machten seine Konzentration nicht gerade besser. Die Brille, die er damals in den Wrackteilen in Denver gefunden und eigentlich nur zu Spaß aufgesetzt hatte, hatte das längere Lesen tatsächlich einfacher gemacht ohne ihn so sehr anzustrengen wie nun ohne; trotzdem würde er sich nicht die Blöße geben und das Ding von Cassie aufsetzten, nur um sich von dem Torfkopf aufziehen zu lassen. Da bekam er ja lieber noch tiefe Falten auf der Stirn, weil er die Brauen so weit zusammen zog.

Rad… iärsy…m…metrie…“, murmelte Clarence schließlich verständnislos, immerhin wusste er nicht in welchem Zusammenhang hier die Pflanze nun zu einer Metrie und zum Rad stehen sollte. Während sich das schwere Gewicht des jüngeren vor ihm aufs Bett fallen ließ – die Beine des Blonden waren im Schneidersitz zum Glück bruchsicher vor der Sturzattacke seines Mannes verborgen – wanderte sein Blick zurück zum Schaubild der Planzenblüte. Vielleicht hatte das Metrie-Rad etwas damit zu tun, dass eine Blüte mit viel Fantasie aussah wie die Zwischenräume zwischen den einzelnen Radspeichen? Aber was war dieses Iärsy? Oder Radi Ärsi Metrie?

„Was?“, wollte er schließlich von Matthew wissen und warf nun doch wieder einen flüchtigen Blick auf seinen Mann, der genauso nachdenklich aussah wie Clarence sich fühlte. Vermutlich verbrachte das Schleierkraut seine Nacht irgendwo draußen auf dem Feld, wobei er zu bezweifeln wagte, dass bei dieser Witterung aktuell überhaupt irgendwas zu blühen begann.

Aus den Regenschauern, die das Tal in den vergangenen Tagen im Griff gehalten hatten, waren in der vergangenen Nacht schlagartig wieder Schnee geworden und die Temperaturen ins Minus gefallen. Nicht nur ein Mal hatten sich die Leute auf dem Weg von der Stadt hoch ins Haus des Clans ein Mal auf dem Gehweg lang gelegt, als sie unter der Schneedecke auf einer gefrorenen Pfütze ausgerutscht waren. Selbst Clarence war davon nicht verschont geblieben und hatte sich zu seinem eigenen Unglück auch noch mit dem eh schon angeschlagenen Arm aufgefangen – doch nicht die Schmerzen in Schulter oder der danach erneut blutenden Wunde waren das wirklich Schlimme gewesen, sondern eher das Geschimpfe des Jüngeren, der natürlich nicht hatte an sich halten können, dass sie besser einfach weiter Zuhause geblieben wären.

Es dauerte einen Moment, bis es dem Jäger langsam dämmerte worauf Cassie hinaus wollte und kaum so geschehen, schlug er sein Buch sachte zu, um sich nachdenklich auf seiner Seite des Bettes zurück gegen das Kopfteil zu lehnen. Trotz dem wärmenden Feuer im Ofen und der langen roten Unterwäsche, die er trug, fröstelte es ihn schlagartig ein wenig und er konnte nicht sagen ob es an den Plänen generell lag, die sein Mann hegte, oder einfach nur daran, dass seine Pläne unheimlich unausgegoren waren.

Er schwieg einen ziemlich langen Augenblick, bevor er schließlich doch wieder die Stimme erhob:

„Ich weiß noch vorletztes Jahr im Sommer, als wir keinen krummen Kupferling hatten, nach einer Ewigkeit endlich wieder in einer Stadt waren und du unbedingt in einem Gasthof was richtiges essen gehen wolltest. Und du meintest: ‚Ach, bis es ans Bezahlen geht, haben wir uns schon was einfallen lassen‘.

An dieser Stelle erinnere ich dich daran: Nein, wir haben uns nichts einfallen lassen. Und ja, am Ende hast du dich so besoffen, dass ich die von dir geprellte Zeche den Rest der Nacht in der Küche abarbeiten musste, weil du mit der Tochter des Lederers durchgebrannt bist.

Und ich sage dir: Selbst das war mehr Plan als ‚Du weißt wo sie schläft und wie wir rein kommen‘.“

Missbilligend hob er die Brauen, schüttelte mit dem Kopf und schlug das Buch auf seinem Schoß wieder auf, doch allerdings nur, um es gleich darauf wieder zuzuschlagen und schließlich zur Seite auf die Nachtkommode zu legen.

Still faltete er die Hände im Schoß und betrachtete Matthew, der sich mit einer Selbstverständlichkeit über dieses Bett warf und davon sprach, dass Morgen jener eine Tag sei, als würden sie bereits seit Wochen über nichts anderes mehr reden. Aber das hatten sie nicht. Nicht im Geringsten – und der Plan Wir wissen wo sie schläft und wie wir rein kommen war selbst für Matthew was einen Plan anging ein Tiefpunkt, der so noch nie da gewesen war.


Matthew C. Sky

Manchmal hatte Clarence echt Nerven und gerade jetzt war so ein Moment. Er schlug das Buch zu und erinnerte sich an ein Vorkommnis das beinahe zwei Jahre zurücklag. 

Matthew schnaubte missbilligend und blickte mit gerunzelter Stirn zu dem Blonden, wobei er weiterhin rücklings ausgebreitet auf dem Bett lag. 

„Du bist sowas von nachtragend.“ war sein erstes Statement diesbezüglich. Denn leugnen war ohnehin zwecklos. Sie wussten beide, dass sich die Sache genauso ereignet hatte - bis auf einen kleinen, feinen Unterschied welchen der Dunkelhaarige im Folgenden aufzeigte. 

„Außerdem war es die Tochter des Färbers und nicht die des Lederers.“

Nun da auch das geklärt war, verfiel er wieder in nachdenkliches Schweigen und blickte zurück zur Zimmerdecke die schmucklos weiß war. 

Er wusste, dass Clarence wusste, dass ihm klar war worum es dem Blonden ging. Nämlich darum, dass es keinen wirklichen Plan für das Kommende gab. Und dass das nicht nur riskant war sondern auch gefährlich. 

Er war hierher gekommen um Clarence zu finden, aber auch um reinen Tisch zu machen. Wäre Clarence nicht hier und nicht am Leben gewesen, so hätte er Mo‘Ann bereits vom Antlitz des Planeten getilgt und wäre weitergezogen zum nächsten Mitwisser und Beteiligten. So lange bis sie alle tot waren oder er selbst ermordet worden wäre. 

„Ich weiß was du denkst.“, durchbrach er schließlich die Stille und für einen Augenblick schien es, als würde damit schon alles gesagt sein. 

Doch schließlich sprach Matthew weiter. 

„Du glaubst, ich sollte einen Plan haben. Etwas ausgefeiltes, etwas detailliertes… aber ich hab sowas nicht. Weil…“ wieder zögerte er angespannt, unterließ es jedoch auf seiner Lippe herumzubeißen. 

„…weil ich nicht weiß was passieren wird. Ich glaube nicht, dass sie unser Treffen überlebt. Und falls ich recht habe, werden wir hier nicht bleiben können.“ - nun suchte er wieder Clarence’ Blick. Das hier war mehr das Zuhause des Blonden als seines und es zu verlassen würde ihm schwerer fallen als Cassie - einfach, weil er mehr aufgab. 

„Wir müssen nicht… sofort verschwinden, jedenfalls nicht wenn uns keiner bemerkt. Aber…“, nun seufzte er leise und presste die Lippen aufeinander. Das Thema war aus vielerlei Gründen schwierig. Zum Einen, weil es Erlebnisse und Erinnerungen aufwühlte die sonst sorgfältig begraben waren, weil es darum ging jemanden auszulöschen und auch, weil es ihrer beider Leben und Zukunft verändern würde. Es würde jenes idyllische Fleckchen Erde für sie als Zuhause und Neuanfang ausschließen und das obwohl es eigentlich perfekt war. 

„Stirbt sie, wird der Rest der Bruderschaft es erfahren und wissen, dass sie nicht mehr sicher sind. Hier zu bleiben, selbst wenn keiner erfährt, wer sie getötet hat, würde die Leute hier in Gefahr bringen. Einschließlich Lucy…“

Das Mädchen hatte in ihrem kurzen Leben schon viel zu viel über Verlust gelernt und sie bedeutete ihnen beiden viel. 

Sie zurückzulassen würde schwer sein - aber sie mitzunehmen wäre verrückt. Also blieb aus Matthews Sicht nur, sie hier an diesem hübschen Ort zu belassen. Bei Menschen, die auf sie achtgeben würden, in einer Gemeinde von guten Leuten die ihr Geld ehrlich verdienten. 

Beschützt durch einen Clan der die Wälder und Felder und Straßen sicherte. 

„Sollte ich mich irren und… sie überlebt das Treffen, dann…“, dann hatte er keine Ahnung wie es weitergehen würde, weil er dieses Szenario für unwahrscheinlich hielt. Man konnte dieser Frau nicht trauen und so lange sie lebte und wusste wo sie beide sich aufhielten, so lange würde keiner von ihnen sicher sein. „…Ich weiß nicht was dann ist. Ehrlich gesagt weiß ich gar nichts außer, dass ich nicht weiter so tun kann als sei alles in Ordnung.“ - für den Blonden würde das vielleicht so sein können, er könnte hier ankommen, Mo‘Ann ignorieren oder auf ihre Weisungen eingehen - aber Matthew würde das nicht können. Egal was es kostete. 

„Ich muss diese Leute… die daran beteiligt waren…  finden und töten bevor sie noch mehr Leben zerstören. Das… verstehst du doch, oder?“


Clarence B. Sky

Nachtragend nannte Matthew ihn und begann ihn in seinen Ausführungen auch noch zu korrigieren, als wäre es das normalste der Welt. Doch was der Dunkelhaarige nicht ahnen konnte war, dass Clarence sich mit den Jahren einer Sache zunehmend immer bewusster wurde:

Was der Ältere damals als Verstimmung und nachtragende Ader verkannt hatte, war damals schon nichts anderes gewesen als bloße Eifersucht, die Claire erst heute so richtig klar im Nachgang spürte.

Ein widerwilliges Brummen drang seine Kehle empor während sich eine kurze Stille zwischen sie legte. Ein Moment, in dem er sich gut daran erinnerte, wie er das dreckige Geschirr des Gasthofs bis tief in die Nacht gespült hatte, nur um danach vor die Tür geworfen zu werden. Nicht die Zwangsarbeit war es gewesen, die ihn ob der gesamten Situation so sauer gemacht hatte, sondern die Tatsache die ganze Scheiße alleine und ohne seinen Kumpanen aufräumen zu müssen. Alleine, während dieser Torfkopf sich mit irgendeiner dunkelhaarigen Schönheit in fremden Laken vergnügte. Weil der Jäger ihm immer nur irgendwo in der Wildnis gut genug gewesen war, aber niemals in der Zivilisation oder in anständig sauberen Betten, wo man es gemeinsam schön haben konnte statt kurz und schmutzig irgendwo im Wald.

Selbst jetzt, wo Clarence weit mehr geworden war als nur ein Gefährte auf der Wanderschaft, schien die Aussicht auf ein festes Dach über dem Kopf und ein warmes Bett den Jüngeren irgendwie abzuschrecken, fast so als passe die Vorstellung von Sky und einem geregelten Leben für Cassie einfach nicht zueinander.

Ach ja?, schienen seine hellen Brauen sagen zu wollen, die sich skeptisch erhoben während sein Mann tönte, er wisse, was Claire denke. Wahrscheinlich dachte Cassie das aber genau nur so, wie er auch dachte, er hätte einen handfesten guten Plan in seinem hohlen Köpfchen parat.

Vielleicht hatte er das auch tatsächlich - aber wenn ja, dann ließ er den Blonden nicht wirklich daran teilhaben. Womöglich aus Angst heraus, Clarence wusste am Ende mehr als gut für ihn war oder vielleicht auch deshalb, weil er seinen eigenen Mann nicht mehr zum Mitwisser machen wollte als nötig. Aber wie umsetzbar wäre dieser gut gemeinte Gedanke in einer Kleinstadt wie Falconry Gardens, wo die Nachbarn nur deshalb nicht wussten was man gerade tat, weil es Blickrichtung Gardinen vor jedem Fenster gab?

Cassie würde ihn nicht ewig vor den Dingen schützen können die er gedachte mit Mo’Ann zu machen oder ihr anzutun. Und auf der anderen Seite würde Clarence nicht sein Leben lang die Augen vor Dingen verschließen können, zu denen sein Mann fähig war.

Wie Matthew redetet, dieses halb gar gewaschene Geschwafel das so ziemlich alles sagte aber nichts bedeutete, erinnerte ihn so unheimlich an Cassies Gerede um den heißen Brei wie damals in Coral Valley, dass es dem Älteren ganz schlecht in der Magengegend wurde. Schon damals, als der große Söldner Reed seinem Zielobjekt Duncan Flagg hinterher gestiefelt war, hatte er Claire auch jeden Tag nur so viel wissen lassen, dass der Blonde aufhörte Fragen zu stellen. In einer Welt, in der sie sonst keine Geheimnisse voreinander hegten und begonnen hatten offen miteinander zu reden, wurden fremde Leute plötzlich zu Themen absoluter Verschwiegenheit und irgendwie kam sich Clarence auch in diesem Moment wieder genau so vor wie damals. Er bekam das Nötigste zu hören - jedoch ohne in Details eingeweiht zu sein, die ihm Sorgen erspart oder die Möglichkeit Pläne mit zu schmieden ermöglicht hätten.

Hörbar seufzte Clarence nach einer gefühlten Ewigkeit, ein Laut der mehr nach einem missgestimmten Schnaufen klang als alles andere. Seine Hänge lagen gefaltet in seinem Schoß und nachdenklich ließ er immer wieder die Daumen aneinander stoßen, während seine Gedanken sich sortierten. Manchmal kam es ihm so vor, als würde Matthew irgendwie bei seinen Überlegungen fünf absolut wichtige Stufen überspringen und dann wiederum fragte er sich manchmal, ob der Typ sie übersprang weil ihm die ganzen Erledigungen drum herum so selbstverständlich erschienen, oder weil er einfach tatsächlich nicht an sie dachte.

„Gut. Morgen schnappst du sie dir und machst mit ihr, was auch immer du geplant hast“, stimmte der Jäger schließlich in einem Tonfall absoluter Übereinstimmung zu, ganz so als habe er selbst nie etwas anderes im Sinn gehabt. „Und machst mir ihr das was auch immer du geplant hast, wo auch immer du es geplant hast. Denn du scheinst dir ja Gedanken darüber gemacht zu haben wo das geht. Mit zwanzig fremden Jägern im Nacken und in einer Kleinstadt, wo es schneller auffällt wenn jemand verschwindet, als dir Zuhause auffällt, dass du deine zweite Socke verlegt hast. Da ist das ja kein Problem für jemanden wie dich. Du hast dich ja immerhin die letzten Tage in den Schatten der Stadt umher getrieben und die Gegend ausgekundschaftet, statt faul mit mir im Bett zu liegen. Und wenn das erledigt ist, dann gehen wir zu unserem Gepäck. Denn das haben wir ja auch die letzten Tage schon für eine Flucht vorbereitet, anstatt faul miteinander im Bett zu liegen. Und wir haben Vorräte vorbereitet für eine Flucht. Und ein Zelt und warme Schlafsäcke haben wir ja auch wieder, damit wir draußen nicht erfrieren. Wir haben ja in den letzten Wochen noch nicht genug gefroren“, fasste er die ausgeklügelten Pläne seines Mannes zusammen und dabei konnte er nicht vereiteln sich deutlich anhören zu lassen, dass die Aussicht auf Winter im Zelt für ihn fast noch schlimmer war als die Aussicht darauf, sich zu überlegen was und wohin mit Mo’Ann.

Matthew musste ja nicht jetzt schon wissen, was er mit Mo‘Ann machen würde - aber über den ganzen Rest hatte er sich ja offensichtlich grandios viele Gedanken gemacht.

„Und dann, wohin gehen wir dann? Das hast du dir sicher auch schon überlegt. Denn wir können uns ja nicht mehr in den Siedlungen und Städten in einem Radius von mindestens hundert Meilen blicken lassen, wenn wir gesucht werden und ein Jägerclan zusammen mit seinen Verbündeten nach uns suchen lässt. Und da wir nirgendwo mehr hin können, um uns Informationen über irgendwen einzuholen, bleiben die Typen, die wir suchen, natürlich auch alle brav an Ort und Stelle. Denn so macht man das, wenn zwei völlig planlose Trottel im tiefsten Winter nach einem suchen.“

War das ein bisschen zynisch?

Vielleicht.

Hatte Clarence, wenn es darum ging geplant irgendwelche Leute von der Bildfläche zu tilgen, geordnete Vorbereitungen, Pläne und Alternativen deutlich lieber als den offensichtlich unausweichlichen Tod?

Eventuell vielleicht.

Machte es ihn ein wenig nervös, dass ihn - zurück in Falconry Gardens - weit mehr Dinge wieder einholten, als nur der Clan alleine?

Gut möglich.


Matthew C. Sky

Matthew mochte vielleicht in den Augen seines Mannes ein Torfkopf sein, aber den aufgekeimten Zynismus des Blonden erkannte Matthew schon allein daran, wie das Schnauben und die ersten Silben des folgenden Satzes klangen. 

„Gut. Morgen schnappst du sie dir…“ - das würde er tun, ob es Clarence passte oder nicht. Mehr als einmal lagen dem Jüngeren Einwände auf der Zunge doch wo er früher Clarence einfach ins Wort gefallen war, hielt er jetzt die Klappe und hörte dem Größeren zu. 

Das machte es nicht unbedingt besser, aber immerhin war es nur fair ihn zu Wort kommen zu lassen. 

Noch während der Andere voll dabei war, seinen Sarkasmus zu versprühen, heftete sich Matthews Blick auf das Gesicht des Größeren. Er brauchte keine Worte um sein Missfallen auszudrücken… das konnte er allein durch seine dunklen Augen deutlich genug bewerkstelligen. 

Schließlich, als Clarence geendet hatte, faltete Matthew seine Hände auf seinem Bauch als wolle er den Blonden im Liegen imitieren. 

„Es mag dich überraschen, aber tatsächlich habe ich einen Plan.“ 

Nun setzte er sich schließlich doch noch auf, aber mit dem Rücken ans Fußende, die Beine Richtung Clarence ausgestreckt und ihm direkt gegenüber sitzend. 

„Ich treffe sie nachts. In ihrem Schlafzimmer oder in der Bibliothek- wo auch immer sie sich aufhält. Die Bibliothek hat ein Fenster zur Ostseite, ist sie dort werde ich es sehen - wie die letzten Nächte auch. Es gibt einen Anbau, der unbeleuchtet ist und in der Nacht dadurch nur schwer einsehbar. Darüber komm ich hoch auf ihre Ebene. Ich werde klettern müssen, aber ich kann klettern. Du kommst über das Haupthaus rein, sollte dich jemand sehen wirst du ihm nicht verdächtig vorkommen - weil es dein Zuhause ist. Sollte sie in der Bibliothek sein, sicherst du den Eingang und lässt mich wissen sollte sich irgendwer nähern.“ kurz betrachtete er den Blondschopf und wartete ob er etwas dazu sagen wollte. Aber vorerst schien das nicht der Fall zu sein, weshalb Cassie weitersprach. 

„Im Idealfall wird dich niemand sehen und man findet sie erst am nächsten Morgen. Sollte das so sein, werden wir noch hier sein. Wir werden hier in diesem Haus sein, wenn sie gefunden wird, wir werden verwundert und entsetzt sein, wenn man uns davon erzählt und wir werden helfen die Stadt und die Umgebung nach Verdächtigen zu durchkämmen. Schuldig ist immer der, der nach einem Verbrechen nicht mehr in der Stadt ist. Wir werden da sein und unsere Pflicht tun und haben sich die Wogen geglättet… dann verlassen wir die Stadt. Für den Fall, dass man uns bemerkt… werden wir improvisieren müssen. Ich habe kein Zelt organisiert - weil der Kauf eines solchen Fragen aufgeworfen hätte nachdem ich erst angekommen bin. Aber ich habe die letzten Wochen kein Zelt und weniger gute Kleidung gehabt und trotzdem überlebt. Wir fliehen Richtung Norden, aus der Richtung bin ich gekommen - ich kenne das Gelände und abseits der Wege Unterschlupfmöglichkeiten. Wie gesagt… im besten Fall werden wir nicht abhauen müssen, aber falls doch… wäre eine Flucht in Richtung Norden mein Vorschlag, ich bin aber durchaus offen für andere Ideen.“ - anders als Clarence, der ungewohnt zynisch gewesen war, versuchte Matthew das Gespräch konstruktiv zu führen - was ihm allerdings nicht so leicht fiel. 

„Und was die Leute betrifft die wir suchen… Mo‘Ann wird mir sagen wo sie sich aufhalten. Wenn sie es weiß, werde ich es von ihr zu hören bekommen. Da du allerdings meine Frage vorhin nicht beantwortet hast… weiß ich nicht ob wir sie suchen oder nur ich. Es ist nicht dein Kampf, das ist mir durchaus klar. Du hast Nagi getötet und damit deine Familie gerächt. Für mich… gilt das nicht.“, das zuzugeben war nicht einfach aber die Dinge lagen nun mal exakt so. „Ich weiß, ich mute dir viel zu und es tut mir leid. Ich wünschte die Dinge lägen anders. Das tue ich wirklich…“


Clarence B. Sky

Nun saß er da, der große Meister, und hatte ganz plötzlich doch einen Plan, nachdem er selbigen zuvor noch verneint hatte. Ninja… vielleicht mehr eine Vorstellung als einen waschechten Plan, aber darauf kam es auch nicht wirklich an. Wichtig war nur, dass Matthew wenigstens überhaupt irgendwelche Ideen dazu besaß wie er vorgehen wollte, anstatt alles nur von einem eventuell vielleicht abhängig zu machen.

Mit weiterhin auf dem Bauch gefalteten Händen hatte sich Cassie ihm gegenüber gesetzt und spiegelte ihm beinahe eine wesentlich vernünftigere Variante seiner selbst vor. Wenngleich er die Ausführungen seines Mannes nicht in jedem Aspekt plausibel fand, fühlte sich ihre Unterhaltung nun, einander gegenüber sitzend, wesentlich ernstzunehmender an als noch zuvor und nicht zuletzt die Nähe zum Dunkelhaarigen war es schließlich, die auch Clarence‘ Stimmung deutlich milder werden ließ.

Still ließ er seinen Blick am anderen hinab wandern während dieser von unbeleuchteten Anbauten sprach und davon, dass er klettern könne - was Clarence übrigens recht neu war, immerhin bekam sein Mann schon fast Schnappatmung, sobald der Blonde im Sommer einen Baum hinauf kraxelte um ihnen ein wenig frisches Obst zu pflücken.

Doch von frischem Obst waren sie zu dieser Jahreszeit in etwa so weit entfernt wie Cassie davon, dass der Jäger ihm die entgegengestreckten Füße massierte, so wie es Claire manchmal abends mit seinem Rücken tat wenn er gut gelaunt war. Brummend rieb er mit dem Daumen über den Stumpf seines Ringfingers, einer alten Angewohnheit wieder nachkommend, die er eigentlich schon seit einigen Monaten abgelegt hatte.

„Schon gut. Ich hab dir in diesem Leben auch schon viel zugemutet“, war schließlich seine erste Reaktion und dabei dachte Clarence nicht nur an das ein oder andere Veilchen zurück, mit dem er abends in den Metropolen zurück ins Blauer Hund oder auf die Harper Cordelia gekehrt war, sondern auch an die Anspannung die über allem gelegen hatte, als das Wiedersehen mit dem Clan immer näher gerückt war. Matthew hatte dahingehend auch einige Last mit auf seinen Schultern getragen und die meiste Zeit über hatte der Blonde ihn währenddessen immer im Dunkeln gelassen anstatt ihn aufzuklären.

Wie sich das angefühlt haben musste, ließ der Jüngere ihn nun am eigenen Leib spüren indem er Clarence - wenn auch nur in seinen Ausführungen - vor der Tür abstellte um Schmiere zu stehen und die Details dessen, was er plante mit Mo‘Ann anzurichten, komplett außen vor ließ. Zweifelsohne entsprang das einer löblichen Grundeinstellung, immerhin wollte der Jäger für seinen Mann meistens auch nur das Beste wenn er ihn nicht voll und ganz in Pläne mit einbezog; aber auf der anderen Seite war das keine Grundlage, auf dem sich das kommende Jahr gut würde aufbauen lassen.

„Als ich Nagi getötet habe… habe ich damit damals nicht meine Familie gerächt. Meine Kinder wurden gerächt, als er Ruby-Sue bei lebendigem Leib verbrannt hat. Oder zumindest… dachte ich damals, dass sie das gerächt hätte“, fügte er an, aber das war ein anderes Thema. Ein altes, das am heutigen Abend und in diesem Bett keinen Platz finden würde. „Als Nagi gestorben ist, sind andere gerächt worden. Liv zum Beispiel… oder Oliver, auch wenn er nichts davon weiß. Camerons tote Jugendliebe. Und Adrianna.“ - Sie war zwar diejenige, die im Rahmen der Verschwörung auch von ihm mit einem Messer abgestochen war um überhaupt erst aus Falconry Gardens weg zu kommen - aber das spielte keine Rolle, wenn es um das große Ganze ging.

„Cam und Addy, deine Freunde. - Unsere Freunde“, korrigierte er sich selbst nach einer kurzen Stille, in der er nicht etwa abgewägte ob er Cameron von der Liste seiner Erzfeinde gestrichen hatte, sondern in der er überlegte, wann er überhaupt das letzte Mal jemand anderen außer Matthew als seinen Freund bezeichnet hatte. Hätten die vergangenen Monate ihre kleine Gruppe nicht dermaßen geprägt, wären sie nie auf diese einzigartige Weise aneinander geschweißt worden und noch vor einem Jahr hätte er sich nicht neben Cams Bett Bier trinken sehen, während die Rothaarige sich in kurzen Shorts unter seiner Bettdecke vor ihnen umher räkelte.

„Ich war früher nicht annähernd so viel in dieser Stadt wie die anderen. Ich kenne zwar die Leute hier und die Straßen, aber ich würde Falconry nicht meine Heimat nennen. Fremd bin ich aber auch nicht, so wie du, der erst ein paar Tage hier ist. Aber trotzdem will ich… - ich wünsche mir von dir“, lenkte Clarence ein, denn er würde seinen Mann nie zu etwas nötigen, wenn ihm anderes im Sinn stand. Rache war ein Gelüst, das er nur zu gut kannte. „Ich wünsche mir bei all deinen Plänen, dass du daran denkst, dass unsere Freunde hier zuhause sind. Und ich meine damit… richtig zuhause. Ich weiß, dass es bei einigen nicht so wirkt, als würden sie sich im Clan gut miteinander vertragen. Aber Ryan und Rory zum Beispiel sind nicht die schwarzen Schafe, die man versucht loszuwerden. Sie sind der Onkel, der besoffen distanzlos wird und den man trotzdem lieb hat, wenn er mal nüchtern ist. Die Leute da oben… das sind die einzige Familie, die unsere Freunde haben. Das sage ich nicht, weil ich Mo’Ann dazu zähle und es dir ausreden will - sondern weil ich nicht will, dass du im Zuhause unserer besten Freunde einen Mord begehst. Und ich will auch nicht…“

Nachdenklich suchte er nach den passenden Worten um begreiflich zu machen, wieso ihn Cassies Pläne so zynisch stimmten. Natürlich war es einfach sich nachts hinein zu schleichen und natürlich waren sie dazu in der Lage der Stadt mitten ins Gesicht zu lügen, als wäre es das Normalste der Welt. Aber für ihn als Zuhörer wirkte es beinahe so, als hätte sein Mann sich Scheuklappen aufgesetzt und nur noch das Ziel vor Augen, jedoch nicht mehr, was um sie herum war.

„Ich befürchte, ich will auch nicht vor unseren Freunden als Verräter dastehen und einfach abhauen“, fasste er schließlich knapp zusammen, wobei ihn dieses Empfinden beinahe schon selbst überraschte. Der Blonde hatte in den vergangenen Jahren auf keine Meinung wert gelegt außer die Matthews - und selbst da war es ihm manchmal egal gewesen, wie sein Umgang mit Sally Mitchell bewies. „Und ich verstehe auch nicht, wieso das notwendig sein muss. Sie haben selbst entschieden was Nagi zugestoßen ist und sie würden zumindest verstehen, welche Schuld auch auf seiner Frau lastet“, deutete Claire mit seinem Daumen gen Fenster und hörte damit erstmalig wieder auf, nervös am Stumpf seines Fingers zu reiben.


Matthew C. Sky

Vielleicht, so kam es Matthew in den Sinn, während er Clarence aufmerksam zuhörte, war dies jetzt der Moment in dem deutlich wurde wie unterschiedlich sie beide wirklich waren. 

Es ging nicht um banale Vorlieben, wer wie sein Essen gewürzt haben wollte und ob der eine Kernseife bevorzugte wo der andere Tigel mit parfümierter Seife und Schaumbäder präferierte. 

Die Unterschiede um die es jetzt ging… lagen tiefer. 

Begraben unter Erfahrungen und den Lehren aus fernen Kindertagen, so selbstverständlich, dass man nicht über ihre Existenz nachdachte. 

Welche Samen und Werte wurden damals gepflanzt, was war wichtig im Leben? Freundschaft, Vertrauen, Heimat, Familie.

Matthew, der sich selbst nie als einen guten Menschen bezeichnet hätte erfuhr, dass er mit seiner Selbsteinschätzung richtig lag. Denn je mehr der Blonde sagte, umso deutlicher wurde die Kluft Ihrer Wahrnehmung und ihrer Prioritäten. Matthews Prioritäten lagen auf seinen Angelegenheiten und er war bereit viel dafür zu opfern. 

Clarence hingegen brachte Dinge zur Sprache an die der Dunkelhaarige nicht einmal gedacht hatte. 

An das Zuhause der anderen. Was die anderen, ihre Freunde, von ihnen denken mochten, wenn sie eines Tages von hier verschwanden. 

Das waren die Gedanken und die Worte eines  jungen Mannes der den Wert von Freundschaft schätzte und der Vertrauen in andere setzte und gleichsam intuitiv verstand, dass man auch Vertrauen in ihn setzte. 

Sie waren hier keine Fremden, sie waren hier keine Statisten. Im Leben ihrer Freunde, die hier ihr Zuhause hatten, waren sie wichtig. 

Matthew verstand das. Er verstand die Logik der Worte und er verstand auch, dass Clarence richtig lag. Aber er verstand noch etwas anderes. Nämlich, dass ihm das was der Blonde hatte irgendwie fehlte. 

Denn auch wenn er begriff worauf Clarence hinauswollte, so konnte er doch nicht fühlen was der Andere fühlte. 

Hatte er Freunde? Waren Cameron und Adrianna das für ihn? 

Ja. Und doch würde er sie zurücklassen ohne sich nochmals nach ihnen umzudrehen. Er würde Mo’Ann töten, ihnen ins Gesicht lügen und irgendwann einfach fort sein. Aufgebrochen zu einer Jagd die seit Jahren nicht endete. Die vielleicht niemals endete. 

Schweigend sah er Clarence an ohne zu wissen was er erwidern sollte, nun da der Ältere klar formuliert hatte was er sich von ihm wünschte. 

Einen langen Moment schien es so als würde der Dunkelhaarige nichts sagen, doch schließlich öffnete er den Mund doch noch. 

„Es ist leicht zu sagen, dass man für die Rache anderer getötet hat und nicht für die eigene. Besonders wenn der Verursacher auch für das eigene Leid verantwortlich war.“ - diese Bemerkung klang ein wenig gereizt auch wenn er es eigentlich nicht so meinte. Er wollte Clarence nicht absprechen, dass es stimmte und trotzdem war der Verantwortliche für sein Leid eben tot. Während die Verantwortlichen für das was ihm und duzenden, wenn nicht sogar hunderten, Kindern angetan worden war zum Teil noch lebten. 

Der gütige Mann war tot, längst zu Staub zerfallen. Aber selbiges galt nicht für seine mitwissende Frau, für seine mitbeteiligten Freunde und auch leider nicht für Matthews eigenen Vater.  

„Ich habe… ich bin… ich…“, doch bevor er nochmals von vorne anfing schnaubte er und schüttelte über sich selbst verächtlich den Kopf, während er zur Seite blickte. Kurz darauf setzte Matthew neuerlich an. 

„Ich bin hierher gekommen wegen dir. Ich wusste nicht ob ich dich finde, aber ich hab dich gefunden und nun… nun erwartest du von mir, dass ich nicht tue was ich schon vor Jahren hätte tun sollen.“

Wusste der Blonde überhaupt was er da verlangte? Ein Blick in seine Augen reichte um Matthew klarzumachen, dass es so war. 

Clarence war weder dumm noch einfältig. 

„Wie… wie stellst du dir das hier vor, hm?“ er deutete unwirsch in das Zimmer hinein, den Größeren nicht aus den Augen lassend. 

„Dass wir hier wohnen bleiben und ich alles vergesse? Dass ich mit einer Verbündeten diesen Mannes am Tisch sitze, während sie garantiert dem Rest der verfickten Bruderschaft über jeden unserer Schritte berichtet? Soll ich darauf warten, dass irgendwann die nächste verirrte Seele glaubt einen Stein nach mir werfen zu müssen? Ich…“ - das Thema wühlte ihn auf, aus mehreren Gründen aber jetzt auszuflippen konnte er sich nicht leisten. 

„Wenn sie… wenn sie ein Teil von White Bone oder einem ähnlichen Konstrukt war… wenn sie… davon wusste… dann kann sie damit nicht durchkommen. Ich könnte nie hier leben in dem Wissen, dass es ihr gut geht, dass sie den anderen Bericht erstattet, dass sie hier lebt und lacht und es sich gutgehen lässt.“ - kurz ließ er das Gesagte wirken ehe er nach einer gewichtigen Pause anfügte „Ich bin nicht hergekommen um zu vergeben und zu vergessen. Mit dieser Gabe… bin ich nicht gesegnet, Clarence.“


Clarence B. Sky

Dass Matthew erregt war - und zwar nicht auf die gute Weise - würde wohl auch ein Blinder mit Krückstock erkennen. Es brauchte keine Jahrelangen Cassie-Studien um zu begreifen, dass sie beide in völlig unterschiedliche Richtungen dachten… und darüber hinaus auch noch völlig aneinander vorbei redeten, wie Clarence mit jedem Wort seines Mannes mehr bewusst wurde.

Beherrscht sprach Matthew auf ihn ein, auf eine Weise die klar machte, dass ihm eigentlich weit eindringlichere und vielleicht sogar giftigere Worte im Sinn standen als jene, an denen er den Blonden teilhaben ließ. Trotz aller Zwischentöne war Clarence dankbar darum, denn ein beherrschtes Gespräch mit ein paar schmerzenden Spitzen war weitaus besser als gar kein Gespräch und es hatte genug Zeiten gegeben, an denen sie einander kaum bis wenig an ihren Gedanken hatten teilhaben lassen.

Er verstand was Matthew meinte und er verstand auch, dass sie nicht die gleiche Vorstellung von dem teilten, wie die Dinge abzulaufen hatten - selbst dann nicht, wenn Cassie nicht mehr in seine Worte hinein interpretieren würde, als er tatsächlich damit hatte ausdrücken wollen.

Kurz räusperte sich der Blonde und straffte die Schultern, doch nicht etwa um zum Gegenschlag auszuholen. Stattdessen rutschte er etwas an Cassies ausgestreckten Füßen vorbei und nach vorn, weg von der Rückendeckung und dem Schutz den das Kopfende bot und hin zu seinem Mann, auf dessen Schoß er schließlich sein Handgelenk bettete.

„Los, gib mir deine Hand“, forderte er schließlich und wartete einen Moment, bis Matthew mit fragwürdigem Ausdruck im Gesicht seiner Aufforderung nachkam. Obwohl so viele Wochen und Monate zwischen ihnen lagen, hatten sich die Finger des Jüngeren vom ersten Moment an wieder vertraut und geliebt angefühlt. Das taten sie auch jetzt, in Momenten wie diesen, wo sie sich nicht immer einig waren und einen Moment brauchten, um wieder auf den gleichen Nenner zu kommen - und Clarence hoffte bei Gott, dass sie sich auch noch in dreißig oder vierzig Jahren vertraut anfühlen würden, wenn sie einander berührten.

Nachdenklich blickte er auf die Hand in seiner und leckte sich über die Lippen, noch immer den Anblick seines Mannes vor Augen, wie er mit diesem unwirschen Ausdruck hinter sich ins Zimmer deutete, als wäre ihm das alles hier plötzlich zuwider. Vielleicht lag es an Falconry Gardens, vielleicht an den geänderten Umständen die nun herrschten, seitdem Cassie auf der Reise all diese neuen Erkenntnisse gesammelt hatte - von denen Claire sich sicher war, dass er nicht mal annähernd in alle eingeweiht war. Vielleicht kam es ihm aber auch nur so vor, als ob sein Mann plötzlich von der festen Vorstellung einer Heimat und einem Zuhause, in das man zurück kehren konnte, plötzlich ganz weit weg gerückt war.

„Ich hab nicht gesagt, dass du es nicht tun sollst, Cassie“, war das erste, was er schließlich wieder sagte als er die Stimme erhob und im Gegensatz zu seinem Mann strafte er den Dunkelhaarigen nicht mit seinem vollen Vornamen ab. „Ich bin dein Ehemann und dein Verbündeter und ich bin nicht dumm. Es gibt Dinge, die man tun muss. Und wenn das bedeutet… dass wir die nächsten zwei, drei Jahre weiterhin durch die Gegend reisen müssen auf der Suche nach dieser Bruderschaft und jedem, der dazu gehört, dann machen wir das. Du - und ich. Und nicht du, während ich vor der Tür stehe und warte.“

Es war noch nie Teil irgendeines Plans gewesen, den anderen auszuschließen und alleine einer Gefahr auszusetzen - und die Suche nach dieser Bruderschaft war nichts anderes als das. Schon seit Jahren retteten sie sich gegenseitig den Arsch, jeder für sich besaß Talente, in denen sie einander ergänzten. Zusammen waren sie deutlich stärker als alleine und die Vergangenheit hatte gezeigt, dass man gegen diese Bande nur schwer bis gar nicht als Einzelkämpfer ankam.

„Was ich gesagt habe, ist nur… dass du sie nicht unter dem Dach deiner Freunde umbringen sollst. Neben den Zimmern, in denen sie schlafen. Nicht in ihrem Zuhause“, fasste er die Quintessenz dessen zusammen, worum es ihm ging. Es gab genug Gründe, warum das eine dumme Idee war - doch neben all den Gefahren, die für sie selbst dabei entstehen würde, war die Frage des Respekts vor Cameron, Adrianna und Alec zusätzlich eine gravierende, die Clarence ganz offensichtlich bewusster war als seinem Mann.

„Und ich verstehe nicht, wieso du immer so redest, als ob… du mich vor irgendwas beschützen oder außen vor lassen musst. Du schmiedest Pläne und denkst dir irgendwelche Sachen in die du mich nur halbgar einweihst, anstatt mich um Rat zu fragen, obwohl ich erstens dein Verbündeter bin und zweitens… das alles hier schon mal gemacht habe und damit bestens davon gekommen bin.“

Nagi Tanka - Nathan Abaelardus - war nicht mehr am Leben und trotzdem schlief Claire wieder seelenruhig mit all den Leuten da oben unter einem Dach, ohne auch nur befürchten zu müssen, dass man ihm dafür ein Haar krümmte.

„Würdest du mich ernst nehmen, dann hätte ich dich nämlich gefragt wie du Informationen aus ihr heraus bekommen willst, ohne, dass sie dir das ganze Haus zusammen schreit. Da oben ist mehr Munition eingeschlossen als wir zwei jemals tragen könnten und da wird niemand zögern dir ins Gesicht zu schießen, wenn man uns auf frischer Tat ertappt. Diese Leute da oben…“

Nachdenklich ließ Clarence seinen Blick durch den Raum schweifen, denn er wusste nicht wie er Cassie begreiflich machen sollte, worauf er hinaus wollte. Dieser Mann konnte sowas von verbohrt sein, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte - und er konnte ganz offensichtlich seine eigenen Rachegelüste nicht an andere abgeben, weil sie ganz alleine ihm vorbehalten waren und niemandem sonst.

„Nicht nur du hast eine Vorgeschichte mit diesen Typen von der Bruderschaft, wenn Nagi dazu gehört hat. Und diese Leute da oben haben sich zu einem Großteil gegen ihn verschworen, um ihn am Ende einvernehmlich umzubringen - und sie stehen alle so sehr hinter dieser Entscheidung, dass ich einfach zurück gekehrt bin, ohne nachts Angst haben zu müssen wenn ich mich da schlafen lege.  Wir haben da oben ein… ganzes Arsenal an Waffen. An Zelten - du musst nicht mal eins kaufen“, er deutete mit dem Daumen hinter sich, in Richtung Berg, an dessen Wegesende das Haus des Clans thronte. „Vorräte, Lebensmittel. Verbindungen. Informationen. Mo‘Ann ist eine Irre, die alles aufschreibt und katalogisiert. Selbst wenn sie nichts erzählt, könnte es immer noch sein, dass wir Informationen oder Schriftverkehr in ihren Zimmern finden. Da oben lebt eine Horde Jäger die weitestgehend nicht lesen kann, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alles sorgsam versteckt was wichtig ist.“

Wenn sie in der nächsten Nacht einfach dort einmarschierten, nichts aus dieser Frau heraus bekamen und sie lynchten, nur um entdeckt zu werden und flüchten zu müssen - würden sie sich nicht mehr Chancen damit verbauen irgendetwas heraus zu finden, als Fortschritte zu machen?

„Was ich damit sagen will, ist… die Leute, die sich dazu entschieden haben Nagi auszuradieren, sind niemand vor dem man weglaufen muss. Du hast hier eine Kleinstadt voller Verbündeter und Möglichkeiten, wenn du… das nur willst. Und du hast-“

Verdrießlich seufzte Clarence. Er hatte auch einen Ort, an den er am Ende zurückkehren konnte, wenn er wollte - das lag ihm auf den Lippen. Aber es kam ihm nicht so vor, als wäre das noch etwas, das im Moment Gewicht trug.


Matthew C. Sky

Skeptisch war er, als er Clarence seine Hand gab und dieser sie behütend umfing. Clarence hatte ihm noch nie etwas getan und Matthew vertraute jenem Mann blind und trotzdem hatte er den Plan Mo‘Ann zu töten allein gefasst. Warum das so war wusste der Jüngere ganz genau - aber es war das eine etwas zu wissen und etwas ganz anderes war es, den Grund beim Namen zu nennen. 

Still blickte er auf ihre verschlungenen Hände in seinem Schoß und lauschte den Worten des Blonden. Er stellte richtig worum es ihm eigentlich ging und er stellte richtig, dass es in ihrer Gleichung kein Ich gab sondern immer ein Wir. Ihn irgendwie auszuklammern würde nicht funktionieren. 

Eine Weile sah Matthew ihre Hände einfach nur an. Es fühlte sich so vertraut an mit Clarence hier zu sitzen, es fühlte sich vertraut an ihn zu berühren und es war auf eine Weise tröstlich seine Stimme zu hören, wie es sich der Blonde wahrscheinlich nicht einmal annähernd ausmalen konnte. 

„Du bist… so viel mehr als mein Ehemann und mein Verbündeter.“ - sagte Matthew schließlich nachdem der Blonde schon ein kleines Weilchen geendet hatte. Noch immer sah auf seinen Schoß herab und fragte sich im Stillen wieso die Dinge so kompliziert sein mussten, wenn er doch eigentlich nur mit jenem Mann zusammen sein wollte und nichts weiter. 

Aber stimmte denn nichts weiter wirklich oder machte er sich in dieser Hinsicht nur etwas vor? Denn Rache wollte er auch. 

Zögerlich leckte sich Matthew über die Lippen und versuchte seine Gedanken zu ordnen und in die richtigen Worte zu fassen. 

„Schätze, der Grund…warum ich dich aus der Sache raushalten will ist…ziemlich egoistisch.“ eröffnete er schließlich und zögerte kurz darauf erneut. 

„Ich wünschte ich könnte sagen es liegt daran, dass ich dich nicht in Gefahr bringen will… aber Scheiße, wir wissen beide, dass wir die Gefahr anziehen wie das Licht die Motten. Und du würdest nie zulassen, dass du irgendwo anders stehst als an meiner Seite, wenn es hart auf hart kommt. Also… das ist nicht der Grund.“

Erneut leckte er sich über die Lippen und presste sie anschließend fest aufeinander.  Clarence war geduldig mit ihm, war es immer schon gewesen und Matthew wusste ganz genau wie wenig selbstverständlich das war. 

Zögerlich schüttelte er nun mehr den Kopf und fasste seine Gedanken in Worte, obgleich es ihm sichtlich schwer fiel.

„Ich bin nicht…ich bin nicht wie du, Claire. Du weißt… wo du herkommst, du kennst deine…Wurzeln. Diese Leute die mich gefunden haben nach der Sache mit dem Mutie… ihr Anführer wusste Dinge über Nagi, über die Bruderschaft, über…White Bone.“ - mit dem Daumen rieb er nachdenklich über Clarence’ Fingerknöchel. 

„Ich war dort, aber ich war ein dummer Junge. So…verängstigt von allem was dort passiert ist. Ich hab…Dinge gesehen und dann…entschieden nicht mehr hinzusehen.“

Nun schluckte er schwer, sah ganz kurz und regelrecht scheu nach oben zu Clarence- bevor er gleich wieder nach unten auf ihre Hände schaute. 

„Ich habe das Gefühl…“, mit der freien Hand klopfte er sich kurz gegen die Brust auf Herzhöhe. „Ich muss versuchen das wiedergutzumachen. Falls dsd überhaupt geht. Ich muss jetzt hinsehen, weil ich es damals nicht getan habe.“ Aber das war nicht alles was ihn beschäftigte, auch wenn Schuldgefühle einen großen Teil ausmachten. 

„Dieser Mann, Harriet und was weiß ich wer noch alles… ich komme mir vor als… wissen diese Leute mehr von mir als ich es tue. Wissen mehr über den Ort wo ich war. Anscheinend…gibt es Verbindungen die ich nicht gesehen habe, die Sache mit Rouge…das er mein Vater ist…“, er seufzte und zuckte die Schultern, als sei er nicht sicher ob er das glaubte oder nicht. 

„Und ich… habe Angst was Mo‘Ann weiß. Vielleicht sagt sie Dinge oder weiß Sachen über mich die du nicht wissen solltest. Dinge die ich vielleicht selbst nicht wissen sollte. Deshalb will ich dich raushalten, obwohl ich weiß, dass das nicht fair ist von mir.“

Es war eine Tatsache, dass Matthew aufgrund der Art seines Aufwachsens gewisse Defizite hatte. Freilich konnte er diese prima überspielen, aber tief in sich drin fehlte ihm die Fähigkeit unbefangen zu vertrauen, es fehlte ihm die Fähigkeit andere wirklich an sich heranzulassen- Clarence hatte sich all das lange verdient. Und er hatte die Urangst, dass er nirgendwo hingehörte und folglich auch nirgendwo zuhause sein würde. 

„Und wenn du vorschlägst…die anderen einzuweihen, dann hieße das, dass ich ihnen erzählen müsste, was ich dir damals erzählt habe und…“

erneut schüttelte er den Kopf, den Blick gesenkt haltend. Dass er Clarence eingeweiht hatte war die schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen. Er hatte solch eine Panik vor der Reaktion des Blonden gehabt, wie er sie danach nie wieder gespürt hatte. „…ich weiß nicht ob ich das kann. Ich weiß nicht ob ich das will.“ 


Clarence B. Sky

Es war eine kleine Geste der Nervosität, aber auch der Nähe, als Cassie nachdenklich über seine Fingerknöchel hinweg rieb. Eine unscheinbare Geste mochte man meinen, aber dabei war sie doch in Wahrheit so viel mehr als das.

All die unsichtbaren Gräben und Mauern, die sie über Jahre hinweg zum Schutz um sich herum aufgebaut hatten, fanden keine Daseinsberechtigung mehr, sobald sie nur zu zweit waren. Alleine unter sich, waren die einstigen Grenzen längst aufgehoben und aus einer Distanz, die den anderen auf Abstand hielt, hatten sie ein gemeinsames Bollwerk der Verbundenheit geschaffen. Eine Festung, in die niemand einzudringen vermochte – ganz gleich mit welcher Gewalt derjenige es auch versuchte.

So wie alleine der blonde Bär von Mann das Talent besaß Matthew zu zähmen und seine aufgewühlten Emotionen zu beruhigen, so war auf der anderen Seite alleine der Jüngere es, der Clarence nahe sein und ihm eben jene Zärtlichkeiten schenken durfte, die der Jäger so sehr brauchte um wieder etwas mehr er selbst zu sein. Ganz gleich ob eine kleine Berührung im Vorbeigehen, ein Wort der Liebe oder einfach nur das Streichen über seine Hand hinweg, all das waren Privilegien, die alleine Cassie genoss – so banal es auch auf andere wirken mochte.

Doch gerade weil sie so eigenbrötlerisch darin waren ihr Vertrauen nicht leichtsinnig zu verschenken, war ihre Loyalität zueinander mit den Jahren nur umso gewichtiger geworden. Nichts und niemand auf der Welt würde sie entzweien können, weder hier unter den Lebenden, noch auf der anderen Seite wo nichts auf einen wartete außer der Tod. Umso mehr schmerze ein Teil von Matthews Worten, denn auf der einen Seite verstand der Blonde nur zu gut was sein Mann damit meinte, das manche Geheimnisse nicht dafür bestimmt waren von den falschen Ohren gehört zu werden. Auf der anderen Seite aber konnte keine Vergangenheit etwas daran ändern, wer Matthew heute war und fortan immer sein würde.

„Als ich dich gefragt habe, ob du mich heiratest… da dachte ich nicht, dass du Ja sagst. Vielleicht ein paar Ausreden oder eine Hinhaltetaktik, die sich niemals bewahrheiten wird. So etwas hatte ich erwartet.“

Sie waren heute nicht völlig andere Menschen als damals, jedoch hatten sie damals beide eine Naivität besessen, die sie auf ihrer gemeinsamen Reise seit Coral Valley längst abgelegt hatten. Zu viele ‚Zufälle‘ hatten sich seitdem ereignet und zu viel war geschehen, um die Gefahren einfach weg zu ignorieren, die ihnen seitdem im Nacken saßen und sie immer wieder einzuholen drohten.

Sachte bettete er Matthews Hand mit ihrem Rücken in seiner. Den Blick auf seine Handinnenfläche hinab gesenkt, fuhr Clarence mit dem freien Daumen zart die Furchen nach, in denen mancher Rummel-Wahrsager meinte die Zukunft anderer Leute zu erkennen. Er selbst hielt davon aus den unterschiedlichsten Gründen nicht besonders viel und niemals würde er auch nur zum Spaß ein solches Zelt betreten. Nicht etwa, weil er Angst davor hatte was die Zukunft ihnen brachte; noch größer war seine Angst davor, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben würden, wenn einer von ihnen weit vor dem anderen von dieser Erde ging.

Damals hatte Cassie auf seine Frage hin nicht nur Ja gesagt, sondern vor allem auf Nägel mit Köpfen machen wollen. Claire wusste noch, wie sie sich gegenseitig etwas von ihren Familien erzählt hatten, damit der andere wusste, was mit dem potentiell künftigen Nachnamen einher ging, wenn denn einer von ihnen beiden etwas an seinem Familiennamen würde ändern wollen. Damals hatte Clarence- …

Doch der Blonde schüttelte den Kopf – denn Cassie würde niemals wissen was ihm durch selbigen ging, wenn Clarence es nicht laut aussprach.

„Damals hast du mir gesagt, ich soll aussuchen wer welchen Namen annimmt und dich damit am Altar überraschen. Du hast mir… später von deiner Vergangenheit erzählt und den Dingen, die dir und… deinen Freunden widerfahren sind. Von den Dingen, die man dir genommen hat.“ – Nicht nur ein Zuhause und seine Mutter, seine Familie; sondern auch seine Kindheit, seine Unschuld, Freunde, die Unverdorbenheit die mit der Seele eines glücklichen Kindes einher ging und nicht zuletzt hatte man ihm die Hoffnung auf ein normales Leben genommen, da Matthew ein solches lange, lange Zeit nicht einmal gekannt hatte.

„Ich dachte damals, wenn ich dir meinen Namen gebe… dann kannst du vielleicht ein neues Leben anfangen. Eine eigene Identität gründen. Ein Matthew sein, der keine Vergangenheit braucht und sie hinter sich lassen kann, weil Matthew Sky erst in Coral Valley das Licht der Welt erblickt hat und nicht schon früher. Weil Matthew Sky… nicht wissen wird, was es bedeutet zu leiden oder kein Zuhause zu haben, so wie Matthew Reed es gewusst hat.“

Das und noch viel mehr waren die romantisch-verklärten Dinge, die Claire sich damals gedacht hatte. Vielleicht war es Cassie aber auch lange Zeit nicht anders gegangen und er hatte das gleiche geglaubt oder gehofft – immerhin waren ihre gemeinsam ausgemalten Vorstellungen ihrer Zukunft als Ehepaar deutlich andere –naivere– gewesen, als es heute der Fall war.

„Tut… tut mir leid, dass es nicht so ist. Ich wünschte, ich… ich weiß auch nicht“, er seufzte tonlos, noch immer damit beschäftigt die Furchen in Matthews Handinnenfläche nachzumalen. „Manchmal denke ich, ich hätte… mehr Fragen stellen müssen. Oder mehr tun müssen. Irgendwas.“

Hätte das jene Menschen oder Kinder aus Matthews Vergangenheit zurück gebracht, die nicht mehr unter ihnen waren? Sicher nicht. Es hätte auch niemanden der Bruderschaft herbei gezaubert und ausgemerzt oder die Wunden in Cassies Seele geheilt. Aber manchmal fühlte es sich trotzdem an, als hätte er sich als Ehemann viel mehr engagieren oder wenigstens bemühen müssen mehr zu begreifen als er es bislang getan hatte. Aber vielleicht hätte das auch nur unnötig weitere Wunden aufgerissen, für die Matthew viele Jahre gebraucht hatte um sie überhaupt zu verschließen.

Nach einem kurzen Schweigen hob er den Blick schließlich doch wieder in das vertraute Antlitz seines Mannes und musterte ihn still. Er hatte Cassie nicht als jungen Mann kennengelernt und schon gar nicht als Halbstarken oder Kind. Egal wie sehr er es versuchen würde, es würde ihm immer schwer fallen sich vorzustellen, was seinem Mann damals passiert war und was er durchlitten hatte – aber zum Teil war das auch ganz gut so, denn es schützte ihn bis heute davor in Matthew jemanden zu sehen, der nichts anderes war als ein hilfloses Opfer.

„Es steht mir… mir nicht zu dir davon zu erzählen, was Nagi damals mit Adrianna gemacht hat“, setzte Clarence nach einer Weile wieder an und schüttelte unmerklich den Kopf. Schon damals, im Pago Estella Vaga, hatte nur Cameron von seiner Vorgeschichte mit ihm erzählt und wenngleich sich die Rothaarige damals dem Blonden anvertraut hatte, so gab sie ihr Vertrauen genauso wenig leichtfertig weg wie Matthew es tat. „Aber ich kann dir sagen, dass… dass es Dinge waren, weshalb ich… nicht den geringsten Zweifel gehegt habe als du erzählt hast, dass er und… dein gütiger Mann… dass die beiden die gleiche Person waren. Adrianna ist…“

Auch nur ein Opfer dieses gütigen Mannes, lag es ihm auf den Lippen, jedoch ohne sie zu verlassen. Dass das alles kein Zufall sein konnte, hatte Matthew am Abend nach seiner Ankunft vermutet und dass die Wahrscheinlichkeit doch mehr als gering war, ganz zufällig aufeinander zu treffen.

Welche Fäden alle von ihnen weg und zu ihnen hin führten, während diese Unbekannten den Knotenpunkt bildeten der alles umgab, mochte sich anfühlen wie ein solcher Zufall. Aber womöglich nur deshalb, weil jeder von ihnen alleine nicht überblicken konnte, wohin sein loses Fadenende führte. Nicht anders war es damals einzelnen Leuten aus dem Clan ergangen; jeder hatte seine eigene Vorgeschichte mit Nagi gehabt. Doch anstatt die eigenen Erfahrungen in das große Ganze einzufügen, das ihn zu dem Monster hatte werden lassen das er war, hatte sich jeder mit seinen Erlebnissen alleine gefühlt und Nathan war über Jahre hinweg mit den Dingen durchgekommen, die er anderen angetan hatte.


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