Zuhause
03. Januar 2211
Allein und für sich genommen, waren sie beide tragische Figuren denen das Leben übel mitgespielt hatte. Beide hatten sie früh ihr Zuhause verloren, waren beide nur allzu früh mit Gewalt konfrontiert worden und damit von anderen ausgenutzt zu werden.
Warum all das ihnen geschehen war…Matthew konnte es nur mutmaßen, doch nach all den Erkenntnissen der letzten Wochen und Monaten war eines in seinen Augen ganz klar: nichts davon war Zufall gewesen. Man hatte sie in diese Situationen gebracht, man hatte sie ganz bewusst zu einer bestimmten Sorte Mensch formen wollen.
Zu obskuren Nachfolgern von brutalen und bösen Menschen.
Und man war gescheitert.
Vielleicht wäre aus Clarence ein gefühlskalter Klotz geworden, dessen Seele so stahlgrau wie seine Augen waren. Und vielleicht wäre aus Matthew ein Mann mit einem so dunklen Herzen wie sein Haar geworden. Eventuell vielleicht, wenn die Dinge ganz anders gelaufen wären als es der Fall gewesen war.
Vielleicht hätten Rouge und Nagi dann Erfolg gehabt. Aber das war nicht geschehen. Clarence und Matt hatten aufbegehrt, hatten sich mit Händen und Füßen gegen das gewehrt was man als Schicksal für sie auserkoren hatte. Und sie beide zusammen waren alles andere als tragisch. Sie waren so, wie sie immer hatten sein sollen - ohne den Schatten böser Menschen unter dem sie verkümmert waren.
Clarence war Matthews Licht. Er war sein Seelenheil und mit Abstand war er der Mensch mit dem größten Einfluss auf ihn.
Unter der Bettdecke weitestgehend versteckt betrachtete der Dunkelhaarige seinen Gegenpart mit wachen Augen. Der Wildling erklärte sich und seine Sicht auf die Stadt - und fast könnte man meinen, dass er Argumente für Falconry suchte.
Dabei musste er das gar nicht.
„Weißt du…egal wie diese Leute sich genannt haben als wir auf sie getroffen sind…sie haben uns beiden Dinge und…Menschen weggenommen die…unersetzlich sind.“, nachdenklich biss Matthew sich kurz auf die Unterlippe. Er dachte an Jamie, er dachte an die unzähligen Kinder die vor ihm verschleppt worden waren, er dachte an den Jungen der er selbst einst gewesen war - und der in White Bone gestorben war.
„Aber wir sind… nicht mehr wie früher. Was sie uns damals weggenommen haben, konnten sie nur bekommen weil wir schwächer waren und…naiv. Nochmal werden sie uns nicht bekommen. Und auch nicht das, was wir uns aufbauen.
Wenn wir hierbleiben…dann werden sie diesen Ort nicht kriegen.“
Seine Stimme war fest und entschlossen. Es war die Stimme eines Mannes der für eben jene Überzeugung alles tun würde und der keinen Raum für Zweifel ließ.
„Mo‘Ann wird reden, auf die eine oder auf die andere Art. Und die Bruderschaft wird entweder noch erfahren, dass wir hier sind oder sie wissen es schon. Und egal was davon zutrifft…ihre Tage sind gezählt. Doolin hat genauso geblutet wie jeder Mensch, da ist… nichts besonderes an ihnen. Sie sind keine Halbgötter und wenn sie uns jagen können, dann können auch wir sie jagen.“ - er stützte den Ellenbogen auf und legte den Kopf in seine Hand, weiterhin den Blonden musternd.
„Aber so oder so… Ich möchte einen Ort der uns beiden gehört. Einen Platz an den wir immer wieder zurückkehren können und… wo wir sicher sind.“, nun lächelte er. „Ich mag auch, wie es sich die letzten Tage angefühlt hat. Mit uns, mit den Leuten in dieser Stadt…mit Cam und Addy. Falconry ist keine Metropole und vermutlich wird kein Haus hier weit und breit auch nur annähernd so luxuriös sein, wie die Häuser von Jeyne… aber ich bin durchaus bereit für dich auf etwas Komfort zu verzichten. Trotzdem wirst du dich verdammt ins Zeug legen müssen. “
Sie wussten beide, dass Matthew einen gewissen Luxus sehr genoss, wenn er sich ihm bot. Und wahrscheinlich passte er sogar besser in eine Großstadt als aufs Land. Andererseits wusste er die Vorzüge von Platz und Natur rings um sie herum ebenso zu schätzen.
In Falconry ansässig zu werden, könnte sich irgendwann als Fehler herausstellen - aber noch wahrscheinlicher war es, dass Matthew es bereuen würde, es nicht versucht zu haben. Chancen ungenutzt verstreichen zu lassen… dazu war das Leben zu kurz.
Schwach und naiv – das waren sie tatsächlich gewesen, da konnte Clarence seinem Mann nicht widersprechen.
Der Mensch, der er selbst damals gewesen war, den ab es schon lange nicht mehr. Dank Nagi hatte er in derart tiefe Abgründe geblickt, dass die seines früheren Lehrmeisters nicht selten mit seinen eigenen verschmolzen waren. Tiefe Risse hatte er in die einstmals intakte Seele geschlagen, hatte daraus hervor geholt was er an Dunkelheit zu schüren und damit an Licht zu verdrängen gedachte. Der brave Christ, wie Cassie ihn manchmal nannte um ihn aufzuziehen, hatte erst an der Seite von Nathan Abaelardus so richtig gelernt was die Alten in seiner Gemeinde gemeint hatten wenn sie davon erzählten, dass außerhalb des Forts und jenseits des Randes der sicheren Häfen das Fegefeuer darauf wartete, sie alle zu verschlingen… und manchmal, so war es ihm dann und wann erschienen, hatte er in den Augen seines Lehrers nicht nur das brennende Feuer der Hölle lodern sehen, sondern sogar den beißenden Blick des Teufels selbst.
Heute war es keine Scharade verborgener Fädenzieher mehr, der Matthew oder er selbst zum Opfer fallen würden. Sie waren schlauer geworden, hatten sich Fähigkeiten angeeignet den Hürden ihrer eigentümlichen Leben zu trotzen und was noch wichtiger war: Sie hatten gelernt, Freund von Feind zu unterscheiden und sich auf das vorzubereiten, was in den dunklen Schatten jenseits der Berggipfel des Grey Eagle auf sie lauerte. Die Bruderschaft war kein Märchen mehr, sie war kein Schandfleck auf der Vorgeschichte seines Mannes mit dem Roten und sie schürte keine Angst vor dem Unbekannten, das sie eventuell vielleicht einholen würde.
Die Bruderschaft war greifbar geworden – und gegen Greifbares konnte man sich wappnen, während man ihm in die Augen blickte.
Trotz der Gefahr jenseits der Berge lächelte Clarence kurz, während er Kräuter zwischen seinen Fingern zerrieb und dabei nachdenklich auf die Mischung vor sich im ledernen Einband hinab blickte, als könne er darin kaffeesatzartig ein Stückchen Zukunft erahnen.
„So weit ich weiß, lege ich mich eigentlich immer verdammt ins Zeug damit du es gut hast“, entgegnete der Blonde in fast beiläufigem Tonfall, immerhin bewies er eben jenes jede Nacht aufs Neue und wenn es sein musste, würde er auch die tapferen Entsagungen des Dunkelhaarigen fortan in Naturalien abbüßen. Ganz uneigennützig natürlich.
Doch auch jenseits ihres prickelnden Intimlebens, das keine Wünsche offen ließ, wussten sie wohl beide schon jetzt, dass Matthew viele Wünsche haben würde was ihr gemeinsames Zuhause anging – und sie wussten auch beide schon jetzt, dass Clarence besser mit Hammer und Säge umging als der einstige Söldner. Das war etwas, das den Blonden weder störte, noch ihm angesichts bevorstehender Renovierungsmaßnahmen Bauchschmerzen bereitete.
Dennoch wich das Schmunzeln auf seinen Lippen langsam wieder, während er die Tabakmischung mit Kräutern sachte in die Pfeife füllte und kurz in kalten Zustand an ihr paffte, um den Zug zu kontrollieren.
„Doolin,…“, griff er schließlich eben jenen Namen wieder auf, den Cassie eben wieder in den Ring geworfen hatte. Wie lang die Liste derer war, die fortan auf ihrer Agenda standen, würde sich vielleicht tatsächlich erst dann zeigen, wenn sie auf der Jagd nach diesen Leuten waren. Aus einem einstmals überschaubaren Vorhaben wurde vielleicht ein Kampf, der Jahre dauern würde oder im schlimmsten Fall ein ganzes Leben lang. Wer wusste das schon? Wer konnte sagen, wer am Ende noch alles an dieser Bruderschaft mit dran hing außer den Leuten, von denen sie glaubten bereits zu wissen?
„Frank Doolin hat sicher genauso geblutet wie Beliar Redwhyne und Nathan Abaelardus. Da ist nichts Besonderes an ihnen“, wiederholte er zustimmend die Worte seines Mannes und nickte bekräftigend. Es war noch immer ein aufwühlender Gedanke, dass der Mann im weinroten Ledermantel noch immer unter den Lebenden verweilte, aber… das war nichts, was sich nicht ändern ließ. „Das macht drei… zwei zu null. – Zweieinhalb.“ – Immerhin war Le Rouge zumindest schon mal eine ganze Weile für tot erklärt gewesen und was nicht war, ließ sich sicher in Zukunft noch einrichten. „Das spricht ziemlich deutlich für unser Team, würde ich sagen. Ich habe keine Bedenken, dass wir den Vorsprung weiter ausbauen werden.“
Cassie hatte Recht – diese Leute waren keine Götter und bluteten genauso wie alle anderen auch. Auch deshalb fühlte es sich unsinnig an, sie weiterhin mit ihren sagenumwobenen Namen zu beehren. Sie waren aus Fleisch und Blut wie jeder andere Mensch und Namen wie Le Rouge, Le Vert oder Nagi Tanka gab ihnen eine Form von Erhebung, die diesen Menschen nicht zustand. Sie waren nicht mächtiger als Matthew oder er selbst – höchstens ein paar mehr. Aber das ließ sich ändern.
„Ich mag den Gedanken, dass wir in Nathans Festung einfallen und ihm seinen imaginären Thron nehmen“, sprach er sein Empfinden zu dem Gedanken laut aus, sich ein paar der leer stehenden Häuser anzusehen. Vorsichtig füllte er dabei noch zwei Finger voll Tabak nach und drückte die Pfeife mit seinem Finger etwas fest, bevor er wieder daran paffte. „Die Kestel und Falconry sind sein Lebenswerk. Zumindest das der letzten Jahre, aus der Zeit in der ich ihn kenne.“
Zweifelsohne gab es nun ja ein Leben vor seinem Schüler Clarence und eines mit ihm… genauso wie es eine Zeit des großen Abaelardus aus früheren Jahren gab, in denen er mit Matthew Kontakt gehabt hatte. Das war noch immer eine Vorstellung, die nicht so ganz in den Kopf des Blonden wollte… ein Nathan Abaelardus nach Matthew Reed und nach so vielen anderen Kindern, die das große Projekt des großen Meisters gewesen waren, bevor er sich die Kleinstadt am Rande des Grey Eagle unter die Nägel gerissen hatte.
„Ich würde um ehrlich zu sein die Behauptung in den Ring werfen, dass nicht einmal seine Machtübernahme im Clan mit rechten Dingen zugegangen ist. Allen derzeitigen Erkenntnissen nach, würde das ja sogar zu ihm passen… sich zu nehmen, was ihm nicht zusteht und das Leben anderer aus den Fugen zu bringen, ohne Rücksicht auf Verluste.“
Mit seinem unvergleichlichen Charme hatte sich Nagi hier damals schnell in die Köpfe der Leute eingeschlichen und nach Frank Sinclaires plötzlichem Tod die Karriereleiter erklommen, wie man es kein zweites Mal sah. Die plötzliche Unruhe war ihm sicher ein gefundenes Fressen gewesen, immerhin war Nathan jemand, der im Chaos schon immer auf seine einzigartige Weise eben jene Struktur erkannt hatte, die er nach eigenen Vorstellungen zu formen wusste.
„Er hat sich viel genommen. Von jedem, der ihm im Weg war. Egal von wem“, führte Clarence fort und zündete dabei ein Streichholz an, bevor er das Mundstück der Pfeife zurück zwischen seine Lippen nahm und damit begann, die Tabakmischung langsam zum Glimmen zu bringen. Dicker, aromatischer Rauch verließ zwei, drei Mal seine Wangen und legte sich augenblicklich wie dicke Suppe über ihr Bett; in wenigen Minuten würde er sich ein wenig in der Wohnung verteilt haben und wenngleich Claire hier drin nicht gerne Zigaretten rauchte, so empfand er die würzige Note der Kräuter als deutlich weniger unangenehm und auch für ihren Schlafplatz erträglich.
„Aber Nathan hat verloren und jetzt nehmen wir ihm weg, was nach seinem Ableben übrig bleibt. Sein hübsches Falconry Gardens und von mir aus auch seinen guten Namen und alles, was er hinterlassen hat. Steht dir sogar deutlich mehr zu als mir, denke ich“, gestand er Matthew ohne zögern ein, immerhin mochte Claire es zwar gewesen sein der diesen Schandfleck von Mensch vom Erdboden getilgt hatte. Doch den teureren Preis, den hatte sein Mann bezahlt – nicht nur auf emotionaler, sondern selbst auf materieller Ebene. Als Gütiger Mann hatte er sich mit Matthew und anderen die Taschen gefüllt und geblieben war dem einstmals wehrlosen Jungen am Ende nichts von all dem Gold, das umher geflossen war.
Nachdenklich strich er sich über den Bart, den sich unter der Glut aufbäumenden Tabak mit einem Metallstößel etwas glatt klopfend, bevor er erstmals richtig an der Pfeife zog und sie schließlich seinem Mann entgegen hielt, der sich wesentlich mehr danach sehnte als er selbst.
„Ich weiß nicht ob dir klar ist, wie sehr… Nathan mir vertraut hat. Es gibt Dinge, von denen weiß nicht einmal Mo’Ann. Von Orten hier in der Stadt, die er genutzt hat um zu arbeiten. Oder um Dinge aufzubewahren“, setzte Clarence schließlich an. Doch da er sich nicht sicher war, ob Matthew wusste worauf er hinaus wollte, präzisierte er seinen Gedanken schließlich: „Vielleicht finden wir dort Sachen. Nicht nur wegen der Bruderschaft, meine ich… sondern auch Geld. Münzen, die uns weit mehr zustehen als seiner Frau – und die gut investiert wären in unser Haus. In einen Ort, der ein Mahnmal dafür ist, dass nicht mal solche Leute wie Nathan immer und ewig gewinnen können. Wo Menschen glücklich und sicher sind.“
War das ein seltsamer Gedanke? Vielleicht.
Aber die Vorstellung diesem Mann selbst so lange nach seinem Tod auch noch den Rest zu nehmen… sein Zuhause, seinen Reichtum, alles wofür er gearbeitet hatte… das war ein Gedanke voller Genugtuung, nachdem Nathan ihm damals auch alles genommen hatte, was Claire einst wichtig gewesen war.
Über vieles hatte der Dunkelhaarige in den letzten Monaten intensiv nachgedacht. Über das Leben welches sie führten und über das welches sie führen wollten. Noch in Rio Nosalida war er davon ausgegangen, dass Clarence ungern in das Clanleben zurückkehrte. Aber zu fliehen hieße abtrünnig zu sein und ein Leben lang gejagt zu werden. Diese Aussicht war keine Option und lieber wäre Matthew selbst den Kestrels beigetreten, statt allein tagein und tagaus auf Clarence‘ Rückkehr von irgendwelchen Missionen zu warten. Später dann, nachdem er von den Menschen des Schweigenden Volks gefunden und gepflegt worden war, hatte ihm der Führer jener Gruppe die Augen geöffnet in Bezug auf Nathan, Nagi Tanka und den gütigen Mann. Und seine Gedanken hatten fortan eine andere Richtung eingeschlagen.
Matthew hatte sich über Falconry Gardens nie wirklich einen Kopf gemacht. Und auch nicht darüber, ob die Stadt oder der Clan ein Vermächtnis des gütigen Mannes waren oder nicht.
Für ihn war Nathan trotz allem was er heute wusste und auch ungeachtet dessen was er sagte, noch immer ein Schreckgespenst aus vergangenen Tagen. Er fürchtete diesen Mann noch immer irgendwie, obgleich er längst tot war. Manche Monster starben noch nicht mal, wenn sie tot waren - und Nathan, der gütige Mann, war eines jener Monster.
So selbstbewusst und scheinbar geerdet Matthew auch wirken mochte, so wirklich geheuer war ihm die Vorstellung nicht, dass sein eigener Mann ein enger Vertrauter von ihm gewesen war.
Nicht, dass Clarence irgendetwas mit White Bone zu schaffen gehabt hatte. Der Kerl hatte jedoch etwas in Clarence gesehen, was Matthew beim besten Willen nicht in Clarence entdecken konnte.
So sehr hatte Nathan seinem Schüler vertraut, dass er ihn in Dinge eingeweiht und an Orte mitgenommen hatte, von denen sonst niemand wusste. Auch diese Vorstellung fühlte sich befremdlich an.
Aber abseits von jenem merkwürdigen Bauchgefühl verstand Matthew durchaus worauf Clarence hinauswollte - und auch wenn er von selbst die Sache nicht wie der Blonde gesehen hatte, so machte sie durchaus Sinn. Nathan’s Vermächtnis zerstören, in dem sie dort glücklich lebten wo einst er gelebt hatte.
Nachdenklich beobachtete Matthew seinen Mann dabei, wie er ordentlich die Pfeife befüllte und stopfte. Es hatte etwas meditatives ihm dabei zuzusehen. Routiniert und achtsam prüfte er den Zug, justierte nach und testete erneut. Alles mit einer Ruhe und gleichsam einer Akribie wie Matthew sie nur und ausschließlich von Clarence kannte.
„Ich…weiß wie du es meinst.“, entgegnete Matthew recht knapp und rutschte etwas nach oben um sich halb gegen das Kopfteil des Bettes zu lehnen um letztlich die Pfeife entgegenzunehmen.
Sein erster Zug war verhalten und prüfend ob der Stärke der Mischung, aber Clarence hatte ein ausgezeichnetes Maß gefunden. Warm und intensiv breitete sich der Geschmack und der Duft aus, angenehm und nicht beißend wie es Zigarettenqualm war.
„Du warst jahrelang weg, bist du sicher, dass es diese Dulden noch gibt? Und wenn ja, von wie viel Gold wir eigentlich reden? Der Gedanke, dass der gütige M-…, Nathan…“ er räusperte sich kurz und nahm noch einen Zug: „…dir so vertraut hat und… naja… dich wahrscheinlich mochte… der Gedanke ist komisch.“, räumte Matthew zögerlich aber ehrlich ein. Es war kein Vorwurf und auch kein Misstrauen, es änderte nicht an seiner Liebe zu ihm - es war einfach ein merkwürdiges Gefühl.
„Ich will…von seinem Gold nichts für uns oder mich, egal ob ed mir zustünde. Es gehörte ihm nicht rechtmäßig und er hatte kein Recht es zu horten. Alles was dieser Mann angefasst hat, hat er zerstört.“ - Matthew nahm noch einen Zug, dieses Mal einen tieferen, dann gab er Clarence die Pfeife zurück.
„Wenn wir hier bleiben… wenn wir ein Haus finden und…hier ankommen… dann bauen wir uns das allein auf, okay? Und das Gold…je nachdem wie viel es ist… lassen wir Armenküchen zukommen. Gibt es in Falconry oder der Umgebung ein Waisenhaus? Wenn ja…würd ich es mir gern ansehen und… das Geld dorthin geben.“
Der Mann neben ihm war wunderschön, aber das war nicht alles was Clarence war. Er war klug und mitfühlend, er war geduldig und großzügig. Was auch immer Nathan in ihm gesehen hatte und von dem er geglaubt haben musste es würde sie verbinden: er hatte sich getäuscht. Denn nichts von dem was Clarence war, war Nathan gewesen.
„Aber egal was wir machen… zuerst müssen wir uns einig werden, wie wir mit seiner Frau umgehen. Sie könnte längst… die Bruderschaft informiert haben. Sie weiß wer ich bin und sie weiß, dass ich Doolin umgebracht habe - sonst hätte sie mich nicht auf den Ring angesprochen. Sie weiß es und sie wollte, dass ich es weiß.“
Matthew war kein kaltblütiger Mörder, aber den guten alten Frank hatte er ohne Gewissensbisse erledigt und so würde er auch mit Mo‘Ann verfahren - sollte sie sich nicht als unwissende Unbeteiligte herausstellen - was sie vermutlich nicht war und somit nicht konnte.
„Würdest du… dich mit ihr treffen? Reden und dann… ja was? Entscheiden auf welcher Seite sie steht?“
Viele Gedanken der letzten Tage waren komisch. Genauso seltsam wie es war, dass der gütige Mann den Blonden gemocht und ihn zu einem seiner engsten Vertrauten gemacht hatte, genauso seltsam war es auch, dass Nathan Abaelardus vor Jahren Unaussprechliches dem kleinen Matthew Cassiel Reed und anderen Kindern angetan hatte. Es fühlte sich an wie zwei verschiedene Erzählstränge einer Geschichte, die einfach nicht zueinander passen wollten – und die doch gleichsam so viel Sinn ergaben, wenn man diesen Mann etwas besser kannte als der Rest der Welt.
Ob das potentielle Gold noch dort war wo sein einstiger Lehrmeister seine Verstecke gehabt hatte, wusste Clarence beim besten Willen nicht zu sagen. Vielleicht hatte man Keller, Nischen und Gruben mittlerweile geplündert, Schlösser aufgebrochen oder Pachtverträge gekündigt einfach weil man nach über zwei Jahren nicht mehr davon ausging, dass der Führer der Kestrel wieder zurück kam. Auf der anderen Seite hatte man aber schon immer zu großen Respekt vor Nagi Tanka gehabt um es sich zu wagen, an seine persönlichen und privaten Dinge zu gehen. Es würde Claire beim ein oder anderen in dieser Stadt nicht wundern, wenn man trotz allem nur darauf wartete, dass seine rechte Hand Sky vorbei kam um die Hinterlassenschaften seines Lehrers auszuräumen und die Örtlichkeiten wieder frei zu geben. Doch ob das tatsächlich so war oder nur seinem Wunschdenken entsprach, wusste er nicht mit Sicherheit zu sagen.
Nach Nagis Angelegenheiten zu schauen war nichts, was direkt nach seiner Ankunft in Falconry einen besonders hohen Stellenwert gehabt hatte. Viel zu einschneidend war die Information gewesen, dass Matthew gar nicht in der Stadt auf ihn wartete und nur wenige Stunden später hatte er sich über Tage hinweg seinem Fieber geschlagen geben müssen… eine Zeit, in der er nicht mal mehr Energie gehabt hatte, um sich um den Verbleib seines Mannes Gedanken zu machen.
Nachdenklich zog Clarence an dem duftenden Kraut, das Cassie noch nicht negativ bemängelt hatte – aber was nicht war, konnte ja noch werden. Die wundervoll gearbeitete Pfeife mit dem Berglöwen jedenfalls, war gleichsam ein Mahnmal für ihre viel zu lange Trennung, wie sie auch ein Symbol für Hoffnung und Vereinigung war. Sie heute zusammen mit seinem Mann zu rauchen, gab dem Blonden ein unheimlich wohliges und heimeliges Gefühl, das nicht alleine von der ganz seicht einsetzenden Wirkung der Kräuter herrührte. Alleine die Vorstellung, dass sie überlegten hier in dieser Stadt ein Haus zu kaufen und ein gemeinsames Zuhause einzurichten, bereitete ihm ein warmes Gefühl in der Magengrube. Es würde ein Ort sein, an dem sie ihre gemeinsamen, aber auch individuellen Dinge horten und sammeln würden. Dinge, die in ihrer Anzahl und Masse das Volumen eines Rucksacks überstiegen – und die eine Geschichte haben würden, an die sie sich gerne bei gemeinsamen Abenden mit ihren Freunden zurück erinnerten.
Cassies Wunsch danach, sich hier etwas aufzubauen das sie ganz alleine errichteten und erreichten, zauberte ein warmes Lächeln auf die Lippen des Älteren und verborgen hinter den roten Ärmeln seiner langen Unterwäsche war es der fromme Wunsch seines Mannes, der ihm eine sachte Gänsehaut bescherte. Was Matthew vorschlug, klang beinahe wie von einem ganz vorbildlichen Christenjungen ausgedacht und würde er diesen Kerl nicht schon längst so sehr lieben, vermutlich wäre das jener Moment gewesen, in dem er sich in den Dunkelhaarigen zu verknallen begann.
Claire leckte sich kurz über die Lippen, bevor er das Mundstück der Pfeife zwischen selbige steckte und mit seinen Zähnen fixierte, um die Hände frei zu haben. Etwas umständlich suchte er nach dem Beginn – oder dem Ende? – jedenfalls… dem Saum der Decke, die sein Mann trotz ihrer fulminanten Größe schon jetzt voll und ganz für sich beansprucht hatte. Sein windiges Böckchen fortan unter dem Ungetüm erst noch suchen zu müssen, würde sicher dann und wann zu ziemlicher Wühlerei führen – aber immerhin bekam man am Ende dafür ein umso schöneres Geschenk, wenn man bis zum Ende durchhielt.
„Ein Waisenhaus direkt nicht. Nicht, dass ich wüsste. Aber früher hatten wir hier in Falconry eine Familie, die verwaiste oder verwahrloste Kinder aufgenommen hat bis sie alt genug waren, um irgendwo außerhalb als Knecht oder als Magd auf den Höfen zu helfen… oder sich eine Ausbildung zu suchen“, erinnerte sich Clarence dunkel und streckte einen seiner Füße unter der Decke nach denen Cassies aus, fand sie jedoch nicht zwischen all den Lagen aus Decke und Betttuch. „Außerhalb gab es auch eine, aber ich weiß nicht genau in welcher Siedlung. Wenn du magst, erkundige ich mich danach. Das Geld, wenn wir welches finden, dort zu verteilen… finde ich eine gute Sache. Einen Teil vielleicht, je nachdem was alles zusammenkommt. Es muss nicht hier in der Gegend bleiben, wir können ja auch welches mitnehmen und dort lassen, wo wir vorbei kommen werden.“
Wer wusste schon, wo die Jagd gegen die Bruderschaft sie hinführen würde? Elend gab es andernorts meistens deutlich spürbarer als hier in Falconry, wo das Leben einigermaßen glimpflich seinen Lauf nahm und die Präsenz eines Jägerclans dafür sorgte, dass man sich gut benahm und seinen bürgerlichen Pflichten nachkam.
Still nahm Claire noch einen Zug. Die Vorstellung bald schon wieder aufzubrechen und Pläne gegen unbekannte Gesichter einer großen Vereinigung zu schließen sowie hier in der Stadt vor der eigenen Haustüre mit Schatten der Vergangenheit aufräumen zu müssen… das alles kam ihm noch unheimlich weit weg und beinahe fast nicht begreifbar vor. Aber es war Realität, genauso wie der Absturz in Denver es gewesen war oder der Ring an Cassies Finger.
Die Frage danach, was mit Mo’Ann passieren sollte, lag für Clarence noch schwerer in der Luft als die Frage danach, ob sie von den Taten ihres Mannes wusste. Nicht einmal die Kräuter wussten auf diese Frage eine Antwort und irgendwie wagte der Schamane zu bezweifeln, dass sie es schaffen würden einen guten Fahrplan aufzustellen, noch bevor sie sich in der Situation der Umsetzung befanden.
„Egal was sie sagt… wir werden nie sicher sein können, ob sie lügt. Wenn sie so ist wie Nathan, wird sie immer eine gute Ausrede parat haben. Wenn nicht sogar eine bessere…“, erhob er schließlich langsam wieder die Stimme, nachdem er einen Moment in sich gegangen war und nachgedacht hatte. „Nathan hatte diese… Präsenz. Diese Art aufzutreten, für die man ihn sofort wahrgenommen und respektiert hat. Mo’Ann mag diese Ausstrahlung nicht so sehr haben wie er, dafür ist sie belesener und ausdrucksstärker. Sie sitzt bei den obersten der Stadt mit am Tisch und genießt auf eine andere Weise ein Ansehen als ihr toter Mann, aber dafür kein geringeres.“
Das war zumindest, grob zusammengefasst, das, was sie ausmachte.
„Egal was sie dir sagt, wie sie sich benimmt oder was sie beteuert… woran willst du ausmachen, dass sie die Wahrheit sagt? Woran misst du, dass sie unschuldig und unbeteiligt ist? Mit bloßer Menschenkenntnis ist das bei Leuten wie Nathan und Mo’Ann nicht getan.“ – Bedauern schwang in seiner Stimme mit, denn tatsächlich waren Cassies intuitive Empfindungen und Entscheidungen oftmals ein Garant für den richtigen Treffer, auch wenn Clarence das nur selten offen zugab. Aber auch sein Mann hatte Talente, das musste man ihm zugestehen.
„Selbst wenn… sie glaubhaft versichern könnte, dass sie nichts davon wusste und damit nichts zu tun hatte… wenn wir sie gehen lassen, wird es immer die Gefahr geben, dass sie uns einholt und ihre Verbindungen uns aus dem Hinterhalt den Garaus machen“, deutete er vorsichtig an und musterte Cassie von der Seite her. Bewusst Unschuldige zu töten war etwas, das weder in der Natur des Jüngeren lag, noch in seiner eigenen. Aber nichts auf dieser Welt würde ihnen jemals zu hundert Prozent die Gewissheit geben können, dass sie das wirklich war.
“Unschuldig… wer oder was ist schon unschuldig?“, fragte Matthew unverwandt seinen Mann zurück und musterte ihn.
In Sally Mitchell’s Geschichte würde Clarence die Rolle des Bösen einnehmen. Und in der von Frank Doolin war Matthew der schwarze Mann.
Aber die Dinge welche Nagi Tanka und Rouge getan hatten - zusammen oder jeder für sich allein - hatten eine andere Qualität, das wusste Matthew. Trotzdem wusste er auch, dass Clarence in Bezug auf Mo‘Ann recht hatte. Nichts was sie sagen konnte würde ihnen garantieren, dass sie nicht schlichtweg überzeugend log. Und Matthew würde es nicht ertragen diese Frau am Leben zu lassen falls sie beteiligt gewesen war. Eine Situation aus der es augenscheinlich kein Entrinnen gab.
Der Dunkelhaarige seufzte und schob nun seinerseits die Füße unter der Decke entlang, um die Reise, die der Hüne begonnen hatte, wortlos und erfolgreich zu beenden. Vorsichtig stupste er mit den Füßen gegen die des Größeren während er noch immer angespannt nachdachte.
„In White Bone… habe ich nie eine erwachsene Frau gesehen. Es gab… Küchenmädchen, aber nie eine älter als fünfzehn oder sechzehn schätze ich.“, jener Ort war nie weit entfernt - und zu Matthews Unglück konnte er sich schnell und sehr detailliert an alles erinnern.
„Das ist alles schon so lange her. Aber ich würde mich an eine Frau erinnern. Wenn sie dort gewesen wäre, hätte ich sie irgendwann sehen müssen.“ das hatte er aber nicht getan. Sprach das nun dafür, dass sie unbeteiligt gewesen war? Vielleicht ein bisschen.
Aber es war kein Garant.
„Die Sache ist die…“, er zögerte, seufzte und leckte sich über die Lippen, abwägend was er sagen wollte und vor allem wie.
„…mein leiblicher Vater ist… ein sadistisches Schwein.“, wieder zögerte er, während er die Worte nochmal Revue passieren ließ.
„Ich bin sein… Fleisch und Blut und nichts… nichts was ich tue wird daran jemals etwas ändern können.“ - ein Umstand mit dem er haderte, wie mit so vielen Umständen in seinem Leben.
„Ich will nicht mal im Ansatz so sein wie er. Ich will niemanden töten um mir das Leben leichter zu machen. Ich will niemanden töten nur weil ich Angst habe - die vielleicht unberechtigt ist. Ich will gar nicht erst damit anfangen mir vorzustellen wie viel…leichter es sein würde, würde sie einfach tot sein.“ Er presste die Lippen aufeinander und schwieg nachdenklich. „Wird man erst zu vertraut damit andere zu töten… verändert sich die Wahrnehmung in Bezug auf den Wert des einzelnen Lebens. Ich war… naja… talentiert, so hat Rouge es bezeichnet. Mittlerweile weiß ich, dass es wahrscheinlich sein Talent ist… Aber ich hab vermieden zu töten wann immer es ging. Ich habe kein schlechtes Gewissen wegen Doolin und ich werde keins haben bei den anderen und auch nicht bei Mo‘Ann, sollte sie sich mitschuldig gemacht haben.
Aber falls nicht…“, er schüttelte den Kopf. „Falls sie nichts damit zutun hatte… und wir sie umbringen… wie viel besser sind wir dann noch als mein Vater und dein Lehrmeister?“
Es war das eine, Wertsachen nicht für sich selbst zu behalten sondern sie guten Zwecken zukommen zu lassen. Aber würde dieser Akt der Großzügigkeit darüber hinwegtäuschen können, dass sie jemanden auf dem Gewissen hatten, der nichts mit den Gräueltaten ihres Mannes zutun hatte? Wie viel blieb ihnen noch von sich selbst, wenn sie diese Entscheidung leichtfertig trafen?
„Wenn sie es wusste… oder wenn sie ihn sogar…unterstützt hat, dann hat sie kein Leben verdient. Nicht nachdem ihr Mann so viele Leben genommen hat. Aber wenn nicht… Du kennst sie, du kanntest ihn… Was denkst du über sie, hm? Du bist der einzige den ich kenne auf dessen Intuition ich mich verlasse - abgesehen von meiner eigenen.“
Still musterte Clarence Matthew von der Seite her. Ihn, den dunkelhaarigen jungen Mann, den er über alles liebte und den er gegen nichts in der Welt eintauschen würde – und in dem er kein einziges Quäntchen jenes Mannes sah, der ihn damals durch die Holzverschläge hinweg angestiert hatte, bevor seine Mutter ebenso wie sein Vater gestorben war.
Er erinnerte sich an seine stechenden Augen. Seinen Blick, der so geerdet und im Hier und Jetzt war, als habe er die ganze Welt und ihre Abgründe gesehen und der so wirkte, als habe er all jene Abgründe selbst geschaffen. Doch er erinnerte sich auch an jene Fotografien, welche die irre Fremde in Coral Valley vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet und ihnen dabei erklärt hatte, dass der Mann in dem roten Mantel Matthews Erzeuger war. Auch dieser Mann hatte nicht im Geringsten etwas mit jenem gemeinsam, mit dem er heute unter dieser Decke lag.
Die Angst vor unsichtbaren Dingen, vor etwas Allmächtigem das man nicht beeinflussen konnte, kannte Clarence als einstmals deutlich strengerer Christ nur zu gut. Fanatist hatte man ihn bei seiner Ankunft geschimpft – eine beleidigende Zusammensetzung aus Fanatiker und Terrorist, denn aus den Augen Außenstehender betrachtet empfanden Fremde seine Sippe besonders letztere Begrifflichkeit als besonders zutreffend. Seine Angst vor jener unsichtbaren Allmacht war in manchen Jahren seines Lebens so groß gewesen, dass auch Clarence selbst Unaussprechliches mit anderen Menschen getan hatte. Doch selbst in Falconry Gardens und in der Zeit danach – resozialisiert und in seinem Alltag weit weniger durch seinen Glauben beschnitten als es früher noch der Fall gewesen war – hatte seine Angst vor Gott, seinem Schöpfer, ihn vollends loslassen können.
Auch Matthew, der seine Wurzeln wider Willen gerade erst gefunden hatte, hatte Angst vor dem was ihn vielleicht einholte, wenn er nicht auf sich Acht gab oder gewisse Regeln einhielt, gegen die man einfach nicht verstoßen sollte. Es waren zwei verschiedene Ängste mit zwei verschiedenen Ursprüngen… und doch konnte Clarence verstehen was seinen Mann so trieb, denn das unbekannte Was wäre wenn machte auch ihm manchmal mehr Angst als die Dinge, die unabwendbar im Hier und Jetzt geschahen.
„Ich denke, dass… Intuition bei den beiden nicht das ist, was weiter hilft. Meine Intuition hat mir auch nicht verraten dass die dunklen Seiten, die ich von Nathan kannte, nur die Spitze des Eisberges sind“, sprach er seine Gedanken laut aus, zog ein weiteres Mal tief an der Pfeife und brachte die Glut damit zum Glimmen. Die Kräuter sollten ihn eigentlich beruhigen und ein bisschen entspannen, doch angesichts des anhaltenden Themas hatte Claire nicht das Gefühl, dass das Rauchen etwas brachte.
Den dicken Rauch langsam gen Decke pustend, reichte er Cassie schließlich wieder die Pfeife und nutzte seine frei gewordene Hand, um sie unter die Bettdecke und hinab auf den Schenkel seines Mannes tauchen zu lassen. Zum Glück tat sich der Jüngere immer deutlich leichter darin sie zueinander finden zu lassen, sodass sich ihre Füße noch immer sachte berührten und der Blonde sich etwas dadurch erden konnte, nachdenklich gegen die Zehen des anderen zu stupsen.
„Lass uns nicht darüber nachdenken, wer was verdient hat. Wenn wir besser sein wollen als Beliar oder Nathan, dann sollten nicht wir diejenigen sein die aufwiegen dürfen, wer wann welches Verbrechen begangen hat und dafür büßen muss. Wenn es danach geht, müssten im schlimmsten Fall vielleicht noch wir beide vor Mo’Ann dran glauben“, wiegte er das Gewicht all ihrer Taten gegeneinander auf und schüttelte unmerklich den Kopf. Die in die Jahre gekommene Frau hockte seit Jahren fast nur noch in der Stadt, während Matthew und er selbst im schlimmsten Fall vielleicht schon mehr Leute auf dem Gewissen hatten als sie. Was das anging, hinkte der Blickwinkel. „Aber wenn du sagst, dass sie dich… auf den Ring angesprochen und damit etwas hat durchscheinen lassen…“ – er deutete mit einem Nicken gen Cassies Finger; um ehrlich zu sein hatte er seinen Mann seit dessen Ankunft nicht auf den unbekannten Schmuck hingewiesen, immerhin besaß der Jüngere manchmal auch einfach unheimlich lange Finger, durch die ihm eventuell vielleicht etwas ganz unabsichtlich in die eigene Tasche fiel. „Dann hat sie Verbindungen zu diesem Verein oder kennt zumindest diesen Frank Doolin. Kannte Doolin“, verbesserte er sich. „Und wer solche intensiven Verbindungen zu diesem Verein hat, der muss auch wissen was dort getrieben wird oder hat zumindest eine grobe Ahnung. Was ist mit Jeyne?“
Dass er nun ausgerechnet einen Haken zurück zur Hurenkönigin schlug, die bislang in ihrer Diskussion nur in einem kurzen Nebensatz erwähnt worden war, mochte völlig am Thema vorbei sein – aber eigentlich war es das ganz und gar nicht.
„Du hast gesagt, Rouge war mit ihr befreundet. Nathan war auch manchmal in Coral Valley. Was sagt uns, dass die drei sich nicht gemeinsam getroffen haben? Ihre Interessen, die von Jeyne und Nathan, sind oder waren ähnliche“, zog der Blonde schließlich kurzerhand den Schluss, der gefühlt offensichtlich war – aber über den er bislang noch nicht nachgedacht hatte. „Als wir bei Jeyne waren, weil du das Geschäftliche mit ihr ausgehandelt hast… warst du kurz vor der Tür. Da, als ich ihr gegenüber schlecht über dich geredet hab.“
Das Ganze war gefühlt schon eine halbe Ewigkeit her, aber er erinnerte sich daran als wäre es gestern gewesen. Später, in der Kutsche auf dem Heimweg, hatte er sich unheimlich elend gefühlt und Cassie davon erzählt, welche schlimmen Dinge er über den Dunkelhaarigen gesagt hatte damit es so wirkte, als sei nichts weiter zwischen ihnen als eine rein körperliche Beziehung, die Kosten und Nutzen miteinander abwog. Eine subtile Geschichte, die sie hatte als Paar weniger angreifbar oder verletzlich machen sollen.
„Ich hab dir nicht davon erzählt, damit du nicht gleich wieder auf dem Absatz kehrt machst und sie am Hafenpier aufknüpfst. Aber als du draußen warst wollte ich von ihr wissen, was für Frauen sie angestellt hält… weil du wegen so einem jungen Ding eingesessen hast, das du versucht hast vor einem Freier zu retten“, holte er kurz aus, in der Hoffnung er rief seinem Mann damit wieder ins Gedächtnis zurück, was kurz nach ihrer Ankunft in Coral Valley passiert war – immerhin hatten sie beide zu der Zeit ihre Erinnerung in unheimlich viel Alkohol und später Sex ertränkt. „Sie meinte, sie… hält sich lieber junge Mädchen angestellt, die zu jung sind um… du weißt schon. Sie hat zwar nicht gesagt wie jung, aber sie meinte, sie wäre die einzige in der Stadt, die diese… ‚Nische‘ bedient. So nannte sie es, glaube ich. Wenn Nathan und Rouge so eng befreundet waren und beide regelmäßig bei Jeyne zu Besuch…“
Den Rest konnte man sich vermutlich denken, hoffte Clarence – und gleichzeitig stellte sich ihm die Frage wie weit sich diese speziellen Kreise der Eingeweihten wohl zogen, wenn sie vielleicht sogar bis nach Coral Valley reichten.
Gerade eben waren sie noch bei Mo’Ann, die eindeutig wusste wer Doolin war und damit auch, was ihm passiert war. Cassie nickte nachdenklich und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. Warum sollte sie ihn auf den Ring hinweisen, damit verraten, dass sie wusste wer er war und was mit Doolin geschehen war - wenn sie sich damit der Chance beraubte eine Verbindung zur Bruderschaft abzustreiten?
War das nicht unheimlich dumm?
Doch noch bevor Matthew jenen Gedanken weiter verfolgen konnte, warf Clarence plötzlich einen anderen Namen ein.
Jeyne Copper.
Entgeistert sah Matthew ihn eine Sekunde lang an, dann schüttelte er vehement den Kopf.
„Nein. Nein, da verrennst du dich.“, stellte er unumwunden klar und nahm einen tiefen Zug von der Kräutermischung. Der Qualm war dick und brannte ein bisschen in der Kehle, aber der Geschmack war perfekt und die Wirkung nur leicht benebelnd.
Von seiner Verneinung zeigte sich Clarence nicht beeindruckt, sondern erzählte von dem Treffen in Coral Valley. Cassiel erinnerte sich noch gut an den Abend und auch daran, dass Clarence ihm später in der Kutsche gestanden hatte, hässliche Dinge gesagt zu haben. Er war so durch den Wind gewesen, Matthew hatte ihm gar nicht böse sein können.
Aber was genau Jeyne in seiner Abwesenheit geäußert hatte, davon hörte Cassie nun zum ersten Mal und es bereitete ihm ein flaues Gefühl im Magen. Trotzdem wehrte er jeden Gedanken daran ab, Jeyne könnte eine nähere Verbindung zu den zwei Männern haben.
„Sie ist eine Geschäftsfrau, knallhart wenn es um ihren Laden geht, aber… sie kümmert sich um ihre Mädchen. Manche sind jung, zu jung wenn du mich fragst … aber nicht zu jung vor dem Gesetz.“ - was widerlich genug war, aber sie machten die Regeln nicht.
Nochmals schüttelte Matt den Kopf und versuchte sich daran zu erinnern, ob es je einen Moment gegeben hatte der auf etwas hindeutete, was sie näher an Rouge und oder Nagi rücken ließ als bisher angenommen.
„Rouge…Beliar… war mit ihr befreundet, ich weiß nicht wie sie sich kennengelernt haben, aber er hat ihr geholfen Leute verschwinden zu lassen. Damals… hab ich angenommen, es waren schlechte Leute. Immerhin war ich in der Lehre bei der verfickten Bruderschaft des Lichts. Ich hab das alles nicht hinterfragt.“ - heute hinterfragte er durchaus, nur Jeyne hatte er nie hinterfragt.
„Sie war nicht… also sie war nie bösartig. Nicht zu mir und ich habe es auch nie erlebt, dass sie schlecht zu ihren Angestellten war. Die Mädchen wurden fair bezahlt, waren sauber, hatten immer zu essen und nie Blessuren.“ - und das allein war leider schon nicht selbstverständlich.
„Wir haben häufiger gestritten, weil manche ihrer Mädchen in meinen Augen zu jung waren… Aber sie sagte immer, zwischen jung und zu jung liegen eben nur ein bis zwei Jahre. Es ist eine beschissene Welt, ich wusste immer, dass…“ - und während er sprach, die Dinge laut hörte wurde Matthew plötzlich klar wonach es sich anhörte. Ohne den Satz zu beenden, presste er die Lippen aufeinander und ließ das Gesagte erneut auf sich wirken.
‚Zwischen jung und zu jung liegen nur ein bis zwei Jahre.‘
Nervös nahm er schließlich nochmals einen Zug von dem Kraut.
„Sie war immer nett zu mir. Fast… mütterlich, schätze ich.“ - aber was sagte das aus? Sie konnte zu ihm nett - und trotzdem in die dunklen Machenschaften eingeweiht gewesen sein.
„Mein Goldjunge“ hatte sie ihn immer genannt. Hatte ihn geherzt und stets darauf bestanden, dass er in einem ihrer Häuser wohnte. Sie hatte ihn in Theaterstücke und zum Essen ausgeführt, sie hatte ihn eingeladen, hatte mit ihm gelacht und ihn ermuntert ihr Dinge aus seinem Leben zu erzählen. Und sie wiederum hatte ihm Dinge aus ihrem Leben erzählt.
„Erinnerst du dich an ihren Auftrag? Duncan Flagg und seine eingeweihten Vertrauten? Der Kaufmann, der zu viel wusste.“ - vermutlich schon. „Sie hat erzählt, dass Rouge ihren Mann aus dem Weg geräumt hat und das Flagg davon wusste. Flagg ging es aber nie um ihren verschollenen Mann.“, er warf Clarence einen Seitenblick zu, ehe er kleinlaut anfügte „Ich hab ihn gefragt was er weiß, dass Jeyne ihn totsehen will.“
Was, wenn jener Flagg ganz andere Informationen gehabt hatte?
„Das ist doch alles verrückt…“, wieder schüttelte er verneinend den Kopf, als würde er sich vehement selbst verbieten weiter darüber nachzudenken. Aber die Büchse der Pandora war geöffnet und ließ sich nicht mehr verschließen. Und plötzlich - wie aus dem Nichts - kam ihm etwas in den Sinn, so offensichtlich und so augenfällig, dass es ihm hätte viel früher schon bewusst werden müssen.
„Le Rouge“ sagte er tonlos. „Madame Cœur.“ er blickte zu Clarence, sein Blick entrückt und glänzend.
„Wie viele Menschen kennst du, die sich französische Spitznamen geben?“
Ein zweifelnder, fast schon widerwilliger Blick traf Matthew von der Seite her. Einer von jener Sorte die einem auch wortlos mitteilte: Egal was du jetzt sagst, wir werden hier nicht einer Meinung sein.
Jung, aber nicht zu jung vor dem Gesetz… das klang wie etwas, das man so oft gehört hatte, dass man es irgendwann einfach zum eigenen Wortschatz hinzugefügt hatte. Etwas, das so gängig im Alltagsgebrauch war, dass man es irgendwann einfach nicht mehr hinterfragte. Doch gerade solche Worte aus einem Mund wie dem von Matthew zu hören, machte eben jenes Mantra noch viel abstruser – immerhin war Cassie beim Anlegen des Maßstabs für solche Dinge normalerweise noch viel strenger als sonst irgendjemand, den er kannte.
Clarence liebte diesen Mann für seine Feinfühligkeit, die er gegenüber Kindern an den Tag legte. Aber je mehr er zu dem Thema Jeyne Copper von sich gab, umso mehr verstrickte er sich in Dinge, die ihm alles andere als gut standen.
„Nur ein bis zwei Jahre… so so“, kommentierte der Jäger trocken und ließ seinen Blick kurz über den Mann neben sich hinweg gleiten, fast so als müsse er überprüfen, ob man ihm den Dunkelhaarigen nicht in einem unbemerkten Augenblick einfach ausgetauscht hatte.
Aus jugendlich wurde schnell jung. Aus jung wurde jungfräulich. Aus jungfräulich zu jung… und aus zu jung ein ‚eigentlich zu jung, aber‘. Natürlich waren die Mädchen aber immer schon unheimlich reif für ihr Alter, sodass am ende zu jung auch gar keine Bedeutung mehr hatte, wenn man es nur lange genug aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete.
Clarence selbst mochte sich in Coral Valley ansonsten nicht zu derlei Themen geäußert haben, aber das lag nicht daran, dass er dazu keine Meinung hatte – viel mehr war er einfach nur nicht dumm genug gewesen, sich derartig in die Nesseln zu setzen. Als Unbekannter und als Gast in einer fremden Metropole machte man sich weder bei seinem Gastgeber, noch bei einer einflussreichen Geschäftsfrau wie Jeyne zur Begrüßung unbeliebt. Stillschweigend hinzunehmen, was in ihrem Etablissement vor sich ging, war zwar nicht die feine Art; aber es war auch nicht seine Aufgabe die ganze Welt zu retten, so lange sie ihm nicht offensichtlich als Auftrag in den Schoß fiel.
Dennoch war es nicht etwa nur die Erkenntnis darum, dass Jeyne in ihrem Laden viel zu junge Angestellte beschäftigte, die Matthew umtrieb. Es war der entrückte, ferne Blick welcher sich in die Augen seines Mannes legte, der Claire einen Stich in die Brust versetzte und seinen eigenen schlagartig wieder weicher und weniger vorwurfsvoll werden ließ.
In dem Gesicht des Jüngeren erkannte er eben jene Ernüchterung wie sie einen ereilte, wenn man die ganze Welt, wie man sie bisher zu kennen glaubte, plötzlich in Frage gestellt sah. Wenn man Menschen, denen man vertraute und die man liebte, plötzlich in ein gänzlich neues Licht gerückt sah, das die potentielle Macht hatte alles zu verändern, das unabänderlich in Stein gemeißelt schien.
In einer Welt wie der von ihnen beiden galten andere Regeln. Sie entsprach nicht nur den rauen Grundsätzen, denen jeder einzelne Mensch auf dieser Welt unterlag – sondern auch ganz eigenen Spielregeln. Eben jenen, bei denen es aufgrund all ihrer Erfahrungen im Leben nur schwer war Freunde zu finden, denen man tatsächlich vertraute und die es gut mit einem meinten. Jenen, bei denen man schon früh dem eigenen Zuhause entwurzelt worden war und es dementsprechend schwer hatte einen Ort zu finden, an dem man ankommen und sich wohl fühlen durfte. Aber auch jenen Regeln die besagten, dass ihre Familie winzig klein war und jeder weitere Verlust, jedes erneute Wegbrechen einer einzelnen Person, den potentiellen Einbruch eines sehr fragilen emotionalen Kartenhauses bedeuten konnte, das man über Jahre hinweg krampfhaft versucht hatte aufrecht zu erhalten und vorm Fall zu schützen.
Für einen Momentblickte er zwischen Cassies Iriden umher, bevor er dem Jüngeren schließlich wortlos die Pfeife abnahm, um sie vorsichtig neben sich auf dem Nachtschrank zu platzieren. Erst danach suchte er die Nähe seines Mannes, indem er zuerst sachte über seinen Unterarm hinweg streichelte, bevor er seine Hand in die des anderen schob und Cassies Finger in zarter Zuwendung mit seinen verwob.
„Weißt du… dass sie immer gut zu dir war ändert nichts daran, dass sie vermutlich kein guter Mensch ist und… da auch irgendwie mit drin hängt“, fasste er das Offensichtliche zusammen, das Matthew gerade bereits schon selbst erkannt hatte. Dass Madame Cœur und Le Rouge so offensichtlich alleine schon dem Namen nach eine Verbindung zueinander besaßen, was nicht mal Claire aufgefallen. Doch nun, wo sein Mann diese Verbindung erst einmal gezogen hatte, war es unmöglich sie wieder zu übersehen. „Aber… aber dass sie vermutlich zu diesem Verein dazu gehört, das ändert auch nichts daran, dass sie immer gut zu dir war. Das macht es nicht weniger wertvoll und nicht weniger wichtig.“
Vielleicht sollte das anders sein. Vielleicht sollte er ihr absprechen, dass sie Cassie immer gutherzig bei sich aufgenommen hatte und sie als das fragwürdige Miststück hinstellen, das sie vermutlich war.
Aber in einer Zeit, als es wichtig gewesen war Matthew Cassiel Reed Wärme, Verlässlichkeit und eine Konstante zu schenken… da hatte Jeyne Copper das getan. Ganz egal, was hinter verschlossenen Türen abgelaufen war.
„Vielleicht tun wir ihr auch unrecht und es ist reiner Zufall. Ich meine… es wäre unter den aktuellen Umständen auch gut möglich, dass wir gerade anfangen in allem und jedem den Teufel zu sehen und ein bisschen paranoid werden. Vielleicht haben wir schon zu viel geraucht. Oder zu wenig“, deutete er mit der freien Hand neben sich gen Nachtschrank.
„Ich wollte dich nicht in diese Lage bringen, indem ich das eben gefragt habe. Tut mir leid“, setzte er schließlich etwas leiser wieder an, sich kurz über die Lippen leckend. „Wir… wir müssen auch jetzt nicht über sie reden, wenn du nicht willst. Hier vor Ort haben wir genug Baustellen, die zuerst dran sind.“
Das Vertrauen von Matthew Cassiel Sky zu gewinnen, war nicht leichter als das von Reed zu verdienen.
Der junge Mann war eigentümlich verschlossen, wann immer es darum ging sich einer anderen Person wirklich zu öffnen.
Was er dachte, fühlte oder befürchtete, worauf er insgeheim hoffte und sich erträumte… das waren Dinge über die der Dunkelhaarige nicht redete. Er war gut darin Smalltalk zu halten - und zwar so geschickt, dass es sich für den anderen nicht wie Smalltalk anfühlte - aber er redete dabei nie wirklich über sich.
Seine Erlebnisse und Erfahrungen hatten ihn skeptisch gemacht, er hinterfragte viel, er vertraute kaum.
Madame Cœur allerdings hatte zumindest ein Stück weit sein Vertrauen genossen. Er hatte immer gewusst, dass sie irgendwie zwielichtig war. Die meisten Leute in hohen Positionen hatten auf die oder andere Weise Dreck am Stecken. Und er hatte ihr auch nie blind vertraut.
Sie waren oft in Streit geraten, er war ihr gegenüber oft zurückhaltend und dennoch war sie… eine Konstante gewesen. Eine Person, in deren Gegenwart ihm nie etwas schlimmes passiert war.
Sie hatte immer für ihn gesprochen, wenn Rouge unzufrieden mit ihm war. Sie hatte ihn immer ein Stück weit geschützt und aus irgendeinem Grund hatte er das offensichtliche nicht erkannt.
Vielleicht, weil sie schon vor ihm mit Rouge bekannt war. Vielleicht, weil viele Treffen schlichtweg unverfänglich gewesen waren. Vielleicht, weil sie nicht immer etwas von ihm gewollt hatte.
Was auch immer der Grund dafür war, dass er auf einem Auge blind für die Wahrheit gewesen war… jetzt traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube. Er fühlte sich schrecklich dumm und einfältig und er fühlte sich vollkommen desillusioniert.
In einer Welt in der er ohnehin niemandem traute war jene Frau eine Konstante gewesen - und in gewisser Weise war sie das nun noch umso mehr. Eine Konstante in seinem Leben, welches ihm ohnehin schon eingebläut hatte, dass alles und jeder ein Teufel in lächelnder Menschengestalt war.
Angespannt presste er die Finger um die Pfeife, seine Lippen waren fest verschlossen, die Farbe aus seinem Gesicht gewichen und er starrte ins Leere. Er konnte es einerseits nicht begreifen und andererseits konnte er nicht verstehen wie er so blind hatte sein können. Es war beinahe so als habe er mit Absicht nicht genauer hingesehen…
Als Clarence ihn plötzlich berührte zuckte Matthew erschrocken zusammen und wandte den Blick zu ihm herüber. Er protestierte nicht als der Blonde ihm schließlich die Pfeife aus seinen Fingern entwand, trotzdem musste Clarence jeden einzelnen lösen, weil Cassie sie auch nicht freiwillig hergab. Er war schlichtweg zu angespannt um lockerlassen zu können.
„Dass sie zu diesem Verein dazugehört ändert alles.“
Was war ihre Fürsorge denn wert, in Anbetracht der Umstände, dass sie vielleicht von allem gewusst hatte? Falls sie ihr Unrecht taten, falls all das falsche Schlüsse waren - dann würde Jeyne sich eines Tages erklären können. Aber Matthew glaubte nicht an einen Zufall - und Clarence tat es auch nicht, das verrieten seine Augen.
„Bis wir Coral Valley erreicht haben, sind die Dinge nicht schlecht für uns gelaufen. Als wir von dort aufgebrochen sind… ging es bergab. Du hast erzählt, dass Sally Mitchell besessen gewesen ist. Jetzt frage ich mich gerade: warum dieses Mädchen? War unser Erreichen von Cascade Hill Zufall oder ein so wahrscheinliches Ereignis, dass sie bewusst ausgewählt wurde um mich umzubringen? Und wenn sie bewusst ausgesucht wurde, dann nur weil die wussten wo wir sind, wann wir mit dem Boot aufgebrochen sind und in welche Richtung.“
Abermals presste er die Lippen aufeinander. Er fühlte sich am Boden zerstört und jede weitere Minute in der er über alles nachdachte, machte es nur schlimmer.
„Wir haben überall nur Feinde.“, stellte er unvermittelt resigniert fest und senkte den Blick wieder. Er hatte Jeyne Copper nie vollkommen vertraut, aber in gewissem Umfang hatte er es. Sie hatte ihn nie angegriffen - egal ob sie einer Meinung waren oder nicht - sie hatte ihn vor Rouge so manches mal verteidigt, hatte seine Kaution bezahlt wenn er mal wieder wegen irgendeiner seiner Dummheiten in Gewahrsam genommen worden war.
„Meine…meine Menschenkenntnis ist offensichtlich gar nichts wert.“, er schnaubte verächtlich über sich selbst, schüttelte fassungslos den Kopf und schluckte. Er würde jetzt nicht heulen. Nicht schon wieder und schon gar nicht wegen dieser Frau. Aber die Gefühle die in ihm tobten reichten von Enttäuschung bis zu Schmerz und Wut.
„Ich schwöre, wenn ich mich in dir auch noch täusche, braucht die Bruderschaft niemanden schicken…“, schliesse sah er wieder nach oben, auf eine Weise scheu wie er es lange nicht gewesen war. Aber plötzlich schien die alte Unsicherheit wieder da zu sein.
„Ich hab nur dich.“
Matthews These, dass ihre Route über die kleine Insel Cascade Hill absehbar gewesen und ihr Aufbruch aus Coral Valley einem Verrat zum Opfer gefallen sei, war so wild, dass sie im Gesamtbild der momentan neuesten Erkenntnisse nicht mal mehr aus der Reihe tanzte. Ganz im Gegenteil sogar.
Seitdem sie in den Metropolen und bei Jeyne gewesen waren, waren die Dinge irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Sie hatten erstmals ihren Aufenthaltsort wieder einer breiteren Masse öffentlich gemacht, waren nicht alle paar Tage in der Wildnis untergetaucht wie in all den Monaten zuvor und waren auch nicht gerade zurückhaltend darin gewesen, ihre Absichten kundzutun. Ein großes Boot zu kaufen war nichts, was lange geheim blieb – erfahrungsgemäß bekamen es mehr Menschen mit als einem lieb war, wenn man viele, viele Goldmünzen über eine Ladentheke wandern ließ. Ihr Ablegen aus dem Hafen war nichts gewesen, das man hinter einem kleinen Bettlaken und einem Ablenkungsmanöver hätte verstecken können. Und selbst wenn Jeyne Copper es ihm nicht geglaubt hatte, so hatte Clarence tatsächlich mit dem Besitzer des Shoot ‘Em Down um die Besitzurkunde des Ladens gespielt – ohne zu wissen, dass es sich dabei um Jeynes Schwiegersohn handelte, wie die Königin der Huren später hatte verlauten lassen.
An jenem Abend war viel Alkohol geflossen und wenngleich der Besitzer nicht zu The Hounds gehörte obwohl sein Laden im Jägerviertel thronte, würde Clarence seine Hand dafür ins Feuer legen, dass der Kerl sowohl für das Team der Jäger, als auch für das Team seiner Schwiegermutter spielte. Beides waren Gegner, die man nicht als Feind haben wollte. Da war er sich sicher.
Still legten sich seine Finger etwas fester um die seines Mannes, dessen Hand er unter der Bettdecke ergriffen hatte. Im Augenblick war nur Matthew es, der sich als einziges noch so richtig real anzufühlen vermochte. Die einzige Konstante, an der er niemals einen Zweifel hegen würde so lange sie lebten… und an dem er niemals zweifeln würde, egal wie oft man ihm auch beteuerte, dass er sicher von einem blutrünstigen Mutie gefressen worden war und nicht zu ihm zurück kehren würde.
Dass Cassie es also auch nur wagte anders von ihm zu denken, sei es auch nur in einer was wäre wenn-Variante einer dystopischen Zukunftsvision, ließ den Blonden verärgert und enttäuscht seine hellen Brauen zusammenziehen. Selbst die Frage danach, ob er es nicht gut mit dem Jüngeren meinen könnte, versetzte Clarence einen derberen Stich ins Herz als zu Anfangszeiten die blasphemischen Gotteslästerungen des Söldners und am liebsten hätte er ihn nun nicht weniger grantelig dafür angefahren, als er es auch früher schon getan hatte. Doch Zeiten änderten sich – und zum Glück auch die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgingen. Denn ansonsten lägen sie sich wohl auch heute noch immer in den Haaren anstatt einander zu lieben.
„Wenn du sowas noch mal sagst… dann brauchen die auch keinen mehr schicken“, konnte sich Claire einen angefressenen Konter trotzdem nicht verkneifen und musterte Cassie kurz. Die Zeiten, in denen sie hatten über so etwas scherzen können, waren längst vorbei – spätestens seit ihrem turbulenten Abenteuer in Miami, das damit geendet hatte, dass Clarence in den Tod voraus gegangen war, nur damit Cassie ihm folgte. Er wusste, dass Cassies Worte nichts anderes waren als ein lapidarer Spruch und trotzdem…
Trotzdem war selbst die Bedrohung durch nicht kontrollierbare, aufkochende Emotionen nicht weniger real als dieser tödliche Verein, der vermutlich irgendwo im Nirgendwo darauf lauerte ihnen beiden den Garaus zu machen.
Erst als Clarence hinab sah auf die Delle unter der warmen grünen Bettdecke, unter der ihre Hände ineinander verwoben ruhten, entspannten sich seine hart gewordenen Gesichtszüge langsam wieder. Als er sich noch vor wenigen Tagen ausgemalt hatte wie es sein würde, sollte sein Mann je wieder zu ihm zurück kehren, hatte er dabei nicht an eine Horde Typen und irre Hurenköniginnen gedacht, die sich in einer pädophilen Vereinigung gegen sie verbanden um ihnen das Leben schwer zu machen. Da waren nur sie beide gewesen, die Hunde…, Lucy vielleicht…
Doch letztere war zuerst aus diesem Traum fortgebrochen, gefolgt von all den anderen erträumten Dingen, die ihm langsam in Bröckchen aus dem Gebilde zu bröseln begannen.
„Du weißt, dass du… damals keine Wahl hattest, wer zu deiner Familie gehört“, erhob er schließlich nach einer kurzen Stille wieder die Stimme, beinahe schon trotzig, als wäre er einfach nicht gewillt den offensichtlichen Dingen einfach so das Feld zu räumen. Und zum Teil stimmte das auch – immerhin war es kein Geheimnis, dass der Blonde zum Großteil einfach nur von seinem Dickschädel ausgemacht wurde. „Damals warst du umgeben von Menschen und von einem Leben, auf die du keinen Einfluss hattest. Du hast das beste daraus machen müssen und dazu gehört auch denen zu Vertrauen, die einen als einzigen gut behandeln und beschützen.“ - Das war nicht mehr und nicht weniger als eine Feststellung und bei Gott, Clarence war der letzte der Matthew Vorwürfe dafür machen würde niemals die Person hinterfragt zu haben, die damals als einzige gut zu seinem Mann gewesen war. „Erwachsen werden hat viele beschissene Nachteile. Vor allem dann, wenn man… wenn man irgendwann anfängt, die Leute um sich herum nicht mehr mit den naiven Augen eines Kindes zu sehen. Aber dass du nur mich hast, stimmt auch nicht. Nicht mehr, jedenfalls.“
Dass sie diese Diskussion an diesem Abend bereits schon einmal geführt hatten, war dabei völlig egal. Angesichts der Abgründe, die sich gerade vor ihnen auftaten, gewann sie nur umso mehr an Bedeutung – und angesichts der Aufmerksamkeiten, die vor und auf ihnen lagen, wurde die Ernsthaftigkeit umso greifbarer.
„Damals warst du nur ein Kind, das keine Wahl hatte, weil es sonst seine Hand verloren hätte. Heute bist du ein Ehemann. Mein Mann, der die Wahl hatte zu mir zurück zu kommen oder ein fremdes, neues Leben zu beginnen ohne all diese Altlasten. Du bist ein guter Freund, den Adrianna und Cameron so sehr vermisst haben, dass sie uns trotzdem Geschenke besorgt haben obwohl du nicht da warst“, fasste er zusammen, welches Leben Cassie heute führte – und welches auch Clarence mit ihm führen durfte. Ein Leben, das er so nicht haben würde, wenn Matthew nicht an seiner Seite wäre.
„Mit wem Jeyne befreundet war oder mit wem Beliar zusammen gearbeitet hat… das bestimmt nicht im geringsten zu welchem Menschen du geworden bist oder wer du heute bist. Es ändert rein gar nichts. Was passiert ist, ist passiert. Wenn wir anfangen diesen Leuten die Macht zu geben uns selbst zu hinterfragen, dann lassen wir sie jetzt schon gewinnen und Nathan war… viel zu lange in meinem Kopf und in denen all der anderen, um ihm oder diesem Verein oder auch nur irgendeinem dieser Verrückten wieder die Oberhand über uns zu geben. Mach das nicht, Cassie.“