Zuhause
03. Januar 2211
Vielleicht stimmte was Clarence sagte und Matthew war damals nur ein Kind gewesen welches einfach versucht hatte zu überleben. Ein Kind, dem man nicht zum Vorwurf machen konnte, dass es sein Umfeld nicht genau beäugt hatte, da jenes Umfeld nun einmal alles war was er hatte.
Auf jeden Fall aber war er ein Kind gewesen welches schon ganz genau gewusst hatte, Recht von Unrecht zu unterscheiden.
Aber Jeyne Copper, Madame Cœur…hatte er nicht hinterfragt, zumindest nicht so sehr wie er es hätte tun sollen.
Die Frau und Beliar mussten gewusst haben wie blind oder dumm er war, hatten sie sich doch nicht einmal die Mühe gemacht ihren französischen Spitznamen zu verbergen.
Das desillusionierende Gefühl unter Monstern aufgewachsen zu sein und sich selbst in jenen - zweifellos zwielichtigen, aber immer noch menschlichen Charakteren - getäuscht zu haben wog so schwer, dass es Cassie nicht durch Worte zum Ausdruck bringen konnte.
Es war, als sei er in einer Schlangengrube aus der es kein Entkommen gab. Egal in welche Richtung er sich wandte, egal wohin er seine Schritte lenkte: überall waren nur mehr Schlangen. Und ganz gleich ob er unterwegs welchen den Kopf abschlug: es hörte niemals auf.
In jenem Augenblick des Begreifens fühlte er sich vollkommen überfordert und vollkommen allein.
Es waren seine Schlangen. Es war seine Grube.
Aber damit lag er falsch.
Es bedurfte keiner Worte, keiner Blicke die sich trafen um Matthew klarzumachen wie sehr er sich irrte. Es brauchte nur den Druck der fremden Finger die sich mit seinen verwoben hatten.
Es waren ihre Schlangen. Es war ihre Grube.
Und die scheinbare Ausweglosigkeit war nur eine Illusion. Clarence war bei ihm und würde es immer sein - und egal wie viele Schlangen sich in der Dunkelheit noch aufrichten mochten: Matthew würde ihnen nicht allein begegnen.
Erst jetzt wandte der Dunkelhaarige den Blick wieder zu seinem Mann und in seinen Augen lag jener traurig-verletzte Ausdruck von früher. Er war blass und man sah ihm an wie sehr ihn die Erkenntnisse um Jeyne mitnahmen. Aber als er sich um ein kleines Lächeln bemühte da war es mehr als der schöne Schein von früher.
„Tut mir leid, Baby… das hätte ich nicht sagen dürfen. Manchmal rede ich schneller als ich denke…“
Er beugte sich zu Clarence hinüber und drückte ihm kurz einen Kuss auf die bärtige Wange. Diesen Mann liebte er mehr als sein Leben und er wusste mit jeder Faser seines Herzens, dass er sich jederzeit und immer auf ihn verlassen konnte.
Und andersherum galt das selbe. Es gab keine Gefahren die sie nicht bestehen würden - ganz egal wer oder was sie bedrohte.
„Heute bin ich dein Mann…“, wiederholte er und lächelte nochmals, dieses Mal ein bisschen weniger melancholisch.
„Das klingt für mich immer noch unglaublich schön.“ - Clarence geheiratet zu haben war die beste Entscheidung seines Lebens gewesen. Keinen einzigen winzigen Moment hatte er es bereut und das würde er auch niemals tun.
„Du hast recht. Ich weiß das… es ist nur…“, er zögerte und zuckte schließlich in einer hilflosen Geste mit den Schultern.
„Es gibt in meinem früheren Leben offensichtlich keinen einzigen Menschen, der nicht irgendeinen Bezug zu White Bone hat. Und ich frage mich… Ich frage mich warum das so ist, warum es kein Ende nimmt. Womit…womit ich das verdient hab.“
Aber er war nicht dumm und auch nicht naiv, die Logik sagte ihm, dass er es nicht verdient hatte. „Ich meine…ich weiß, dass keiner das verdient hat und… dass ich nichts für irgendwas kann was in White Bone und danach passiert ist. Ich weiß es und trotzdem ist da dieses Gefühl von… Ich kann es nicht beschreiben.“
Matthew redete nicht gern und nicht viel über seine Kindheit und zu beschreiben was er dachte und fühlte, wenn er sich an jene Zeit erinnerte war etwas, dass er eigentlich vermied - weil etwas in ihm nicht wollte, dass Clarence ihn an jenen Ort begleitete. Und sei es auch nur in seiner Vorstellung.
Aber gleichzeitig fühlte es sich mittlerweile nicht mehr so an als müsse er die Dinge mit sich selbst ausmachen. Clarence war da und nichts was Matthew ihm von White Bone oder seinen Gedanken erzählte würde dazu führen, dass sich der Blonde pikiert oder überfordert abwandte. Mit Clarence auch darüber zu reden war lange Zeit ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, mittlerweile jedoch wusste Matthew, dass es nichts gab was jenen Mann dazu bringen würde ihn weniger zu lieben als mit seinem ganzen Herzen. Das Vertrauen welches Cassie ihm entgegenbrachte war schier endlos und konnte nicht einmal durch seine Selbstzweifel erschüttert werden.
„Er ist mein Vater und er wollte, dass diese Dinge geschehen. Und ich…ich verstehe das nicht. Egal wie lange ich darüber nachdenke und wie sehr ich versuche einen Sinn darin zu sehen oder… zumindest einen Grund. Ich verstehe es einfach nicht.“ Einen Moment lang lag zwischen ihnen nun nichts mehr als Stille. Eine jener Art die unangenehm hätte sein können würde sie zwischen Fremden herrschen.
Aber sie waren sich längst nicht mehr fremd.
„Ich glaube das würde ich ihn fragen, wenn ich eines Tages die Gelegenheit dazu bekomme.“
Aber Clarence lag richtig wenn er sagte, dass sie diese Menschen nicht schon wieder Macht über sie beide gewinnen lassen durften. Sie waren keine hilflosen Kinder mehr, keine gebrochenen Seelen. Dieses Mal würden jene Leute nicht siegen.
„Jeyne und Beliar sind nicht hier…“, seufzte er schließlich und rieb sich mit der freien Hand kurz über die Augen.
„Mo‘Ann ist es allerdings. Wir machen also einen Schritt nach dem anderen und konzentrieren uns erst auf sie. Und du kennst sie, kennst die Stadt, kennst den Clan… kennst die Leute auf die wir zählen können. Wenn du sagst, wir können da nicht einfach reinmarschieren und sie erledigen dann vertraue ich dir. Wir…machen es so, wie du es für klug hältst.“
Wie verrückt das Leben manchmal war, wie klein die Welt und wie groß die Zufälle, das wurde Clarence just in diesem Augenblick einmal mehr bewusst, während er zu seinem Mann hinüber sah und ihn aufmerksam betrachtete.
Mittlerweile sollte sie beide eigentlich nichts mehr wundern. Sie hatten beide schon so viel gesehen… hatten so viel erlebt, waren über Stolpersteine gehumpelt, in Gruben voller Hinterhalt und Verrat gestürzt, hatten mit eigenen Augen Monster wie auch Wunder gesehen und durch ihre alten Lehrmeister genauso viele Dinge erlernt wie sie durch die gleichen Männer Wunden erlitten hatten. Eigentlich sollte sie beide rein gar nichts mehr wundern, ganz gleich wie schnell sich das Blatt für sie wendet. Trotzdem tat es das - weil man eben dachte, dass es nicht noch schlimmer werden konnte.
Doch wenn Clarence in den vergangenen Jahren eines gelernt hatte, dann, dass das Leben auch unheimlich schöne Seiten für einen bereit halten konnte. Nicht alles war schlecht und selbst in den Phasen tiefster Verzweiflung versuchte er sich an eben jener Gewissheit festzuklammern die ihm sagte, dass es nie verkehrt war die Hoffnung ganz aufzugeben. Hätte er damals tief in seinem Innersten keine Hoffnung besessen, er wäre damals nicht mit Nathan aus dem Fort aufgebrochen und hätte er keine Hoffnung in sich, wäre er damals in den Wäldern rund um seine einstige Heimat schon viel früher verhungert. Er hätte den Fremden mit den Wunden nicht mitgenommen, hätte ihn nicht versorgt und hätte nicht begonnen ihm zu vertrauen. Er hätte sich nicht mit ihm dazu verabredet nach dem Ende eines Aufenthalts in Ortschaften wieder aufeinander zu treffen und gemeinsam weiter zu ziehen. Ohne Hoffnung hätte er seinen Gefühlen für selbigen Mann niemals nachgegeben - hätte in Denver, kurz nach dem Absturz, nicht nach ihm gesucht und nicht in Falconry Gardens auf ihn gewartet.
Heute mit ihm hier zu sitzen, seinen Mann anzusehen, seine Hand zu halten und alleine dazu in der Lage zu sein mit ihm Pläne und Hinterhalte zu schmieden war etwas, das ihm nach all den Rückschlägen in seinem Leben nicht nur einen Grund dazu gab sich trotz allem darüber zu freuen dass er noch hier war. Vor allem gab es ihm Grund dazu, seine Hoffnung noch weiter zu schüren - denn selbst ein Leben, das davon geprägt sein würde ihren Lebtag lang der Bruderschaft hinterher zu jagen war besser als ein Leben, in dem es Matthew gar nicht erst gab.
Ein kurzes, weiches Lächeln legte sich über Clarence‘ Lippen, während auch Cassie erkannte wie schön es doch noch immer war sich darüber bewusst zu sein, dass sie zusammen und verheiratet waren. Der Blonde erinnerte sich noch gut an Zeiten, in denen ihm der Typ neben sich schier den letzten Nerv geraubt hatte und er ihn gerne mehr als ein Mal mit bloßen Händen erwürgt hätte. Mittlerweile aber wollten seine geschickten Finger ganz andere Dinge mit Matthew machen - seien es jene südlich des Äquators oder einfach nur indem er seine Hand hielt und sie beieinander saßen, sich einander an ihren Gedanken teilhaben lassend, während sie selbige sortierten.
„Wenn wir Beliar haben, dann… dann wird er dir diese Antwort geben müssen wenn er will, dass es möglichst schnell mit ihm zu Ende geht“, brachte Claire nach kurzem Schweigen die Aussicht auf den Tod jenes Mannes auf den Punkt und ließ dabei sehr bewusst offen, ob ihm eine Antwort auf jene Frage auch einen schmerzfreien Tod ermöglichen würde. Der Blonde jedenfalls wagte das zu bezweifeln, jedenfalls dann wenn es nach ihm ging. Aber wenige Stunden waren vielleicht schneller und besser als mehrere Tage - denn auch ein solches Ende würde diesem Monster von Mann durchaus zustehen, das ihnen beiden teils mehr, teils weniger einen beträchtlichen Teil ihrer Kindheit und Jugend gestohlen hatte.
Clarence, der zweifelsohne mehr die Gene eines Vaters in sich verspürte als Beliar Redwhyne, hatte auf solche Fragen keine Antwort und würde sich Zeit seines Lebens in solche Menschen auch nie hinein versetzen können. Alles was er für solche Grausamkeiten übrig hatte, war fehlendes Verständnis und eine Ladung Schrot; nicht umsonst prangerte auf ihm der Titel Widow Maker, der - nun, wo er genauer darüber nachdachte - auf angenehme Weise noch mehr Sinn machte, nun wo Mo‘Ann auch zu einer geworden war.
„Wie ich es für klug halte“, wiederholte er leise und ließ sich die Worte kurz durch den Kopf gehen, bevor er selbigen schüttelte, um diese eigentümliche Formulierung wieder los zu werden. „Ich will gar nicht besonders klug sein. Ich will nur, dass wir kluge Entscheidungen für unsere Familie treffen. Zusammen.“
Wer wusste schon, welcher Schachzug im Kampf gegen einen gefühlt unsichtbaren Gegner wie dem Verein der Bruderschaft besonders gut war und welcher sie in eine zu offene Position brachte, in denen man ihnen Tür und Tor einfach ungeschützt einrannte?
Etwas tiefer ließ sich Clarence im Bett sinken, gerade genug um seinen Kopf kurz auf der Schulter seines Nebenmannes zu betten und einen Moment lang seinen Gedanken nachzuhängen. Gefühlt waren sie beim Thema Mo‘Ann noch kaum einen Schritt weiter abgesehen davon, dass Cassie nicht morgen früh gleich losmarschieren würde um Besagter noch vor dem Frühstück im Dunkeln den Garaus zu machen. Auf der anderen Seite aber hatten sich dafür noch eine ganze Reihe neuer Abgründe aufgetan, die zu ergründen und zu schließen sich gerade anfühlte, als würden sie ein halbes Leben und länger dafür aufwenden müssen.
„Ich spreche morgen früh mit Liv. Adrianna und Cameron sind in ihrem Zustand entweder keine Hilfe oder bieten sich regelrecht an, weil es keiner von ihnen erwartet mit jemandem zu konspirieren. Ich weiß noch nicht“, fasste er einige seiner losen Gedankenenden locker zusammen, was aber gar nicht mehr so einfach war nach ein paar Zügen von der Pfeife, die sich langsam in ihm auszubreiten begann. „Ich hab noch nicht zu allen Leuten, die damals bei Nathan dabei waren, wieder richtig Kontakt gehabt seitdem ich wieder hier bin. Nicht solchen jedenfalls“ - nicht die Sorte, die einem sagte, ob man einander noch immer in solchen Dingen vertraute und auf einer Wellenlänge war. „Ein guter Plan wäre genauso effektiv wie Verbündete. Aber ich denke… hinsichtlich dessen, dass wir nicht wissen was uns mit dem Rest von diesem Verein erwartet, wären Verbündete besser als ein Hinterhalt aus dem Stillen. Eine Gruppe von Leuten von denen wir wissen, dass sie uns den Rücken frei halten werden, wenn es hart auf hart kommt.“
Dabei meinte er nicht, dass es notwendig war, jener Gruppe von Leuten Matthews halbe Lebensgesichte auszubreiten.
„Nathan habe ich zum Problem der Allgemeinheit gemacht. Das hat geholfen, um nicht als einziger als Übeltäter dazustehen und die Leute dazu zu bewegen, sich als Teil des Ganzen zu sehen und den Mund zu halten. Wir können es bei Mo‘Ann ähnlich versuchen, aber das verringert vielleicht die Chancen darauf ihr eine Chance zu lassen oder sie ausreichend unter vier Augen unter die Mangel zu nehmen. Wie stehst du dazu?“
Clarence war klug und besonnen - wobei er beides wahrscheinlich nie selbst von sich behaupten würde - und Matthew wusste, dass Besonnenheit etwas war das ihm in Bezug auf die Bruderschaft fehlte.
Er war nicht naiv genug um vollkommen planlos vorzugehen und er hatte durchaus gewisse Talente, wenn es darum ging andere lautlos verschwinden zu lassen.
Aber selbst würde es ihm gelingen Mo’Ann still, heimlich und ungesehen aus dem Weg zu räumen, so würde das nicht gleichbedeutend sein mit der Vernichtung der Bruderschaft. Was sie brauchten war mehr als ein grober Schlachtplan. Sie mussten sich einen Vorteil verschaffen und sicherstellen, diesen auch nutzen zu können. Andernfalls würde mit dem Ende Mo‘Anns nur eine neue Figur positioniert werden.
Matthew war es gewöhnt die Dinge allein anzugehen, er war kein Teamplayer, niemand der sich gern auf andere verließ.
Dass er noch lebte verdankte er jener simplen Tatsache, dass er immer mehr wusste als er erzählte und mehr beobachtete als er sich anmerken ließ. Ein Komplott schmiedete sich aber nicht auf diese Weise. Für ein Komplott brauchte er nicht nur Clarence und sich und damit ging zwangsläufig etwas einher, dass ihm in der Vergangenheit nie Glück gebracht hatte: er musste sich auf das Wort anderer verlassen.
Darauf, dass Clarence den richtigen Riecher hatte und nur jene Menschen ansprach die letztlich auch auf ihrer Seite standen.
Der Gedanke daran bereitete ihm Unbehagen und er rutschte etwas hin und her, sich dabei fester an Clarence kuschelnd.
„Das ist alles…so beschissen riskant.“, fasste er schließlich mürrisch zusammen und blickte verdrossen in Richtung der Pfeife.
„Gibst du mir die Pfeife zurück? Ich hab das Gefühl, ich dreh noch durch…“ - nicht weil er verärgert war, nicht weil er es nicht abwarten konnte mit Mo‘Ann reinen Tisch zu machen… sondern weil jede Entscheiden die sie trafen sich hinterher als falsch herausstellen konnte. Und weil es keinen zweiten Versuch geben würde.
Erlaubten sie sich auch nur einen einzigen Fehler, war ihre Zukunft in Falconry dahin - und vielleicht auch überall sonst.
„Wenn du sagst, du hast damals Nathan zum Problem aller gemacht… verstehe ich was du meinst… aber ich sehe nicht, wie das mit Mo‘Ann funktionieren soll. Sie ist…vermutlich nie so in Erscheinung getreten wie er. Sie für irgendetwas verantwortlich zu machen wird vielleicht nicht so einfach.“, warf er seine Bedenken ein und nahm dankbar die Pfeife entgegen, welche der Blonde ihm reichte.
Ohne Umschweife nahm er einen kräftigen Zug von dem Kraut, so tief, dass er nach wenigen Sekunden husten musste.
Trotzdem gab er die Pfeife nicht wieder ab, sondern ließ das Mundstück direkt wieder zwischen seine Lippen tauchen, nachdem die Hustenattacke vorbei war.
Dieses Mal übertrieb der Dunkelhaarige nicht so und nahm einen moderaten Zug.
„Verbündete sind schön und gut. Aber wenn sie nichts damit zutun hatte, können wir sie nicht über die Klinge springen lassen. Ich weiß nicht wie du vorhast abzuklopfen wer auf unserer Seite ist… aber mach es besser so, dass wir die Büchse der Pandora auch wieder schließen können.“
Er hüstelte nochmal kurz, dann räusperte er sich und fügte an: „Damit meine ich, setz nichts in Gang was wir nicht wieder stoppen können.“, sein Mann hatte es nicht so mit Sprichwörtern, erst recht nicht wenn diese selten verwendet wurden, weil sie eher zum Jargon der Alten gehört hatten.
„Liv…“, wiederholte er schließlich den Namen jener Frau, den er bereits vor Tagen zum ersten Mal gehört hatte. Er hatte seit seiner Ankunft wenig mit der jungen Frau zutun gehabt - aber das bedeutete nicht allzu viel, war er immerhin erst seit kurzem überhaupt in der Stadt.
„Baby…in dieser Sache bin ich dir keine große Hilfe. Ich kenne die wenigsten Leute hier und ich habe keine Ahnung wie man es auffassen wird, wenn du schon wieder ein Komplott einfädelst. Ich…will nicht, dass du dich in Gefahr bringst und uns irgendein dummer Fehler zum Verhängnis wird.“
Cassie lehnte sich zurück und den Kopf gegen das Bett und dessen hölzernes Kopfende. So langsam taten die Kräuter ihr Werk und machten nicht nur seine Gedanken ruhiger sondern auch seine Lider schwerer. Die Situation war zermürbend obwohl alles hätte gut sein können und fragte man Matthew so würde jener darauf pochen, dass sie es verdient hatten endlich ihre Ruhe zu haben. Nur brachte sie das leider kein Stück weiter…
Die Augen wieder öffnend blickte er zu Clarence und schmunzelte vage.
„Du bist so sexy, wenn du nachdenklich bist.“, konstatierte er dem Blonden unaufgefordert - wobei man davon ausgehen konnte, dass diese Feststellung der Kräutermischung geschuldet war.
„Aber wie auch immer…“, er nahm noch einen Zug von der Pfeife, obwohl es mittlerweile vielleicht keine gute Idee mehr war, aber Matthew wollte sie dennoch nicht abgeben.
„Vielleicht sollten wir…Beweise sammeln. Beweise für ihre Schuld oder eben Unschuld. Diese Liv…steht die ihr nahe?“
Obwohl seine weiche Schulter-Unterlage unter dem Husten seines Mannes erbebte wie Prism Shore während des Untergangs, verließ Clarence seine lieb gewonnene Position um keinen Millimeter. Viel zu wohlig fühlte er sich hier auf der warmen Haut seines Mannes, eingemuckelt unter der neuen grünen Decke und umgeben von würzigen Kräutern, die in dickem Rauch die Luft erfüllten.
Wie in einem richtigen Zuhause, ging es ihm durch den Kopf, während er einzelne Kringel in dem weißlichen Qualm beobachtete, den Cassie frisch herauf beschwor. Noch vor wenigen Tagen war die kleine Wohnung karg und leer gewesen. Angemietet schon vor Wochen, war es lediglich der Geruch von nassem Hund nach einem langen Schneespaziergang gewesen, der die leerstehende Wohnung mit einem vertrauten Eigengeruch erfüllt hatte. Zwei einzelne, traurige Wechselhemden auf den Regalen des Schranks hatten dafür gesorgt, dass man sicher sein konnte, dass ab und zu auch jemand hier schlief.
Das richtige Leben, das diese vier Wände hier beseelt hatte, war erst mit Matthews Rückkehr in die Wohnung eingezogen und obwohl es sich schon nach nur wenigen Stunden so angefühlt hatte als sei sein Mann niemals fort gewesen, so hatte Clarence noch lange nicht vergessen, welch unverschämtes Glück er sein Eigen nennen konnte. Zwischen einem Leben zu zweit und einem Leben als zweifacher Witwer lag nicht mehr als ein Schritt in die falsche Richtung, als ein Wimpernschlag oder ein falsches Wort zur falschen Zeit. Dass Cameron und Cassie auf diesen Mutie getroffen waren, hätten sie wohl kaum verhindern können und genauso wenig gab es etwas das in ihrer Macht lag um ein anderes Unglück zu verhindern, das wie das Schwert des Damocles ständig über einem schwebte - den irren Zeiten zu verdanken in denen sie lebten, seitdem die Alten vor vielen, vielen Jahren alles in die Tonne getreten hatten.
Lustig, wie die Metapher einer scharfen Waffe sie am Ende doch alle miteinander verband. Über ihnen schwebte ein Schwert, während Annedore Abaelardus über die Klinge eines Messers hinweg hüpfte wie ein übermütiges Kind, das mit seinen Freunden Seilspringen spielte. Ob das überhaupt mit ihren vielen Unterröcken machbar war, ohne über die eigenen Füße zu stolpern?
„Ich glaube…“, setzte der Blonde langsam an und wischte sich mit der freien Hand belebend durchs Gesicht, bevor er selbige auf dem Unterarm des Jüngeren ablegte um über die markanten Venen hinweg zu streichen, die sich sichtlich darauf abzeichneten. „Ich glaube, ich tu‘ mich langsam ernsthaft schwer mit hochkonzentriertem Gedankengut. Aber ich kann weiter versuchen nachdenklich zu gucken, wenn das was hilft?“ - Das brachte sie sicherlich inhaltlich nicht weiter, aber wenn Clarence sich für eines immer diszipliniert einsetzen würde in seinem Leben, dann war es, für seinen Mann sexy auszusehen.
Mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen - oder dem, was er dafür hielt - nickte er der Pfeife in der Hand des Dunkelhaarigen entgegen und reckte sich entgegenkommend nach dem Mundstück, um seinerseits einen weiteren Zug von dem benebelnden Kraut zu nehmen. Gefühlt saßen sie schon seit Stunden im Bett und redeten und es würde ihn nicht wundern, wenn gleich schon wieder die Sonne auf der anderen Seite der Vorhänge aufgehen würde - aber am liebsten wäre es Claire natürlich, wenn die Zeit wenigstens für die Dauer dieses Abend stehen bleiben und sie derart vertraut aneinander binden würde.
Konzentriert und mit äußerst nachdenklichem Blick nickte er also, den Rauch der Kräuter nach einem beträchtlichen Augenblick der Stille langsam wieder aus seinen Lungen entlassend, die derlei Belastungen weit besser standzuhalten wussten als jene des Dunkelhaarigen. Noch immer hielt er mit der einen Hand die seines Mannes, während er mit der anderen sanfte Kreise auf dem Unterarm des Jüngeren zog und daraus ein Bild zeichnete, das sich zweifelsohne nur alleine Clarence erschloss.
„Ich denke, der einzige dumme Fehler, der mir damals zum Verhängnis geworden ist, ist jener… jener, dass ich Mo‘Ann nicht mit auf dem Schirm hatte. Hätte ich damals auch sie ins Visier genommen, hätten wir heute vielleicht beide Probleme nicht mehr und bräuchten uns keine Gedanken darüber machen was uns im Weg steht um hier glücklich zu werden.“
Natürlich war ihm klar, dass noch weit mehr Hürden als nur die in die Jahre gekommene Bibliothekarin vor ihnen lagen. Aber es wäre hier alles schon ein bisschen einfacher für Matthew und ihn, wenn sein Mann sich nicht von ihr bedroht fühlen müsste.
„Du bist immer so gut zu den Menschen. Denkst noch darüber nach ob sie unschuldig ist und wie man ihr ein Schlupfloch offen lassen kann, um den Dingen zu entkommen. Deshalb lieb ich dich so“, attestierte er Matthew ein weit besseres Herz als er es selbst besaß, seiner Meinung nach jedenfalls. Verliebt tätschelte er Cassie den nackten Bauch und ließ es nicht mal so klingen, als müsse er mit sich selbst hadern, um der Witwe Nathans ein ähnliches Schicksal zukommen zu lassen wie Sally Mitchell.
Was er selbst derjenige, der schon wieder ein Komplott einfädelte? Würde er dafür bekannt werden oder in die Annalen des Clans eingehen? Clarence Bartholomy Sky - der große Einfädler. Das war schon ein Titel, dem man gerecht werden und den man verteidigen musste. Ob man darauf stolz sein konnte… nun, das war eine andere Frage. Aber auf der anderen Seite war dieser Ruf womöglich besser als der eines terroristischen Fanatikers. Das gilt es vielleicht auszutesten. Und das konnte man nur, indem man den neuen Titel eine Weile trug.
„Dir ist schon klar, dass du mich nur deshalb sexy findest weil ich meinen sexy roten Strampler trage und nicht, weil ich nachdenklich gucke, oder? Ich könnte dich vermutlich gerade auch anschielen, aber dieses Meisterwerk hier transportiert sich trotzdem auf die einzig richtige Weise“, deutete seinem eigenen Antlitz entgegen und schließlich an sich hinab, immerhin gab es da noch mehr zu bestaunen. „Das liegt an diesem heißen Rot hier und an der neckischen Knopfleiste, die bis ganz runter geht. Das spricht nämlich die Fantasie an und macht unheimlich Appetit auf mehr. - Das hat mir zumindest damals der Verkäufer versprochen und den Erfahrungen nach, die ich bisher mit dir machen durfte, hat er mir nicht zu viel versprochen.“
Hätte er das gewusst, hätte Clarence vielleicht auch noch einen zweiten Strampler gekauft. In einer anderen Farbe vielleicht. In einem satten Grün oder einem verruchten Schwarz etwa. Cassie hatte so lange heiße Unterwäsche nicht in seinem Repertoire - aber dafür sah er in einer einfachen Boxershorts auch einfach zu appetitlich aus, wie Clarence glücklich grinsend befand, während er langsam die Decke am Leib seines Mannes hinab zog um ihn zu begutachten.
„Ich bin mir nicht so sicher, wie nahe Liv Mo’Ann momentan steht. Aber ich weiß, wie nahe ich dir im Moment stehen will. Soll ich’s dir zeigen, mh?“
Mit Clarence hier zu liegen, gemütlich eingewickelt in ihre neue Daunendecke während sie Kräuter rauchten, war der Inbegriff des Lebens, wie Matthew es führen wollte.
Er brauchte keinen großen Reichtum, er brauchte keinen Überfluss. Aber wie Clarence seinen Kopf gegen ihn lehnte das brauchte er.
Es waren die Momente der Zweisamkeit, des Friedens und des Wohlbefindens die so viel kostbarer waren als Gulden und Schnickschnack.
Seit seiner Ankunft in Falconry hatte der junge Mann mehr als nur einen vagen Eindruck davon bekommen was es bedeuten konnte ein Zuhause zu haben. Nicht auf See und nicht in einem Gasthof wo sie ein paar Tage unterkamen. Sondern ein richtiges, festes Zuhause.
Einzig der Umstand, dass sie nicht über den Ausbau der Scheune, den letzten oder kommenden Wocheneinkauf oder über ihre Reisepläne sinnierten sondern darüber ein Komplott zu schmieden, bildete einen Wermutstropfen.
Aber würden sie so tun als gäbe es ihre Probleme nicht, dann würden ihre Probleme irgendwann hier bei ihnen anklopfen. Die Bruderschaft ließ sich nicht ignorieren und so lange dieser Verbund existierte, so lange mussten sie zu jeder Zeit damit rechnen, dass ihr Leben in Gefahr war und sich alles von einer Minute zur nächsten ändern konnte.
Aber vorerst würde jeder der hier klopfte von Kain und Abel angekündigt werden - und da die zwei seelenruhig schliefen, konnten sie beide es sich bedenkenlos leisten, den benebelnden Kräutern zu frönen.
Verliebt hielt Matthew seinem pläneschmiedenden Bären das Mundstück der Pfeife entgegen als dieser sich danach reckte.
Der Blonde war deutlich weniger empfindlich wenn es darum ging die Kräutermischung tief zu inhalieren und Cassie beobachtete ihn dabei wie er zog und den Qualm eine Weile in der Lunge behielt - ohne auch nur zu hüsteln.
„Du konntest das damals nicht wissen. Ich hatte Jeyne nicht auf dem Schirm und du Mo‘Ann nicht. Vielleicht weil sie Frauen sind und man Frauen so schlimme Dinge nicht zutraut…“, sinnierte er und erschauerte unter den sanften Berührungen seines Mannes.
„Das kitzelt.“ - schmunzelnd zog er seinen Arm etwas zur Seite, aber nicht weit genug als das Clarence ihn nicht mehr streicheln konnte. Es war eher ein halbherziger Versuch welchen er auch gleich wieder sein ließ.
„Soso…Du liebst also mein gutes Herz.“, noch immer lächelte er verliebt. „Viel mehr als das hab ich auch nicht mehr zu bieten. Mein Reichtum ist verpufft. Und wer weiß ob Jeyne den anderen Teil unseres Goldes sich nicht schon selbst eingesteckt hat.“ - rein theoretisch gesehen waren sie noch immer gut betucht. Die Papiere in Coral Valley bewiesen es. Aber diese jetzt anzufordern würde nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sie ziehen als ohnehin schon der Fall war.
Clarence indes ging wieder dazu über seinen vermaledeiten Einteiler anzupreisen, womit er Matthew unvermittelt ein Lachen entlockte.
Die Vorstellung wie der Blonde seinerzeit auf den Verkäufer gehört hatte, der ihm einredete das rote Teil würde ‚die Fantasie ansprechen‘ war amüsant und erheiterte den Jüngeren ganz besonders deshalb, weil er sich die Situation bildlich vorstellte.
„Die neckische Knopfleiste?“, echote Matthew und schüttelte lachend den Kopf. „Das wirft wirklich Fragen auf, wie du als braver Christ diesem Verkaufsargument aufgesessen bist.“ - dabei war der Einteiler alles andere als sexy in seinen Augen. Die Person in dem Teil hingegen war es umso mehr.
Noch immer schmunzelnd betrachtete er sich seinen Liebsten aus der Nähe, dessen Gedanken eindeutig in eine Richtung abgedriftet waren, die mit Mo‘Ann oder Liv nichts zutun hatte.
Als Ränkeschmieder taugte der Bär aktuell offenkundig wenig, sein Fokus lag auf anderen Dingen, wie er bewies als er Matthew langsam die Decke herunterzog um seinen Bauch freizulegen.
„Heee“, machte dieser und klapste tadelnd auf die Fingerspitzen.
„Du sollst dich auf das Wesentliche konzentrieren. Auf unseren Plan und darauf wie wir feststellen können wie viel Mo‘Ann wusste.“
Im Gegensatz zu dem Blondschopf war Cassie noch immer ganz bei der Sache während Clarence sich schon wieder einer ganz anderen Sache widmen wollte.
„Erzähl mir…erst von Liv. Wer sie ist, in welchem Verhältnis ihr zueinander steht. Warum hältst du sie für vertrauenswürdig?“ Cassie wollte ihre Planung nicht zu Gunsten eines weiteren Stelldicheins aufgeben. Kräuter hin oder her! Er nahm kurz noch einen Zug von der Pfeife, ehe er sich reckte und sie auf dem Nachttisch ablegte. Nun da er eine Hand wieder frei hatte, fing er die neugierigen Finger des Wildlings auf seinem Bauch ein und hielt sie fest, damit der Wildling sich lieber wieder auf ihren Plan konzentrierte.
„Weißt du was ich glaube? Dass der rote Einteiler deine Fantasie anregt und du derjenige bist, der ganz und gar auf die neckische Knopfleiste abfährt.“, zog er Clarence amüsiert auf und hob schließlich seine Hand an seine Lippen um ihm zwei Küsse auf den Handrücken zu geben.
Reichtum, Macht oder makellose Schönheit waren nicht im geringsten die Dinge, die Clarence an einem anderen Mann attraktiv fand. Wenn dem so wäre, hätte er sich damals nicht den erstbesten Kerl aus dem Wald zum Gatten genommen und noch weniger hätte er dem armen, obdachlosen Schlucker Reed so viele Monate an den Fersen geklebt, wenn es ihm darum gegangen wäre.
Reichtum verlor sich, wenn man ihn ausgab oder ihn verlor - zum Beispiel bei einem ungeplanten Zeppelinabsturz, bei dem sie die verbliebenen Münzen aus Cassies Gepäck nie in den Trümmern wiedergefunden hatten. Selbst Macht entzog sich einem, wenn man nicht gut genug aufpasste… oder man gar während eines Komplotts vom Thron gestoßen wurde. Und Schönheit? Die raubte einem der Zahn der Zeit automatisch irgendwann, wenn er an einem nagte.
Nein. Die Dinge, die er so sehr an seinem Mann liebte und begehrte waren nichts von alledem. Doch Clarence fielen hunderte andere gute Gründe ein den Dunkelhaarigen zu lieben, während dieser mit einem verliebten Gesichtsausdruck den Raum durch sein helles Lachen erfüllte.
Sonor und warm brummte dabei der Leib des Jüngeren unter seinen Fingerspitzen, ein wohliges Gefühl welches ihn das fremde Lachen bis in die Haarspitzen fühlen ließ. Oh, Matthew wusste nicht im geringsten wie sehr Clarence ihn in Momenten wie diesen hier liebte und vergötterte - aber sein warmer Ausdruck in den einst so eiskalten Iriden verriet seine Hingebung für seinen Mann sicher auch so, da war sich Claire sicher.
Mit dem frechen Schmunzeln eines Lausbuben auf den Lippen, musterte der Blonde den anderen von der Schulter aus und ließ artig - fast schon zu artig - seine Finger einfangen, um sie von Cassie liebkosen zu lassen, während jener dann doch weiter über den roten Einteiler zu sinnieren begann - einem unheimlich amüsanten Ulk folgend, den Cassie vielleicht nur bedingt nachvollziehen konnte. Aber wenn man bedachte, dass der rote Einteiler erst während ihrer gemeinsamen Reise angeschafft worden war und es auf dieser Reise lediglich eine einzige Person gab, deren Fantasie er damals hatte ansprechen wollen… dann amüsierte sich Clarence rückblickend unheimlich über sich selbst und darüber, mit welch trockenem Kommentar Matthew damals die neue Errungenschaft des Jägers als grottenhässlich abgestempelt und damit jegliche Hoffnungen im Keim erstickt hatte.
Lediglich die sanften Küsse seines Mannes waren es, die Clarence dafür beschwichtigten weder fummeln, noch sich zur Pfeife recken zu dürfen. Nichts wurde einem hier noch gegönnt, kein einziges Krümelchen Freude! Aber vermutlich sah so ein normales, sittliches Eheleben nunmal einfach aus, wenn man damit begann sich niederzulassen und häuslich zu werden.
„Na gut.“ - Schwer seufzte der Bär, gebeutelt von der schweren Last die man heutzutage als Ehemann trug, und löste sich sanft wieder von der wohligen Schulter seines Bettnachbarn. Es fiel ihm tatsächlich etwas schwer ernst zu bleiben, nicht zuletzt deshalb da die verrauchten Kräuter auch nicht gerade dafür geschaffen waren besonders ernste Gespräche zu führen. Aber was tat man nicht alles für die Liebe - und für all die schönen Dinge, die dieser entsprangen?
Artig, so wie es sich gehörte wenn einem auf die Finger geklapst wurden und man das Verbot bekam langfingernd herumzufummeln, faltete er die Finger auf seinem Bauch und lehnte sich wieder auf seiner Hälfte des Bettes zurück an das Kopfteil. Was damals geschehen war, war bereits einige Zeit zurückliegend und die Verschwörung gegen ihren großen Anführer Nagi Tanka hatte auch nicht von heute auf morgen ihren Lauf genommen, selbst wenn es manchmal und für einige aus ihrer Gruppe vielleicht so gewirkt haben mochte.
„Es ist nicht so, als wäre ich damals hausieren gegangen mit dem, was ich vorhabe. Ich kann dir auch nicht mehr sagen ob ich selbst als erster den Gedanken hatte oder ob es jemand mir gegenüber erwähnt hat. Irgendwann war einfach klar, dass er weg muss. Wie auch immer - und warum auch immer“, fasste Clarence nüchtern zusammen, was offensichtlich war. Schon Camerons Erzählungen hatten gezeigt, dass jeder seinen eigenen Grund für diese Entscheidung gehabt hatte und um das, was kommen würde, mitzutragen. Manche mehr, manche weniger.
„Wenn ich eines von Nagi gelernt habe… dann ist es, dass man viel mehr genau dann über andere lernt und in Erfahrung bringt, wenn man einfach nichts macht und schweigt. Weil manche dann von alleine reden oder aber, weil sie sich unbeobachtet fühlen von jemandem, der sich in nichts involviert. Du gehörst übrigens zur ersten Sorte“, ließ er Matthew ungefragt wissen und blickte schließlich wieder zum jüngeren hinüber, wobei sich ein amüsiertes Schmunzeln über seine Lippen legte. Cassie plapperte für gewöhnlich wie ein Wasserfall wenn man ihn nur lange genug anschwieg, jedenfalls so lange, bis ihn aus Zorn ein Wutanfall überkam und man dann im Gegenzug ebenso angeschwiegen wurde. Aber es reichte aus, um viele Dinge von ihm in Erfahrung zu bringen. Weit mehr vielleicht, als Matthew ihm aus Skepsis heraus je erzählt hätte, wenn Clarence aktiv selbst danach gefragt hätte.
„Jedenfalls sollte man meinen, dass die Leute einem nichts anvertrauen wenn man die rechte Hand des großen Meisters ist. Aber für die meisten war ich nichts als ein Schatten des Clans… der Sonderling aus dem Madman Forest, an dem der Anführer aus unverständlichen Gründen einen Narren gefressen hat. Oder jemand, der immer nur aus Glück überlebt und seine Prüfungen zum Jäger überstanden hat. Such dir was aus“, ratlos zuckte er mit den Schultern, bevor er kurz überlegend an die Decke blickte. Von den Dingen, die er mit Nathan erlebt und die er von diesem furchtbaren Mann alle gelernt hatte, würden die meisten Jäger und Menschen ein Leben lang nur träumen. Er selbst war nie damit hausieren gegangen, eben jener klugen Lehre des Großen Geistes folgend, sich besser nicht in die Karten schauen zu lassen. Nach wie vor eine der besten Weisheiten, die er von ihm mitgenommen hatte.
„Liv ist, ähnlich wie Adrianna, sehr früh dem Clan beigetreten. Zu früh, wenn du mich fragst. Die waren fast noch Kinder, vielleicht… vierzehn, fünfzehn oder so. Als ob man da schon wüsste, worauf man sich einlässt. - Aber vielleicht sollte ich meinen Mund da nicht so aufreißen was das angeht“, immerhin waren das große Worte für jemanden der aus einer Kultur kam, in der die Jungs mit sechzehn Jahren und die Mädchen frühestens mit vierzehn Jahren schon verheiratet wurden.
„Liv ist hier Jägerin geworden, weil ihr Vater früher dem Clan angehört hat. Zu einer Zeit, in der es den großen Nagi Tanka hier noch nicht gab. Als Frank Sinclaire, der alte Gründer, hier noch das Sagen hatte und es als Anführer noch um die Stadt und die Bewohner dieser Gegend hier ging - und nicht darum, alleine da draußen die Welt zu bereisen, während die anderen Mitglieder Geld heran schaffen und ihren Teil an eine Clankasse abdrücken müssen, über die die Frau des Anführers das Aufsehen bekommen hat.“
Darüber konnte man sich eine Meinung bilden oder nicht, aber Clarence für seinen Teil hatte Mo’Ann an genug Abenden in seinem Leben dabei zugesehen, wie sie das Clangold verwaltete. Er mochte nicht Lesen können, aber Münzen zählen konnte er - und insofern sie Edelmetall nicht unsichtbar zaubern konnte, war ihm nicht dabei aufgefallen, dass sie unnötige Kosten abrechnete oder Münzen im Gehrock verschwinden ließ.
„Früher hat der Clan aus Örtlichen bestanden oder aus Leuten aus der Umgebung. Aus ehemaligen Freunden von wandernden Jägerclans, die sich zerschlagen haben und dann zu den Kestrel übergelaufen sind. Irgendwann war Nathan dann plötzlich da und auf seine typische Weise redet er ganz eloquent und gehoben auf die Leute ein, mit seinen Plänen und seinem Wissen und… du kennst ihn, mit seiner Art die Leute zu verdrehen eben“, fasste Clarence zusammen und kam letztlich auf den Punkt, zu dem er hinaus wollte. „Nathan erarbeitet sich also einen festen, angesehenen Platz im Clan, bis hinauf in den engen Kreis. Plötzlich kehrt Frank Sinclaire nicht mehr von einem Auftrag zurück, bei dem ein paar andere, aber auch Nathan dabei waren. Und plötzlich macht es natürlich Sinn, dass er beliebte, eloquente und talentierte Jäger, der sich in der großen Welt auskennt und Falken expandieren will, der neue Anführer wird. Da sind ein paar der Alteingesessenen dagegen, die finden, dass ein Neuling, der nicht aus Falconry kommt, nichts auf diesem Posten zu suchen hat. Aber wie durch ein Wunder klärt sich die Sache von alleine, als einige wenige dieser Leute plötzlich auch bei Aufträgen sterben und der plötzlich geschrumpfte Clan ganz andere Probleme bereitet als der neue Anführer. Dadurch fügen sich die meisten ihrem Schicksal - und die Neuen, die nach kommen, hat weitestgehend Nathan selbst ausgesucht, sodass die Stimmung sich beruhigt. - Das ist zumindest die Geschichte aus Livs Sicht. Ihr Vater war einer dieser Leute, die sich gegen Nathan ausgesprochen und aktiv versucht haben, seinen Aufstieg zu vereiteln. Genau deshalb halte ich sie auch für vertrauenswürdig. Sie hat weder Nathan gemocht, noch Mo’Ann je vertraut - aber ist damals dem Clan beigetreten und hat schon immer gewusst wie sie sich den beiden gegenüber zu verhalten hat, nur um die Position ihres Vaters wieder zurück in ihre Hände zu holen und als Eingeborener für die Stadt zu kämpfen. Sie wäre strategisch ein guter Verbündeter, kurz bevor ich damals hier weg bin, ist sie vom Clan ausgewählt worden um Teil des Stadtrats zu sein. Ihre Stimme wiegt schwer und gleichzeitig kann sie schweigen wie ein Grab. Sie hat nie ein Wort darüber gesucht oder verloren was passiert ist, außer ein ‚gut gemacht‘ vor ein paar Wochen. Wenn sie die Chance sieht, vielleicht auch noch Mo’Ann aus dem Clan raus zu bekommen, laufen wir bei ihr vermutlich offene Türen ein.“
Die American Kestrels waren ein Jägerclan mit Tradition und Geschichte und bei vielen Leuten bekannt. Dafür hatte Nagi Tanka immerhin gesorgt. Matt, der mit Jägern nie etwas am Hut gehabt hatte, hatte von den Kestrels zwar gehört - sich aber ehrlicherweise nie für sie interessiert. Ebensowenig wie für andere Jägerclans.
Es war einfach schon immer ein Konzept gewesen für das er als Einzelgänger nicht viel übrig gehabt hatte.
Doch die Dinge änderten sich und mittlerweile sah er sich mit der Situation konfrontiert, den Clan seines Mannes und seine Geschichte zu verstehen. Die Mitglieder der Kestrels hatten eigene Motivationen ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein - und im Falle von Liv waren es wohl familiäre Gründe. Frank Sinclair war Anführer des Clans und gleichzeitig ihr Vater gewesen und wie es der Zufall eben gewollt hatte, hatte er Nathan den Platz an der Spitze warmgehalten, bis dieser ihn sich genommen hatte. Ganz zufällig - wie immer.
Das passte zu dem gütigen Mann. Es passte so gut, dass Matthew das Gefühl hatte bei der Neuaufteilung des Clans mit dabei gewesen zu sein. Da wurde hier und da gemauschelt, geheime Abkommen geschmiedet, die richtigen Leute taten sich zusammen und schon war Frank Sinclair Vergangenheit.
Und Liv machte die ganze Geschichte zu einer wirklich wichtigen Person, sofern es ihr um ihren Vater und nicht um ihren Posten ging. Bisher hatte er mit der jungen Frau nicht viel zutun gehabt - aber Clarence rückte sie nun mehr in ein Licht, dass hoffnungsvoll für ihre Sache war. Nachdenklich nickte Matthew während er darüber sinnierte was der Blonde ihm gerade alles berichtet hatte.
Die Strukturen des Clans waren verworren und verzweigt, es war ein kompliziertes Konstrukt und nicht leicht zu überblicken. Für einen Außenstehenden waren Geschichte und Gegenwart nicht leicht zu ordnen - aber für jemanden wie Clarence, der ein Teil jener Geschichte und auch Gegenwart war, war es schon leichter.
Das merkte Matthew an der Art wie er erzählte.
Dieser Ort war das Zuhause des Blonden, so war es einfach.
„Okay… das klingt wirklich danach als wäre es gut, wenn wir sie auf unserer Seite haben.“ Sie konnten Mo‘Ann zwar alleine beseitigen - sofern sie sich dazu entschließen würden - aber die Welle die sie damit in Gang setzten war nicht mehr so einfach zu kontrollieren. Wenn Dinge ihre Eigendynamik entwickelten dann… konnte das gut sein oder richtig schlecht.
„Du hast gesagt, Frank kam von einem Auftrag nicht zurück zu dem er mir Nathan aufgebrochen war. Wer waren die anderen, die mit bei diesem Auftrag waren? Sind die noch Teil des Clans?“
Eventuell könnte das Probleme machen, falls Mo’Ann weniger untätig war als sie beide aktuell hofften.
Das schwierige an ihrer Lage war, dass sie nicht wussten wer alles ihre Gegner waren und wie weit sich das Netz der Bruderschaft wirklich erstreckte. Einerseits war es gut möglich, dass die Witwe des gütigen Mannes mit dem Kapitel abgeschlossen hatte. Es konnte aber genauso gut sein, dass sie - ebenso wie sie beide gerade - ihre Möglichkeiten auslotete. Kontakte akquirierte, Pläne machte, überlegte wem sie vertrauen konnte und wem besser nicht.
Es war ein Fischen im Trüben und das auf beiden Seiten des Teichs.
Die Decke wieder höher über seinen Bauch ziehend betrachtete er Clarence- der sich sehr bemühte - und sehr erfolgreich war - seine kräuterverhangenen Gedanken zu fokussieren. Alleine dafür schon liebte Matthew ihn abgöttisch.
„Du bist ein kluger Mann, Clarence Sky..“ setzte Matthew den Blonden nüchtern in Kenntnis, wobei sein Schmunzeln das eines nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Jungen war.
„Wie gut, dass du meiner bist. Sonst hätte ich echt schlechte Karten.“, dieser Bemerkung folgte ein Kichern - nicht etwa weil er es anders meinte als er sagte sondern weil… seine Gedanken zunehmend schwammig wurden. Sich zu konzentrieren fiel ihm schwer obgleich er wusste, dass er es tun sollte und Clarence gerade selbst noch daran erinnert hatte. Aber die Ernsthaftigkeit des Themas war für ihn immer schwerer zu begreifen.
„Mhhh~ diese Kräuter… vielleicht sollten wir ihr die geben und dann… wenn sie high ist… erzählt sie uns alles von selber.“ - die Idee war natürlich absurd, aber in seinem benebelten Verstand klang sie ganz logisch. „Wahrheitskräuter.“, nickte er bekräftigend.
„Ach Baby… Ich glaube, ich hatte zu viel von dem Zeug.“
Als klugen Mann bezeichnete Matthew ihn - und augenblicklich musste der Blonde sich dabei fragen wie viel Wahrheitsgehalt wohl in dieser Aussage steckte, immerhin kamen einem auch die eigenen Gedanken immer unheimlich klug und weitreichend vor, wenn man erst mal sein Näschen in die verheißungsvollen Rauchschwaden der Kräuter gehalten hatte. Was für tiefgründige Gedanken ihm beim Rauchen schon alle durch den Kopf gegangen waren, damit hätte er wohl Bücher füllen können… vorausgesetzt jedenfalls, er könnte sich am nächsten Tag noch an all die furchtbar logischen Schlussfolgerungen erinnern, die ihm unter dem Einfluss seiner Kräuter alle ganz offensichtlich vorgekommen waren.
Dennoch zögerte Clarence nicht damit, noch im gleichen Augenblick ernst und bekräftigend zu nicken, fast so als könne der Dunkelhaarige ihm sonst die gut gemeinten Worte wieder absprechen. Immerhin bekam man gern Komplimente und noch viel lieber bekam man sie, wenn sie von einem so gut aussehenden jungen Mann wie Matthew kamen.
„Je nachdem, was ich auftreiben kann…“, deutete Clarence an und hob in unscheinbar-unschuldiger Manier die Schultern, ganz so als wären die weit hergeholten Gedanken des Jüngeren gar nicht mal so weit hergeholt. „Ich denke das Problem wären nicht die Kräuter. Das Problem wäre eher Mo’Ann selbst. Wenn sie etwas weiß, wird sie sich sicher davor hüten sich dazu verführen zu lassen etwas auszuplaudern. Gegen manche Dickköpfe ist kein Kraut gewachsen. Das ist wie jemanden in einer Bar abzufüllen, um an Informationen zu gelangen - der eine fängt an zu plaudern, der andere wird vorsichtiger, wenn das Gespräch in eine bestimmte Richtung gedrängt wird. Manche Leute sind da… empfänglicher als andere.“
Er wagte nicht zu bezweifeln, dass Cassie im Laufe seiner Karriere diese Taktik das ein oder andere mal angewendet hatte, um so an seine Informationen zu gelangen. Ein sympathischer Fremder, dem das Geld locker saß und der den ein oder anderen Humpen im Gespräch springen ließ, dem vertraute man eher mal etwas an als jemandem, dem gegenüber man eh schon skeptisch war.
Doch weder Wahrheitskräuter waren heute im Spiel, noch besonders viel Alkohol außer jener, der oben im Haus des Clans beim Essen geflossen war. Mit dem Neujahrsdinner war hatte Matthew erstmalig einer Tradition beigewohnt, die es schon damals zu Sinclairs Zeiten gegeben hatte und die es - mit etwas Glück - auch dann noch geben würde, wenn sie alle bei Frank unter der Erde lagen und sich gemeinsam mit ihm die Radieschen von unten ansahen. Sprichwörtlich jedenfalls, immerhin bekam man als Jäger für gewöhnlich eine Feuerbestattung und da blieb nicht mehr so viel zum ansehen von einem übrig.
„Franks letzter Auftrag, mhh… Das war noch eine ganze Weile vor meiner Zeit hier. Lass mich überlegen…“, brummte Clarence schließlich fahrig, während er versuchte seine benebelten Gedanken wieder auf Touren und in die richtige Spur zu bringen. Das war gar nicht mal so leicht, vor allem deshalb nicht, weil Cassie schon wieder seine schöne Haut mit der neuen Bettdecke vor ihm versteckte obwohl dieser Taugenichts ganz genau wusste, dass Claire am besten mit körperlichem Ansporn funktionierte. Das hatten damals ihre Lesestunden bereits eindeutig bewiesen, in denen er für herausragende Leistungen auf ganz besondere Weise belohnt worden war und plötzlich viel bessere Fortschritte gemacht hatte, als unter stupidem Auswendiglernen.
„Ich weiß auf jeden Fall, dass noch andere beim Ausflug dabei waren. Aber ich weiß nicht, was genau passiert ist oder ob sie dabei dabei waren. Vielleicht wusste ich es mal, aber hab es wieder vergessen. Liv meinte damals zu mir, es macht keinen Sinn da nachzuhaken. Ihr Vater war dabei und ist später auch drauf gegangen, als er Fragen gestellt hat. Und der Rest hat sich wohl unwissend gestellt oder war es vielleicht tatsächlich und hat dann später Nathan unterstützt. Aber vielleicht, jetzt wo er nicht mehr da ist, hat der ein oder andere keine Angst mehr zu erzählen was damals passiert ist. Und“, fügte er an, zur Aufmerksamkeit mahnend den Zeigefinger hebend, damit sein berauschter Mann seine Sinne für einen Moment sammelte. „Und es gibt Hinterbliebene von verstorbenen Clanmitgliedern, um die sich der Clan mit einer Abfindung oder Zuwendungen kümmert, wenn sonst niemand da ist um es zu tun. Ein paar von den alten Ladys müssten vermutlich noch immer leben. Ich war zwar damals nicht zum Dienst eingeteilt um nach ihnen zu sehen, aber ich wette mit dir, dass die auch ein paar gute Storys zu erzählen hätten, wenn sich jemand dafür interessieren würde.“
Nicht, dass sie das in der Bruderschaft besonders weiterbringen würde. Aber es würde das Bildnis vor Ort weiter formen und ihnen vielleicht auch mehr Auskunft darüber geben, wie Mo’Ann in das Gesamtbild der damaligen sowie heutigen Geschehnisse passte.
Nachdenklich griff Claire abermals nach der grünen Decke, um sie wie eben schon wieder etwas an Cassies Brust hinab zu ziehen und damit den Blick auf seinen Mann zu ermöglichen. Manchmal war der Typ wirklich wie ein unartiger Welpe, dem man immer und immer wieder beibringen musste, was ihm erlaubt war und was nicht.
„Von den wenigen Älteren, die noch da sind, hab ich die Leute selten über die Zeit vor Nathan reden hören. Manchmal hat er sie die erste Generation genannt und seine jüngeren Jäger, die er angeworben hat, die zweite Generation. Hat irgendwas davon geredet, dass man aus Fehlern lernen muss… hab das, um ehrlich zu sein, die ganz verstanden - weil er ja ständig so kaputte Leute angeschleppt hat. Aber auf der anderen Seite ist es natürlich einfacher solche Menschen für sich zu gewinnen als jemand halbwegs normales, der klar denken und sich klar seine eigene Meinung bilden kann.“
Da wollte sich Clarence nicht mal selbst raus nehmen - immerhin hatte er es früher selbst nicht besser gewusst. Er war genauso kaputt gewesen wie der Rest auch und war dem großen Guru gefolgt wie der Rest der Herde.
Klar denken oder sich klar seine eigene Meinung bilden, das konnte der Blonde auch heute noch nicht, doch dieses Mal lag das viel mehr an den benebelnden Kräutern und viel weniger an seinem psychischen Zustand, der sich alleine schon dadurch wieder drastisch gebessert hatte, seit sein Mann plötzlich vor ihm in der Gaststätte der Stoggs gestanden hatte.
„Jetzt, wo ich mit dir schwere Geschenkkisten durch die Stadt trage und ständig mit dir und den Hunden draußen unterwegs bin, werde ich nicht mehr so gute Ausreden haben mich vor der Arbeit beim Clan zu drücken“, wechselte er schließlich das Thema, als er mit seinen Gedanken wieder ins Hier und Jetzt schweifte statt in vergangene Zeiten, zu denen er noch nicht in Falconry Gardens gelebt hatte. Hier gab es sowieso viel reizvollere Dinge, wie er zufrieden bemerkte, während er die Decke etwas tiefer zog. „Ich könnte mich als Zeichen der Güte für eine Nachtwache am Zaun melden, damit niemand auf die Idee kommt mich mit einem Wagen in die umliegenden Dörfer zu schicken um Warenlieferungen zu begleiten. Du könntest mitkommen, dann nehmen wir uns heißen Kaffee mit und lassen uns in der Küche ein paar Sandwiches schmieren und halten uns gegenseitig am Wachturm warm, während wir Bösewichte davon abhalten die Stadt zu erobern. Wie klingt das für dich, mh?“
Matthew, der genau wusste wie wichtig es war gut aufzupassen, versuchte angestrengt Clarence zu folgen. Immerhin hatte er am morgigen Tag zu Mo‘Ann gehen und sie konfrontieren wollen. Wohlwissend, was er damit alles riskierte. Dementsprechend bedeutsam war es, einen guten Plan zu fassen. Die Dinge abzuwägen, zu kalkulieren auf wen sie zählen konnten und wen sie besser außen vor ließen. Es war wichtig bei der Sache zu bleiben…
Doch das Kraut - von dem der Dunkelhaarige deutlich mehr geraucht hatte als der Blonde - entwickelte seine Wirkung zwar nur langsam, wenn es allerdings losging, dann war es schwer sich zu konzentrieren.
Auch das war wie die berühmte Büchse der Pandora: einmal geöffnet war es unmöglich die Kurve wieder zu kriegen.
Und so trug es sich zu, dass Matthew irgendwo zwischen der Erwähnung der Hinterbliebenen alten und der ersten Generation, gedanklich ausstieg. Zwar gab er sich Mühe zu folgen, aber es war vergebene Mühe und er nahm die Worte des Größeren als angenehmen sonoren Klang ohne Inhalt wahr.
Benommen betrachtete er Clarence und ein warmes Gefühl zog sich von seinem Scheitel bis hinab in seine Zehenspitzen, als würde er mit wohltemperiertem Öl übergossen werden.
Dass Clarence ihm ganz beiläufig die Decke wieder etwas herunterzog quittierte seine Haut mit einer seichten Gänsehaut und das, obwohl ihm warm war.
„Hmmm~“ machte er nachdenklich - hoffte zumindest das es so klang- und nickte um seine bedeutungsschweren Überlegungen zu bekräftigen.
Der Dunkelhaarige blinzelte seinem Mann entgegen, er war aufmerksam und nicht schläfrig, aber man sah ihm irgendwie an, dass er kaum in der Lage war Clarence zu folgen.
Und bis auf sein „Hmmm~“ war die nächste Äußerung seinerseits:
„Sandwiches. Ich mag Sandwiches gern. Aber ohne grüne Paprika.“
Diesem Thema schien er besser folgen zu können und noch dazu erachtete sein benebelter Verstand es offenbar als wichtig genug um es noch zu vertiefen. Matthew seufzte schwer, rieb sich über die Augen - was ihn jungenhaft und derangiert aussehen ließ - und fragte schließlich: „Meinst du, ich könnte eins ohne grüne Paprika bekommen? Grüne Paprika ist immer so bitter.“
Wusste er genau worum es ging? Wusste er warum man ihnen Kaffee und Sandwiches machen sollte und das es dabei um einen Job ging?
Um Nachtwache um genau zu sein?
Irgendwie käme ihm das vage bekannt vor. Aber vordergründig… Nein, da hatte er diese Information ausgeblendet.
„Clarence Bartholomy!“, hob er plötzlich tadelnd den Zeigefinger.
„Immer, wenn ich die Decke hochziehe dann ziehst du sie wieder runter. Aber ich friere dann und es ist verboten… verboten das ich friere und kein Sandwich habe.“ - ernst blickte er seinen Mann an, ehe er schmunzelte und tiefer rutschte. Aber dabei blieb es nicht, denn wenn er schon keine Decke haben durfte, dann sollte Clarence ihn wenigstens wärmen und so bettete er sich kurzerhand auf den Oberkörper seines Mannes. Mit dem Hinterkopf an seiner Halsbeuge und dem Rücken auf der Brust des Größeren machte er es sich bequem.
„Hmm und jetzt wärm mich. Wenn mir kalt ist… kann ich nicht denken.“
Dass er aktuell aus einem ganz anderen Grund seine Gedanken in nichts von Belang vertiefen konnte war ihm selbst nicht bewusst. Tatsache war allerdings, dass er weit seltener Kräuter rauchte als Clarence und dafür reichlich oft an der Pfeife gezogen hatte.
Das Ergebnis war, dass sich Matthew leicht und angenehm benebelt fühlte. Seine Gedanken flatterten mal hierin und mal dorthin. Wie ein Schmetterling der von Blüte zu Blüte eilte.
Mo‘Ann und die Bruderschaft waren zwar nicht vergessen - aber die Dringlichkeit jetzt noch einen wasserdichten Plan auszuklügeln war nicht mehr gegeben.
„Weißt du…“, setzte er nach einer Weile wieder an. „…ich glaube… ich habe für heute genug über die Trulla gehört. Mir ist schon ganz wirr im Kopf von dem ganzen Gerede. Und Sandwich hab ich auch keins bekommen. Du musst besser…viel besser auf meine Bedürfnisse eingehen, Claire.“
Es brauchte keiner schwammigen Aussage über Sandwiches oder den tranigen Blick des anderen, um Clarence erkennen zu lassen, dass sein Gegenüber gedanklich schon längst ausgestiegen war - das hörte er dem langgezogenen ‚Hmmm‘ schon so an. Es war der gleiche Laut, den Matthew mit einem stupiden Blick durch ihn hindurch von sich gab, wann immer Clarence irgendetwas über Jäger erzählte.
Schon damals, zur Zeit ihres Kennenlernens als Matthew wirklich versucht hatte sich für die Tätigkeiten des Älteren zu interessieren, hatte sich schnell abgezeichnet, dass dieses Thema ihm einfach nicht lag. Es interessierte ihn nicht und deshalb ging es einfach nicht an Cassie ran - ganz genau so wie damals Nathans vergebliche Versuche ihn fürs Lesen und Schreiben zu begeistern. Es blieb keine Information haften, wie in einem Fass mit löchrigem Boden, aus der der Inhalt einfach wieder hinaus perlte, den man mühevoll hinein goss.
Hmmm und Achso waren dabei noch die häufigsten Laute die Matthew einwarf, wann immer er versuchte höfliche Aufmerksamkeit zu signalisieren, die schon längst verflogen war. Am liebsten hatte Clarence aber scheinbar überraschte Laute wie Oha, wann immer Matthew bemerkte, dass er das Ende einer Anekdote oder Frage verpasst hatte, über die er nun erst einmal nachdenken musste - obwohl er gar nicht sagen konnte, worum es eigentlich gerade noch ging. Und wann immer irgendeiner dieser Laute aus Cassies niedlicher Schnute drang, überkam es ihn seit einigen Monaten, dass Clarence kurz erheitert auflachte über so viel liebevolle Höflichkeit, die mit Matthew Reed nur noch wenig gemein hatte.
Träge musterte er seinen Mann, mit dem Lächeln eines Mannes auf den Lippen, der mit sich selbst und seinem Leben völlig im Reinen war. Abgesehen davon, dass die heilsamen Kräuter zu seinem derzeitigen Wohlbefinden unzweifelhaft ebenso ihren Beitrag leisteten, tat es so unheimlich gut sich mit seinem Mann im Bett zu lümmeln und einfach nur zusammen zu sein. Sie waren zwar noch immer nicht ganz heil von ihrer Reise, aber selbst der Schmerz in seiner Schulter und unter dem Verband seines Armes belasteten ihn weit weniger, seitdem der Jüngere wieder da war. Es gab keine bessere Medizin als Matthew und das war Clarence schon früh aufgefallen. Auch damals, angekommen in der nächsten Ortschaft in der sie Rast machen wollten, wenn sie wenigstens den ersten Abend miteinander im Gasthof verbracht hatten. Natürlich wäre es noch weit heilsamer gewesen, wenn Cassie das Ende ihres Abends nicht mit irgendeinem fremden Mädchen verbracht hätte, sondern mit seinem waldigen Kauzschrat. Aber! - … nein, eigentlich nicht, ging es Clarence durch den Kopf, welchen er - völlig fernab der eigentlichen Diskussion um Paprikasandwiches und Matthews Gefrierpunkt - leicht schüttelte. Eigentlich hatte es keinen einzigen Abend in einer Ortschaft gegeben, den Cassie lieber bei ihm verbracht hatte als in einem fremden Bett. Nicht mal später, kurz bevor sie kurz vor Coral Valley gewesen waren. Kurz davor allerdings waren sie mal in einer Siedlung eingekehrt, da hatte es auch unglaublich gutes Essen gegeben, was ihn - über viele Umwege hinweg - wieder zum Thema brachte. Was das Thema quasi Um-Weg machte, was fast so klang wie Un-Weg. So wie in Mein Schlüssel ist nicht mehr weg - also wieder da - wenn man etwas nuschelnd sprach. Was dem Blonden aber, wie ihm gerade auffiel, gar nicht geschehen war, da dieser doch sehr logische Un-Weg zurück zum Thema nur in seinem klugen Kopf stattgefunden hatte. Was auch Sinn machte, weil er ein kluger Mann war, wie Matthew ihm jüngst bescheinigt hatte.
„Mhh“, brummte er also stattdessen kehlig - so wie er es schon immer getan hatte, wenn den Aussagen des Jüngeren nichts mehr hinzuzufügen war. Aber eventuell vielleicht war er in Momenten wie diesen auch schon immer einfach unheimlich entspannt durch seine Kräuter gewesen. Bis sich das eines Tages aufklärte, galt aber immer noch die Unschuldsvermutung für ihn.
„Wir waren mal in Thornwood. Ein paar Wochen vor Coral Valley. Die hatten gute Paprika. Die waren nicht grün und nicht auf einem Sandwich, aber gut waren die“, trug er seinen Anteil schließlich doch noch bei, während er wohlig das Gewicht des Jüngeren auf sich versacken spürte und ihm dabei ein glücklicher Seufzer entkam. Als wolle er andeuten, wo all diese leckeren Paprika wohl gelandet waren, tätschelte er dem Jüngeren zufrieden den Bauch, wobei er ein leises Klatschen durch den Raum tönen ließ.
Erst jetzt, die Wärme des fremden Leibes auf sich, spürte Clarence was sein Mann die ganze Zeit mit der Fröstelei meinte. Trotz flammendem Ofenfeuer war ihm gleich ganz anders zumute, kaum dass Cassie eng an ihn gekuschelt war und schließlich schickte der Blonde sich sogar an doch wieder nach der wärmenden, übergroßen Decke zu greifen und sie an ihnen beiden hinauf zu ziehen - so weit, bis sie ganz und gar darunter verschwunden und von der Welt um sie herum losgelöst waren, in Dunkelheit und Wärme.
„Ich könnte jetzt aufstehen und dir ein Sandwich machen, wenn du eins brauchst“, unterbreitete er Matthew schließlich, wobei man dem Jäger jedoch deutlich anhörte, dass das gerade eigentlich keine Option war. Außerdem hatte sich das gierige Böckchen oben beim Abendessen des Clans eigentlich genug den Bauch vollgeschlagen, um für drei Tage satt zu sein.
Um selbigen allerdings kümmerte sich Clarence nun aber doch, indem er seine Fingernägel in kraulender Manier über die festen Muskeln seines Vordermannes hinweg gleiten ließ. Die Haut über seiner Brust und seinem deutlich gestählteren Bauch als Claire es gewöhnt war, fühlte sich noch genauso warm und vertraut an wie vor ihrer Trennung in Denver.
In der Abgeschiedenheit ihrer Bettdeckenhöhle genoss er den Geruch des frisch gewaschenen dunklen Haares, das er ebenso vermisst hatte wie den Rest von diesem Mann, wie er mit einem warmen Kuss hinter das Ohr des Jüngeren bezeugte.
„Vielleicht… sollten wir unser Hobby zum Beruf machen. Wir eröffnen einen Kräuterladen und dann… fällt auch keinem mehr auf wenn wir den ganzen Tag rauchen, weil unsere Kundschaft auch völlig breit ist“, schlug der Schamane im Tonfall ernsthafter Absichten vor, immerhin war das gar keine so schlechte Idee. Besser jedenfalls als Nachtwache in der Kälte. „Du könntest Wein anbieten… oder Whisky. Guten Whisky. Du bist gut im Schnitzen, ich besorge dir einen Baum und du schnitzt ein paar Fässer zum Einlagern. Und dann nehmen wir unsere neue große Kiste und lagern da drin unser ganzes Gold ein, das wir scheffeln werden.“