Pago Estrella Vaga
10. Juli 2210
Irgendwann während ihrer langen Reise, da war aus bloßer Bekanntschaft schleichend Freundschaft geworden und aus jener Freundschaft ganz plötzlich Liebe. Von heute auf morgen hatte sich alles geändert, sie hatten alte Mauern eingerissen und Brücken über Gräben geschlagen, die zuvor unüberwindbar erschienen waren.
Doch die neue Vertrautheit hatte auch Komplikationen mit sich gebracht, wie etwa die Tatsache, dass es schwierig war plötzlich angesichts der geänderten Lage über Themen zu reden, die man früher immer vermieden hatte.
Jäger waren eine schweigsame Zunft, sie blieben unter sich und gaben grundsätzlich nicht viel von dem Preis, was in ihren eigenen Reihen vor sich ging. Auf der einen Seite war die Gefahr zu groß wertvolle Aufträge zu verlieren, wenn der Normalbürger begriff, dass er viele seiner kleinen und großen Probleme auch durchaus alleine lösen könnte.
Und auf der anderen Seite?
Diese Zunft, erst wandernd und später zu gleichen Teilen auch angesiedelt, war viel zu lange von der Gesellschaft verstoßen worden, als dass sie den Teufel tun und wieder Anschluss an sie suchen würden. Jäger wurde, wen Zuhause nicht mehr viel erwartete, der die Freiheit besaß tun und lassen zu können was er wollte und der nicht länger einen Scheiß darauf gab, was die Leute außerhalb des Clans von ihm dachten.
Er hatte Cassie damals mitgenommen zu dem ein oder anderen Auftrag, hatte ihn einfache Handschläge verrichten lassen oder vor die Tür geschickt wenn etwa offensichtlich wurde, dass ein Exorzismus dem Jüngeren aber einem gewissen Punkt zu viel wurde. Doch damals war ihre Bindung nicht eng genug gewesen um ihn tiefer in das Thema einzuführen, zudem hatte Clarence versucht sein altes Leben zu verdrängen wenn er nicht gerade beschäftigt damit gewesen war, ihnen ein paar Kupferstücke oder ein wenig versetzbaren Schmuck zu verdienen; und irgendwann… irgendwann, da war plötzlich der Zeitpunkt da gewesen, an dem ein Absprung in die Welten des Jägerkrams zu spät gewesen war.
Aus Sicht von Cameron und Adrianna, die beide deutlich hellhörig wurden als der Neue in der Runde sich unwissend gab ob des Hunters Chase, schien es Sinn zu machen und ihnen ein Stück weit Vertrauen in den Blonden zurück zu geben, dass er nicht alle ihre Geheimnisse sofort ausgeplaudert hatte. Zwar war Matthew Reed als Kandidat für einen Anwärterplatz angeschleppt worden, solange man ihn aber nicht offiziell eingesetzt hatte, gingen ihn derlei Dinge in der Regel nichts an. Es brauchte mehr als nur ein Mitglied, um fremden Bürgern zu erlauben als Rookie irgendwo tätig und eingeführt zu werden.
Für wenige Sekunden legte sich Stille über den Tisch, wertvolle Zeit die die beiden anderen nutzten um vielsagende Blicke miteinander auszutauschen. Die gesamte Stimmung war zwar immer noch nicht freundschaftlich geworden am Tisch, dafür waren aber wenigstens die offensichtlichen Feindseligkeiten versiegt und auch die Rothaarige schien mittlerweile endlich begriffen zu haben, dass sie um den fremden neuen Kerl an ihrer Seite nicht mehr herum kommen würde.
„Sind die Clans sich auch nicht. Zumindest die meisten jedenfalls“, bestätigte Adrianna schließlich nach ihrem eigentümlichen Blickaustausch mit Cameron die Vermutung Matthews, was darauf schließen ließ dass sie sich mit dem Pomadengott ausgetauscht hatte, wie viel der Neuling erfahren sollte – oder halt eben auch nicht.
„Die meisten Feinseligkeiten beruhen auf Tradition und Überlieferung. Sie stammen noch aus Zeiten, in denen die Zuständigkeitsgebiete nicht festgelegt waren und sich einzelne Clans gegenseitig Aufträge geklaut haben beziehungsweise neue, fragwürdige Clans den Ruf der Alteingesessenen versaut haben. Das Ganze hat in Missbilligung geendet und darin, dass man irgendwann begonnen hat sich gegenseitig in den Wäldern mutwillig abzuschlachten aus Angst, die anderen könnten zuerst zuschlagen. Es gibt mittlerweile einen Verhaltenskodex, den ein Großteil der Jäger zum Glück befolgt. Keine Angriffe in Metropolen, Städten und Siedlungen zum Beispiel und keine Überfälle, wenn die andere Gruppe deutlich kleiner ist als die eigene und dadurch im Nachteil ist. Heutzutage geht es nicht mehr darum die anderen zu dezimieren, sondern mehr um… Ruhm und Ehre und sowas, seitdem unser Ansehen so durch den Dreck gezogen wurde.“
Abwägend musterte sie Cassie über den Rand ihres Glases hinweg als sie noch einen Schluck Wasser nahm; vom ganzen Wein und Schnaps war sie schon vor geraumer Zeit auf weniger Alkoholisches umgestiegen, immerhin vertrug sie als schmal und klein gebaute Frau weit weniger Umdrehungen, als es bei ihren drei Begleitern der Fall war.
Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie ihr Nachbar sein Pfeifentäschchen zu sich heran zog, es auf dem Tisch auseinander faltete und hinter dem dunklen Leder seine abgegriffene Pfeife zum Vorschein kam, die er raschelnd zu stopfen begann. Ein Umstand der sie das erste Mal an diesem Abend sachte schmunzeln ließ, bedeutete dies doch immerhin, dass sich wenigstens nicht alles in den zurückliegenden Monaten, ja fast schon zwei Jahren, verändert hatte.
„Als die Unstimmigkeiten vor einigen Jahrzehnten ihren Höhepunkt fanden, haben einige Anführer beschlossen, sich quasi unter der weißen Fahne zu treffen und eine Art Friedenspakt auszuhandeln. Etwas das ziemlich schief gelaufen ist, weil es unmöglich ist auf freiem Feld zu bestimmen wer zu welchem Clan gehört, wenn es hart auf hart kommt. Aber irgendwie… hat man eingesehen, dass es ganz nett ist auch mal aufeinander zu hängen, ohne sich dabei wild die Köpfe einzuschlagen.“
„Aus diesem Treffen wurde mit der Zeit Tradition und seitdem treffen sich die Clans alle vier Jahre“, ergänzte Cameron sie schließlich nach einer kurzen Unterbrechung als ihm klar wurde, Clarence würde sie nicht ablösen um seinem fremden Freund zu erklären, was aus der Besprechung unter weißer Fahne geworden war. Stattdessen hatte sich der Blonde in seine Kräuter vertieft und wirkte zwar nicht abwesend, aber doch irgendwie unbeteiligt – ein plötzlicher Sinneswandel den niemand der beiden so wirklich verstand. Einerseits wollte er, dass Reed sie zu diesem Anlass als neuer Anwärter begleitete und andererseits schien es ihm schlagartig zuwider geworden zu sein seinem Reiseführer und Bootsverleiher zu erklären, was ihn dort erwarten würde.
„Das Hunters Chase ist quasi ein friedliches Zusammensein wo man auch mal mit anderen Leuten außer den eigenen abhängen kann, ohne dafür gleich eine Kugel zwischen die Augen zu bekommen. Es wird einige Tage gefeiert, gegessen und sich ausgetauscht. Wenn ausgestoßene Vogelfreie in Gewahrsam genommen wurden, werden sie dort als Eröffnung an ihre ursprünglichen Clans übergeben und für ihre Verbrechen hingerichtet und für die die wollen, gibt es einen kämpferischen Wettstreit um Ruhm und Ehre zwischen den Clans, ganz ohne sich gegenseitig zu skalpieren oder Waffen einzusetzen. Das war Skys Auflage“, erklärte er grob zusammengefasst was es mit dem Fest auf sich hatte und nickte in Richtung des Besagten, der sich schon seit Beginn dieses Themas nicht mehr zu Wort gemeldet hatte, sondern gerade damit beschäftigt war seine Pfeife anzustecken.
„Was auch immer da draußen zwischen ihm und Nagi passiert, er hat zum nächsten Hunters Chase wieder zurück zu sein und um nicht vogelfrei gesprochen zu werden wenigstens anstandshalber seinen Namen in den Topf für den Wettkampf zu werfen, um sich dadurch sein Vertrauen im Clan zurück zu gewinnen. Jetzt müssen wir nur noch zusehen rechtzeitig dort anzukommen, bevor sie den Topf dicht machen. Aber das wird schon.“
Die Zuversicht, die von Camerons Stimme ausging wenn es um seinen persönlichen Staatsfeind Nummer Eins ging, war völlig neu für den Blonden und trotzdem hielt er sich an dem neuartigen Tonfall nicht auf. Stattdessen zog er ein weiteres Mal an seiner Pfeife, inhalierte den dicken süßen Rauch tief und blickte durch die bläulichen Schwaden hindurch hinüber zu seinem ‚Freund Reed‘, der vielleicht bald nicht mehr länger sein Freund sein wollte je mehr er von anderen erfuhr, was er längst von Clarence hätte erfahren sollen. Nicht umsonst hatte der Hüne von Anfang an gesagt, er wolle nicht zu seinem Clan zurück und wäre lieber mit seinem Mann flüchtig über alle sieben Weltmeere hinweg gesegelt. Stattdessen saßen sie nun aber hier und mussten beide für sich selbst die saure Suppe auslöffeln, die der Blonde ihnen eingebrockt hatte.
„Warum sind die von Golden Cross noch so zahlreich hier? Die Straßen haben nur so von deren Idioten gewimmelt, dabei sollten die schon seit Wochen auf dem Weg sein, so wie die Kerle jedes Mal überall halt machen um sich durch die Mütter und Töchter dieser Welt zu vögeln“, warf Claire schließlich angesichts des Themas Anreise ein, immerhin waren die großen Clans aus dem Metropolen meistens die ersten, die ihre Namen sicher auf der Anmeldung für den Wettkampf lesen wollten.
Dass es aber dieses Jahr nicht an purer Bequemlichkeit lag, begriff der Blonde auch so just in dem Augenblick, als Adrianna fast die Kinnlade herunter fiel – doch Cameron kam ihr geschickt zuvor:
„Hast du gar nichts mitbekommen in Rio Nosalida? Die haben Bonnie und Clyde dran gekriegt.“
„Was?“
Erstmals seit mindestens einer halben Stunde hatte sich Cameron damit wieder die Aufmerksamkeit des Größeren sichergestellt, der unmerklich den Kopf schüttelte, beinahe als müsse er sich einfach verhört haben.
Nahtlos reihte sich Matthew in die einsilbige Fragestellung ein, immerhin interessierte ihn weniger das was als das Wen?, so wie sein Mann reagierte und die anderen beiden gerade in helle Aufregung versetzt waren.
„Bonnie und Clyde sind von allen Ausgestoßenen die beiden, die am längsten nicht gefunden wurden“, warf Arianna an ihren dunkelhaarigen Feind gewandt ein und schien gerade erstmals einen der wenigen Vorzüge zu erkennen, den dieser Reed mit sich brachte: Man hatte endlich wieder Frischfleisch für das man alte Kamellen wieder aufwärmen konnte, ein recht besonderer Reiz für Jäger, wenn sie Zeiten ansonsten eher uninteressant schienen. „Seit siebzehn Jahren sind die beiden keinem untergekommen, weder dem eigenen Clan, noch irgendeinem anderen. Man dachte schon die wären zwischenzeitlich drauf gegangen und würden nie wieder auftauchen, aber siehe da-“
„Die beiden haben sich als Jugendliche in ihrem Clan kennengelernt und sind nach ein paar Jahren miteinander durchgebrannt in einer Nacht- und Nebelaktion. Kein Gespräch, keine Nachricht, kein gar nichts. Es war, als hätte sich ein Loch unter ihnen aufgetan und sie wären einfach im Erdboden verschwunden und obwohl sogar die wandernden Jäger auf die beiden gehetzt wurden, hat man sie nie weder zu Gesicht bekommen. Bis vor ein paar Wochen“, versuchte Cameron die aktuellen Schlagzeilen der Jägergemeinschaft wiederzugeben, bevor ihm Adrianna wieder ins Wort fiel.
„Golden Cross hat die beiden am Arsch der Welt aufgespürt, nachdem wohl 10 von deren Jäger in den letzten Jahren ausschließlich damit beschäftigt waren, die zwei ausfindig zu machen. Irgendwo oben im Westen an der Küste haben die sich in einer Siedlung niedergelassen, die ganz schön von der mexikanischen Truppe aufgemischt worden sein muss. Einen hat es in der Schießerei erwischt und von dem was ich halbwegs verstanden habe, haben die nach der Festnahme der beiden wohl noch vier Kinder im Haus gefunden, die die Mexikaner an die Siedlung übergeben haben.
Ein paar Tage nachdem wir hier angekommen sind, haben sie die beiden nackt durch die Stadt getrieben um sie den Jägern zu präsentieren, die noch nicht aufgebrochen sind und ich schwöre dir… sie sind es.“
Bekräftigend nickte Cameron um die Worte seiner Gefährtin zu bekräftigen: „Die Guacamole-Gang hat sich eigens zur Überführung so einen scheiß Zeppelin angemietet. Enedin Salvatore und sein Sohn sind höchstpersönlich mit Eskorte mitgeflogen – das was noch hier ist, ist lediglich die Nachhut und der Rest, der sowieso hier bleibt um die Angelegenheiten der Stadt zu regeln. War ein Grund mehr für uns, die heiligen Mauern zu verlassen… als die Straßen langsam leerer wurden, sind fremde Jäger immer mehr in deren Visier geraten. Du konntest kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen, ohne einen von den Typen im Nacken.“
„Hab ich gemerkt…“, murmelte Clarence leise und zog abermals an seiner Pfeife, wobei er das Mundstück selbst danach noch zwischen den Zähnen behielt um unbemerkt auf das unnachgiebige Material zu beißen.
Reserviertes Pokerface hin oder her, gerade war ihm überhaupt nicht nach Freudenstimmung oder Aufregung, ganz im Gegenteil. Wenn Golden Cross so heiß darauf war Vogelfreie für den eigenen Ruhm zu fangen, dass sie sogar feste Leute für aussichtslose Fälle abstellten…
Unruhig paffte er ein paar Mal an seiner Pfeife, wobei sich sein Blick nachdenklich hinüber zu Cassie schob. Es war gar nicht lange her, da hatten sie vorhin noch oben gemeinsam auf dem Bett gehockt und darüber sinniert, dass alles gut werden würde. Dass sie es schaffen und alte Rechnungen begleichen und Gefahren eliminieren konnten, wenn sie es nur geschickt und motiviert genug angingen.
Augenblicklich überkamen ihn wieder Zweifel an dieser naiven Vorstellung.
Wortlos und doch sehr vielsagend stimmten sich Adrianna und Barclay ab, nachdem Matthew nach dem Hunters Chase gefragt hatte. Sie warfen sich einen sehr intensiven Blick zu, wie es nur Menschen taten, die sich verdammt gut kannten.
Clarence verlegte sich wieder aufs Schweigen und beschäftigte sich lieber mit seiner Pfeife, der jungen Frau es überlassend, Matthew zu erklären was es mit dem Brauch auf sich hatte. Adrianna holte bei ihrer Erläuterung etwas weiter aus und Matt hörte ihr aufmerksam zu, immerhin konnte es keinesfalls schaden wenn er wusste woher die Abneigungen der Clans füreinander rührten.
So richtig schlüssig war ihm dieses Festival der Jäger nicht, was man seinem zweifelnden Blick wohl auch ansah. „Das heißt, bei diesem Treffen freundet man sich mit Leuten an, die man irgendwann später vielleicht umbringt, nur weil sie in einer anderen Gilde sind als man selber? Man erzählt sich Geschichten, feiert zusammen und dann... wenn alles vorbei ist, poliert man sich wieder die Fresse oder tötet sich gegenseitig?“, fragte er skeptisch nach und offenbarte damit einmal mehr, dass er mit der Jägerschaft bisher nicht viel am Hut gehabt hatte. Obwohl er seit geraumer Zeit mit Clarence unterwegs war, hatte dieser es bisher vermieden ihn in die Welt jener Zunft einzuführen. Etwas, dass sich gerade jetzt immer mehr herauskristallisierte. Cassie lagen noch weitere Fragen auf der Zunge, allerdings verkniff er sich selbige bis zu dem Moment, als Barclay Clarence’ Auflage ansprach.
„Einen kämpferischen Wettstreit?“ wiederholte er mit Blick auf den Blonden, der sich allerdings noch immer hochkonzentriert mit dem Stopfen seiner Pfeife befasste und sie schließlich - ebenso konzentriert- anzündete. Den anderen mochte es auffallen oder auch nicht, aber Matt registrierte sehr wohl, wie in sich gekehrt der Blondschopf geworden war, seit das Thema des Hunters Chase ihre kleine Runde bereicherte.
Sein Schweigen passte natürlich zu der Rolle alten Clarence, aber Matthew machte er nichts mehr vor was das angibt.
Vorsichtig schob Cassie seinen Fuß wieder herüber zu seinem Mann und stupste ihn sacht am Knöchel an, als stummes Zeichen dafür, dass zwischen ihnen trotz des Streits alles gut war. So unwohl er sich fühlte, Clarence ging es höchstens unwesentlich besser und auch wenn die Dinge immer schwieriger wurden, sie mussten zusammenhalten.
„Wie soll man sich diesen Wettstreit denn vorstellen?“, hakte er unter dem Blick seines Freundes nach, der es mittlerweile geschafft hatte seine Pfeife zu entzünden und nachdenklich paffte.
Dessen Erkundigung zu den Golden Cross, die wirklich sehr präsent in der Stadt waren, ließ Matthews zuvor gestellte Frage in den Hintergrund treten und es entspann sich ein Dialog zwischen den dreien dem Matthew nur schweigend folgen konnte.
Bis auf die Frage nach dem „Wen?“ trug er nichts bei, was schlichtweg daran lag, dass er Bonnie und Clyde nicht kannte. Er hatte von ihnen gelesen, in den Büchern der Alten und er wusste aus der Geschichte, dass die Alten eine Art Kult um dieses Paar betrieben hatten, die mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren.
Aber die waren wohl kaum gemeint und somit lauschte er aufmerksam Adrianna, die sich widerstandslos bereiterklärte, für ihn die Geschichte der beiden zu erzählen.
Zwischendurch nahm ihr Barclay den Job ab, was es noch offensichtlicher machte, dass sie sich wortlos miteinander abgestimmt hatten.
Offensichtlich waren die beiden vogelfreien Jäger große Nummern, denn Clarence schien es kaum fassen zu können, dass man sie nach so langer Zeit doch noch geschnappt hatte. Schweigend richtete Cassiel den Blick auf den Hünen, bevor er sich durch das Haar strich, den Kopf schüttelte und wieder einhakte.
Er fühlte sich ein bisschen wie überfahren, waren Bonnie und Clyde doch weitaus mehr als ein düsteres Vorzeichen für ihren eigenen Plan B.
Sollte der Clan sie nicht gehen lassen, war abhauen immer noch eine Option gewesen, eine Option die sich nun mit einem Mal zerschlug.
„Und das Verbrechen der beiden ist...?“, wollte er wissen und schaute reihum in die Gesichter der anderen die seine Frage zunächst nicht zu verstehen schienen.
„Ich meine, warum wurden sie so lange Zeit gesucht und warum will man sie hinrichten? Weil sie sich ineinander verliebt haben?“, dass ihm dieser Grund nicht ausreichte, versuchte er nicht zu kaschieren. „Die werden wohl noch was verbrochen haben?“, bohrte er weiter nach, wohlwissend, dass er damit naiver wirkte als er war.
Von Clarence wusste er bereits, dass das mit den Partnern innerhalb eines Jägerclans schwierig aber nicht unmöglich war, wie es aber laufen würde wenn der geliebte Mensch mit einem konkurrierenden Clan verbunden war, konnte er sich vorstellen.
Allerdings war sein eigenes Werteverständnis ein anderes als das der Jägerschaft, auch darüber hatte er sich schon so manches Mal mit Clarence gestritten.
Bonnie und Clyde waren ihm unbekannt und doch waren sie gerade eine Art unbekannte Verbündete von Matthew geworden, die für das standen was ihr gutes Recht sein sollte: frei sein, egal ob das anderen passte oder nicht.
Nicht nur Adrianna und Cameron verstanden die Nachfrage des Dunkelhaarigen nicht, sondern auch von Clarence fing der vierte im Bunde sich einen irritierten Blick ein. Die werden wohl noch was verbrochen haben? war eine Frage, wie sie nur von jemandem stammen konnte der keine Ahnung von Jägern und deren Gebräuchen, aber auch nicht von deren Vorstellungen über Recht und Unrecht hatte.
An sich war die naive Frage gar nicht so unerwartet, ganz im Gegenteil. Viele der Rookies, die neu anfingen, verstanden zunächst überhaupt nicht was daran so schlimm war einfach seine Sachen zu packen und wieder Leine zu ziehen. Es dauerte nun mal eine Weile bis man sie eingelebt und ihnen die neuen Gesetze begreiflich gemacht hatte, unter denen sie fortan zu leben gedachten. Von daher war es nicht unüblich mit einem derartigen Nachhaken bedacht zu werden – fragwürdig war es nur, dass es von einem Mann kam, der seit fast zwei Jahren mit einem Jäger unterwegs war welcher behauptete einen neuen geeigneten Anwärter gefunden zu haben und ihn aufs Hunters Chase mitschleppen zu wollen.
Auffordernd hob Adrianna dementsprechend die Augen und gab ihrem Nebenmann einen unsanften Stoß mit dem Ellenbogen in die Flanke, der den armen Kerl offensichtlich viel zu lange im Dunklen hatte tappen lassen und nun drauf und dran war, die ganze Aufklärungsarbeit seinen beiden Kumpanen zu überlassen. Damit ihm die Konzentration leichter fiel, reckte sie sich ein Stück und nahm dem Blonden kurzerhand seine Pfeife aus der Hand um selbst daran zu ziehen, eine freche Geste die allerdings nicht auf Gegenwehr stieß.
„Dein Clan ist deine Familie, Reed. Du bist mit diesen Menschen nicht durchs Blut verbunden, was es umso wichtiger macht, dass du deinen Schwestern und Brüdern blind musst vertrauen können. Wenn du in Gefahr schwebst, dann musst du dich darauf verlassen können, dass der andere dir hilft – und im Gegenzug darfst du nicht zögern selbst zu helfen wenn der Moment kommt, dass ein anderer in der Klemme steckt. Selbst wenn es so ein Pisser wie Barclay ist.“ – „Danke“, schallte es voller Ironie kurz aus benannter Ecke, ohne den Hünen in seiner Erklärung zu unterbrechen.
„Dass du dir diese Frauen und Männer ausgesucht hast, trägt dir auch Verantwortung auf. Man hat als Anwärter genug Zeit gehabt um es sich anders zu überlegen, aber man hat seinen Eid geleistet, immer füreinander da zu sein. Seine Familie zu unterstützen, sich unterstützen zu lassen und ein kleiner Teil von etwas Großem zu sein, das nur durch viele funktionieren kann. Wenn es Probleme gibt, gibt es immer noch Mittel und Möglichkeiten zu einem befreundeten Clan zu wechseln, um eine Eskalation zu vermeiden. Aber wenn du einmal zu dieser Familie gehörst… dann bist du ein Teil davon. Du rennst nicht einfach weg und überlässt deine Schwestern und Brüder ihrem Schicksal.“
Noch vor wenigen Stunden hatte er zwei Etagen höher etwas gänzlich anderes von sich gegeben, aber jene Gedanken hörte man ihm just in diesem Augenblick in keiner einzigen seiner Silben mehr an. Es war, als fiele es Clarence unheimlich schwer nachzuvollziehen, warum Matthew in dem Handeln des Liebespaares den Fehler nicht von selbst erkannte – aber tatsächlich fiel es ihm nur deshalb so einfach seine Entrüstung artgerecht darzustellen, weil er währenddessen daran dachte wie es sich wohl anfühlen würde, wachte er eines Morgens auf und Matthew wäre plötzlich weg.
Auch mit ihm war er nicht durchs Blut verbunden, auch mit ihm teilte er lediglich einen Eid und nichts weiter. Sich einem Jägerclan versprochen zu haben, war beinahe so ähnlich wie ein Eheversprechen, wenn auch beides für sich jeweils aus gänzlich anderen Gründen geschah.
„Vertrauen ineinander ist das größte Gut das wir als Jäger besitzen, denn wir haben nichts anderes als einander. Wer dieses Gut mit Füßen tritt und ein derartiges Loch in unsere Familie reißt… der hat nie wirklich dazu gehört, sondern einfach nur ausgenutzt, was es bei uns zu holen gab. Derjenige ist auf so vielen Ebenen ein Dieb, dass er es nicht anders verdient hat.“
Nachdenklich musterte er Matthew, welcher ihn eben noch aufbauend gegen den Knöchel gestupst hatte, und schob nun seinerseits den Fuß wieder ein wenig nach vorne, dem anderen entgegen. Egal was sie in den kommenden Wochen erwarten würde, sein Mann durfte nie vergessen wer er für Clarence war und was er für ein gemeinsames Leben mit ihm zu tun bereit wäre, auch wenn es in diesem Augenblick nicht danach klang. Er scheute nicht die Gefahr, weder wenn es um Verfolgung in den ihnen bekannten Ländern ging, noch wenn sie es wagen würden mit der Harper Cordelia zu völlig unbekannte Weiten vorzudringen und über den Horizont hinaus eine Flucht zu wagen. Die Entscheidung sein Leben mit dem Jüngeren zu teilen hatte der Blonde längst getroffen und das nicht erst vorhin oben in ihrem Doppelzimmer.
Leise hustete neben ihm Adrianna los, ein Geräusch das bemüht unterdrückt klang und bewies, dass es ohne den Schamanen im Haus wohl nicht viele Kräuter zum Rauchen gab, wenn man sich mal den Abend versüßen wollte. Kurz fing sie sich einen skeptischen Blick aus den Augenwinkeln seitens des Blonden ein, wohl ein kurzer Check ob ihr nicht gleich auch noch die Lunge hinterher flog, aber bislang wirkte alles noch recht ordentlich.
„Dass man jahrelang nichts von Bonnie und Clyde gehört hat, muss nicht heißen, dass sie nie entdeckt wurden. Es kehren immer mal wieder Jäger nicht von ihren Aufträgen zurück – genauso gut wie ein Muti oder ein Feind sie gefleddert haben kann, kann auch ein Vogelfreier auf der Flucht die Leute hingerichtet haben. Genauso wie sie Unschuldige getötet haben können, um sich einen Vorsprung zu schaffen. Zwei Gründe mehr, sie eines Verbrechens anzuklagen und dafür schuldig zu sprechen“, gab er schließlich weiter zu bedenken. Die Liste der Möglichkeiten, was die beiden verbrochen haben konnten, war lang und man konnte sich den für sich angenehmsten Grund quasi blind heraus picken, wenn es einem damit dann irgendwie besser ging.
Wortlos reckte er die Hand zur Seite, eine Geste die die junge Frau neben ihm als das begriff was sie war, nämlich eine stumme Aufforderung ihm seine verdammte Pfeife wiederzugeben. Blieb nur zu hoffen, dass sie den Köder geschluckt hatte und nun mit etwas Hasch im System endlich endgültig zur Ruhe kam, statt in naher Zukunft wieder auszurasten.
Nach einem weiteren Zug am blank polierten Mundstück, hielt er seine wertvolle Pfeife schließlich auffordernd Cassie entgegen dem er jetzt schon ansah, dass er mit keiner einzigen der Erklärungen zufrieden war und ihm einige Widersprüche auf der Zunge lagen. Der Kerl brachte sie mit seiner rebellischen Art irgendwann noch mal um Kopf und Kragen, was aber hoffentlich noch nicht heute der Fall sein wird.
„Was die beiden noch alles verbrochen haben, werden die Mexikaner auf der Reise schon mit den beiden klären und wenn nicht, dann ihr ehemaliger Clan nach Übergabe. Falls es dich tröstet, gibt es noch genug andere Jäger die auf der Flucht sind und tatsächlich handfeste Dinge verbrochen haben, die selbst jemand wie du anerkennen muss. Vor ihrer Hinrichtung wird die Anklageschrift verlesen, dann wissen wir alle mehr über diese Leute.“
Wenn er daran dachte, was alles auf seiner eigenen Liste stehen würde, säße er heute nicht hier und wäre bereit zu seinem Clan zurück zu kehren, wurde ihm jetzt schon ganz schlecht. Vielleicht lag das flaue Gefühl im Magen aber auch nur an dem mexikanischen Essen, das sein Organismus nicht gewöhnt war.
Auch wenn er gerade so tat: Matthew war nicht naiv. Er wusste, dass sein Verständnis von der Welt ein anderes war als das von Jägern, denn wollte man die Dinge beim Namen nennen, dann waren viele Jäger nichts anderes als Barbaren.
Ein uncharmantes Urteil des Jüngeren über diese Zunft und definitiv eines, dass er an diesem Tisch nicht offen kommunizieren würde.
Schweigend betrachtete er Clarence, lauschte dessen Worten und taxierte ihn mit dem Blick eines lauernden Katers, der alt genug war um es besser zu wissen und der doch zu überlegen schien, ob er sich mit dem Rudel Rottweiler des Nachbarn anlegen sollte.
Der Dunkelhaarige wusste, dass alles das was Clarence ihm gerade erzählte, genau das war, was die anderen zwei von ihm erwarteten. Sie wollten hören, dass Clarence noch der selbe war, dass er ihre verqueren Werte und Vorstellungen von Recht und Unrecht noch immer teilte.
Das Letzte was sie feststellen wollten war, dass ihr Freund, Clanbruder und Mitverschwörer in der Zeit seines Exils zu einem völlig anderen Menschen geworden war.
Dass genau dies der Fall war, bewies der Hüne - für die anderen unsichtbar - in dem er Matthews Fuß zart unterm Tisch anstupste, so als wolle er ihm vermitteln, dass seine Worte nicht seiner Auffassung entsprachen.
Nicht mehr, jedenfalls.
Matthew wusste, dass sein Mann einst wirklich so gedacht hatte und dass sein Verständnis von Ehre und Loyalität keinerlei Abweichungen zugelassen hatte. Er war unerbittlich zu sich selbst gewesen, wie hätte jener Mann etwas anderes zu seinesgleichen sein können?
Was diese Jäger einander unter dem Deckmantel von ausgenutzter Treue und unter den Mutmaßungen etwaiger Verbrechen antaten, ging Matthew nichts an. Bonnie und Clyde waren nur zwei Namen, er hatte zu ihnen keine Gesichter - und dennoch waren sie ihm vertraut, weil ihre Geschichte es war. Genauso gut hätten die Namen Claire und Cassie sein können. Würden die Tochter Satans und Herr Elster dann auch so freudig aufgeregt von ihrer Gefangennahme und künftigen Hinrichtung erzählen? Oder würde die Verbundenheit zu Clarence, sie dazu bewegen ihre Spatzenhirne einzuschalten und zu überlegen, wie groß der Leidensdruck wohl gewesen sein musste, bevor der Blonde sich zu diesem Schritt hatte durchringen können?
Seine Angriffslustigkeit rührte weder von dem Alkohol, noch von dem anstrengenden Tag der hinter ihm lag, sondern allein von der Engstirnigkeit der Jägerschaft, die sich kollektiv im Recht wähnten, wenn es darum ging einander zu töten wegen eines Regelbruchs.
Clarence war schon eine Weile verstummt und keiner an ihrem Tisch sagte irgendwas, es war sogar so still geworden, dass man das entfernte und leise Zirpen von Grillen vernehmen konnte. Adrianna schien mit ihrem Schweigen Clarence beizupflichten und Barclay sah zwischen ihnen hin und her, räusperte sich und trank schließlich verlegen einen Schluck aus seinem Humpen.
Es hatte den Eindruck, als warteten die drei darauf dass Matthew sich nun irgendwie äußerste und dieser beendete schließlich sein eigensinniges Schweigen wieder, in dem er sagte:
"Regeln sind nun mal Regeln, hm?" - die Art wie er die Worte aussprach und die Betonung die er dabei nutzte, schafften zwar keinen Anlass um ihm unumwunden Zweifel an der Richtigkeit jener Regeln zu unterstellen, dennoch bot seine gesamte Attitüde zumindest Raum für Spekulationen. Sein Ton war nicht ablehnend, aber mindestens... seltsam. Matthews Frage nach dem Verbrechen der beiden, war nichts anderes gewesen als ein Test. Er hatte wissen wollen wie die zwei anderen tickten, ob sie ihre eigenen Werte hatten oder denen ihres Clans folgten.
Clarence hatte es den anderen abgenommen, auf sein Nachhaken zu antworten und hatte die Gelegenheit dahingehend genutzt, zu unterstreichen, dass er noch immer der selbe Kauz von früher war. Adrianna schien dem Gesagten auch nichts hinzufügen zu wollen, nickte aber bekräftigend nach Matthews Kommentar. "Ich schätze, ich muss nicht wirklich mit euch einer Meinung sein was diese Regeln betrifft - so lange ich mich an sie halte, oder?"
Noch immer schien er herauszufordern und noch immer wog er innerlich ab, ob er sie nicht gleich damit konfrontieren sollte, wie fadenscheinig er diese Regeln fand. Sie bezeichneten sich selbst als Brüder und Schwestern, aber einen Bruder schickte man nicht in den Tod, einer Schwester verwehrte man nicht, die Chance glücklich zu werden. Würde Clarence ihm noch heute Abend eröffnen, ihn nicht mehr zu lieben und fortzugehen, Matthew wäre unerträglich traurig und wütend. Er wäre bis ins Mark verletzt und Clarence würde ihm Schmerz zufügen, den niemand mehr würde heilen können. Aber würde der Dunkelhaarige ihn verteufeln? Würde er ihm das Recht absprechen, neues Glück mit einem anderen Menschen zu finden? Niemals.
Wenn der Blonde seinen Schwur ihm gegenüber brechen würde, so würde Matthew ihm trotzdem weder Leid noch Tod wünschen.
Das war das Prinzip der Liebe.
Sie richtete sich nicht danach ob die Person die man liebte jene Gefühle erwiderte - dass wusste er sehr genau. Damals im Blauer Hund, hatte er Clarence reinen Wein eingeschenkt und nicht erwartet, dass der Hüne ihn ebenfalls liebte. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und hatte ihm gestanden, wie es in ihm aussah - und Clarence hatte ihn warten lassen, etwas das okay gewesen war.
Cassie wusste, dass er mit diesem Mann zusammengeblieben wäre ob mit oder ohne Liebe von Clarence, er hätte ihn begleitet so lange er es gedurft hätte und hätte Claire irgendwann jemanden kennengelernt... nun auch dann wäre er bei ihm geblieben.
Jäger aber erwarteten Treue ein Leben lang und nannten das dann Liebe oder Brüderlichkeit. In Wahrheit war es aber nichts von alledem. Es war ein Käfig.
"Wie stehts bei dir, hm? Hast nie mit einem Mädel aus einem fremden Clan angebandelt?", fragte er direkt an Barclay gewandt um ihm etwas mehr zu entlocken ohne gleich selbst mit der Tür ins Haus zu fallen.
Lauernd taxierte Clarence seinen Mann, völlig im Unklaren dessen, das aus diesem frechen Mund dringen würde und was nicht. Er wusste wie Matthew war, wie er sein konnte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging und es ihn danach sehnte, seine Meinung kundzutun. Die Konsequenzen waren ihm dann gleich, wie etwa ihm Kerker zu landen dafür, einem Kinderschänder eins aufs Maul gegeben zu haben. An sich war diese Haltung löblich und der Blonde würde sich wünschen, es gab den ein oder anderen Menschen jener Sorte mehr auf der Welt – vielleicht wäre sie dann eine bessere und nicht ganz so rau, wie sie sich derzeit präsentierte.
Aber es war das eine für ein paar Tage im Kerker zu landen. Etwas anderes war es, eine Horde Jäger im Nacken sitzen zu haben für die er sowieso schon vogelfrei war wenn er nicht auf dem Hunters Case auftauchte, ein Umstand der sich noch negativer präsentieren würde wenn er plötzlich mit einem Kerl im Schlepptau verschwunden war, der sich gegen die Traditionen und den Kodex der Jägerschaft ausgesprochen hatte.
Es war gut für Cassie, dass er zwar unterschwellig das Fehlen seiner Zustimmung kund tat, gleichzeitig aber offerierte, sich an die fragwürdigen Zeremonien halten zu würden, wenn das den Clanfrieden aufrecht erhielt. Das letzte was sie derzeit gebrauchen konnten war ein kleiner Rebell in ihrer eh schon rebellischen Runde, der das restliche Gefüge zusammenbrechen ließ.
„Regeln sind nun mal Regeln“, echote Claire die Worte seines Begleiters und machte ihm somit klar, dass seine konträre Meinung kein Problem für sie sein würde, wenn er nicht aktiv zwischen irgendetwas grätschte. Tatsächlich gab es bei den Hinrichtungen nicht ausschließlich nur Jubelschreie, sondern ebenso Enthaltungen; für manche waren es Freunde die dort oben standen, Geliebte oder echte Brüder und Schwestern im Geiste, eine Verbundenheit die weit über einen Schwur hinaus ging wie jene Bruderschaft, die ihn etwa mit dem Pomadengott-Trottel verband.
Da Matthew nicht verstand oder nicht verstehen wollte warum Clarence ihm seine Pfeife entgegen gehalten hatte, lehnte er sich schließlich wieder auf seinem Sitzplatz zurück und nippte selbst ein paar Mal am Mundstück, wobei einige rauchblaue Kringel seinen Mund wieder verließen.
Kam man nicht aus einer Gesellschaft in der von Rache getriebene Gewalt alltäglich war oder war man nicht selbst von diesem Gefühl ungestillter Wut ergriffen, ganz sicher wirkten derartige Handhabungen solcher Problemfälle radikal und wenig Brüderlich. Es war schwer sich damit anzufreunden oder den Sinn dahinter zu sehen, eine Hürde die für Clarence nie existiert hatte – damals zumindest nicht.
Nachdem er begriffen hatte nicht im Fegefeuer gelandet zu sein, im Hauptquartier dieses Clans nicht in der Hölle zu sitzen und für seine Sünden bestraft zu werden, hatte er nur jenen einen Ort gekannt. Die freie Welt da draußen, mit freier Entscheidungsvielfalt und offenen Möglichkeiten, sie war ihm kein Begriff gewesen nachdem er fast zweieinhalb Jahrzehnte von klein auf unter den Fanatisten verbracht hatte. Er hatte gedacht, all die blutrünstigen Regeln und erbarmungslosen Konsequenzen müssten so sein, immerhin hatte er das Leben nie anders gekannt. Nachdem er seine Wahrnehmung für diese Leute geöffnet hatte, war es ihm sogar erstaunlich leicht gefallen, sich den neuen Werten und Normen hinzugeben.
Sich Fremden zu verschließen, andere für ihre Sünden gegenüber der Gemeinde und dem höheren Zweck büßen zu lassen, all das war ihm nicht fremd gewesen. Es war eine Art Leitfaden gewesen mit dem er sich auskannte und an dem er sich hatte festhalten können um Fuß zu fassen und irgendwie war es ein wenig wie nach Hause kommen gewesen in eine neue Welt, in der er nun zu leben hatte. Was hätte er auch schon mit sich anfangen sollen irgendwo in der Stadt oder in einem Dorf, wo er niemanden kannte und nichts hatte?
Er hatte seine Länder verloren, sein Hab und Gut, alles was er kannte und jeden, den er mal geliebt hatte. Im Clan zu sein hatte ihm neue Bekanntschaften verschafft, ein neues Ich das er sich hatte aufbauen können auf den Trümmern seines alten Lebens. Was geblieben war, war neues teils radikales Gedankengut gewesen, mit dem er das alte hatte ersetzen können und irgendwie war das dem alten Clarence damals leichter gefallen, der weit mehr von Furcht und fehlendem Selbstvertrauen geprägt gewesen war als jener Clarence, der vor Monaten seinem eigenen Anführer am helllichten Tag das Leben genommen hatte.
Auch er selbst war nicht einer Meinung mit Nagi gewesen was dessen Regeln anging, aber wenigstens hatte er in seinem Fluch eine passende Ausrede gefunden um so zu tun, als würde er sich daran halten.
„Bin kein Kind von Traurigkeit, ich hab durchaus schon mal mit der ein oder anderen Mieze angebandelt“, unterstrich er die freundliche Umschreibung des Neuankömmlings, indem er mit seinen Fingern ein paar Anführungszeichen in die Luft malte und dafür von Adrianna ein genervtes Augenverdrehen erntete. Man sah ihr an, dass der Grat zwischen anbandeln und abblitzen schmal zu sein schien, eine Tatsache an der Cameron sich nicht störte. „Deshalb weiß ich trotzdem wo mein Zuhause ist. Bonnie und Clyde kamen ja auch nicht aus unterschiedlichen Clans, sondern aus dem Gleichen. Wenn ich jetzt mit Addy anbandeln würde-“ „Würg!“, tat jene ihre Meinung dazu kund und schien den Ekel ob dieses Gedankens durch einen Schluck aus ihrem Glas hinab spülen zu müssen, „…oder mit dem Holzkopf hier- aua!...“
Voller Unverständnis über all diesen Widerstand hier am Tisch und den Fuß, der ihn gerade voller Widerspruch getroffen hatte, rieb er sich übers Schienbein und blickte kurz zwischen den beiden Besagten umher die gerade so taten, als hätten sie mit ihm einen schlechten Fang zu erwarten – etwas das gar nicht stimmen konnte, immerhin war er ja wenigstens ein dekoratives Exemplar von Mann, damit war schon mal die halbe Miete gewonnen wie er fand.
„Jedenfalls vergesse ich dann doch nicht den Rest meiner Truppe, die auf mich zählt, und laufe einfach weg. Wenn ich Bock hab Bauer zu spielen, helfe ich draußen bei den Anderssons auf dem Acker aus und wenn ich Spaß dran hab Vater, Mutter Kind zu spielen, ist die Hütte Zuhause auch groß genug. Nagi hat ein Kind mit seiner Alten im Clan groß gekriegt und ein anderer von uns hat in Falconry Gardens unten in der Stadt auch eine Hütte mit Kindern und seiner Frau stehen, die keine Jägerin ist.
Wenn es dir also darum geht, dass du Angst hast irgendwann deine Mrs. Perfect zu finden“ – man hörte ihm deutlich an, dass ihm das Konstrukt dieser Weltanschauung ein wenig lächerlich vorkam, er sie aber nicht grundsätzlich verteufelte – „dann bitte… bring die Kleine mit. Ist noch niemand erschossen worden weil er Schmetterlinge im Bauch hat oder seinen Schwanz nicht in der Hose lassen konnte. Wir sind alle nur Menschen.“
„Wag ich bei dir manchmal zu bezweifeln“, nahm Clarence ihm murmelnd den Wind aus den Segeln und warf Adrianna einen skeptischen Seitenblick zu, die hinter seinem Rücken die Bedienung heran winkte, um nochmals eine Runde Schnaps zu bestellen. Das Wasser hier in Mexiko musste wohl heilende Kräfte besitzen wenn sie nach einem halben Glas schon wieder der Meinung war, sie konnte nun wieder loslegen.
Der laue Sommerabend barg eine eigenwillige Stimmung für die kleine Gruppe. Sie waren keine Freunde und würden es vielleicht auch niemals werden, bedachte man wie allergisch Adrianna auf Matthew schon reagiert hatte.
Trotzdem war die Lage noch nicht soweit eskaliert, als das sich unüberwindbare Gräben aufgetan hätten und dass das so blieb, dafür musste besonders Cassiel einiges tun, immerhin war Clarence ein akzeptiertes Mitglied des Clans. Dass Matthew die dargebotene Pfeife nicht genommen hatte, war eine Art stiller Protest und eine unausgesprochene und dennoch erkennbare Anti-Haltung dem gegenüber, was der Blonde ihm erzählt hatte.
Er wusste, dass Clarence einst wirklich so gedacht hatte und der Blonde wiederum wusste, dass Matt nie im Leben verstehen würde wie man derartige Strukturen für sich selbst annehmen konnte.
Wären die Dinge nicht so, wie sie nun einmal waren, der Dunkelhaarige hätte seine Abneigung noch deutlicher verbalisiert als er es eh schon getan hatte. Und dann würden an diesem Tisch vermutlich wahrlich bald die Fetzen fliegen.
Aber wenn er sich zu sehr auflehnte, würde bei den beiden Pappnasen noch die berechtigte Frage aufkeimen, warum er denn überhaupt den Kestrels beitreten wollte, wenn er von Jägern so wenig hielt. Aus diesem Grund verkniff er sich weitere Kritik.
Sie brauchten die beiden um rechtzeitig bis zum Hunters Chase dort zu sein wo man sie erwartete und er brauchte ihr Vertrauen, um etwas Rückendeckung zu haben wenn sie in Falconry Gardens eincheckten. Aus diesem Grund tat Cassie gut daran, seine Ablehnung und sein Unverständnis nicht weiter zum Ausdruck zu bringen und selbigem auch keinen Nachdruck zu verleihen.
Für einen impulsiven Menschen wie ihn, der ein massives Problem mit Ungerechtigkeiten und drakonischen Strafen, sowie Autoritäten hatte, war das keine leichte Übung. Aber er wusste, dass er sich zusammenreißen musste, wenn sie wollten, dass ihr Plan aufging. Barclay indes sprang wie erhofft auf den ausgeworfenen Köder an und begann, von sich und dem Clan zu erzählen. Von seinen Techtelmechteln, von den Möglichkeiten Vater, Mutter, Kind oder Bauer zu spielen. Davon wie die Dinge dort liefen, dass sie alle nur Menschen waren und keiner dafür erschossen wurde.
Wahrscheinlich wurden Bonnie und Clyde gehängt dafür, dass sie Menschen waren. Aber so gallig er auch war, so nötigte sich Cassie dennoch ein Schmunzeln ab, als der Andere getreten wurde. Ein Lächeln, dass so echt war wie eine drei Dollar Banknote der Alten.
„Das ist es nicht. Ich bin schon verheiratet.“, erwiderte er trocken, als die Elster Mrs. Perfect ansprach und dass er keine Angst haben müsste diese eines Tages mit zu den Kestrels zu schleppen.
In Wahrheit war es genau umgedreht - sein Mr. Perfect schleppte ihn geradewegs in den Clan. „Und ich hab einen Bruder, einen richtigen Bruder. Als wir klein waren, ist er weggegangen und hat mir versprochen zurückzukommen. Dass ist jetzt..über zwanzig Jahre her.“, er betrachtete Barclay und warf auch Adrianna einen Blick zu.
Hatten die beiden Geschwister? Vermutlich nicht, denn sonst wüssten sie, dass die Regeln denen sie folgten Bullshit waren, zumindest was die zur Richtigkeit der Hinrichtung betrafen. „Ich hätte allen Grund wütend zu sein und laut der Logik dieser Regel auch das Recht, ihn zu töten oder ihm den Tod zu wünschen. Aber...“, er leerte das Glas vor sich und schüttelte den Kopf nachdem das brennende Getränk seine Kehle hinabgeflossen war. „Aber ich wünsche ihm, dass er irgendwo sein Glück gefunden hat. Dass er lebt und noch lange leben wird, dass er kein schlechtes Gewissen wegen mir hat sondern weiß, dass ich ihm von allem nur das Beste wünsche.“
Und dass war es, was Brüderlichkeit ausmachte. Ganz egal was David getan oder nicht getan hatte, Matthew liebte ihn damals wie heute und es würde keinen unverzeihlichen Fehler geben können, der daran etwas änderte.
So war es auch mit Clarence - den er auf gänzlich andere Weise liebte als seinen Bruder, aber nicht minder bedingungslos. Es gab kein denkbares Szenario, bei dem Matthew Clarence den Tod wünschen würde. Dieser Mensch war der Grund weshalb er überhaupt noch lebte und kein Fehltritt würde es rechtfertigen, dass Matthew ihm Böses wünschte oder antat.
Was die zwei Jäger vergaßen oder was man ihnen ausgetrieben hatte zu bedenken war, dass Liebe bedingungslos war. Sie war nicht geknüpft an Regeln.
Das Prinzip ich bin dein Bruder so lange du die Regeln achtest war Blödsinn.
„Na wie auch immer...was war euer Grund, euch den Kestrels anzuschließen, hm?“, wechselte Matthew schließlich das Thema und bestellte für sich einen Humpen Wein, statt Adriannas Beispiel zu folgen und sich an dem scharfen Schnaps gütlich zu tun.
„Clarence‘ Geschichte kenn ich.“
Ohne zu fragen und mit einer Selbstverständlichkeit die ihresgleichen suchte, langte Cassiel nun über den Tisch und stibitzte sich nachträglich die Pfeife aus Clarence‘ Hand und von dessen Lippen um nun doch einen Zug zu nehmen.
Wie immer schmeckte die Mischung aus Kräutern, Gräsern und Wurzeln eigenwillig und intensiv. Nach Wald und irgendwie auch nach Blättern...nicht unangenehm, aber doch schon ziemlich stark. Cassie verzog das Gesicht und hustete kurz einmal auf, machte aber keine Anstalten die Pfeife zurück an ihren Besitzer zu übergeben. Stattdessen nahm er das glatte Mundstück zwischen die Lippen und lehnte sich damit wieder zurück, mit dem Rücken gegen die Wand.
Der Abend war bisher besser verlaufen als er geglaubt hatte, auch wenn es durchaus Diskrepanzen gab und es bereits einmal ziemlich laut geworden war. Trotzdem saßen sie noch alle beisammen am Tisch, hatten sich soweit wieder beruhigt und waren einander noch nicht an die Gurgel gegangen. Das war, gemessen am Temperament von ihm selbst und Adrianna nicht selbstverständlich und konnte schon als kleiner Erfolg gewertet werden.
Das, was Matthew über sich, beziehungsweise die Rolle die er spielte, verriet, war in diesem Moment vielleicht noch gewichtiger als das, was er verschwieg – und er ahnte es noch nicht einmal, das sah man ihm an.
Schweigsam betrachtete Adrianna den Neuankömmling, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und griff nach einem der übrigen Gläser des ganz sicher Schwarzgebrannten. Sachte setzte sie die Lippen am Rand an, ließ sie von der klaren Flüssigkeit benetzen und verengte nachdenklich die Augen während sie den jungen Kerl an ihrem Tisch musterte, bevor sie sich das ätzende Gesöff ohne zu zögern hinab kippte.
Auch Cameron zog seine Schlüsse aus dem Gesagten und senkte seinen Blick auf die Hände seines Nebenmannes ab, die sich am Wein und mittlerweile auch der Pfeife des Blonden gütlich taten. Im Schein der flackernden Kerzen, die mittlerweile beinahe als einziges noch die Tische erleuchteten, konnte man einen breiten Ring erahnen der den linken Ringfinger des Dunkelhaarigen zierte und beinahe schon freundschaftlich lächelte der trainierte junge Mann, der nun seinerseits einen Schluck vom Rotwein nahm.
„Irgendwo da draußen hast du eine Perle und trotzdem bist du hier“, fasste er nüchtern die Tatsachen zusammen die der unbekannte Neue in Nebensätzen eingestreut hatte und zuckte mit den Schultern. „So so.“
„So so“, echote im Anschluss die Rothaarige, welche sich kurz darauf hinüber lehnte um Clarence etwas zuzuflüstern, der ihr mit unverständlichem Murmeln antwortete. Ihr entrüsteter Blick dabei sprach Bände.
Die Frage danach, was denn ihrer beider Antrieb gewesen war sich dem Clan anzuschließen, blieb noch offen – beinahe so, als könne sich Matthew das nicht selbst beantworten nach der Vorlage, die er gerade geboten hatte.
Ein kurzes Schweigen legte sich über den Tisch, Zeit in der Claire seinen Blick über die Pfeife wandern ließ die Cassie noch beschlagnahm hielt und über den Ring der in der Dämmerung des Abends kaum zu erahnen war, von dem der Hüne aber ganz genau wusste, wie er an Cassies Hand aussah. Nur zu gut konnte er sich in diesem Moment in seine beiden ehemaligen Gefährten hinein versetzen und die Schlüsse ziehen, welche auch sie zogen.
Die Vorstellung, dass dieser Ring nicht zu ihm gehörte sondern zu irgendeiner die da draußen auf den jungen Kerl wartete, gefiel Clarence überhaupt nicht. Obwohl er wusste, dass der Frechdachs ganz alleine zu ihm gehörte und sie die Story der weit entfernten Ehefrau vorhin noch selbst zusammen auf ihrem Zimmer ausgemacht hatten, versetzte ihm das lapidare Das ist es nicht, ich bin schon verheiratet einen ungeahnten Stich ins Herz. Es war das eine sich Storys über diese Kahlua und diesen Gonzales anzuhören, die einstmals zu Matthews Leben gehört hatten noch lange bevor der Bär ein Teil dessen geworden war. Etwas ganz anderes war es plötzlich, sich da draußen eine handfeste Claire oder Anna oder Mary vorzustellen, die sie beide just in diesem Augenblick unwiderruflich seinem Ehemann angedichtet hatten.
Äußerst unzufrieden damit, dass er seinen Partner auf imaginärer Ebene von sich freigegeben hatte, langte nun der Schamane seinerseits nach einem der Schnäpse um sich nicht nur die Kehle, sondern auch seine Erinnerung von einer derartig wartenden Frau frei zu brennen.
Es war erst Cameron, der nach diesem eigentümlichen Moment des Schweigens schließlich wieder die Stimme erhob.
„Weißt du, es gibt drei verschiedene Typen von Menschen die Jäger werden wollen. Dreieinhalb, wenn du von den Kestrels ausgehst“, fasste er zusammen wie die Dinge lagen. „Die erste Gruppe sind die Outlaws. Haben irgendwas verbrochen, wurden von der Gesellschaft ausgegrenzt und suchen einen Weg sich in eine andere zu integrieren, wo sie ihre Energien anderweitig einsetzen können, ohne dafür den Kopf zu riskieren. Die zweite Gruppe sind die, denen einfach unglaublich langweilig ist und die was anderes erleben wollen als das, was sie bisher kennen. Die mehr vom Leben erwarten und den Nervenkitzel brauchen. Die Übrigen sind die, denen was angehängt wurde und die deshalb nicht dorthin zurück können, wo sie herkommen. Und die Null Kommer Fünfer…“
Nachdenklich leckte er sich über die Lippen, bevor er sie mit einem weiteren Schluck Wein befeuchtete.
„Die sind auf Nagi Tanka getroffen, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Da du nicht wie einer wirkst, der auf diesen Mann getroffen ist, Matthew… was ist deine Geschichte, mh? Jemand der verheiratet ist, lässt nicht aus Abenteuerlust seine Perle alleine Zuhause zurück, um so einem wie Sky zu folgen. Selbst dann nicht, wenn er ihm was schuldig ist“, fasste er seine Schlüsse mit einem leichten Nicken gen Besagtem zusammen. Der Jüngere hatte was von Eskorte gefaselt und davon, dass die schweigsame Wand ihm das Leben gerettet hatte. Deshalb ließ man aber nicht für den Rest seines Lebens seine Alte zurück.
Adrianna blickte indes ihren Nachbarn noch immer an, als habe man ihr gerade aus heiterem Himmel heraus ins Gesicht getreten, eine Geste auf die Clarence nicht weiter einging. Stattdessen lehnte sich nun auch der Blonde zurück und betrachtete Matthew abwartend, während er die Arme vor der Brust verschränkte.
Es war fraglich, ob es wohl ratsam war eine Runde von Verschwörern nach ihrer eigenen Geschichte zu fragen die ganz offensichtlich in einem Mordkomplott geendet war, wenn man noch nicht das volle Vertrauen dieser Leute für sich gewonnen hatte. Bislang hatte Cassie keinen eigenen Grund genannt warum er Jäger werden wollte; die einzige Erklärung war, dass Clarence ihn mitgenommen hatte weil er fähig und loyal war. Gut kochen und gutes Aussehen alleine trieb einen nicht in die Arme der Jäger und wenngleich Barclay lediglich letzteres zu Eigen war, so war das auch bei ihm nicht der einzige Grund bei den Kestrel zu sein.
Seine kleine Randbemerkung bezüglich seiner Ehe, sorgte einen ausgedehnten Moment lang für Schweigen am Tisch.
Lediglich mit einem Soso wurde darauf eingegangen und doch spürte Matthew, dass die Information in den beiden fremden Köpfen für einiges Rattern sorgte.
Warum, dass war offensichtlich immerhin passte eine Ehe so augenscheinlich gar nicht mit dem Dasein als Clan-Anwärter zusammen.
Für gewöhnlich zogen Eheleute zusammen, setzten Kinder in die Welt und lebten ein Leben wie ihre Eltern zuvor.
Die Frau hütete den Nachwuchs und sorgte für ein wohnliches Heim, der Mann verdiente den Lebensunterhalt.
Dieses Bild war geläufig und genau deshalb, diente es Matthew auch als Vorlage für seine Geschichte.
„Ich nehme also an, ihr seid alle drei auf Nagi Tanka gestoßen.“, fasste er zusammen, nachdem Cameron ihm von den dreieinhalb Arten von Jäger-Anwärtern der Kestrels erzählt hatte.
Viel wusste Matthew nicht über diesen Kerl, weil Clarence nicht gern von ihm sprach und Matt ihn auch nie zu mehr genötigt hatte. Aber schon aus den wenigen Worten des Anderen zu dem Thema, wurde deutlich, dass Nagi Tanka ein Mann gewesen war, der die Leben anderer zu beeinflussen gewusst hatte. Und zwar nicht zum Positiven.
„Der Kerl scheint sich mit den falschen Leuten angelegt zu haben, wenn ich mich hier umsehe...“ - die drei lebten immerhin noch, während der Lehrmeister des Blonden schon längst tot war.
Niemand, noch nicht einmal Cameron, reagierte darauf und ließ sich aus der Reserve locken, was Matt dazu verleitete erneut an der Pfeife zu ziehen.
Unbehaglich rutschte er auf seinem Sitz etwas hin und her und signalisierte damit eine gewisse Unsicherheit, die man niemandem in seiner Situation verübeln konnte.
„Ihr Name ist Grace...“, fing er schließlich an nur um gleich darauf schon wieder gespielt zu zögern. „Wir haben auf der Ronokee‘s Ranch oben beim Lake Michigan gelebt, ausgeholfen und na ja...“, er winkte ab in einer typischen Geste die besagte, dass es einerlei war, was sie sich damals gedacht hatten.
„Der alte Saufkopp dem die Ranch gehört hat, hat angefangen mit irgendwelchen Landstreichern Geschäfte zu machen... und eh du dich versiehst, bist du mitten drin und statt Ställe auszumisten und Besorgungen zu erledigen, ziehst du mit diesen Leuten rum...die du wohl Outlaws nennst. Wenn ich es nicht getan hätte...hätten sie Grace was getan.“, er zuckte die Schultern, schwieg kurz erneut und sprach langsam weiter.
„Eine Weile hab ich mit denen gearbeitet und gutes Geld verdient, aber für Gracie ist Geld nicht alles und auf Dauer ist dieses Leben nichts für uns. Wir wollen ein Zuhause, irgendwo ankommen, Kinder...versteht ihr?“- diese Wünsche waren so herrlich banal wie sie wahr waren und noch nicht einmal der größte Skeptiker am Tisch - Adrianna -würde gegen diese Ziele etwas haben können.
„Clarence hat mir erzählt, dass man bei euch die Chance hat, die eigene Familie nachzuholen und außerhalb unterzubringen. Für uns wäre das die Chance. Sie wäre in Sicherheit, ich könnte für sie sorgen und als Jäger ist man zumindest kein Outlaw mehr.“
Die Geschichte von Grace, kam Matthew so flüssig und glaubhaft über die Lippen, dass es keinen rationalen Grund gab an ihr zu zweifeln.
„Und nachdem mich mein letzter Job fast umgebracht hat, ist es an der Zeit sich beruflich zu verändern.“ - niemand aus dem Clan würde lange genug seine Gesellschaft genießen um sich je nach Grace zu erkundigen, sie würde immer das bleiben was sie schon jetzt war: sein Hirngespinst, eine perfekte Illusion, ein Mensch ohne Ecken und Kanten. Und soweit wie möglich bekam sie Attribute seiner echten Liebe zugewiesen. Dieses Bild der perfekten kleinen Familie, würde ihn wahrscheinlich bei den Skeptikern zu einem naiven Trottel machen - aber das war in Ordnung. Er wurde lieber unterschätzt als taxiert.
„Auf Clarence zu treffen war Glück und das er mir irgendwann von dem Clan und den Möglichkeiten erzählt hat, sogar noch größeres. So oft werden wir die Chance nicht kriegen neu anzufangen. Und auch wenn mir nicht gefällt, dass ich sie dann oft nicht sehen werde...ich muss jetzt an sie denken und was für sie das beste ist.“
Der junge Mann kratzte sich an der Schläfe und über die Narbe, die Sally Mitchell ihm beschert hatte.
„Seither zieh ich mit ihm rum und wir haben angefangen uns gegenseitig den Hals zu retten.“, mit einem freundschaftlichen Lächeln auf den Lippen blickte er zu Clarence. Dieser schaute so finster drein, dass sein Blick der vorherrschenden Nacht Konkurrenz machte. Die Geschichte von Gracie schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen, aber auf derartige Befindlichkeiten konnten sie aktuell einfach keine Rücksicht nehmen.
Cassie konnte sich wahrlich auch besseres vorstellen, als mit den beiden hier zu sitzen und ihnen irgendwelche Lügen aufzutischen.
„Soweit also meine Geschichte.“, er lehnte sich wieder nach vorne und hielt die Pfeife auffordernd Barclay entgegen.
„Jetzt seid ihr dran.“
Clarence mochte Grace nicht. Ja, sie war ihm sogar regelrecht verhasst, obwohl er sie noch gar nicht richtig kannte.
Er sah sie schon vor sich, einem von Gott gesandten Engel auf Erden gleich. Wenn ihr Mann zurück kam, erkannte sie ihn schon von weitem, immerhin hatte sie tagelang am Fenster gesessen und nach ihm Ausschau gehalten, während sie die Kleider ihrer Herrin flickte oder draußen im offenen Stall saß um die Kühe zu melken.
Nach getaner Arbeit legte Grace ihr schönstes Kleid an das in der Sonne strahlte und ihren makellosen Leib tanzend umspielte, der noch nicht auseinander gegangen war durch eine Niederkunft, sondern die blühende Jugend widerspiegelte. Ihre Fingerkuppen waren etwas rau von der harten Arbeit und den Nadelstichen, welche sie sich dann und wann beim Sticken einfing, aber das störte ihren Mann nicht – für ihn hatte sie die weichsten Hände auf Erden, besonders dann, wenn sie sie ihm verliebt in den Nacken legte, um ihn eng an sich zu ziehen.
In sanften Falten schmiegte sich das Kleid in ihren einladenden Schoß und umspielte weich ihre Brust, während sie die Weide hinab gelaufen kam, um ihren Geliebten wieder in Empfang zu nehmen. Ihre blonden weiten Locken brachen das Sonnenlicht in hunderte kleine Strahlen und verliehen ihr den Anschein eines Heiligenscheins, der einem Engel wie ihr würdig war. Ihre Augen, funkelnd hell voller Naivität so als kenne sie die dunklen Abgründe des Lebens nicht so lange ihr Matthew nur bei ihr war, pulsierten vor Liebe während sie ihm entgegen kam und sich in seine Arme schmiegte. Der Verlust, der sie all die Wochen seiner Abwesenheit geschmerzt hatte, war vergessen just in diesem Augenblick.
Gottverdammt.
Clarence hasste dieses verflucht perfekte Miststück Grace Reed.
„Weißt du, du musst uns deine Story nicht erzählen, wenn du nicht willst“, wurde Clarence schließlich von Cameron aus seinen mordlustigen Gedanken gerissen und konnte gerade noch rechtzeitig erkennen, wie der eine dem anderen die Pfeife abnahm, um sich nun selbst daran gütlich zu tun. Wie Cassie auf die Idee gekommen war sein wertvolles Stück nun einfach so selbstverständlich herum zu reichen und dann vor allem noch an so einen Trottel wie Barclay, war ihm ein Rätsel – aber wenn es die Sozialisation mit seinen beiden Kameraden voran brachte, sollte ihm das recht sein. Alles war besser als Grace.
Beinahe gleichgültig zuckte der Pomadengott mit den Schultern, der zwar nicht unzufrieden mit der Geschichte des Neuankömmlings schien, aber der die Lücken darin dennoch erkannte, die Matthew nicht vollends glaubwürdig machten. Entweder er hielt sich mit Absicht zurück oder er log – beides wäre ihm nicht nur zuzutrauen, sondern auch verständlich.
Abwägend blickte Cameron über den Pfeifenrauch den er produzierte zu dem Blonden hinüber, als könne er von diesem mehr Informationen erwarten oder eine Antwort, die seine Skepsis aufwog. Sie kannten sich lange genug um zu wissen, dass sie einen Fremden nicht grundlos anschleppen und in ihr Komplott einweihen würden; vor allem dann nicht, wenn am Ende der Reise eine Runde voller Verschwörer wartete.
Auch Adrianna musterte den Neuankömmling ungeniert ausdauernd, wobei sie sich in Schweigen hüllte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Clarence Sky einen verliebten Trottel über Monate mit sich herum schleppte um dessen Familie in Falconry Gardens anzusiedeln – sich auf der Reise womöglich noch ständig Storys aus dem heilen Eheleben oder dem Heimweh nach Grace anhören müssend – war in etwa genauso hoch wie die Wahrscheinlichkeit in den matschigen Straßen der Slums von Rio Nosalida eine festgetretene Goldmünze im Schlamm zu finden. Sicher, ausschließen konnte man es nie, aber die Wahrscheinlichkeit war schon sehr sehr…sehr…sehr… gering.
Ausgerechnet die Rothaarige war es schließlich, welche die Stille durchbrach, indem sie leise brummend die Stimme hob.
„Er hatte eine Vorliebe dafür, sich kleine, folgsame Schäfchen heran zu züchten. Loyal bis ins Mark, weil er dir das Gefühl gegeben hat, in ihm die Lösung für all deine Probleme zu sehen. Ein Schirmherr bei dem du sicher bist. Ein aufmerksamer Schäfer, der seine Herde zusammen hält und über sie wacht“, wisperte sie leise und spürte dabei den intensiven Blick von Cameron auf sich, der ihr durch den Pfeifenrauch entgegen blickte. Alleine bei dem Gedanken an diesen Mann, von dem sie bereits monatelang befreit war, bildete sich eine Gänsehaut auf ihren Armen, die den rotbraunen Flaum sich erheben ließ. „Er hat sich selbst den Namen Nagi Tanka gegeben, was so viel bedeutet wie Großer Geist. Und genau das war er auch… ein Geist. Der sich in deine Gedanken schleicht wenn du schwach und verletzlich bist. Der dich von innen heraus lenkt, deine Gefühle beeinflusst und dich blind macht für das, was Wahrheit und Realität ist. Wenn du mit ihm zusammen bist… siehst du die Welt wie durch ein trüb gewordenes Glas. Du weißt was dahinter liegt, aber bei den Details musst du dich auf das verlassen was er dir erzählt, denn nur er ist groß genug um über die trübe Glasscheibe hinweg zu sehen. Du weißt zwar, dass du das Glas einschlagen könntest, um dir selbst ein Bild zu machen… aber Nagi Tanka erinnert dich daran, dass du dich genauso gut an den Scherben schneiden und daran verbluten könntest. Warum es dann also überhaupt versuchen, wenn du dich in der Gewissheit wiegen kannst, ihm genauso gut vertrauen zu können.“
Es war keine rhetorische Frage die sie stellte, denn wer diesen Mann kannte, der wusste, dass man das nicht brauchte. Wenn er sprach, wirkte er erhaben und weise. Es gab nichts, worauf er keine plausible Antwort besaß und die Lösungen, die er präsentierte, waren simpel aber nachvollziehbar – selbst für die ungebildeten kleinen Lämmer, die all jene einst gewesen waren, die in seine Fänge geraten waren.
Schweigend kratzte Clarence mit seinem Daumennagel über die dunkel abgewetzte Tischplatte vor sich und hielt sich darauf beschränkt die Maserung des Holzes zu mustern, während Adrianna ihren Erinnerungen an jenen Mann nachhing, dessen letzte Atemzüge er selbst miterlebt hatte. Matthew wusste, dass es ihm in seinem Leben vor diesem hier nicht anders ergangen war. Nagi Tanka war aufgetaucht, hatte sein Leben durch Blut und Feuer vernichtet und ihm schließlich durch den Schleier seines Schockzustands eingeflüstert, die einzige Möglichkeit zu überleben wäre, indem er ihm folgte.
„Er hat eigentlich immer die gleiche Masche abgezogen“, erlöste Cameron schließlich seine Schwester vom Leid ihre Erinnerung laut auszusprechen und wandte sich wieder etwas mehr dem halbwissenden Fremden zu, während er einen tiefen zum von der Kräutermischung nahm.
„Spät am Abend klopft er an deine Tür und fordert sich sein Recht auf eine Übernachtung ein. Er ist wortgewandt, nett… wirkt gebildet, aber nicht überheblich. Er ist nichts Besseres als du oder ich. Er plaudert nicht, aber wenn er spricht, gehen seine Worte durch deine Brust hindurch bis tief in deine Seele. Ich denke er beobachtet dich und wägt ab, ob er dich gebrauchen kann um dich zu einem seiner Jünger zu machen. Und wenn sich die Situation bietet, biegt er sich die Dinge so, wie sie ihm am besten passen.“
Es fiel den beiden hörbar schwer, sich durchweg so auszudrücken, als sei dieser Mann Vergangenheit und nicht mehr Teil von dieser Welt. Vielleicht weil es so schwer vorstellbar war, dass Clarence ihn wirklich getötet hatte – vielleicht aber auch deshalb, weil er zu lange in den Köpfen anderer Menschen gewesen war. Womöglich hatte er über Jahre hinweg in jedem von ihnen einen kleinen Teil hinterlassen, um auf diese Weise ewig weiter zu leben, selbst über seinen Tod hinaus.
„Ich hab damals mit meiner Verlobten Brielle in einem zerfallenden kleinen Dorf gewohnt. Früher haben wir uns um ihren kleinen Bruder gekümmert nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie ist mit ihm zum Dorfbrunnen um Wasser zu holen und haben herum geblödelt wie immer, aber an einem Tag hat er das Gleichgewicht verloren und ist hinein gefallen. Hat sich an einem der Steine auf dem Grund den Kopf entzwei geschlagen und war sofort tot. Brielle war seit dem Vorfall… seelisch krank. Sie war nicht mehr dieselbe, ganz so als… wäre sie innerlich nicht mehr da.
Irgendwann spät abends hat dieser Jäger an der Tür geklopft und sich sein Recht auf Übernachtung eingefordert, also hab ich ihn gewähren lassen, weil er mir nicht das bisschen Hütte was wir haben auch noch verwüsten sollte. Er hat gesehen wie ich mich um sie gekümmert und bettfertig gemacht habe und kam schließlich nach der Vorgeschichte und ihrem Zustand zu dem Schluss, dass sie von einem Dämon besessen sein musste, der im Brunnen gehaust haben und durch das Blutopfer freigesetzt sein musste. Weil ich dumm war und voller Hoffnung, hab ich ihm geglaubt.
Brielle hat den Exorzismus natürlich nicht überlebt in ihrem geschwächten Zustand. Aber Nagi Tanka… ohh, der. Der hat seine Chance gesehen, von Anfang an. Und natürlich war ich weiterhin dumm. Einsam und dumm, aber alles wurde etwas erträglicher, nachdem ich meine Sachen gepackt habe um mich ihm anzuschließen. Weil ich ja vielversprechend wäre, wie er gesagt hat, und gute Dinge damit anstellen könnte, damit es anderen Leuten nicht genauso geht wie mir.“
All das war schon viele Jahre her, er war jung gewesen und hatte es nicht besser gewusst – aber leider alt genug um alles abzubrechen was er hatte und sich in die Fänge dieses beinahe schon Sektenführers zu begeben.
Mit einem eigentümlichen Schmunzeln auf den Lippen, das bezeugte, man musste ihn nach all den Jahren nicht mehr bemitleiden für das was in der Vergangenheit lag weil er darüber hinweg war, zog er nochmals an der Pfeife bevor er sie wieder Matthew entgegen hielt.
„Sky bringt dich nicht mit und weiht dich ein, nur weil du irgendwo deine Grace sitzen hast und sie in Sicherheit bringen willst. Aber ist okay… irgendwann bekomme ich schon noch raus was es ist, dass ihn so neugierig auf dich macht, Reed. Irgendwann.“
Entgegen von Matthews Vermutung, glaubten ihm die zwei um die es hier ging, seine kleine Geschichte nicht so wirklich.
Zwar konfrontierte ihn niemand offen mit seiner Lüge und es bezichtigte ihn auch keiner die Unwahrheit zu sagen, trotzdem stellte Barclay am Ende seiner Ausführung sehr klar, dass er ihm die Geschichte von Grace nicht wirklich abkaufte.
Und Adrianna hatte ihn während seiner Erzählung keine Sekunde aus den Augen gelassen, so als wolle sie in seinen Kopf schauen und so seine Schwindelei enttarnen.
Matthew, für den eine solche Niederlage ungewohnt war - war er seinen Gesprächspartnern doch zumeist überlegen - wahrte die Fassung und zuckte lediglich die Schultern.
Sich jetzt zu rechtfertigen, zu verteidigen oder neue Details hinzuzufügen würde ihn nicht glaubhafter machen, im Gegenteil sogar.
Er war sich sicher gewesen, dass Adrianna und Barclay ihm seine kleine Lovestory abkaufen würden - dass hätten 98% der Leute ohne Umschweife getan und er hatte in seiner Arroganz offenbar nicht geglaubt, dass die beiden zu den anderen 2% gehörten.
Diese Fehleinschätzung gegenüber Clarence‘ alten Kameraden, führte aber nicht zu Verschwiegenheit und Ablehnung, wie es leicht hätte passieren können.
Matthew wusste zwar nicht, warum Adrianna und Barclay ihm überhaupt Dinge erzählt hatten, wenn man doch gewisse Zweifel an seiner Geschichte hegte, aber nun war er es, der ausgerechnet Adrianna nicht mehr aus den Augen ließ, seit sie das Wort ergriffen hatte. Es war eine ganz bestimmte Formulierung gewesen, die dem Dunkelhaarigen das Gefühl gab, jemand habe ihn unvermittelt fest in den Bauch geboxt.
„Er hatte eine Vorliebe dafür, sich kleine, folgsame Schäfchen heran zu züchten.“
Die Worte, die einen Mann beschrieben, der sich als rostiger Nagel entpuppte und der sich selbst als aufmerksamer Schäfer verkaufte.
Vielleicht war es ungerecht, aber Matthew schenkte der tragischen Geschichte von Barclay nicht so viel Aufmerksamkeit wie er sie Adrianna zukommen lies. Die junge Frau mit den unzähligen verblichenen Tattoos und dem hitzigen Gemüt, hatte bei ihrer Erzählung ganz anders geklungen als er sie bisher kennengelernt hatte.
Nicht tough, nicht selbstbewusst, nicht laut und fordernd.
Sondern kleinlaut und verletzt.
Die sichtbare Gänsehaut auf ihren Armen konnte kaum der nicht vorhandenen Kühle der Nachtluft geschuldet sein und so bildete sich in Matthew die Gewissheit, dass Nagi Tanka ein ganz besonderer Schlag von Mensch gewesen sein musste, der sein Zeichen auf ihr und auch auf Cameron sowie Clarence hinterlassen hatte.
„Das mit Brielle tut mir leid... sehr leid sogar.“ - entgegnete Matthew schließlich und sah von Adrianna weg und hin zu dem Dunkelhaarigen. Seine Anteilnahme war aufrichtig, wenngleich sie vielleicht ein bisschen zu spät kam. Es war nicht fair, dass er Cameron nicht auf die Weise zugehört hatte, wie es anständig gewesen war, aber der Pomadengott sollte nicht glauben, sein Schicksal sei Matthew völlig egal. Denn das war es nicht.
Ein Blick in Matthews Gesicht offenbarte allerdings einen merkwürdigen Ausdruck, so als würde er urplötzlich vor irgendetwas Angst haben.
Cassiel nahm die dargebotene Pfeife zurück, aber nur um sie sofort Adrianna hinzuhalten.
Die wenigen Dinge die er über Nagi Tanka wusste, hatten ihn nie dazu gebracht sich diesen Menschen wirklich vorzustellen.
Das Bild dass er von ihm hatte, war undeutlich gewesen. Ein Name, ein paar Charakterzüge. Er war manipulativ, hinterhältig, bösartig. Alles Attribute, die seine Ermordung rechtfertigten - und die ihn trotzdem immer hatten farblos wirken lassen. Blass, wie ein Ungetüm von dem andere ihm erzählten.
Adrianna verpasste jenem Ungetüm plötzlich Farbe, eine Fratze, Klauen. Durch die Art wie sie gesprochen hatte, ihre Wortwahl, ihre leise und abwesende Stimme.
Sie machte aus Nagi Tanka ein Monster, wie Matthew es auch schon kannte - nur das sein Monster sich gütiger Mann genannt hatte.
Es war natürlich nur ein Zufall, dass das was die beiden von ihm erzählten sich nach eben jenem Mann anhörte, der sich nachts gern an Matthews Bett in dem großen Schlafsaal gesetzt hatte um ihn von den Schäfchen zu erzählen die er sich hielt.
Trotzdem fühlte Matt sich erinnert und überfordert und beides versuchte er zu kaschieren, so wie er es immer tat - in dem er plapperte.
„Du solltest einen Zug nehmen... Sky‘s Mischungen lassen einen zwar irgendwann mit toten Kaninchen reden, aber sogar das ist manchmal besser als... naja...“, er zögerte einen Moment, unschlüssig wie er den Satz beenden sollte und sagte schließlich: „...sich zu erinnern.“
Adrianna, hatte auf ihn bisher nur wie ein trotziges und überspanntes Weibsbild gewirkt. Eines, dass herumzickte wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sie sich vorstellte.
Und auch Cameron hatte an Tiefe hinzugewonnen. Beide waren durch den selben Menschen geprägt worden - und auch Clarence, der auffällig stumm geworden war, war eines seiner Opfer.
„Ich weiß nicht viel über Nagi Tanka, aber ich weiß genug um sicher zu sein, dass er verdient hat was... naja was ihr untereinander ausgemacht habt. Ich werd euch nicht anschwärzen oder euch irgendwo verpfeifen. Eher beiß ich mir die Zunge ab.“, versicherte er zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit.
„Und wenn ihr mir das nicht glaubt, dann fragt Clarence. Es gab unterwegs mehr als einmal die Gelegenheit dass wir uns gegenseitig ans Messer liefern. Wir hatten mal ein Zusammentreffen mit einem gewissen Feld voller Riesenspinnen...“, vielsagend blickte er zu Clarence, der noch immer die Holzmaserung studierte, als könne ihn das Muster zurück in die Vergangenheit transportieren, als sie zwei noch unter sich gewesen waren.
„Ein bestimmter Jäger fand, dass es eine clevere Idee sei hineinzugehen. Das Ende der Reise war...“, widerwillig deutete er auf seine linke Gesichtshälfte, die bis zum Ende seines Lebens vernarbt sein würde. „...und Claire, der...fast gestorben wäre.“ - wie groß Matthews Angst um ihn gewesen war, davon würde der Blonde nie vollkommen eine Ahnung haben.
Matthew hatte bis zu jenem Moment, da er den scheinbar leblosen Körper seines Liebsten gefunden hatte, gar nicht gewusst welches Maß an Verzweiflung und Entsetzen er empfinden konnte.
So grausam es auch klingen mochte: aber lieber hätte er Kain und Abel dort drinnen verloren, als das sein Mann sich in derartige Gefahr begab.
Wieder schüttelte er den Kopf und hob die Schultern, die Pfeife noch immer auffordernd Adrianna entgegenhaltend.
„Wie auch immer... ich werd euch nicht verraten.“