Doktor Bennetts Haus
18. Mai 2210
Am sechszehnten Mai wurden die Phasen in denen er schlief kürzer, immer wieder kam er zu sich und immer weniger desorientiert war er dabei. Sein Sprechvermögen war besser geworden, seine körperliche Verfassung insoweit stabil, dass Bennett unter Vorbehalt den Zustand des jungen Mannes von lebensbedrohlich auf kritisch stufte.
Was genau passiert war, hatte Cassiel bisher in den wenigen klaren Episoden nicht gefragt und niemand seiner Besucher hatte ihm von sich aus erzählt was sich ereignet hatte.
Heute, am achtzehnten Mai, auf den Tag eine Woche genau nach dem Steinwurf von Sally Mitchell, hatte sich die Stimmung in dem kleinen Städtchen noch immer nicht wieder beruhigt. Die beiden Schwestern waren nach wie vor in Gewahrsam, es verging kein Tag ohne das mindestens eine Handvoll Leute in Bennetts Haus kamen um Matthew Genesungswünsche zu übermitteln und mit Clarence über das Geschehen zu reden - allerdings so, dass Cassiel aus den Erzählungen nicht schlau wurde, auch wenn er ihnen lauschte.
Es war bereits früher Nachmittag und der junge Mann lag im Bett, den Kopf auf die gesunde Seite gedreht sah er zum Fenster und betrachtete die Färbung des Himmels. Clarence, der eigentlich nie von seiner Seite wich, war auch jetzt bei ihm.
„Hm…“, machte Cassiel unvermittelt nachdenklich und wandte schließlich seinen Blick - der auf der einen Seite noch immer verschwommen war - gen Clarence. Bisher hatte er sich weder selbst zu Gesicht bekommen, noch erfragt was passiert war - etwas das sich nun änderte. „Claire? Erzähl mir…was war, wer ist diese Sally und was…hat sie getan?“
Mit einer Geduld wie sie alleine dem jungen Jäger vorbehalten war, saß Clarence Sky auf seinem Stuhl neben dem Krankenbett und kämpfte. Schon seit zwei Tagen.
Was für andere ein Leichtes war und wo man ihn für seine Unfähigkeit belacht hätte, war für den blonden Berg von einem Mann bitterböser ernst. Nicht etwa Tränen waren es, mit denen er seit gestern rang, und auch keine Sorge um seinen Partner, dem es von Tag zu Tag zwar geringfügig, aber dennoch besser zu gehen schien.
Clarence kämpfte mit Nadel und Faden und zwar einen bitterbösen Kampf, aus dem bislang weder Verlierer, noch Gewinner hervor gegangen war.
So schlimm die Dinge auch um Matthew stehen mochten und so wenig man dem Älteren Fähigkeiten zu dessen Versorgung zugestanden hätte, hätte der Christ mit nur einem Wort seine eigenen unfallbedingten Defizite erwähnt, so verbissen hatte er auch seit dem Angriff auf Cassie damit hinterm Berg gehalten.
So lange es seinem Mann nicht gut ging, spielte es keine Rolle was mit ihm selbst war. Hätten sie sich auf einer verlassenen Insel anstelle einer kleinen Stadt befunden, hätte Clarence sich ebenso alleine um den anderen kümmern müssen – warum sollte er es im Haus von Doktor Bennett also anders halten?
Nein, so weit kam es noch, dass ein Jäger sich mehr Schwäche eingestand als nötig war. Die Blöße vor den Fremden in diesem Örtchen Tränen zu vergießen, um das Leben seines Freundes und Geliebten zu beten und der Mann mit dem halbtoten Partner zu sein, hatte ihm als Ansehensbruch durchaus gerecht. Nun auch noch kundzutun, dass er selbst seit seiner Verletzung im Spinnenfeld nicht mehr ganz auf der Höhe war, kam daher absolut nicht in Frage.
Verbissen hielt der blonde Bär die Unterlippe zwischen die Zahnreihen gesogen, seine Finger zur Stabilisierung aneinander gelehnt und das Ende des Fadens vor dem winzig kleinen Nadelöhr, welches er bereits seit zwei Tagen einfach nicht zu treffen vermochte. Grobe Handgriffe fielen ihm mittlerweile schon einfacher, auch die Versorgung seines Nebenmannes erforderte nicht mehr Geschick als er zu leisten imstande war. Doch die Feinmotorik, dieses winzig feine Garnende und diese verteufelt bescheuerte Nadel… beide hatten sich gegen ihn verbündet, so viel stand fest.
Natürlich konnte er sich auch einfach ein neues Hemd kaufen, nachdem er sein altes an einem hervorstehenden Nagel in Bennetts Haus zerrissen hatte. Aber Kupfer auszugeben für etwas das er in jedem anderen Fall problemlos zusammengeflickt hätte, diese Schmach würde sich der Jäger niemals geben, solange er lebte.
Es war ihm ein lieb gewonnener Zeitvertreib geworden, sein kleiner Kampf, während er an der Seite seines Partners saß und die Stunden und Tage verstrichen. Matthew war zunehmend wacher und fähiger geworden über länger Zeit hinweg die Augen auf zu behalten und sich mit ihm zu unterhalten, aber wie auch schon auf Wanderschaft und unter dem Deck ihres Bootes, ließen sich nicht alle Sekunden mit sinnlosen Gesprächen füllen. Claire hatte sogar schon daran gedacht zur Beschäftigung seiner Selbst endlich seine Gitarre zu stimmen die er in Coral Valley angeschafft hatte, doch solange sein dämliches Hemd nicht genäht war, würde der Koffer mitsamt Musikinstrument tunlichst weiter in der Ecke des Zimmers stehen bleiben, wo er schon seit mehreren Tagen stand.
Abermals setzte er zu finalen Schlag gegen das Nadelöhr an, doch wieder verhinderte das sachte Zittern seiner Finger sobald er sich konzentrierte einen siegreichen Triumpf über sein Vorhaben. Vielleicht würde er es schaffen das Garn beim nächsten Versuch einzufädeln, vielleicht schaffte er es auch nie wieder in seinem Leben – wäre Letzteres wirklich der Fall, dann rappelte sich Cassie hoffentlich schnell wieder auf, damit sie sich alsbald wieder in den häuslichen Tätigkeiten des Alltags miteinander ergänzen konnten.
Die Lippen geschürzt vor Ärgernis über seine eigene Unfähigkeit, kratzte der Blonde sich tonlos mit dem stumpfen Ende der Nadel an der Stirn. Obwohl er schon seit gestern an dieser Sisyphusarbeit saß, war bislang kein einziges Wort des Zorns über seine Lippen gekommen, genauso wie er niemals ein böses Wort verloren hatte, wenn er mit Engelsgeduld den Jüngeren im Lernen neuer Dinge unterstützt hatte.
Erst als nach längerem Schweigen ein leises Brummen aus dem nahen Bett ertönte, schielte Clarence für einen Moment hinüber zu dem dunkelhaarigen Schneewittchen im Krankenbett. Matthew sah nach wie vor fürchterlich aus, verquollen und voller Hämatome. Obwohl er schon viel besser sprach als noch bei seinem ersten Erwachen und auch seine Vitalzeichen mittlerweile stabiler waren, hieß das nicht, dass damit auch Claires Sorgen der Vergangenheit angehörten.
Jeder tiefere Atemzug ließ ihn aufhorchen, fast so als befürchte der Blonde es würde kein weiterer mehr folgen, und auch auf jedes Brummen hin vermutete der Schamane das schlimmste wie Schmerz, oder ein plötzliches erneutes Eintrüben, wenn Cassie längere Zeit schweigsam in seinem Bett lag. Die Nächte – nunmehr die meiste Zeit über wieder gemeinsam in einem Bett verbracht – waren auch noch nicht besser geworden als die davor; sein Schlaf war leicht, zu leicht als dass er erholsam sein könnte, doch der Ältere ihres ungleichen Duos beklagte sich nicht darüber. Solange sein Mann atmete und erwachte, war das wesentlich mehr als man noch vor einer Woche zu hoffen gewagt hätte und über den eigenen Zustand zu sinnieren erschien ihm mehr als ungerechtfertigt angesichts der Lage, in der sein kleines Böckchen sich befand.
„Hm?“, echote der Jägersmann das nachdenkliche Geräusch seines Mannes und erwiderte für einen Moment fragend dessen Blick, bevor er sich erneut Nadel und Faden zuwendete. Langsam aber sicher saß sich sein Allerwertester regelrecht platt auf dem harten Holzstuhl den Clarence sich schon vor Tagen vom Schreibtisch der Doktorstochter ans Bett herüber gezogen hatte, aber bevor sein Hemd nicht wieder restauriert war, würde er harren und sitzen müssen.
Dennoch – oder gerade deshalb – ertönte postwendend ein leises „Autsch… ach verdammt!“, kaum da sein Sorgenkind den erfragten Gedanken laut ausformuliert hatte. Seit Tagen schon waren sie beieinander, hatten Besuch kommen und gehen sehen, Gespräche begonnen und beendet – doch nie zuvor in der vergangenen Woche hatte Cassie die Fragen aller Fragen gestellt, die so offensichtlich war wie kaum etwas anderes, das mit seinem kritischen Zustand zusammenhing.
Verdrossen schüttelte Clarence den Schmerz aus seinem Finger, in den er sich vor Schreck mit der Nadel gestochen hatte, bevor er den kleinen, zunehmend blutenden Punkt zwischen die Lippen nahm, ganz so als wäre dies das Allheilmittel überhaupt. Eigentlich wäre es ganz schön wenn dem wirklich so wäre, denn dann hätte er seinen Mann schon längt wieder hergestellt und mit nach Hause nehmen können.
„…wie kommsch‘ du blödslich auf Sally?“, stellte er – wie so oft in letzter Zeit – prompt eine Gegenfrage und blickte wieder unwillig zu seinem Geliebten hinüber, ihn zweifelnd musternd als müsse man sich doch noch ernsthaft Sorgen um seinen geistigen Zustand machen. Der Ausdruck in Claires Augen hatte dabei etwas panisch Abblockendes angenommen, ganz so wie es Eltern vorbehalten war, deren Kinder das erste Mal nach der Herkunft von Babys fragten – ähnlich schlimm war dieser Wissensdurst ja auch, immerhin konnte Clarence sich schönere Gesprächsinhalte vorstellen, als den Tag X Revue passieren zu lassen.
Mit reservierter Miene nahm er den zerstochenen Finger aus dem Mund und wischte ihn kurzerhand an seiner Hose ab bevor er sich erneut Nadel und Faden widmete, ganz so als würde dieses Gespräch keine Fortsetzung finden, zumindest nicht von seiner Seite aus. Doch das hielt den Bären nicht davon ab, seine Stimme doch noch brummend zu erheben.
„Sally ist… ein krankes, dummes Miststück, an dem sich das Karma schon noch rächen wird. Nicht mehr und nicht weniger.“ – Da war sich Clarence ziemlich sicher, immerhin ließ er sich keine Gelegenheit entgehen um Besucher dahingehend aufzustacheln, wie sinnvoll doch ein Urteilsspruch seitens der geschädigten Partei in diesem speziellen Fall war.
Die Mitchell-Schwestern waren beide unterbelichtetes Pack, die fielen durch ihr niedriges Level von Anstand prinzipiell schon unter jedem Recht durch, das von Gesetzesseite her eigentlich auf ihrer Seite stehen müsste. Spielte man solchen Leuten wie denen auch noch zu, würde man damit nur einen Präzedenzfall schaffen, der jeden Hinterwäldler künftig vor seiner eigenen Schuld bewahrte und er konnte sich nicht vorstellen, dass einem rechtschaffenen kleinen Ort wie Cascade Hill City so etwas gefiel. Jedenfalls nicht wenn man davon ausging, wie aufgeregt die Bürger noch immer waren. Täglich klingelten Leute an Bennetts Tür, ständig wurde Claire von jemandem angesprochen wenn er mal mit den Hunden das Haus verließ – einer der Gründe, weshalb er von längeren Spaziergängen derzeit sowieso Abstand nahm.
„Sie hat dir Unrecht getan und deswegen liegst du jetzt hier, während sie im Kittchen sitzt und die Minuten zählt. Konzentrier dich lieber darauf wieder gesund zu werden, statt auf das dumme Weib“, wies Clarence den Jüngeren an und bedachte diesen kurzerhand mit einem mahnenden Blick, ganz so als könne man damit die Sache endgültig beenden, denn nach nichts anderem war dem Bären. Natürlich war ihm klar, dass Cassie sich das so nicht gefallen lassen würde, dass er ein Recht darauf hatte zu erfahren, was mit ihm selbst passiert war. Doch wenn es nach Clarence ging, würde er sich diesen dunklen Tag nicht nochmal ins Gedächtnis rufen wenn es nicht unbedingt sein musste. Er wollte Matthew nicht nochmal vor seinem inneren Auge auf dem Pflaster liegen sehen, mit leerem Blick, von Blut überströmt, halbtot, dank einem Stein, der irgendwo aus dem nirgendwo gekommen war – und alles nur weil er ein Mal im Leben öffentlich dazu gestanden hatte, mit Cassie zusammen zu sein.
Nein, da beschäftigte Claire sich lieber weiter mit der Sonnenseite des Lebens.
„Hast du Hunger? Ich hab heute Mittag auf dem Markt was geholt als ich mit den Zwergen draußen war, ich kann runter in die Küche und uns ein bisschen was warm machen. Wenn wir weiter die Vorräte vom Quacksalber ausbrauchen, schmeißt der uns irgendwann hochkant aus seiner Hütte.“
Der Name Sally war in diesem Zimmer sicherlich schon so oft gefallen wie Menschen ihn besucht und ihm beste Genesungswünsche überbracht hatten.
Sally und Molly und die Mitchell Schwestern das waren alles Begriffe die Matthew schon oft gehört, aber nie selber in den Mund genommen hatte. Der Grund für sein Schweigen war nicht Teilnahmslosigkeit, genauso wenig konnte man es allein auf seine Schwäche schieben, auch wenn diese einen Teil mit dazu beitrug.
Aber hauptsächlich lag es daran, dass ihm klar war, dass er diese Namen kennen sollte. Aber es klingelte einfach nicht bei ihm. Egal wie angestrengt er nachdachte, ihm fiel nicht ein wer diese Sally und ihre Schwester sein sollte, auch kein Gesicht zu den Namen erschien in seinem Kopf. Nichts.
Ausgerechnet er, Matthew Cassiel Sky, der nie einen Namen und das dazu passende Gesicht vergessen hatte, erinnerte sich nicht mehr.
Doktor Bennett kam jeden Tag und fragte ihn aus, er fragte ob er sich erinnern könne wer er war, ob er noch wisse wo er geboren wurde. Er fragte nach allgemeinen Kleinigkeiten - unbedeutend scheinbar - jedoch aufschlussreich für den Mediziner. Die meisten Fragen konnte Matthew beantworten, er wusste wer er war, er wusste mittlerweile auch wieder wo sie sich befanden. Gespräche die man mit ihm führte und Dinge die man ihm sagte, vergaß er nicht wieder, so wie es bei Clarence der Fall gewesen war nach seinem Unfall im Spinnenfeld.
Aber es gab auch Sachen die brachte er nicht mehr zusammen. Seine letzte Erinnerung bevor alles Schwarz geworden war, war die das Clarence sie durch einen Sturm gesegelt hatte und ihm mal wieder furchtbar schlecht gewesen war.
Mittlerweile wusste er aus Erzählungen, dass sie in Cascade Hill City angelegt hatten. Aber er erinnerte sich nicht daran. Weder an ihre Pläne ihre Vorräte aufzustocken, noch an irgendjemanden den sie getroffen hatten. Bennett, der regelmäßig nach den letzten Stunden vor dem Ereignis X fragte, bekam von Matthew immer die selbe Antwort und das befriedigte den Arzt nicht.
Noch weniger aber befriedigte es den jungen Mann, der die Sorge im Gesicht des Mediziners darüber längst bemerkt hatte.
Und noch etwas anderes machte ihm Sorgen: auf seinem rechten Auge sah er nach wie vor verschwommen und nahm Personen oder Gegenstände nur wahr, wenn diese sich bewegten. Er hatte Probleme sich zu konzentrieren und nicht selten - eigentlich sogar permanent - starke Kopfschmerzen. Darüber redete er aber nicht, weder mit Bennett noch mit Clarence. Der Arzt - das hatte Matt schon festgestellt - schob alles auf die Schwere seiner Verletzung und er schien darauf zu hoffen, dass sich alle Symptome von selbst in Luft auflösten mit der Zeit.
Aber was wenn nicht? Was wenn er nicht wieder gesund wurde? Er würde Clarence eine Last sein. Ein Klotz am Bein, der nicht mal in der Lage dazu war sich einzuprägen in welcher Reihenfolge man ein Lagerfeuer machte. Gedanklich war er das hundertmal durchgegangen, aber er war sich nicht sicher wie so etwas ging. Wie oft hatte er schon ein Feuer in der Wildnis gemacht? Er wusste, dass er wissen sollte wie so etwas ging, aber irgendwie fielen ihm manche Sachen einfach nicht ein, egal wie oft er darüber nachdachte.
Wie sollte er mit Clarence die Welt bereisen wenn er ein tumber Trottel war und quasi für alles Hilfe brauchte, selbst wenn es darum ging zu erfahren wer Sally Mitchell war?
Matthew sah den Blonden an, der seit unbestimmter Zeit versuchte einen Faden Garn in ein Nadelöhr hinein zu friemeln.
Erfolg war dem Schamanen dabei trotz aller Geduld noch nicht beschienen, aber Matt konnte ihm nicht helfen, denn seine Finger waren für derartige Feinarbeit nicht zu gebrauchen. Auch so eine Kleinigkeit bei der Bennett sicherlich sagen würde er brauche noch Zeit um zu genesen. Mit etwas Geduld würde bestimmt alles wieder ins Lot kommen.
Aber Matthew wollte nicht geduldig sein.
„Sally ist… ein krankes, dummes Miststück, an dem sich das Karma schon noch rächen wird. Nicht mehr und nicht weniger.“ erklärte Clarence indes, so als wäre dies die Antwort auf Matthews Frage. Der Jüngere blickte seinen Mann weiter an, in seinem Gesicht konnte man deutlich ablesen das er versuchte sich auf diese Information einen Reim zu machen.
„Sie hat dir Unrecht getan und deswegen liegst du jetzt hier, während sie im Kittchen sitzt und die Minuten zählt. Konzentrier dich lieber darauf wieder gesund zu werden, statt auf das dumme Weib.“ Cassiel war nicht sicher ob er das verstehen sollte oder musste, deshalb schwieg er zuerst auch still um sich nicht die Blöße zu geben dümmer zu erscheinen als ohnehin schon.
Es hatte ihn schon reichlich Mut gekostet Clarence überhaupt nach ihr zu fragen, denn das bedeutete das er doch etliche Gedächtnislücken hatte von denen niemand wusste ob sie sich je wieder schließen würden. Es war für Matthew an Grausamkeit kaum zu überbieten seinem eigenen Verstand nicht mehr trauen zu können, unsicher zu sein ob der Dinge die er hörte und abzuwägen ob er sie wohl richtig begriffen hatte oder sich mit einem weiteren Nachfragen als Idiot outete. Sally Mitchell hatte ihm Unrecht getan.
Ein paar Mal ließ er das Gesagte von Clarence gedanklich Revue passieren, versuchte zu verstehen was er damit wohl meinte und getraute sich gleichzeitig nicht, einfach nachzufragen.
Erst als der Blondschopf ihn fragte ob er denn Hunger hätte und anbot etwas zu Essen warm zu machen, wurde Matthew klar, dass Clarence abzulenken versuchte.
Die Dinge, die er über Sally hatte verlauten lassen waren nicht die Antwort auf seine Frage gewesen.
„Kein Essen…“, erwiderte der Dunkelhaarige matt. Ihm war ohnehin schon übel und wenn er sich erbrechen musste, würde er es nicht mal allein aus dem Bett schaffen. Etwas zu essen erschien ihm in Anbetracht dessen wirklich als keine gute Idee.
„Erzähl mir von Sally.“, forderte er stattdessen den Älteren erneut auf, dieses Mal mit etwas festerer Stimme, denn er wollte sich nicht wieder abspeisen lassen. „Erzähl mir was sie getan hat. Ich will wissen warum…warum ich hier bin.“ Sie sollten sich beide auf der Harper Cordelia befinden und über das Wasser gleiten. Stattdessen saß Clarence auf einem Stuhl und versuchte sich in Näharbeiten und er selbst lag herum wie ein nutzloses Scheit Holz und konnte sich an nichts erinnern.
Alle Leute die kamen und gingen redeten auf ihn ein und drückten ihr Mitgefühl aus, viele sprachen auch mit Clarence darüber, dass sie hofften das beide Frauen ihre gerechte Strafe bekommen würden. Von einem Urteil durch die geschädigte Partei war die Rede, aber Matthew konnte sich auch darauf keinen richtigen Reim machen. Soweit er die Dinge beurteilen konnte - und das konnte er gerade nicht sehr gut - war er die geschädigte Partei und deshalb sollte man doch auch mit ihm über alles reden. Aber das Gegenteil war der Fall. Clarence war derjenige der mit den Leuten darüber redete und die Leute wiederum hörten ihm zu, pflichteten ihm bei und wünschten ihm alles Gute. Das verstand Matthew nicht und weil das Verständnis und die Erinnerung bisher nicht zurückgekehrt waren, musste er einfach nachfragen, ganz gleich ob er sich damit der Lächerlichkeit preisgab oder nicht. Nicht zu wissen was passiert war, gleichzeitig die Folgen dessen aber in jeder wachen Minute zu spüren, war schlimmer als jeder körperliche Schmerz. Zu wissen das etwas mit einem nicht stimmte, ohne sich erklären zu können was genau und wodurch es geschehen war, war nicht weniger als seelische Folter.
Qualvoll pochte seine rechte Gesichtshälfte von alledem ungerührt, ein konstantes Pulsieren welches den jungen Mann selbst im Schlaf manchmal wimmern und stöhnen ließ und das auch jetzt allgegenwärtig war. Ausgelaugt von der gesamten Situation schloss der junge Mann seine Augen für einen Moment, so als würde der Schmerz dadurch besser werden, obgleich er längst wusste das dass nicht stimmte. Es fühlte sich falsch an hier zu liegen, es fühlte sich falsch an sich nicht erinnern zu können. „Niemand redet wirklich mit mir.“, sagte Matthew schließlich leise und traurig. Er öffnete seine Augen wieder, bedachte Clarence mit einem kummervollen Blick und fügte an „Bitte rede wenigstens du mit mir…“
Es war ganz und gar nicht so, als würde Clarence seinen Mann nun aufgrund einer Kopfverletzung fortan für einen tumben Trottel halten, noch war es der eiserne Wille des Bären, das Geschehene ganz und gar tot zu schweigen.
Sicher, es gab weitaus Erquicklicheres, über das man würde miteinander reden können. Es gab sicher hunderttausende von Dingen, über die sie hätten plaudern können – angefangen von Cascade Hill City, kleine Lästereien über Doktor Bennet oder einfach nur das Weltgeschehen draußen vor der Tür, halbwahre Geschichten, welche durch die Seemannsleute an den Hafen getragen wurden.
Warum also seinen geliebten Freund, der sich momentan auf ganz anderen Ebenen im wahrsten Sinne den Kopf zerbrach, auch noch mit Details über Sally Mitchell belasten? Details, die Clarence sowieso nicht kannte?
Vielleicht sperrte sich Clarence tatsächlich gegen jenes Thema, vermutlich redeten sie aber auch einfach nur aneinander vorbei – denn der Blonde wusste anfangs tatsächlich nicht genau, worauf sein Nebenmann hinaus wollte.
Wer war Sally Mitchell denn groß? Hatten sie die junge Frau überhaupt mehr als oberflächlich kennengelernt, dass sich eine solche Frage lohnte? Und reichte Cassie derzeit etwa nicht alleine das Wissen, dass er am Kopf verletzt worden war? Was gab es da noch groß am Thema durchzukauen?
Mit aufeinander gepressten Lippen konzentrierte sich der Schamane auf Nadel und Faden, rutschte abermals am Öhr ab und versuchte es erneut. Aus Sicht der Wissenden war das Geschehene immerhin völlig banal. Es hatte keinen ausufernden Streit gegeben, keine Schlägerei, sie hatten beide weder einem Ortsansässigen etwas getan, noch war ein wütender Mob auf die beiden Ortsfremden losgegangen, weil sie sich in der Öffentlichkeit nicht den örtlichen Gepflogenheiten entsprechend benommen hatten.
Aber das war eben die Sicht der Wissenden.
So unbedeutend das Geschehene auch war, es war nicht mehr in der Erinnerung seines Mannes vorhanden und die Unwissenheit war es, die diesen letztlich zu der festeren Wiederholung seiner Frage trieb – und Clarence erst richtig erkennen ließ, Matthew könne weit mehr in seinem Zustand vermuten als es in Wahrheit der Fall war.
Es waren die leisen und traurigen Worte des Jüngeren, die den kräftigen Jäger erstmals wieder von seiner erfolglosen Arbeit aufblicken ließen und ihn die derzeitige Welt aus den Augen seines Mannes erkennen machte. Der helle Blick war aufmerksam geworden, nachdenklich, und man konnte dem Größeren durchaus ansehen, dass er sich innerliche die Worte seines Geliebten über die Zunge gehen ließ.
Zurückblickend – und da hatte Matthew recht – redete man zwar mit ihm. Darüber dass die Wunde an seinem Kopf gut aussah, dass sich sein Zustand vermutlich bald verbessern würde, dass alles noch Zeit brauchte. Dass sich Matthew keine Sorgen machen sollte, weil er Glück gehabt habe.
Aber Glück wobei?
Er war von Sally Mitchell am Kopf verletzt worden. Aber inwiefern? Was hatte sie getan und womit?
Die blonden Brauen zogen sich nachdenkend zusammen, als Clarence die Behandlungen durch Doktor Bennett vor seinem geistigen Auge Revue passieren ließ. Tatsächlich war… nie wirklich… die Rede von einem Wurfgeschoss gewesen. Oder einem Stein. Oder einem einfachen Bruch seines schönen Schädels. Man hatte das Wort Hirnverletzung ein paar Mal fallen lassen und dass diese mittlerweile ausgeschlossen sei, aber was hieß das schon groß? Genauso gut konnte Cassie noch ein halber Pfeil im Kopf stecken oder eine Handvoll Schrot, das seinen halben Kopf weggepustet hatte und ihm diese stärksten Schmerzen verursachte. War der Arzt – der sonst so gut mit seinen fachlichen Worten jonglierte – eigentlich jemals auf den Punkt gekommen?
So sehr er sich auch das Hirn darüber zerbrach, Clarence fiel es partout nicht ein und je länger sich das Schweigen durch das kleine Zimmerchen zog und er darüber nachdachte, desto mehr verstand er augenblicklich die Vehemenz, mit der sein Mann sich gerade versuchte Informationen zu verschaffen. Matthew hatte sich ja noch nicht einmal gesehen mit seiner rasierten Schläfe, den Fäden im Kopf und seinem völlig verquollenen Auge. Wie sollte man sich da ein Bild von dem großen Ganzen schaffen und die Puzzleteile des Vergangenen zusammensetzen können, wenn man nicht mal wusste womit man sich den Angriff von Sally Mitchell verdient hatte, wie auch immer dieser ausgesehen haben mochte?
„Du hast völlig recht. Entschuldige, ich… es redet wirklich niemand wirklich mit dir, das… ist mir so nicht bewusst gewesen.“
Bedrückt schweifte sein Blick wieder hinab auf Garn und Nadel, doch anstatt schweigend seinen sinnlosen Versuchen wieder nachzugehen, legte Clarence sein Werkzeug schließlich auf dem Nachtschränkchen neben dem Krankenbett seines Gefährten ab. Es war nicht fair die Dinge über Matthews Kopf hinweg behandelt zu haben und so schwer sich der Jäger noch vor wenigen Monaten getan haben mochte seine eigenen Versäumnisse einzugestehen, beziehungsweise überhaupt die Dinge aus der Sicht seines heutigen Mannes zu betrachten, umso gewissenhafter verstand er sich heute darin, jenen Pflichten mit voller Aufmerksamkeit nachzugehen.
Sich unsicher räuspernd, rutschte der Blonde von seinem Stammplatz des Stuhles hinab auf seinen zweiten mittlerweile eingesessenen Stammplatz, nämlich den Fußboden vor Matthews Lager. Von oben auf Cassie hinab zu reden hatte er sich schon seit ihrer Ankunft im Haus des Arztes kein einziges Mal gewagt, denn die Schwäche seines Zustandes machte seinen Ehemann in Clarence‘ Augen weder unmündig, noch weniger ernstzunehmend. Seit ihrer Eheschließung befanden sie sich mehr oder weniger auf Augenhöhe und damit das auch so blieb, würde sich der Schamane es nicht wagen, mit ihm zu reden als sei Cassie nichts mehr als ein kleines Kind.
„Das letzte, an das du dich erinnerst, ist der Sturm in der Nacht… hab ich recht?“
Behutsam verschränkte der Bär seine Arme auf der Bettkante seines Partners und bettete sein Kinn darauf, den schönen Dunkelhaarigen für einen weiteren Augenblick schweigsam musternd. Oft genug hatte er die unzähligen Fragen Doktor Bennetts selbst mit anhören müssen und die Antworten seines angeknacksten Böckchens waren doch immer die gleichen geblieben, so sehr der Quacksalber sich auch bemüht hatte.
„Wir haben im Morgengrauen hier in Cascade angelegt. Dir war wie immer nach so einem Turn höllisch schlecht und ich war an dem Morgen furchtbar genervt von dir, weshalb ich noch im Hafen mutwillig einen Streit angezettelt hab“, fasste der Übeltäter ihre Ankunft in wenigen Worten zusammen und hob fragend seine Brauen, abwartend ob bei Cassie irgendetwas klingelte. Dem schien nicht so zu sein, aber das hielt den Bären nicht davon ab, Nähe suchend nach dem Arm seines Partners zu greifen und diesen mit in seine Verschränkung zu verweben.
Den Kopf mehr auf Cassie als auf sich selbst gebettet, fuhr er schließlich fort: „Sally Mitchell, eine einfach gestrickte Fischerstochter, hat uns dann unterbrochen, weil wir auf dem Platz ihres Vaters angelegt hätten. Ich war… zu genervt um mich auch noch mit so etwas zu beschäftigen, also hab ich mich auf ihr Niveau herab gelassen und mich als einer von ihrem Schlag dargestellt. Und weil ich noch immer Streit gesucht hab… hab ich meine Gedächtnisprobleme der vergangenen Wochen auf dich umgemünzt und dich ihr als hirngeschädigten Trottel vorgestellt. Quentin und Feivel…? Sagt dir das irgendwas?“
Noch immer blickte er fragend zwischen den kandisfarbenen Iriden hin und her, doch nicht etwa verzweifelt, so als müsse die Antwort auf seine Frage nun auf Biegen und Brechen Ja lauten. Es gab wichtigere Dinge an die sich Matthew zu erinnern hatte – nämlich ihre Liebe, ihre Hochzeit, wer sie waren und vielleicht sogar noch, dass sie derzeit mit einem Boot unterwegs waren.
Alles andere, das stand für Clarence weit weit hintenan.
„Wären wir nicht mitten im Streit gewesen, wär’s eigentlich ganz lustig gewesen die Leute am Hafen zu verarschen. Ich schwör’s, das wäre echt Stoff gewesen aus dem man hätte was machen können. Aber du fandest das in dem Moment überhaupt nicht witzig. Also dachte ich, ich glätte die Wogen, indem ich Sally sage, wie wir zueinander stehen. Also hab ich… dieser Wildfremden gesagt, dass ich mit meinem bekloppten Feivel verheiratet bin“, erklärte er Matthew leise das Geschehene und wenngleich der Ausgang jener Entscheidung ganz offensichtlich nicht der allerbeste war, so änderte das nichts an der Tatsache, dass sein Geständnis auch heute noch Gewicht trug – zumindest dann, wenn man Clarence kannte. „Das hat tatsächlich unseren Streit beendet, aber diese Sally… schien es nicht zu begeistern, dass Quentin sich plötzlich als Homo entpuppt.“
Das war kein Wort welches Clarence jemals von sich aus in den Mund genommen hätte, wenn es darum ging sich selbst zu beschreiben. Aber gerade fühlte es sich so an, als wäre er seinem ramponierten Mann genau das schuldig. Immerhin schien es sie rückblickend erst in diese Lage gebracht zu haben.
„Erinnerst du dich an… irgendetwas davon…?“
Mit einem Mal, von einer Sekunde auf die Nächste, änderte sich die Haltung des Blonden und mit ihr auch die Art wie er Matthew ansah. Wo vorher eine Art…wohlmeinende Blockade geherrscht hatte, machte sich plötzlich Einsicht breit und Clarence schien zu verstehen, dass Matthew seit dem Geschehen im Trüben tauchte.
Er wusste, dass ihm Dinge klar sein sollten, weil sie offenbar jedem klar waren - aber egal wie lange er grübelte und ganz gleich wie sehr er sich anstrengte, am Ende blieben die prägenden Ereignisse ohne Kontur. Er war da, man sprach mit ihm, aber niemand fand ungeschönte Worte, niemand war direkt oder bezog ihn mit ein. Sie redeten mit ihm, als würde ein falsches Wort dafür sorgen können, dass er zurück ins Koma fiel und wohlmöglich doch noch verstarb. Sally Mitchell war zwar in aller Munde, aber diese Frau war auch zu einem Phantom geworden. Ein Wesen ohne Gesicht und ohne Charakter.
Er würde sie nicht erkennen, wenn sie in dieses Zimmer kam und bis zum heutigen Tag wusste er nicht was genau passiert war, weil alle nur um den heißen Brei herumredeten. Alle. Bis auf Clarence, der nun den ungepolsterten Holzstuhl verließ, Nadel und Faden zur Seite legte und sich ihm widmete.
Cassiel wusste, dass dieser Mann in den Tagen seiner Bewusstlosigkeit nicht von seiner Seite gewichen war, er wusste dass er ihn liebte und achtete und auf ihn aufpasste. Es gab nicht viel was man dem blonden Jäger vorwerfen konnte, denn im Grunde waren seine Beweggründe und Handlungen allesamt schrecklich nobel. Und dennoch: Wenn man Clarence eines vorwerfen konnte, dann war es sein beharrliches Schweigen zu den Vorkommnissen die Matthew ereilt hatten. Ein Schweigen, welches so unüberwindbar gewesen war wie früher. Aber nun brach er die Stille, kniete sich neben das Krankenbett des jungen Mannes und suchte einen passenden Anfang.
Matthew musterte dabei jede Regung in dem bekannten Gesicht, jede Bewegung der schönen Lippen, jeden Blick der graublauen Augen. Es war merkwürdig Clarence so nah bei sich zu haben, auch wenn es nicht das erste Mal war das er bei ihm kniete und auch wenn er die Nächte neben ihm schlief. Vielleicht behagte es Matthew nicht, weil er es nicht gewohnt war das man sich nach unten begeben musste um ihm nah zu sein, vielleicht lag es daran, dass man ihn behandelte wie ein rohes Ei. Er wusste es nicht, nur das er sich daran noch nicht gewöhnt hatte war ihm klar.
“Das letzte, an das du dich erinnerst, ist der Sturm in der Nacht…hab ich recht?“
Es war eine rhetorische Frage die der Blondschopf stellte, denn von den Gesprächen mit Bennett wusste er bereits wie die Antwort ausfallen würde. Trotzdem nickte Matthew kaum merklich und bestätigte damit, was ohnehin schon bekannt war.
Still und mit einer Geduld die Matthew sonst nicht allzu oft eigen war, erwiderte er den Blick seines Mannes und wartete bis dieser bereit war fortzufahren. Mit leiser und vertrauter Stimme fing der Wildling schließlich an zu erzählen. Er skizzierte den Morgen nach der stürmischen Nacht, beschrieb was gewesen war und was er empfunden hatte.
Er war genervt von ihm gewesen. Warum, das sagte er nicht, aber Matthew konnte sich vorstellen, dass er daran nicht unschuldig gewesen war. Einen Streit anzuzetteln sah Clarence nicht unbedingt ähnlich und Matthew versuchte angestrengt sich zu erinnern. Cascade Hill City… aber der Name war so beliebig wie alles andere. Er erinnerte sich nicht daran wie es an jenem Morgen ausgesehen hatte, oder was ihrem Streit vorausgegangen war. Nicht einmal winzige Erinnerungsfetzen wollten sich einstellen, so als hätten all diese Dinge nie existiert.
Clarence griff schließlich nach Matthews Arm und verschränkte ihn mit dem Eigenen, eine liebevolle Geste, deren Gewicht Matthew nur allzu bewusst war und die gerade in diesem Moment gleichzeitig beklemmend wirkte, weil klar war, dass es allmählich ans Eingemachte ging. Noch immer schweigend lauschte der Dunkelhaarige seinem Vertrauten und Geliebten, während der Name Sally Mitchell fiel. Schon oft hatte er die Silben gehört und nie hatten sie etwas in ihm ausgelöst das einer Erinnerung ähnelte und auch jetzt war das nicht anders.
„Quentin und Feivel …?“, wiederholte Cassiel leise, langsam und nachdenklich. Es klingelte nicht wirklich etwas bei der Erwähnung dieser Namen, aber mittlerweile überraschte ihn das nicht mehr. Es war deprimierend nichts von dem zu wissen, was geschehen war. Aber noch deprimierender war es, weil Clarence ihn so voller Hoffnung ansah. Matthew wollte sich erinnern – und zwar mindestens so sehr für Clarence wie auch für sich selbst.
Natürlich war das unsinnig und natürlich würde Clarence niemals verlangen das er sich erinnerte, aber trotzdem wollte Matthew es tun – für ihn – um die Lücke zu schließen die nicht hätte da sein dürfen.
“…Also dachte ich, ich glätte die Wogen, indem ich Sally sage, wie wir zueinander stehen…“
Matthew leckte sich vorsichtig mit der Zungenspitze über seine Lippen und überlegte inwieweit das zu dem passte was er von seinem Angetrauten wusste. Und wenn er ehrlich war, dann passte es gar nicht. Clarence war ein vorsichtiger Mann, ein misstrauischer Mann und obendrein einer von der Sorte der gern den Mantel des Schweigens über alles breitete, was ihn persönlich betraf.
Seit wann erzählte er von seiner Beziehung zu ihm, einem anderen Mann? Freilich, Matthew hatte keinen Grund das Gesagte anzuzweifeln, aber wenn er es nicht gerade aus dem Mund von Clarence persönlich hören würde, dann würde er beachtliche Zweifel hegen, erst recht als der Hüne das Wort “Homo“ in den Mund nahm und damit Quentin umschrieb - den er ja selber verkörperte.
Irritiert und unverständig sah Cassiel den Älteren an, unschlüssig was er von alledem halten sollte, denn es erklärte noch immer nicht was passiert war.
„Du hast ihr gesagt wir sind verheiratet?“, fasste er das Ganze kurz zusammen, denn in der Tat war das beinah das Unglaublichste an der ganzen Geschichte - noch unglaublicher sogar als die Gewissheit nur knapp mit dem Leben davongekommen zu sein. „Erinnerst du dich an… irgendetwas davon…?“ Nein, nein er erinnerte sich nicht und es war nicht nötig das auszusprechen, denn das Seufzen des Kleineren war in dieser Hinsicht deutlich genug. Letztlich - das war jedoch mit jedem Wort des Hünen offensichtlicher geworden - war Sally Mitchell nicht die Einzige die für das verantwortlich war, was mit ihm geschehen war. Zumindest nicht aus dem Blinkwinkel eines ganz bestimmten Blondschopfes im Raum.
Matt, der bisher nicht viel gesagt hatte zu alledem, löste nun seinen Arm aus der Verschränkung die Clarence aufgebaut hatte. Aber nicht etwa weil er erkannt hatte welche Wendung die Geschichte nehmen würde und weil er damit eine Teilschuld bei dem Größeren erkannte, sondern weil er den Kummer des Jägers spürte. Ein Kummer der nicht nötig war, denn völlig egal was Sally Mitchell auch versucht hatte: es war ihr nicht gelungen. Geschwächt aber zielstrebig legte der Kleinere seine Hand auf Clarence’ Schopf ab und strich behutsam über das weiche Haar hinweg. „Mhhh…“ machte er leise und nachdenklich, obgleich er zum ersten Mal seit der Verbesserung seines Zustandes nicht darüber nachdachte was ihm passiert war, sondern darüber wie es dem Anderen ging.
„Ich…erinnere mich n-nicht. An n-nichts davon…“, gab Cassiel zu, wobei er nicht aufhörte mit den Fingern durch das Haar seines Liebsten zu kämmen. „Aber es klingt…als wäre dieser Quentin…ein mutiger Kerl.“ Cassiel lächelte vage und bedachte seinen Geliebten mit einem nachsichtigen Blick. „Du hast n-nichts…falsch gemacht, ich weiß…du denkst das…Versuch nicht…versuch nicht, mir einzureden es wäre anders.“ Was auch immer passiert war, es war nicht passiert weil Clarence dieser Fremden gegenüber offen gewesen war. Es war passiert, weil diese Fremde sie nicht mehr alle hatte.
„Ich kenne dich…und ich sage…ich sage dir…Du hättest ihr nichts sagen können… was mich glücklicher macht, als d-das was du…ihr gesagt hast. Und es ist mir…egal wohin es geführt hat.“
So banal Matthews Nachfrage zu dem Gesagten auch war, so sehr konnte sie einem in ihrer Quintessenz einen Stich ins Herz versetzen.
„Du hast ihr gesagt wir sind verheiratet?“ – ganz als wäre diese Tatsache ein Staatsgeheimnis das nicht ausgeplaudert werden durfte und von dem absolut und zu jeder Zeit massiv unwahrscheinlich war, es könne Clarence je über die Lippen kommen.
Natürlich stimmte es, das alles stimmte, was dem verwunderten Blick des Jüngeren eine umso deutlichere Daseinsberechtigung gab. Aber wie traurig war es nur, dass man so eine lächerliche einfache Sache nicht vom Jäger erwarten konnte?
„Sieh mich nicht so an als hätte ich dir gerade erzählt, dass sämtliche Wiesen sich während deines ausgedehnten Schönheitsschlafs rosa verfärbt hätten. Ist ja furchtbar…“ - Verschwiegenheit und Vorsicht hin oder her – in der Theorie sollte ihr Beziehungsstatus der Ehe doch eigentlich das schönste an ihrer Beziehung zueinander sein und nichts, über das man sich schäme sollte.
Letzteres tat Claire ganz sicher nicht, was seiner Vorsicht jedoch keinen Abbruch tat. Die Begründung zu se
iner Einstellung, warum genau das so war, lag zum Glück noch atmend und lebend vor ihm im Krankenbett und war der besten Beweis dafür, warum man mit manchen Dingen einfach nicht hausieren gehen sollte.
Unwillig brummte der Bär auf, als sich der bequeme Arm unter seinem Kopf hinweg zog, und am liebsten hätte er ihn sich direkt wieder erhascht und erneut darauf gebettet. Da Cassie derzeit aber noch Schonfrist besaß und sich in der Zeit beinahe alles erlauben durfte, blieb er von dem Zorn seines wilden Barbaren verschont, insbesondere als er die entzogene Nähe durch eine sanfte Liebkosung wettmachte.
Schon seit seinem ersten Erwachen vor einigen Tagen bewies der dunkelhaarige Schönling ein unerwartetes Talent dafür, die Aufmerksamkeit auf seinen Mann selbst dann nicht zu verlieren, obwohl er durch größte Unannehmlichkeiten geplagt wurde. Ehrbar, liebenswert und schier einzigartig war dieses Verhalten, das man bei Clarence nach seinem Unfall im Spinnenfeld nicht gerade hatte wahrnehmen können. Der Jäger war zu jener Zeit in etwa so wählerisch und wechselhaft gewesen wie ein kleiner Junge; zwar dankbar für die Dinge die man ihm bot wenn sie ihm in den Kram passten, seine Umwelt allerdings wie eh und je durch Schweigen strafend, sobald ihm etwas quer ging. Lediglich die Nähe zu Matthew war es, die er kein einziges Mal verschmäht hatte und die er auch heute genoss, wenngleich doch eigentlich der Jüngere für seinen Zustand hätte Trost und Streicheleinheiten erfahren müssen.
Zweifelnd spähte der Blonde zu seinem Mann hinüber, die spitze Nase leicht gereckt um sein Haupt der kosenden Hand näher entgegen zu bringen.
„Und ich weiß, was du versuchst mit deinen Worten zu bezwecken“, konterte der Bär murmelnd, immerhin war das nichts Neues zwischen ihnen. Der Christ sah die Welt in Schwarz und Weiß und sein Heidengatte durch eine strahlend rosarote Brille, aber ihre anschließenden Diskussionen hatten noch nie Farbe in die monochrome Welt Clarence‘ bringen können. „Wer sagt eigentlich, dass ich Schuld habe? So weit war ich noch gar nicht. Vielleicht hast du dich auch ganz alleine in diese Lage gebracht, wie sonst auch.“
Nicht selten hatte Cassie es schon geschafft sich in die schlimmsten Schlägereien zu verstricken – etwa weil er die jungfräuliche Tochter eines Vaters entehrt oder gar eine verheiratete Frau verführt hatte. Wie oft der Schamane gerade in den ersten gemeinsamen Monaten blutige Nasen bei seinem Gefährten versorgt hatte, wusste er gar nicht mehr zu sagen. Fremde Liebschaften mochten seit ihrer Heirat passé sein, aber so glücklich wie sich Matthew auch heute bei jenen Worten beschrieb, wer sagte dem kleinen Taugenichts, dass er nicht selbst beim Erbosten Sally Mitchells auf jene losgegangen war und sich damit auch seinen Zustand eingeheimst hatte?
So sehr Clarence auf dieser dreisten Unterstellung weiter hätte herum reiten können, ganz im Sinne ihrer sonst üblichen Spielchen, er ließ es dieses Mal sein. Matthew mit solch einem Eingeständnis, einer Fremden gegenüber, glücklich zu machen, das war alles was ihm im Moment etwas bedeutete und das schmale Lächeln unterstrich dies sichtlich, welches sich über seine von Bart eingerahmten Lippen legte.
„Da du, trotz dem wohin es geführt hat, noch in der Lage bist mit mir zu sprechen… lasse ich dir deine freche Annahme ausnahmsweise durchgehen, mein Herz. Ausnahmsweise“, betonte der rechthaberische Bär gönnerhaft, ganz so als sei es selbst einem Halbtoten nicht gewährt, ihm derart zu widersprechen.
Noch etwas weiter zog der Bär seine Nase in eine andere Richtung, sodass die streichelnde Hand schließlich auf dem goldenen Flachs seines Bartes zu liegen kam, wo sie in aller Regel hingehörte.
„Quentin jedenfalls…“, nahm er nach getaner Arbeit den roten Faden des vergessenen Hafenspektakels wieder auf, „…mag ein mutiger Kerl sein, aber er scheint nicht besonders wachsam für die Avancen einer Frau.“ – Dieses Manko traf ebenso auf den oftmals schlauchstehenden Clarence zu, aber das war jetzt mal dahin gestellt.
„Sally hat Quentin ziemlich… unattraktive Angebote bereitet, sollte er jemals zur Vernunft kommen und Feivel in den Wind schießen. Nachdem sie weg war, hab ich dir gesagt dass mir das Ganze nicht gefällt, aber wie immer hat mal wieder niemand auf mich gehört.“
Dass niemand in diesem Fall nur Matthew sein konnte, stand völlig außer Frage und der unterschwellig tadelnde Blick des Bären unterstrich diesen Fakt eindeutig, während er seine Wange an die Hand seines Böckchens schmiegte.
„Deiner unfassbar verschwenderischen Natur entsprechend, sind wir also lieber einkaufen gegangen als uns weiter in Verschwörungstheorien zu verstricken und als wir gerade vom Markt aufbrechen wollten…-“
Tief atmete der Jäger durch, denn so einschneidend wie dieses Erlebnis auch gewesen sein mochte, so furchtbar banal und sinnlos war es gleichzeitig gewesen. Im Prinzip war nichts spannendes Geschehen – keine Auseinandersetzung, kein Kampf, keine große Szene in der Öffentlichkeit. Jedenfalls nicht während der Zeit, als einer von ihnen bei Bewusstsein gewesen war.
Kummer schlich sich erneut in die blaugrauen Iriden des Älteren, denn das Geschehene machte deutlich, wie schnell alles vorbei sein konnte was sie kannten.
Nicht nur Gefahren denen man eindeutig ins Gesicht blickte waren nunmehr ein Übel – Plünderer, Mutanten, schroffe Bergkämme – sondern sogar die zurückgebliebene Tochter eines einfachen Fischers war nunmehr dazu in der Lage alles zu beenden, was sie miteinander hatten.
Die hellen Brauen zusammengezogen, fand Clarence schließlich seine Stimme wieder um fortzufahren: „Ich hab erst nicht verstanden was passiert ist. Eben warst du noch vor mir, und dann… lagst du am Boden, während aus deinem Kopf das Blut nur so gesprudelt ist wie aus einer Bergquelle.“ – Er war schwer am Kopf verletzt worden, genau das, was man Cassie schon gefühlte hundert Mal gesagt hatte.
„Sally Mitchell, das kranke dumme Miststück, hat einen riesigen Stein nach dir geschmissen. Einen Stein“, widerholte Claire eindringlich, ganz so als könne man diese grenzdebile Simplizität zum Ursprung der Verletzung ansonsten nicht begreifen. „Sie hat dir den Schädel zertrümmert und… der Quacksalber konnte nicht ausschließen, dass sie auch dein Hirn irgendwie dabei zu Brei geschlagen hat. Und dann bist du nicht wach geworden, hast keinerlei Reaktionen gezeigt und… und dann wirst du wach und fragst mich wer ich denn wäre, du Trottel. Hast du eine Ahnung welche Angst ich um dich hatte?“
Vielleicht hatte Cassie das ja, vielleicht hatte er es spätestens dann bemerkt als sein sonst eiserner Gefährte in bittere Tränen ausgebrochen war. Ganz und gar verziehen hatte er dem Taugenichts diese Frage jedenfalls noch immer nicht, auch wenn er froh war ihn mittlerweile wieder wach und einigermaßen zurechnungsfähig an seiner Seite zu haben.
„Sally Mitchell sitzt… jedenfalls seitdem mit ihrer Schwester in Gewahrsam, denn die beiden haben dabei irgendwie unter einer Decke gesteckt. Seitdem warten alle darauf, welches Urteil über sie vollstreckt wird, denn der Rest von den Kaff hier scheint wenigstens nicht so wie die beiden verrückten Weiber drauf zu sein. Haben sich alle gut um dich gekümmert und ständig kommt irgendjemand Neues und fragt wie es dir geht.“
Resignierend seufzend, immerhin war die Situation ja trotz allem noch der beste Ausgang gewesen laut dem Arzt, musterte Clarence seinen Geliebten aus kummervollen Augen.
„Und du siehst echt scheiße aus momentan. - Aber es ist nichts was übermäßig bleiben wird“, fügte der Bär schleunigst an, denn sicher waren das beides Dinge, die Matthew angesichts der neuesten Offenbarungen wissen wollte. „Der Quacksalber musste dich nähen, also trägst du jetzt vorübergehend einen schicken… Sidecut“ – eine sehr freundliche Art es schön zu reden – „und dein Aufeinandertreffen mit dem Stein hat einige Schwellungen hinterlassen. Trotzdem gibt es nichts, was so ein schönes Kerlchen wie dich auf Dauer entstellen könnte.“
Besonders Letzteres meinte Clarence völlig ernst, nicht nur weil er sich selbst die letzten Tage über den Anblick des Dunkelhaarigen mit keinem Wimpernschlag hatte anmerken lassen, sondern weil er wusste wie wichtig seinem Partner dessen Aussehen war.
„Das wird, ich versprech’s dir. Sobald wir im Süden sind, kannst du mit deinem Adoniskörper den schönen Frauen den Kopf verdrehen, wie eh und je.“
Aufmerksam und gleichwohl mit einem Hauch Skepsis im Blick lauschte der lädierte junge Mann den Ausführungen von Clarence. Wie der Blondschopf sprach, wie er die Dinge formulierte…all das schien nicht zu ihm zu passen und doch war es keine unangenehme Neuerung.
Seit wann war der hünenhafte Bär von einem Mann derart zugänglich? Neckte auf nachsichtige Weise und forderte sich so offensichtlich Nähe ein? Seit wann redete er mit Fremden darüber wen er liebte und mit wem er verheiratet war?
Cassiel zweifelte nicht an, dass alles stimmte was der Ältere ihm sagte, aber er verstand nicht wann und wie es dazu gekommen war, dass Clarence ihm so…zugewandt war.
“…lasse ich dir deine freche Annahme ausnahmsweise durchgehen, mein Herz…“ – die Formulierung war in ihrer ganzen Art merkwürdig nachsichtig und so liebevoll, dass sich der Dunkelhaarige fragen musste wie schlimm es wirklich um ihn stand. Vielleicht stand sein Leben noch immer auf Messers Schneide? Vielleicht fürchtete sein Gefährte noch immer, er könne plötzlich sterben. Aber trotz aller Irritation des jungen Mannes, zu hören wie Clarence ihn mein Herz nannte, ließ Cassiels Bauch kribbeln und ihn sich verlegen fühlen. Es war das Eine zu wissen, dass der oftmals wortkarge Blonde ihn liebte. Aber es war etwas vollkommen Anderes wenn Clarence ihn sich fühlen ließ wie das kostbarste Wesen auf Erden. Ein leichtes Lächeln huschte über die Züge des Dunkelhaarigen und er schloss für einen Moment dankbar seine Augen. Es tat gut Clarence bei sich zu wissen, seine Gegenwart zu spüren und die vertraut-geliebte Stimme zu hören. Endlich wurde ihm erzählt, was er vergessen hatte und auch wenn die Erinnerungen nicht - wie insgeheim erhofft - zurückkehrten, so half es Matthew für sein Seelenheil, endlich wieder teilhaben zu können.
Er hatte kein Gesicht zu Sally und es kam ihm reichlich komisch vor von Quentin und Feivel zu hören. Aber darum ging es nicht. Es ging darum, dass Clarence ihn ernst nahm, sich mit ihm befasste und ihn nicht abspeiste mit den üblichen Phrasen die Cassiel schon viel zu oft gehört hatte. Clarence, der die letzten Stunden wenig gesagt hatte weil er zu beschäftigt gewesen war Nadel mit Faden zu verbinden, war seit der Nacht am Lagerfeuer der wichtigste Mensch in Matthews Leben, der einzige der zählte und der einzige der die Macht hatte Dinge wirklich besser oder schlechter zu machen. Er war alles was Matthew je gewollt hatte und hätte der Blonde auf seine Bitte um Offenheit nicht reagiert, es hätte Cassiel schwer getroffen, denn der junge Mann wollte im Grunde nur wissen warum er hier lag.
Und er erfuhr es. Der Markt war zweifellos Ort des Geschehens gewesen, das schwere Durchatmen Clarence’ machte das deutlich noch ehe die nachfolgenden Worte über seine Lippen kamen. Matthew öffnete seine Augen wieder und betrachtete seinen Mann, in dessen Blick so viel Schmerz und Kummer lag, dass es Cassiel ganz mulmig wurde.
“Ich hab erst nicht verstanden was passiert ist…“
Ohne Unterlass streichelten Matthews Finger behutsam durch den goldenen Flachs an Clarence’ Wange, der Blick des Dunkelhaarigen war wieder wacher geworden und er versuchte trotz aller Anspannung nicht ungeduldig zu werden. Was immer geschehen war, es war nicht nur ihm allein widerfahren, sondern ihnen beiden.
Es dauerte einen gewichtigen Augenblick, bis der Schamane seine Stimme wiedergefunden hatte und endlich für Klarheit sorgte. “Sally Mitchell, das kranke dumme Miststück, hat einen riesigen Stein nach dir geschmissen. Einen Stein.“
Scheinbar reglos nahm der Dunkelhaarige die Worte zur Kenntnis, in denen alles lag was er wissen musste.
Kein Kampf hatte ihn hierher geführt, kein offensichtlich ausgetragener Streit. Er hatte sich nicht mit dieser Sally überworfen und sie hatte keinen Schlägertrupp angeheuert um ihn windelweich prügeln zu lassen. Nein, die Frau welche Clarence Avancen gemacht hatte, hatte sich dem Problem selbst angenommen. Zusammen mit ihrer Schwester.
Die Banalität dieser Tat war so erschütternd, wie der Akt brutal gewesen sein musste, gemessen daran das er tagelang bewusstlos gewesen war. Überfordert sah Cassiel den Blonden an, er wollte auf ihn hören, wollte ihm weiterhin folgen, aber sein träger Verstand hing meilenweit hinterher.
Matthew wusste nicht wirklich, was er geglaubt hatte was passiert war, aber mit einem Steinwurf gegen seinen Kopf hatte er definitiv nicht gerechnet. Keinen Mucks gab der Kleinere des Duos von sich, so lange bis auch die Stimme des Anderen verebbt war und die eingetretene Stille offensichtlich wurde.
Die Leute kamen und gingen, immer neue Gesichter, alle waren höflich und schienen aufrichtig besorgt um seinen Zustand. Es waren nette Menschen die hier lebten. Nett, bis auf diejenige die Steine warf wenn sie verschmäht wurde. Skurril.
Noch immer schwieg der Dunkelhaarige seinen Liebsten an, so als habe er ihn entweder nicht verstanden, oder als sei er des Sprechens nicht mehr mächtig. Sein Herz raste und sein Mund war trocken, das stetige Pochen in seinem Kopf, die verschwommene Sicht auf der einen Seite…all das verdankte er einem Stein, der mit brachialer Gewalt seinen Schädel getroffen hatte.
„Ich…“, setzte Matthew schließlich leise an, bevor er auch schon wieder verstummte. In seinen Gedanken herrschte Chaos und in seinem Blick lag Unverständnis. Letzteres nicht etwa weil er Clarence nicht glaubte, sondern weil es schwer war zu begreifen, wegen einer Kleinigkeit wie gekränktem Stolz, auf einem öffentlichen Platz gesteinigt worden zu sein.
Matthew hatte bereits aufgehört über Clarence’ Wange zu streicheln und nun ließ er seine Hand vollständig wieder sinken.
So überfordert wie er sich fühlte, sah er auch aus, trotz der Tatsache, dass sein eines Auge stark zu geschwollen war, konnte man im anderen umso deutlicher ablesen wie er sich fühlte. Nämlich unsicher und ängstlich.
„Ich…“, versuchte er es erneut, leckte sich über die Lippen und sprach bedächtig weiter: „…will mich sehen.“, wenn Clarence fand das er wirklich schlimm aussah derzeit, dann fürchtete Cassiel das Schlimmste. Hinter geschlossenen Lippen fuhr er mit der Zunge seine Zahnreihen ab, um etwaige Fehlstellen zu erkennen, aber sein Gebiss war so vollständig wie er es in Erinnerung hatte.
„Und dann…wenn ich das…Ausmaß kenne…Will ich sie sehen.“, Matthew sagte es so, als dulde er keinen Widerspruch diesbezüglich und als gäbe es auch keine Zweifel daran das richtig war was er wollte.
Offensichtlich hatte Sally Mitchell ihn aus Dummheit und Eifersucht heraus schwer verletzt. Das allein war schon schlimm genug. Statt ihn zu töten, hatte sie ihn entstellt und auch alle beflissenen Versuche von Seiten des Blonden, ihn zu beruhigen, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass offenbar noch gar nicht absehbar war inwieweit alles wieder verheilen würde.
Vielleicht würde er nie wieder auf beiden Augen richtig sehen können, vielleicht blieb der pulsierende Kopfschmerz Wochen oder Monate? Wenn sie ihm den Schädel eingeworfen hatte, war seine Nase vielleicht gebrochen - was erklären würde wieso er so schlecht Luft bekam.
Seit er wieder einigermaßen klar war, hatte Matt bewusst nicht um einen Spiegel gebeten, aus Angst vor dem, was er sehen würde. Ein milchig, trübes Auge, zersprungene Lippen, eine Ruine von Nase, ein schiefes Gesicht. Clarence war der einzige Grund für Cassiel gewesen, sich diesbezüglich selbst beschwichtigen zu können. Denn Clarence hatte ihn nie betrachtet als wäre er entstellt. Aber - und das hatte der Blondschopf ihm nun unabsichtlich zu verstehen gegeben - das bedeutete nicht, dass Matthew keinen Grund hatte vor einem Blick in den Spiegel Angst zu haben. Und die hatte er.
„Ich will sehen was sie…gemacht hat, Claire.“, keine Bitte, keine Frage. Nur eine einfache Feststellung, von der Matthew ausging, dass sein Gefährte sie verstand und ihm half.
Dass die beiden jungen Männer, einstmals eigenständige Individuen mit völlig unterschiedlichen Weltanschauungen, irgendwann einmal so sein würden, damit hätte sicher niemand von ihnen gerechnet.
Sie waren nicht nur Wandergefährten, die plötzlich durch Liebe miteinander verbunden waren. Nicht nur Partner im Bestreiten eines gemeinsamen Alltags, die durch die Ehe einen neuen Namen und eine neue Zugehörigkeit erhalten hatten.
Wenn Matthew litt, dann litt Clarence mit ihm – und wenn es dem Jäger nicht gut ging, spiegelte sich das ebenso im Dunkelhaarigen wider. Der Schmerz des einen war der Schmerz des anderen und auch wenn Claire die Ausmaße der fremden Kopfschmerzen weiß Gott nicht erahnen konnte, so stand doch völlig außer Frage, dass es seine eigenen Nerven auf einer anderen Ebene nicht minder schmerzhaft traf.
Was einst nicht mehr gewesen war als zwei Teile die sich grob ineinander gefügt hatten, waren sie heute zu einem großen Ganzen verschmolzen, das weit über eine bloße Kameradschaft oder ein Teamgefühl im Sinne zweier Eheleute hinaus ging. Derart auf einer Wellenlänge miteinander zu leben und zu fühlen war selten zwischen zwei Menschen, oft sogar zu selten – und würde Matthew jemals seinen gehegten Gedanken der Seelenverwandtschaft laut aussprechen, sein Bär würde ihm dahingehend mit keiner einzigen Silbe wagen zu widersprechen.
Matthew Cassiel Sky, geboren als einstiger Reed, war in den blaugrauen Augen des Älteren nicht nur ein Wegpunkt über den er früher oder später hätte stolpern müssen, sondern vielleicht sogar das Ziel, auf das die Dinge ihn sein ganzes Leben lang hingeführt hatten. Unvorstellbar schien es ihm rückblickend wie auch heute, jemals wieder sein Dasein ohne diesen Mann zu fristen, den er so sehr liebte wie er kaum einen Menschen sonst auf dieser gottverlassenen Erde jemals geliebt hatte und jemals wieder leben würde.
Was geschehen wäre, hätte Cassie nie wieder aus seinem endlosen Schlaf ins Leben zurück gefunden, war für den Jäger keine Frage von Geduld oder Liebe. Hätten nicht irgendwann Durst und Hunger seinen Geliebten dahin gerafft, Clarence schwor bei allem was ihm lieb und heilig war, er hätte das schlafende Dornröschen bis an ihr gemeinsames Lebensende gehegt und gepflegt, von Tag zu Tag mal mehr und mal weniger in der Hoffnung verbleibend, der Schöne würde eines Tages wieder erwachen.
Und hätte der Jüngere sein Leben im Schlaf ganz und gar ausgehaucht? Nun, die Antwort auf jene Frage befand sich noch immer in der Nachttischschublade neben ihnen, denn noch war lange nicht aller Tage Abend.
Bennett war kein Hexer. Er konnte Knochenfragmente nicht sehen, die sich womöglich auf Wanderschaft in jenem hellen Köpfchen begeben hatten, noch war bislang ausgeschlossen worden, dass unter den Schädelplatten nicht doch mehr noch in Gefahr schwebte, als es derzeit den Anschein machte.
Es verwunderte daher bei genauer Überlegung eigentlich nicht, warum noch niemand direkt mit dem Patienten selbst gesprochen hatte.
Was, wenn er sich aufregte? Wenn sein Blutdruck stieg, damit Adern in seinem Kopf überforderte und der Druck sie einfach platzen ließ?
Was war, wenn Cassie Anstalten machte nach dem Erfahrenen aufzustehen, wenn er stürzte und damit die letzten Hoffnungen zunichtemachte, die der Quacksalber ihm nach und nach vorsichtig ausgesprochen hatte?
Mit lauerndem Blick, voller Sorge und wachsam, beobachtete Clarence seinen Mann, in dessen kandisfarbenen Iriden er deutlich die Arbeit ablesen konnte die es bedurfte, das soeben Erfahrene mit dem bereits Empfundenen zu verknüpfen. Wenngleich er den jungen Taugenichts schon lange kannte, mit all seinen schönen und weniger schönen Facetten, konnte der Jäger sich nicht ausmalen, welche Gedanken und Fragen ihm nun wohl als erste durch den Kopf schießen mochten; das letzte Mal, dass Matthew ähnlich schwer verletzt gewesen war, hatte er noch den Nachnamen Reed getragen und war von Pfeilen durchlöchert gewesen wie ein unschöner Käselaib.
„Ich will sehen was sie…gemacht hat, Claire.“
Schweigend lehnte jener sich noch immer auf der Bettkante auf, das Haupt mittlerweile nicht mehr gebettet sondern erhoben, um dem Jüngeren volle Aufmerksamkeit schenken zu können. Keine Regung im fremden Gesicht blieb ihm verborgen, stets darauf bedacht sowohl bei körperlicher Unruhe wie auch einem nervlichen Zusammenbruch Einhalt gebieten zu können. Angst, Unsicherheit, Unverständnis – nur wenige Züge aus Cassies sonst ansehnlichen Antlitz waren die Offensichtlichen, doch unter ihnen sah Clarence noch viele weitere schlummern, für ein ungeübtes Auge unsichtbar.
Natürlich verstand der Jäger, was die Frage des Liegenden implizierte und natürlich verstand er auch, was Cassie meinte aber nicht aussprach.
Dem jungen Mann, stolz auf sein Aussehen und eitel wenn es um die Pflege dessen ging, war es nicht nur wichtig anhand seines Kopfes mit eigenen Augen zu sehen was Sally gemacht hatte. Er wollte wissen was sie aus ihm gemacht hatte – dem immer Schönen, immer Begehrenswerten - aus dem jungen Mann, nach dem sich in Siedlungen und Metropolen stets im Vorbeigehen die Köpfe und um den sich unverhohlene Sehnsüchte drehten.
„Ich weiß, mein Herz… ich weiß.“ – Mit weichem und nachsichtigem Ausdruck musterte der Bär sein derzeit nicht mehr annähernd so agiles Böckchen und auch wenn man diesem unter den aktuellen Bedingungen kaum einen Wunsch abschlagen konnte, so wussten sie beide, dass nur einer von ihnen am längeren Hebel saß. „Und du weißt sicher, was ich davon halte.“
Abermals zogen sich die hellen Brauen zusammen, zweifelnd ob Cassie sich diese Bitte wohl gut genug überlegt hatte. Sein Zustand schien sich von Tag zu Tag zu bessern, aber ob er auch stabil war, war eine völlig andere Frage. Was geschah, wenn Matthew sich im Spiegel sah? Wenn er sein Gesicht in einem völlig desolaten Zustand erblickte, obwohl dieser nicht mal die Endstation bedeutete?
Die Schwellungen würden zurück gehen, die tiefen Einblutungen über Tage und Wochen hinweg heller werden, bis sie irgendwann verblassten. Was er heute erblicken würde, war bei Gott nicht das Endresultat des Angriffs auf ihn, aber es würde im schlechtesten Fall vielleicht Kerben in ihm hinterlassen, die sich allzu schnell nicht mehr heilen ließen.
Clarence wusste schon jetzt, kein liebes Wort und keine ernst gemeinte Geste würde seinen Liebsten über die Tragik seines eigenen Anblicks hinweg trösten können und so sehr es dem Bären auch einen Stich im Herzen versetzte sich dies einzugestehen, es war die Wahrheit.
„Ich denke, du solltest… damit ein paar Tage warten, bis die Dinge nicht mehr ganz so wüst aussehen wie jetzt. Du warst noch nicht mal auf den Beinen, geschweige denn, dass du überhaupt mal auf der Bettkante gesessen hast…“, versuchte Clarence hervorzuheben wo zum heutigen Zeitpunkt ihre Prioritäten sitzen sollten wenn es darum ging den Jüngeren wieder in die Spur zu bekommen und an erster Stelle stand ganz sicher nicht ein Anblick, dem Cassie bestimmt nicht gewachsen war. „Sally Mitchell läuft dir nicht weg, die sitzt im Kittchen und dreht Däumchen und hat sich bestimmt schon den Nächsten ausgesucht, dem sie hinterher rennen kann. Sie wird nicht weg sein, nur weil du dich noch ein paar Tage schonst bis du ihr selbst den Kopf einschlagen kannst.“ – Nicht, dass das Matthews Plan wäre, so schätzte der Blonde seinen friedliebenden Gatten zumindest nicht ein.
Vorsichtig löste Clarence eine Hand aus der Verschränkung und strich mit den Fingerspitzen zaghaft über Cassies Handrücken, der nun wieder reglos vor ihm in den blütenweißen Laken ruhte.
„Du siehst weder aus wie ein Mutant der gerade frisch aus den Sümpfen gekrochen ist, noch wie das Phantom der Oper, das nun seinen Lebtag lang mit einer Maske herum laufen muss“, setzte der Bär etwas leiser an und fuhr mit seinem Zeigefinger die sich abzeichnenden Adern auf Cassies Hand nach, so wie er sonst ihren Reiserouten auf den Landkarten folgte. Kaum merklich zuckte er dabei ratlos mit den breiten Schultern. „Du siehst aus wie… wie der Mann den ich geheiratet habe und der sich noch eine Weile erholen muss, bevor er in altem Glanz erstrahlt. Ein bisschen lädiert, aber kein Totalschaden. “
Ein bisschen, das war dabei noch weit untertrieben und das wusste Clarence. Und auch wenn er versuchte die Tatsachen herunter zu spielen so wussten sie beide, in welchem Drama dieser späte Nachmittag noch würde enden können.
„Wenn es dir nicht reicht dich durch meine Augen zu sehen… gehe ich dir einen Spiegel suchen, solltest du mich darum bitten. Aber Cassie, ich werde es nicht gerne tun und ich werde nicht wissen was ich zu dir sagen soll, damit du dich danach besser fühlst.“
Clarence wusste was in Cassiel vorging, er wusste es so sicher wie er wusste das auf den Tag die Nacht folgen würde. Matthew sah dem Hünen jenes Wissen an, aber Verständnis allein reichte nicht aus um den Dunkelhaarigen zu beschwichtigen.
Was er erfahren hatte, hatte ihm nicht die Erinnerungen zurückgebracht, sondern es hatte neue Fragen aufgeworfen. Fragen, auf die Clarence ihm keine Antwort geben konnte, auch wenn er es versuchte. Nur ein Blick in den Spiegel würde dem Dunkelhaarigen wirklich verraten können, was ihn quälte und gleichzeitig wusste Matthew, dass er sein eigenes Antlitz fürchtete.
Er war ein eitler Mensch, schon immer darauf bedacht gepflegt und adrett auszusehen. Mutter Natur hatte ihm ein schönes Gesicht gegeben, markant und jungenhaft zu gleich. Wache Augen, sinnliche Lippen, eine gerade Nase. Wenn er sich rasierte sah er auf einen Schlag zehn Jahre jünger aus, ließ er einen drei-Tage Bart stehen wirkte er wie ein verwegener Abendteurer aus den Romanen bekannter Schriftsteller und wenn er einen richtigen Bart trug, verlieh ihm das eine verruchte und geradezu verboten wilde Ausstrahlung – jedoch ohne dabei das gewisse Quäntchen kultivierten Adels zu verlieren, der ihm eigen war.
Zweifellos war Matthew Cassiel Sky ein schöner Mann, der um seine Wirkung auf Frauen und Männer wusste, dabei aber immer so tat als würde er sein Aussehen als beiläufig und gegeben hinnehmen, ohne sich daraus etwas zu machen. Aber das Gegenteil war der Fall, wenn er nun damit konfrontiert war, dass diese Sally eine Ruine aus seinem Gesicht gemacht hatte. Es war das Eine, sich seines Aussehens gewiss zu sein und deshalb mit geübter Leichtigkeit anderen den Kopf zu verdrehen als wäre nichts dabei. Etwas Anderes war es jedoch, wenn von einer Sekunde auf die Andere die Möglichkeit bestand, dass er nie wieder sein würde wie früher.
Ganz gleich was Clarence ihm zu vermitteln versuchte, vollkommen egal wie geduldig und nachsichtig er war: Matthew hatte schlimme Befürchtungen, befeuert auch noch durch die Schmerzen die ihn peinigten, seine anhaltende körperliche Schwäche und die Tatsache das er auf dem einen Auge kaum etwas sah.
„Ich denke, du solltest… damit ein paar Tage warten, bis die Dinge nicht mehr ganz so wüst aussehen wie jetzt…“ , drückte sich der Hüne mit Bedacht aus, darum bemüht ihm die Wahrheit nur in homöopathischen Dosen einzutrichtern. Wenn wüst die sanfteste Beschreibung dessen war wie der Dunkelhaarige für Clarence aussah, dann musste er für jeden anderen Menschen schlichtweg entsetzlich aussehen. Was erklärte warum die fremden Besucher es in aller Regel vermieden ihn lange anzusehen.
Mit aufgeregt klopfendem Herzen versuchte Matthew den Worten des Blonden zu folgen, aber selbst wenn er hätte vernünftig sein wollen, so hätte er die Angst nicht mehr ignorieren können.
Natürlich lag Clarence richtig damit wenn er anmerkte, dass sie beide eigentlich andere Prioritäten haben sollten als sein ramponiertes Gesicht. Aber Matthew fühlte sich nicht in der Lage aufzustehen, sich aufzusetzen oder auch nur den Kopf zu drehen. Wie erniedrigend das auf Dauer war, Cassiel wusste es zu genau. Nichtsdestotrotz konnte er an den Gegebenheiten nichts ändern, nicht weil er nicht wollte, sondern weil er einfach nicht dazu in der Lage war.
Dass er nicht aussah wie ein Mutant tröstete den jungen Mann nicht, auch wenn Clarence das vermutlich beabsichtigt hatte. Auch der Vergleich mit dem Phantom der Oper machte es nicht besser. Ohne Zweifel war der Blonde sehr darum bemüht ihn zu beschwichtigen und ihm zu erklären, dass alles halb so wild war. Und vielleicht hätte Matthew seinem Geliebten sogar geglaubt, wenn sein körperliches Empfinden ihm nicht etwas völlig anderes suggerieren würde.
„Wenn ich…nur ein bisschen lädiert aussehe…“, griff er die Worte des Schamanen auf und sah ihn an. „Dann…musst du nichts zu mir sagen damit ich…mich…hinterher besser fühle,“ Er kannte den Unterschied zwischen entstellt und ramponiert und er würde nicht ausflippen wegen ein paar Kratzern oder Blutergüssen. Aber würde der Hüne ihm so vehement von der Idee abraten, wenn es nur ein paar Schrammen und blaue Flecken waren um die es ging? Eindeutig nein, denn Clarence Bartholomy Sky zählte nicht zur empfindlichen Sorte Mensch wenn es um Verletzungen ging. Er nähte Schnitte und Platzwunden wenn es nötig war selbst, brannte schon mal Wunden aus um das Risiko der Infektion zu vermeiden und lebte auch sonnst nach dem Motte wenn das verletzte Körperteil noch dran ist, ist es halb so schlimm.
In den allermeisten Fällen, war Clarence’ Meinung die einzige von Wichtigkeit für Cassiel. Das galt sowohl im Bereich der Wundversorgung als auch in allen anderen Belangen. Was andere denken mochten war Matthew häufig egal, so lange der Wildling nur zufrieden war. Doch bei aller Liebe die der lädierte junge Mann für seinen Gefährten hegte, dieses mal reichte es ihm nicht aus, sich durch Clarence’ Augen zu sehen, wie dieser so schön gesagt hatte.
„Ich will mich sehen…ich will…sehen was sie…angerichtet hat.“, wiederholte er seinen Wunsch, wobei seine Stimme keinerlei Biss von früher beinhaltete.
Als gesunder und agiler junger Mann war er auf diesen komischen Markt gegangen und jetzt lag er seit Tagen hier in diesem Bett und war praktisch ein Pflegefall. Das Sprechen fiel ihm schwer, das Denken fiel ihm noch schwerer. Sein ganzer Kopf schmerzte, jede Bewegung und war sie auch noch so klein. Er konnte nicht sagen ob es etwas in seinem Gesicht gab, was ihm nicht wehtat, denn die Schmerzen strahlten in nahezu jeden Bereich.
Bisher hatte sich Matthew davor gescheut der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, hatte sich gefragt was wohl passiert war. Nun kannte er die Antwort auf jene Frage, was es aber nicht besser machte, denn was ein Stein mit einem Gesicht machen konnte, konnte sich der Dunkelhaarige lebhaft vorstellen. „In jedem…in jedem anderen Fall…“, setzte er angestrengt an, weil ihm das Sprechen auf Dauer wirklich schwerfiel, Schweigen jedoch gegenwärtig keine Option war.
„…reichen mir…deine Augen. Aber dieses mal…nicht.“, der junge Mann würde nicht betteln, er würde nicht darum flehen das Clarence ihm einen vermaledeiten Spiegel suchte und ihm brachte. Aber das musste er auch nicht, wie der Schamane ihn bereits hatte wissen lassen.
Obgleich der Blondschopf sehr deutlich gemacht hatte, dass er von der Idee nichts hielt und ihm davon abriet sich selbst anzusehen, konnte Matt ihm diesen Gefallen nicht tun. Er konnte nicht hier liegen und sich darauf verlassen dass alles halb so wild war. Würde er sich nicht selbst Gewissheit verschaffen, würde er durchdrehen und aktuell war der junge Mann sowieso in einer äußert labilen Verfassung. Als ein Mensch der es gewohnt war agil und selbstständig zu sein und der sich vor nahezu jeder Hilfe genierte, war es jedes Mal ein innerer Kampf wenn er Clarence’ Hilfe in Anspruch nehmen musste.
Sei es beim täglichen Waschen, Essen oder Trinken. Da Letzteres zwangsläufig auch zu anderen Dingen führte, aß er fast gar nichts und trank wenig, um sich wenigstens einen Funken Würde zu bewahren.
Dass es im Zusammenhang mit seinen Verletzungen natürlich nicht seiner Gesundheit förderlich war, die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme zu reduzieren, war Matthew bewusst, aber er kam nun mal nicht aus seiner Haut.
Clarence war sein Ehemann und sollte nicht auch noch sein Pfleger sein müssen.
„Ich werd…es schon überleben mich…anzusehen.“, versuchte der Jüngere zuversichtlich zu klingen und rang sich ein falsches winziges Lächeln ab. Natürlich ging er wirklich nicht davon aus vor Schock zu sterben, nur weil er mit seinem Spiegelbild konfrontiert worden war, aber die jungen Männer wussten vermutlich beide, dass der Anblick ihm auch nicht gerade dabei helfen würde wieder Mut zu fassen und neue Lebensgeister zu wecken. Noch schlimmer als ohnehin schon, konnte Matthews Verfassung aber auch kaum werden. Und wer wusste es schon? Vielleicht half es dem jungen Mann ja sogar, sich mit dem auseinanderzusetzen, was aktuell Realität war.
Nicht nur Matthew, auch der Schamane kannte den Unterschied zwischen entstellt und ramponiert. Aber er kannte eben auch den Unterschied zwischen einem vernünftigen Cassie und einem impulsiven mit Gedankenkurzschluss.
Würde sein Mann sich sehen, mit seinen Schwellungen die in wenigen Wochen vorübergehen würden und den tiefblauen und violetten Einblutungen, mit seinem Gesicht das so verquollen wirkte wie ein seltsam verfärbter Blumenkohl und dem völlig aufgedunsenen rechten Auge, das als solches gar nicht mehr erkennbar war und aus dem es ständig nässte – konnte er just in jenem Augenblick an dem Gedanken festhalten, dass all dies vergänglich sein würde? Dass das verletzte Gewebe nichts anderes war als die Folge des Zusammenpralls von Stein auf Schädel, geschuldet der stark blutenden Kopfplatzwunde und der Behandlung des Arztes, welcher einen Teil des Wundrandes offen gelassen hatte um dem Wundwasser Möglichkeit zum Abfließen zu geben?
Fürwahr, hätte ein anderweitiger Unfall seinen Mann derart gezeichnet, würde man ihm nur die rechte Kopfhälfte seines Geliebten zeigen können, der Hüne wäre sich nicht sicher gewesen, ob er Matthew überhaupt hätte identifizieren können. Das einzige was blieb waren die zahllosen Tätowierungen und die Säurenarbe auf seiner linken Wange, doch selbst letztere war kein Trost wenn es darum ging, in Cassie etwas Bekanntes wiederzuentdecken. Bis zu ihrem Anlegen in Cascade Hill City hatten sie kein großes Wort über jenen Fleck im Gesicht des Jüngeren verloren; mit hörbarem Zweifel in der Stimme hatte der Dunkelhaarige dann und wann verlauten lassen, die Heilung würde sicher noch lange dauern und Clarence hatte es – an seiner eigenen Unversehrtheit hängend – tunlichst vermieden, während der Versorgung etwas dazu zu sagen.
Dabei war es nicht mal so, als wäre die linke Hälfte des schönen Gesichts von Anfang an unheilbar gewesen. Cassie könnte, wenn er nur ein einziges Mal Hilfe zugelassen hätte, heute schon wieder aussehen wie eh und je. Das Einzige, was ihm dabei im Weg gestanden hatte, war er selbst; stur wie ein garstiges, austretendes Böckchen hatte er wochenlang die Versuche des Blonden abgewehrt sich dem alten abgenutzten Verband anzunehmen und was daraus geworden war, würde man von nun an bis ans Ende seiner Tage in Matthew Cassiel Skys Gesicht erblicken können.
„Du hast es ja nicht mal richtig überlebt mit mir einkaufen zu gehen…“, nuschelte der Bär konternd in seinen flachsblonden Bart, jedoch mehr mitten in den Raum, anstatt seinem Partner damit einen ernsthaften Vorwurf zu machen.
Unzählige Male schon hatte jener Clarence wissen lassen, wie unvernünftig der Jäger doch sei. Dass er viel zu wenig auf sich selbst Acht gebe, er sich nicht genug pflege, dass Cassie unbedingt auf ihn aufpassen müsse, damit er sich nicht eines schönen Tages umbrachte.
Aber was war mit Matthew selbst?
In den zurückliegenden Monaten seit Coral Valley hatte der Söldner nicht gerade viel dafür getan um fit und vital zu bleiben für ein gemeinsames Leben, das hoffentlich noch viele Jahrzehnte andauern würde. Selbst jetzt, wo es umso wichtiger war jedwede Hilfe anzunehmen die man ihm bot damit er wieder schnell auf die Beine kam, lehnte sein stures Böckchen einen Großteil der ihm angebotenen Mahlzeiten ab, behauptete keinen Durst zu haben und verlangte sich über dies hinaus nun auch noch Dinge ein, die aus der Sicht seines selbsterkorenen Pflegers alles andere als förderlich für seine Gesundheit waren.
Schweigend blickte Clarence wieder zu seinem Mann auf, stellte das zärtliche Nachfahren der fremden blauen Verästelung ein und fuhr sich stattdessen schließlich mit einem resignierenden Seufzen durchs Gesicht.
„Wenn ich überlege wie wütend du auf mich warst, als ich während meiner Bettlägerigkeit zu unvernünftigen Handlungen über gegangen bin…“, schüttelte sich der blonde Schopf verständnislos, denn nicht nur ein Mal hatte er versucht alleine aufzustehen und war daran kläglich gescheitert. Den Unmut seines Partners hatte er dabei postwendend zu spüren bekommen, ebenso wie dessen immer schlechter werdende Laune. Dahingegen schien die Geduld die Clarence aufbrachte beinahe grenzenlos.
Der Jüngere konnte wirklich froh sein ausgerechnet durch eine Kopfwunde geziert zu werden, denn ansonsten hätte der Bär ihn nur allzu gerne bei den Schultern gepackt und ordentlich durchgerüttelt in der Hoffnung, dass sich dadurch wieder die richtigen Synapsen aneinander fügten.
Natürlich lag es ganz alleine beim Blonden seinem Mann bei dessen Vorhaben zu helfen oder es ganz einfach sein zu lassen, sich quer zu stellen und somit die Unvernunft generell im Keim zu ersticken. Aber was brachte ihnen eine solche Entscheidung im Hinblick auf das Vertrauen, welches zwischen ihnen beiden seit geraumer Zeit herrschte?
Die einzigen Menschen, auf die sie sich in ihrem Leben verlassen konnten, waren sie selbst und der jeweils andere. Clarence stellte nichts infrage was Cassie ihm jemals anvertraut hatte und anders herum war es genau das gleiche. Doch besonders in Situationen wie diesen hier, in einer Lage wo sie auf den anderen angewiesen waren zum täglichen Leben und Überleben, wurde ihr Vertrauen ineinander auf eine ganz besondere Probe gestellt.
Es wäre für den Jäger ein leichtes gewesen die Wehrlosigkeit seines Mannes auszunutzen. Das war es heute, ebenso wie es damals der Fall gewesen war, als er den dunkelhaarigen Fremden in einem verlassenen Wald nah seiner Heimat gefunden hatte. Zu kraftlos um einen Kampf zu überstehen, zu schwach um sich selbst zu versorgen, zu sehr am Ende als sich aus den Fängen eines Mannes mit böser Absicht befreien zu können.
Doch ebenso wenig wie er damals die Verletzungen des anderen ausgenutzt und damit unbewusst einen Grundstein gelegt hatte für alles was danach gekommen war, genauso wenig wollte Clarence heute Mittel benutzen, die einzig und alleine seiner Position oblagen.
Abermals musterte er den Lädierten, dessen noch halb offene Wunde am Kopf erst heute Morgen versorgt worden war, den der Bär selbst mehrmals am Tag mit einem feuchten Läppchen erfrischte damit das austretende Wundwasser nicht auf ihm eintrocknete und der auch das zugeschwollene Auge nicht vernachlässigte. Für seine derzeitige Unpässlichkeit und den damit einhergehenden Einschränkungen sah Matthew Tag für Tag erstaunlich gut gepflegt aus und ließ kaum einen Vergleich mit vielerlei Langzeit-Verwundeten zu, die sie schon oft auf ihren Reisen in heruntergekommenen Dörfern hatten erblicken müssen. Wenigstens Clarence würde das sture Böckchen also keinen Vorwurf machen können wenn es in den Spiegel sah, denn der Schamane hatte wahrlich alles dafür getan was in seiner Macht stand, ihn ordentlich herzurichten.
Es dauerte noch einen weiteren Moment bis der Hüne sich letztlich ohne ein weiteres Wort von seinem angestammten Platz erhob, die Lippen hinter dem Bart zu einer Schnute verzogen die deutlich suggerierte, dass er für das Kommende kein Verständnis hatte. Es war das eine tagtäglich seinen Partner anzublicken und vor Augen haben zu müssen, was Sally Mitchell ihm mit ihrem Steinwurf angetan hatte – etwas völlig anderes war es, den Schmerz des eigenen Anblicks in den Augen seines Ehemannes zu erkennen, mit ihm mitzuleiden und doch völlig hilflos zu sein wenn es darum ging, ihm in irgendeiner Art und Weise Trost zu spenden. Denn Trost, den konnte es auf der ganzen Welt nirgendwo in einem solchen Umfang geben, wie sein Geliebter ihn gleich würde brauchen können.
In einer nahen Kommode fand der Jäger schließlich was er suchte, ein zurückgebliebenes Relikt des Ärztesprosses scheinbar, verschnörkelt und einem Mädchen würdig das etwas auf sich gab. Das Bild, welches aus dem schön gearbeiteten Spiegel zurück blickte, sah genauso abgeschlagen und müde aus wie Clarence sich noch immer fühlte – und alleine da dem so war, würde es leider auch Matthews Bild nicht adretter erscheinen lassen als die Realität sich derzeit gab.
„Ich könnte mich wirklich dafür verfluchen, dass ich dir nie was abschlagen kann…“ – Claire sah sich selbst den Kopf in dem kleinen Handspiegel schütteln, bevor er ihn sinken ließ und zurück an das Krankenbett seines Mannes trat.
Die reflektierende Seite hatte er gen Laken gerichtet und den formschönen Griff dem Jüngeren zugewandt, die blaugrauen Augen drückten alles andere als Gefallen aus. Auch wenn er es nicht sollte und es keinen Grund dafür gab dem Jüngeren Vorwürfe für seinen Begehr zu machen, nahm Clarence es dem Dunkelhaarigen dennoch erstaunlich übel nicht einfach auf sein Wort zu vertrauen.
„Hier, nimm… ich werd ihn dir sicher nicht vorhalten. Du willst dich sehen“, forderte er Matthew mit gedämpfter Stimme auf, in der mehr Anspannung über das Kommende lag als ernstgemeinter Frust über seinen Partner. Vorsichtig setzte er sich dabei auf die Bettkante, noch immer unsicher wie dieser Nachmittag enden würde. Wie gerne hätte er nur Worte gefunden um zu beschwichtigen was Cassie gleich im Spiegel sehen würde, doch dafür… nein, im Kosmos des Jüngeren gab es womöglich keine einzige Silbe, die ihm sein eigens heraufbeschworenes Leid würde mildern können.
So wenig wie Matthew mit seinen Launen hinter dem Berg halten konnte, so wenig konnte Clarence verhehlen, dass er den Wunsch des Jüngeren nicht begrüßte. Aber wie sollte er das auch, wenn er doch wusste, dass das was Cassiel erblicken würde, mehr war als eine kleine ramponierte Stelle im Gesicht?
Unter diesen Umständen, so war es dem Dunkelhaarigen vollkommen klar, konnte Clarence sein Vorhaben nicht gutheißen. Aber das musste er auch nicht, Matthew wusste was er wollte und der Hüne war klug genug um ihn nicht am langen Arm verhungern zu lassen und damit zu zerstören, was sich über Monate hinweg langsam entwickelt hatte: das Vertrauen des Dunkelhaarigen. Sie waren einander selten einig, daran hatte ihre Ehe nichts geändert, aber sie respektierten und achteten des Anderen Wünsche.
„Während deiner Bettlägerigkeit… bist du vor geistiger Umnachtung mehr-…mehrmals aus dem Bett gestürzt.“, konterte Matt halbwegs bissig. Wenn man ihn fragte, konnte man ihre beiden Zustände nicht miteinander vergleichen.
Clarence hatte jeden Tag ohne Erinnerung an den Vortag begonnen, jedes Mal hatte Matthew ihm neu die Dinge erklären müssen die gewesen waren, immer wieder von vorn hatte er ihn daran hindern müssen Alleingänge zu unternehmen – was Clarence auch nicht gehindert hatte mit großer Geduld seinen nächste Coup zu planen.
Der Schamane war auf eine andere Art und Weise unvernünftig gewesen als Matthew es war und natürlich sah Cassiel sich eher im Recht. Er hatte sich nicht – wie Clarence – freiwillig in die Gefahr gestürzt, hatte sich nicht übernommen und hatte für seinen Wagemut bezahlen müssen. Alles was er falsch gemacht hatte war, auf einen Markt zu gehen um ihre Vorräte aufzustocken.
Dies konnte man ihm wahrlich nicht zum Vorwurf machen, ebenso wenig die Tatsache, dass Sally Mitchell in ihm Konkurrenz sah die sie ausmerzen konnte. Nein, Matthew traf keine Schuld, wohl aber ein Stein und was dieser Stein angerichtet hatte, dass wollte er sehen. Dafür brauchte er Clarence‘ Segen nicht.
Ohne erneut auf die Worte oder den strafenden Blick des Blonden einzugehen, harrte der junge Mann den nächsten Schritten seines Gefährten und schließlich – begleitet von einem schweren Seufzen – erhob sich der Ältere von seinem Platz um einen kleinen Handspiegel zu holen. Angespannten Blickes verfolgte Matthew ihn dabei und spürte mit jeder verstreichenden Sekunde seine Furcht stärker werden.
Die Angst, dass hatte ihm Le Rouge beigebracht, schnitt tiefer als jede Klinge und damit hatte der Rote wirklich recht.
Ohne nach dem Spiegel zu langen, der nun auf seiner Bettdecke lag, starrte Cassiel den Gegenstand an.
Der Schmerz in seinem Kopf pulsierte so schnell wie sein Herz schlug, machte ihn mürbe und gereizt.
Er fürchtete was er sehen würde, gleichsam wie er sich fürchtete feige zu sein. All die Leute die kamen und gingen sahen ihn an, waren mit dem konfrontiert was der Steintreffer aus ihm gemacht hatte – wie konnte er diese Menschen ansehen, wenn er selber seinen eigenen Anblick scheute?
Während Clarence bedächtig wieder auf der Kante des Bettes seinen Platz einnahm, wanderte seine rechte Hand über die Decke und hin zu dem glatten, glänzenden Griff des Spiegels. Die Rückseite war verziert und verschnörkelt, ein schönes Accessoire, zweifelsohne, aber auch der schönste Spiegel machte ein hässliches Gesicht nicht hübscher.
Der Blick seines einen klaren Auges richtete sich von dem Spiegel auf Clarence, den er ansah als verlange er von dem Blonden Zuspruch oder ein Verbot. Eine Erklärung, eine Rechtfertigung. Irgendetwas. Aber der Blonde schwieg und Matthew brachte ebenfalls keinen Ton über die trockenen Lippen. Angenehm kühl und glatt fühlte sich das Metall unter seinen Fingerspitzen an, als sich der Kleinere des Duos endlich wagte den Griff zu berühren. Nachdenklich schaute er auf seine Hand hinunter, verfluchte sich innerlich selbst für seine Panik. Verfluchte Sally Mitchell für ihre Bosheit. Verfluchte die Welt für ihre Ungerechtigkeit.
Es dauerte noch einen weiteren Augenblick, bis Matthew endlich die Entscheidung traf der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Stillschweigend drehte er den Spiegel um, hob ihn vor sich und sah hinein. Was er darin sah, brachte ihn innerlich vollkommen aus der Fassung und seine bis dahin ramponierte aber aufrechte Welt zum Einsturz.
Die eine Seite seines Gesichts war verquollen und dunkel verfärbt, sein Auge kaum sichtbar – aber der Teil der sichtbar war – war blutrot verfärbt. Auf der selben Seite zog sich eine schwarze Naht von seiner Schläfe bis hinter sein Ohr. Sein Haar war an dieser Stelle partiell abrasiert worden und war bereits dabei wieder nachzuwachsen. Dort wo auf der anderen Seite die Kontur seines Jochbeins zu sehen war, war auf der ramponierten Seite eine undefinierte Schwellung auf der ein offener Riss klaffte der offenbar nicht genäht werden konnte oder sollte. Die Bereiche, die nicht in violetten und roten Tönen verfärbt waren, waren blass und wächsern.
Die andere Gesichtshälfte war indes nicht makellos, denn die Säurenarbe prangte unübersehbar auf seiner Schläfe und Wange und verunstaltete ihn noch zusätzlich.
Die Worte im alten Glanz erstrahlt und ein bisschen lädiert geisterten durch seinen Kopf, spukten darin umher und klangen höhnisch. Der Mann der ihm aus dem Spiegel entgegensah hatte kaum etwas mit dem Mann zutun der Matthew bis dahin gewesen war, nichts von seiner Jugendlichkeit war übrig, nichts von seinem adretten Äußeren. Er sah widerlich aus, abstoßend und hässlich.
Für die Dauer eines langen Moments kam kein Laut über Matthews Lippen, aber der Schmerz und das Entsetzen standen ihm dennoch im entstellten Gesicht geschrieben.
Seine Hoffnung – dass vielleicht doch nicht alles so schlimm war wie befürchtet – hatte sich nicht erfüllt, aber dieses Mal traf es ihn wirklich. Es war, als würde der junge Mann erst jetzt richtig verstehen was ihm passiert war, so als wäre alles vorher außerhalb seiner Wahrnehmung geschehen. Schweigend starrte Matthew sich an, sah wie sich in sein eines Auge Tränen stahlen und legte den Spiegel weg als er plötzlich aufschluchzte. Beide Hände schlug der Dunkelhaarige - ungeachtet der neuen Schmerzen die sofort aufflammten - vor sein Gesicht – oder was davon übrig war – und weinte bitterlich.
Es war nicht nur sein fürchterlicher Anblick, der Matthew so heftig traf, es war die Erkenntnis darüber wozu Leute im Stande waren. Gerade er hätte es wissen sollen, mochte man meinen. Gerade er, der er so oft so skeptisch war, der Fremde immer auf Abstand hielt, auch wenn er dabei nie offensichtlich vorging. Seine Vergangenheit hätte ihn vorbereiten sollen auf den Wahnsinn der Welt, aber irgendwie hatte sie das nicht getan. Und ganz so als hätte er daran erinnert werden müssen, dass zu jeder Zeit immer alles auf der Kippe stand, war diese Frau aufgekreuzt - als eine Art Lehrerin. Was hatte er Sally Mitchell getan, dass diese Frau ihn so verachtete?
Nichts, er kannte sie nicht und sie kannte ihn nicht und doch hatte sie sich entschieden sein Leben müsse enden. Dass ihr dies nicht gelungen war, war Zufall und schnellem Handeln anderer Leute zu verdanken gewesen, aber Trost spendete das dem jungen Mann nicht.
Matthew war vollkommen überfordert von dem was er erfahren und gesehen hatte und noch nicht einmal die Gegenwart von Clarence machte irgendetwas besser. Das Gegenteil war sogar der Fall.
Cassiel – der seit seinem Erwachen aus dem Koma nicht mehr schmerzfrei gewesen war – vergrub seine Finger auf selbstzerstörerische Weise in seinem Gesicht und schrie in seine Hände, ein Geräusch durchtränkt von Schmerz und Frust und unbändiger Verzweiflung.
Clarence und all seine liebgemeinten Worte hatten hier und jetzt keinen Wert mehr, Matthew konnte nichts mehr mit ihnen anfangen. Die Wahrheit war eine Andere als das, was der Größere ihm hatte erzählen wollen, Bennett und Arquin waren nicht anders. Auch sie hatten immerzu aufbauende Worte gefunden. Aber was hätten sie ihm auch sagen sollen, wenn nicht höfliche Phrasen? Phrasen, die Matthew nicht mehr hören wollte und konnte. Er hatte es satt, war es leid um irgendetwas zu kämpfen, Pläne zu schmieden, sich aufzuraffen.
Wozu all das, wenn ein Stein doch ohnehin alles beenden konnte?
„Geh weg…“, brachte Cassiel schließlich hinter seinen Händen hervor als sein Schrei verebbt war und sein Schluchzen Worte wieder zuließ. Er wollte niemanden mehr um sich haben, niemanden mehr sehen und vor allem wollte er nicht, dass jemand ihn sah.
Er war müde, er war erschöpft, er war maßlos entsetzt und wusste nicht mit dem umzugehen, was Sally Mitchell ihm aufgezwungen hatte. Eine Realität für die er nichts konnte und um die er nie gebeten hatte, als er mit Clarence an jenem verhängnisvollen Morgen in Cascade Hill City angelegt hatte.