Doktor Bennetts Haus
18. Mai 2210
Egal was hinter ihnen lag, was sie bereits miteinander erlebt und überlebt haben mochten - vermutlich war dies hier der schlimmste Moment, der sich jemals zwischen sie gestellt hatte.
Wie ein Vorhang legte die Realität einen dunklen Schatten über das was derzeit Wahrheit war und auch die kommenden Wochen noch sein würde. Die Welt, wie sie sie gekannt hatten, würde auf dieser Insel nicht mehr so sein wie vorher und der Name Cascade Hill auf ewig verknüpft mit einer jungen Frau, unberechenbar und erbarmungslos wie die offene raue See.
Der Grund, den Sally Mitchell als Geständnis angegeben haben mochte oder auch nicht – Clarence waren die Details ihrer Festnahme noch immer nicht genau bekannt – würde einzig und alleine in ihrem kleinen Kosmos Bestand haben, jedoch nie und nimmer in ihrer Umwelt. Kein böses Wort hatte der Jäger bislang von anderen Bewohnern dieses Städtchens vernommen, niemand hatte die Tat der Fischerstochter durch lautstarke Bekräftigungen unterstützt, niemand hatte ihr Recht gegeben in ihrer Ansicht, dass die Verbindung der beiden Männer unrecht wäre.
Aber schützten all die guten Bürger von Cascade Hill City Fremde davor, jenen mit anderer Weltanschauung zum Opfer zu fallen? Wer von ihnen allen konnte schon in die Gedankenwelt seines eigenen Nachbarn eintauchen und eingreifen, noch bevor ein Unglück wie das Vergangene geschah?
Nein, nichts und niemand konnte Matthew und Claire schützen vor dem was geschehen war, weder hier in dieser Kleinstadt auf einer Insel mitten im Meer, noch irgendwo anders in dieser verdorbenen Welt. Buße, Vergeltung und Wiedergutmachung, das war es was blieb, und jeder der vorbei kam war redlich bemüht all das auch zu leisten; so lange Sally jedoch in ihrer Zelle saß und froher Dinge auf ihr Urteil wartete, kein einziges ihrer strohigen Haare gekrümmt, würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis ihr der nächste Stein in die Hand und der nächste Fremde zum Opfer fiel. Cassies Schmerz war nicht ihr Schmerz und alles was sie bislang aus ihrer Tat gelernt hatte, war, dass man für eine Weile von Daheim in eine kurzweilige Einzelhaft umzog.
Sally Mitchell war nicht nur Synonym für die noch so winzig kleine aber dennoch mächtige Verderbnis in dunkelsten Gassen, nicht nur Täter im Angesicht des Opfers welches sein eigener Mann war - sondern gleichsam ein Schatten der Clarence nebst der offensichtlichen Kerbe in seinem Herzen auch seine eigenen Sünden aufgezeigt hatte. Matthew zu verlieren war das schlimmste, was der Jäger sich in seinem derzeitigen Leben würde vorstellen können und gerade deshalb hielt Sally nicht nur dem Dunkelhaarigen die unberechenbare wilde Welt vor Augen, sondern auch dem Blonden seine eigenen taten der Vergangenheit.
Das Leid, welches er in den Tagen von Matthews Bewusstlosigkeit empfunden hatte, hatte er in jüngeren Jahren unzähligen anderen zugefügt. Nicht umsonst sagte man, dass schlechtes Karma sich eines Tages rächte und die eigenen Taten früher oder später auf einen selbst zurück fielen. Widersprüchlich zwar wenn man bedachte, dass Barthy Junior alleinig im Namen seines Schöpfers und Gottes gemordet hatte und Matthew gleichwohl als Geschenk des gleichen ansah… nachvollziehbar aber auch, wenn man wusste wie sehr der Christ Religion und Weltliches in seinen Anschauungen voneinander trennte.
Das, was sein einstmals stolzer und ansehnlicher junger Mann gewesen war, blickte heute entstellt und geschändet in sein eigenes Spiegelbild und der Ausdruck, der sich dabei über jenes ramponierte Antlitz legte, würde sich von heute an bis in alle Ewigkeit in Clarence‘ Erinnerung einbrennen. Schon oft hatte er seinen Mann in den zurückliegenden Monaten voller Angst und Entsetzen gesehen – in der Nacht als Matthew ihm das erste Mal von White Bone erzählt hatte, in den ersten Tagen nach seinem Erwachen aus dem Spinnenfeld, an dem Vormittag an dem Cassie erkannt hatte dass die Säurewunde in seinem Gesicht niemals ganz verheilen würde und auch viele unzählige Male sonst. Doch kein einziger dieser Augenblicke würde jemals an den heutigen heranreichen können und noch bevor der Dunkelhaarige mit dem teils rasierten Schädel in lautes Schluchzen verfiel, hatten sich bereits die ersten stillen Tränen in Claires Augen geschlichen.
Gold, Waffen, Kleidung, Ausrüstung – Plünderer und Mörder stahlen einem so ziemlich alles in den Wäldern, wenn man nicht gut genug auf sich Acht gab. Man war darauf gefasst zu verlieren was man besaß, nicht nur Gegenstände von Wert, sondern auch geliebte Menschen. Mutter, Vatter, Kinder, im schlimmsten Fall sogar das eigene Leben.
Doch verletzt zu werden, verstümmelt oder entstellt, nur um zurückgelassen zu werden und zu überleben – wer fürchtete sich nicht vor diesem grausamsten aller Albträume? Es war das eine sich umzublicken und nicht mehr wiederzufinden was einst war; in den Spiegel zu blicken und nicht mal mehr sich selbst zu besitzen, vielleicht sogar Gewissheit zu haben fortan auf ewig so zu sein, das einzige was einem angeblich niemand rauben konnte verloren zu haben, das war vielleicht eines der grausamsten Dinge, das einem selbst widerfahren konnte.
Der Schrei, welcher kurz darauf durch den Raum tönte, ging Clarence durch Mark und Bein und stellte die feinen Härchen seines Leibes auf wie selten ein Laut zuvor es geschafft hatte. Natürlich war man gefasst auf Reaktionen, die der eigene Geliebte bei solch einem Anblick an den Tag legen würde, aber waren sie erst einmal eingetreten, alle Gedanken erschienen wie weggeblasen. Kein Wort dieser Welt würde Matthew seinen Schmerz über sein derzeitiges Antlitz nehmen können, keine Liebe dieser Welt gab ihm in jener Schrecksekunde sein schönes Gesicht wieder zurück und Clarence wusste unerschütterlich, dass er den Kampf gegen Cassies maßlose Furcht nur schwer würde gewinnen können – wenn überhaupt.
„Cassie… Cassie, nicht…“ – Hilflos und dünn klangen die leisen Worte des Jägers, der die dunklen Wolken zwar aufziehen gesehen hatte, jedoch nicht mehr wusste wie man damit umgehen sollte. Ähnlich wie sein Mann heimlich befürchtete kein Feuer mehr entfachen zu können, war Clarence sich nicht mehr sicher auf welche Weise er seinen eigenen Angetrauten handhaben sollte, denn derart selbstzerstörerisch hatte er den Jüngeren nie zuvor erlebt.
Vor seinem inneren Auge sah der Schamane bereits den Quacksalber empor stürmen, die geladene Spritze im Anschlag, stets dazu bereit seinen Patienten mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln zu betäuben. Vielleicht wäre das im Moment sogar wirklich das Beste, vielleicht sollte man Cassie… für einen Moment kurzschließen, weil er ansonsten nicht mehr von alleine aus seinem Tobsuchtsanfall heraus fand – aber Claire hatte schon viel zu lange an diesem vermaledeiten Bett neben einem Schlafenden geharrt, als dass er seinen eigenen Mann nun mutwillig wieder in einen solchen Zustand zurück versetzen würde.
„Matthew Cassiel Sky, hör auf!“
Mit einem hektischen Kopfschütteln, unfähig der alles zerstörenden Wut und Angst seines Partners sowie besten Freundes weiter zuzusehen, langte Clarence nach den Handgelenken des Liegenden und zog die einzigen Waffen, die sein stures Böckchen noch besaß, von dessen Gesicht fort. Kraft und Überlegenheit war das Allerletzte was er hatte gegen Matthew einsetzen wollen, aber bei Gott, was blieb ihm denn noch länger übrig? Cassie dabei zusehen wie er sich das letzte bisschen Ansehnlichkeit aus seinem Antlitz kratzte und darauf hoffen, dass gut gemeintes Säuseln irgendwann anschlug? Und wenn ja, wann war dieses irgendwann – wenn sein Mann mit den Fingernägeln auf dem Grund seiner Augenhöhlen aufgekommen war?
„Hör auf, Matthew…“, war die Stimme des kräftigen Hünen zu etwas Zittrigem verkommen dem man anhörte, dass er selbst nicht weiter wusste. Vereinzelte Tränen hatten sich aus seinen Augen gelöst und dabei schimmernde Pfade auf seinen Wangen hinab gen Bart hinterlassen, doch bis in seinen Tonfall waren sie noch nicht vorgedrungen. Sich fortschicken zu lassen, seinem Mann dabei zuzusehen wie er sich nun ganz und gar zerstörte – nichts davon kam infrage und doch wusste Claire dagegen genauso wenig mit Sicherheit anzugehen wie gegen den Einbruch des Winters.
Durchatmend drückte er dem Geschwächten die kämpfenden Hände auf die Brust und machte ihn damit zumindest unfähig zu kratzen und zu schlagen, wenngleich er ihm das Toben weiß Gott nicht verbieten konnte, noch würde. Was Sally Mitchell ihm angetan hatte war unfair, es entbehrte sämtlicher Logik und ließ jeden nachvollziehbaren Grund für einigermaßen gebildete Leute vermissen. Die Frau hatte Matthew nicht nur seine Vitalität, seine Kraft und sein Aussehen genommen, sondern vor allem auch seine Würde – und das war ein Gut, welches nicht mal Clarence seinem Geliebten zurück geben konnte, so sehr er auch versuchte Cassie wenigstens würdevoll zu umsorgen.
„Es sind nur… Prellungen, Cassie. Das einzige, was gebrochen ist, ist die Stelle unter der Naht. Mach nicht noch… zusätzlich Kratzer in dein Gesicht, die irgendwelche Narben hinterlassen wenn der Rest längst abgeschwollen ist“, versuchte der machtlose Bär auf irgendeine Art und Weise zurück zu Matthew durchzudringen, auch wenn dies momentan unmöglich schien.
Dass er eigentlich von seinem Gemahl aufgefordert worden war sich zu entfernen, hatte er durchaus gehört und mit schmerzendem Herzen zur Kenntnis genommen – aber wenigstens jetzt wollte Clarence diese Anweisung noch dem Schock verschreiben anstatt bitterem Ernst, wollte sich im Moment erfolgreich einreden, dass ausgerechnet er – der immer an Cassies Seite war wenn es diesem nicht gut ging – sicher nicht damit gemeint sein konnte.
Für einen Außenstehenden, der weder wusste was passiert war, noch Matthew kannte, mochte die Reaktion des Jüngeren unverständlich oder übertrieben anmuten. Aber jeder in der kleinen Stadt wusste was geschehen war, wie sinnlos und feige der Angriff erfolgt war und wie unvermittelt der Dunkelhaarige von einer Sekunde zur Nächsten aus dem Leben gerissen worden war. Kein Streit, kein Disput, keine Provokation hatten beide Männer vom Zaun gebrochen, nichts konnte rechtfertigen was Sally Mitchell gemacht hatte und auch deshalb war in Cascade Hill City die Diskussion neu entflammt, wer über sie richten sollte. Matthew allerdings half das nicht, ihm würde es nichts nützen wenn die junge Frau den gleichen Schmerz erlitt wie er, wenn man sie entstellte, sie verbannte oder was auch immer. Sein Leid würde nicht weniger werden wenn man ihr auch Leid zufügte und doch schien das die einzige wirre Art der Gerechtigkeit zu sein die ihm blieb.
Der Blick in den Spiegel hatte ihm auf schmerzhafte Weise offenbart, dass ihm nichts von sich geblieben war. Sein Gedächtnis war lückenhaft, seine Gedanken oft wirr und unzusammenhängend, sein Blick verschwommen und sein Gesicht…nicht mehr was es mal gewesen war. Nicht nur, dass der körperliche Schmerz enorm war, auch das seelische Leid zeichnete ihn nun.
Clarence, der versuchte ihn zur Vernunft zu bringen, war mit der Situation heillos überfordert, aber Cassiel war gerade blind für dessen Belange.
Der Blonde hatte ihm gesagt er sei noch immer der Gleiche, nur ein bisschen ramponiert, kein Totalschaden. Aber das war eine glatte Lüge gewesen und Matthew fühlte sich verraten und verkauft. Er wollte sich die Haut vom Gesicht kratzen, auf das er nie wieder sehen musste was Sally Mitchell ihm angetan hatte.
Niemand konnte wissen wie er aussehen würde wenn alles verheilt war. Niemand - und doch maßte sich der Ältere an, ihm einreden zu wollen alles würde wieder gut sein.
Seiner verbergenden Händen beraubt, war er gezwungen Clarence anzusehen und dieser wiederum sah ihn an, redete auf ihn ein und hinderte ihn daran sich neuerlich hinter seinen Händen zu verstecken.
“Ich bin fast blind!“ schrie Matthew seinen Gegenüber an und sprach damit zum ersten Mal aus, was ihn - unter anderem - verängstigte.
Gegenstände auf der ramponierten Seite nahm er nur verschwommen wahr, Personen nur wenn sie sich bewegten. Lag das an der Schwellung? Vielleicht. Aber mindestens so wahrscheinlich war es, dass sein Auge einen Schaden davongetragen hatte.
Es waren nur Prellungen wie Clarence ihm einzureden versuchte aber die unumstößliche Wahrheit war, dass Clarence keine Ahnung hatte. Er wusste gar nichts, weder ob alles wieder verheilen würde, noch ob bleibende Schäden eine Rolle in der Zukunft spielen würden. Er saß nur jeden Tag bei ihm, hielt ihn einigermaßen frisch und ordentlich und redete ihm gut zu. Er sah ihm ins Gesicht ohne mit der Wimper zu zucken und tat so als sei er zuversichtlich. Aber wie sollte man zuversichtlich sein, angesichts dessen was der Stein aus ihm gemacht hatte? Wie sollte Matthew sich beruhigen, der gerade nichts mehr zu haben schien auf das er sich verlassen konnte? Weder sein Verstand war ihm geblieben, noch das vertraute Antlitz - von beidem war nur noch ein Schatten übrig und angesichts dessen wie er sich fühlte, hatte er keine Hoffnungen bald wieder der Alte zu sein.
“Ich seh auf dem einen Augen fast gar nichts mehr, mein Gesicht sieht aus wie ein Geschwür!“, schrie und weinte Matthew zur gleichen Zeit. Seine stimme klang belegt und verzweifelt und weil er weinte sah sein Gesicht noch schlimmer aus als ohnehin schon. „Wie kannst du mich ansehen und….“, er weinte heftiger, wodurch er kaum noch durch die ohnehin geschwollene Nase Luft bekam. „..mir sagen, ich wäre…ich wäre…ein bisschen ramponiert?“, kläglichen Blickes sah er Clarence ins Gesicht, obwohl er kaum noch etwas erkennen konnte. Das geschwollene und blutunterlaufene Auge war durch die Tränen nun völlig unbrauchbar und das andere lieferte nur noch ein verschwommenes Bild. Matthew wollte nicht wahrhaben was passiert war und welche Konsequenzen er zu ertragen hatte, obgleich er nichts getan hatte um dergleichen zu verdienen.
Er fühlte sich betrogen und hilflos, überfordert und verraten. Sein Schmerz war endlos, weil er einfach nicht verstehen konnte und wollte wieso das alles passiert war.
Am Liebsten hätte er weitergeschrieen, aber dazu fehlte ihm die Kraft und die Luft.
Bennett war es, der schließlich ungefragt die Türe öffnet, alarmiert von den lauten Geräuschen. Binnen weniger Augenblicke hatte er die Situation erfasst und eilte zum Bett.
„Was machst du? Ganz ruhig,…ganz ruhig, Junge.“, Matthew funkelte ihn an und brachte mühsam und undeutlich die Worte “Ich bin kein Junge!“ hervor.
Der Arzt ließ sich nicht zu einer Erwiderung hinreißen, stattdessen nahm er auf der Bettseite gegenüber von Clarence Platz und musterte den Patienten ernst.
„Wie ich sehe, hast du einen Blick in den Spiegel riskiert.“, fing er an, umfing ungefragt Matthews Kinn und drehte seinen Kopf prüfend von einer Seite auf die andere um sich ein Bild von seinem Zustand zu machen.
„Ein Großteil dessen was jetzt schrecklich aussieht, wird wieder verheilen - ob Schäden bleiben werden und welche…ist im Moment unmöglich zu sagen. Was macht dein Auge?“, er redete ruhig, aber auch erstmals ehrlich mit dem Verletzten. „Seh…fast gar nichts.“, antworte der junge Mann leise, wobei neue Tränen über seine verfärbten Wangen perlten.
Ein nachdenkliches Brummen und ein Nicken waren vorerst die einzigen Reaktionen des Arztes. „Inwieweit das an der Schwellung liegt, oder daran das ein Nerv im Inneren verletzt ist, kann ich aktuell nicht beurteilen, Matthew.“ - Bennett wusste sehr genau, dass das nicht die Worte waren die sich Cassiel erhoffte, aber es machte auch keinen Sinn etwas anderes zu behaupten.
„Aber das ist aktuell auch nicht meine größte Sorge. Du brauchst Ruhe, musst ausreichend Flüssigkeit und Nahrung zu dir nehmen und vor allem musst du dir Zeit geben.“, fuhr er eindringlich fort und blickte kurz zu Clarence, der nach dem Vorfall wie ein Schießhund auf den Dunkelhaarigen aufgepasst hatte. „Wir haben alle unser Bestes getan, um wiedergutzumachen was eine der Unseren dir angetan hat. Clarence ist nicht von deiner Seite gewichen, ein jeder hat die besten Wünsche an euch.“
Matthew wollte das nicht hören, er fand keinen Trost in der Tatsache das andere Leute Mitleid oder ein schlechtes Gewissen hatten. Niemand von ihnen konnte ihm helfen.
„Aber jetzt musst du mitarbeiten, du musst essen und trinken und dir die Zeit geben wieder zu genesen. Es hat nicht viel daran gefehlt und du wärst gestorben.“, daran zweifelte Matthew nicht, aber er war im Moment nicht zugänglich für vernünftige Worte.
„Dein Jochbein ist gebrochen, dein Schläfenbein ebenfalls, obgleich es nicht nach einer kompletten Fraktur aussieht - um vorsichtig optimistisch zu sein. Der Rest…sind Einblutungen und Schwellungen. Nichts was bleiben wird.“ - „Ich will Sally Mitchell sehen.“, erwiderte Matt, als habe er dem Arzt gar nicht zugehört. „Ich will sie sehen und sie soll mich ansehen.“, forderte der Dunkelhaarige und Bennett warf Clarence einen fragenden Blick zu. „Das halte ich für keine gute Idee, Matthew.“, räumte er ein und besah sich die Naht an der Schläfe genauer. „Folgender Vorschlag: ich tue was ich kann und spreche mit unserem Friedenswächter und Bürgermeister diesbezüglich und du beruhigst dich und zeigst dich kooperativ.“, Matthew nahm diese Idee reglos zur Kenntnis, er tat nicht einmal so als würde er Bennetts Vorschlag zustimmen.
„Ich hole ein Schmerzmittel.“, der Arzt kam nicht wirklich weiter in der Behandlung des Jüngeren, eine Tatsache die ihm selber nicht minder gegen den Strich ging als Matthew.
Mehr als die Schmerzen zu lindern konnte er nicht tun. Die Zeit würde zeigen wie es weiterging - ein Umstand der nicht gerade befriedigend war, aber den sie alle hinnehmen mussten.
Kaum waren Clarence und Cassiel wieder allein, rutschte Matthew tiefer unter seine Decke, drehte den Kopf von dem Blonden weg und sah in die andere Richtung.
„Sieh mich nicht an…“ Wenn er gekonnt hätte, er wäre auf Distanz gegangen und hätte sich irgendwo verkrochen, alles damit Clarence ihn nicht so zu Gesicht bekam wie er jetzt aussah.
Clarence verstand die Wut, die sein Mann angesichts des eigenen Zustandes empfand. Er verstand die Angst, die mit seinen Verletzungen unabwendbar einher ging und er verstand die Furcht vor der generellen Machtlosigkeit, derer man sich augenblicklich gegenüber stehen sah. Dass Matthew, sonst schön und agil wie ein stattliches junges Reh, gewandet zumeist in fein verarbeitetem Zwirn und gepflegt bis in die Fingerspitzen, sich vor sich selbst und den Blicken des Blonden zierte, verstand Claire ebenso.
Viele Dinge, die ihnen einst vom anderen im Verborgenen gelegen hatten, waren heute sichtbar ausgebreitet für sie zugänglich. So wie Clarence wusste, dass sein adrettes Äußeres das einzige gewesen war was man seinem Mann niemals hatte nehmen können, verstand auch Cassie wie wertvoll es war, wenn sein Bär einem Fremden von ihrer Bindung zueinander erzählte. Nichtige Kleinigkeiten wie manch anderer meinen mochte, Aspekte ihres Charakters die doch offensichtlich sein sollten in einer guten Ehe – aber jemand der solches behauptete, kannte die beiden jungen Männer einfach nicht.
Sie hatten sich nicht kennengelernt auf einem Stadtfest oder während einer Eskorte in eine nächst größere Ortschaft, so wie andere junge Leute sich kennenlernten. Sie waren nicht in behüteten Verhältnissen aufgewachsen um solche Werte gemeinsam weiter fortzuleben, nachdem sie sich das Ja-Wort gegeben hatten.
Ihre Bindung, so wenig offensichtlich sie für das vorübergehende Auge überhaupt war, funktionierte so nicht. Der Kit, der sie beieinander hielt, hatte lange Zeit benötigt um überhaupt angerührt zu werden und wenngleich Clarence der festen Überzeugung gewesen war er könne nun nicht mehr bröckeln, schienen seine guten Hoffnungen heute auf Messers Schneide zu stehen.
Der Kleinere sollte toben und schreien, sollte wütend sein auf Sally Mitchell und die ganze Welt, denn dazu hatte er alles erdenkliche Recht. Wenn es nach dem Blonden ging, konnte er seinen Ärger sogar an Clarence auslassen, er würde wie ein Fels in der Brandung alles über sich ergehen lassen. Doch ihn fortschicken, seinen Hass auf seinen Ehemann übertragen und ihn versuchen auszuschließen?
Das ging Clarence nah und wenngleich er dies mit keinem Wort formulierte, seine weichende Gesichtsfarbe sprach Bände was seine derzeitigen Gefühle anging.
Es war ein Segen und abgrundtief traurig zugleich, dass ausgerechnet der Quacksalber derjenige sein sollte, der ein gewisses Maß Ruhe zurück über ihren gemeinsamen Patienten zu legen vermochte. Doktor Bennett genoss mittlerweile sogar so etwas ähnliches wie Ansehen seitens des Schamanen, auch wenn er dessen Praktiken nicht immer völlig gutheißen konnte; zu viele Köche verdarben bekanntlich den Brei, weshalb Clarence ihn dennoch oftmals machen ließ, ohne gleich eine ausufernde Diskussion vom Zaun zu brechen.
Der Arzt konnte von Glück reden seinem derzeit ungebetenen Untermieter keine Vorwürfe hinsichtlich des Spiegelns zu machen, doch was er ansonsten von sich zu geben hatte, war auch nicht das womit Claire gerechnet hatte. Natürlich war ihm nach den täglichen Fragerunden nicht entgangen, dass der Dunkelhaarige Schwierigkeiten damit hatte auf seinem rechten Auge zu sehen. Man müsse warten bis die ausgeprägten Schwellugen der Lider abnahm, hatte der Quacksalber gesagt, erst dann würde man das volle Ausmaß besser beurteilen können – von Verletzungen am Auge hörte der Jäger gerade zum ersten Mal.
Irritiert und entrückt blickte er Doktor Bennett an, die langsam zurückkehrende Ruhe im Raum durchaus wahrnehmend nun da Matthew wenigstens nicht mehr schrie, und versuchte die neuesten Äußerungen des Arztes mit dem zusammen zu bringen, was er bereits wusste. Von Nervenschädigungen hatte er zu Beginn gesprochen als Cassie noch im Koma gelegen hatte, dass man abwarten müsse wie es seinem Gedächtnis und seinem Allgemeinzustand ging. Doch wann war an all diesen Tagen auch nur ein Wort über die Sehkraft des Jüngsten im Raum gefallen?
Die neusten Erklärungen des älteren Herren, ruhig und beinahe schon selbstverständlich, ließen sämtliche vorangegangenen Worte Clarence‘ wie bloßen Hohn erscheinen und machen die Dinge zwar für den Moment besser, wenn dann aber nur oberflächlich. Natürlich war es wichtig dass Cassie aß und trank, dass er kooperierte um dadurch wieder auf die Beine zu kommen, damit man das bleibende oder nicht bleibende Ausmaß besser abschätzen konnte.
Auch wenn Clarence froh war, dass Bennett die Lage für diesen Augenblick entschärft zu haben schien, hatte er am Ende doch nichts anderes hinterlassen außer einem großen Loch zwischen den beiden verheirateten Männern. Was Matthew vor wenigen Minuten noch glücklich gemacht hatte, nämlich das Eingeständnis einer völlig Fremden gegenüber miteinander durch Liebe verbunden zu sein, verteufelte der Dunkelhaarige mittlerweile sicher schon und erkannte schlussendlich, warum in Claires Stimme so viel Selbstanklage gelegen hatte angesichts der zurückliegenden Umstände.
Wachen und doch noch immer tränenverhangenen Blickes musterte er den Liegenden, den Quacksalber kaum eines weiteres Blickes würdigend als dieser wieder das Zimmer verließ – bei Gott, wie oft schon hatte dieser Kerl gesagt er hole Schmerzmittel, war dann aber für Ewigkeiten fort gewesen? – und war beinahe schon darauf gefasst, sein Partner würde abermals Anstalten machen ihn der Räumlichkeiten zu verweisen. Noch immer hielt er dessen Handgelenke fest um ihn vor sich selbst zu schützen, vielleicht aber auch nur um selbst an Cassie Halt zu finden, wenn dieser schon nicht dazu in der Lage war ihm diesen zu geben.
„Du bist mein Mann… und wenn ich will, sehe ich dich an“, entgegnete der Hüne leise in einem Anflug von Widerwillen, allerdings hatte seine Stimme sämtlichen Biss und Elan einer wahrhaften Auseinandersetzung verloren. Was blieb, war einzig und alleine das Gefühl von Einsamkeit – denn so schnell wie sich Vertrautheit zwischen ihnen aufzubauen vermochte, so schnell stürzte sie oft auch wieder zusammen, wie der heutige Tag abermals bewies.
Natürlich konnte er nicht erwarten dass Matthew derzeit ein Gespür für seine Mitmenschen besaß, jedenfalls nicht an diesem Nachmittag, nicht in dieser Situation und unter diesen Umständen. Aber ihn auszuschließen aus seinem Kosmos, das hatte Clarence sicher am allerwenigsten verdient.
„Das mit deinem Auge wusste ich nicht. Davon hat der Kerl bislang kein Wort gesagt“, versuchte er sein gutes Zureden stattdessen zu erklären, denn wenn es eines gab das Claire am allerwenigsten gewollt hatte, dann war es seinen Freund und Geliebten anzulügen. Die guten Hoffnungen würde er darüber hinaus aber wohl kaum ablegen können, denn wenn weder Matthew noch er selbst in irgendeiner Art und Weise optimistisch blieben, wer tat es dann für sie?
Für einen Moment schweigend musterte er den dunklen Schopf, welcher noch aus dem Deckensaum hervor lugte, und auch die schwarze Naht blieb seinen Augen nicht verborgen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Clarence ohne Aufforderung, sondern nur aus einem bestimmten Gefühl heraus die Augen verschlossen um Cassie die Schmach der Beobachtung zu ersparen. Aber damals waren sie noch nicht miteinander verheiratet gewesen und in den letzten Monaten hatte er schließlich doch so viel von dem schönen Leib seines heutigen Ehemannes erblicken können, dass sein Antlitz eigentlich das geringste Übel von alldem sein sollte. Eigentlich.
„Sallys Schwester hat mich niedergeschlagen. Nach all deinem Blut auf dem Marktplatz… habe ich nichts anderes von dir mehr mitbekommen.“
Noch immer klang die Stimme des Älteren seltsam monoton und auch sein Gedankensprung schien überhaupt nicht mehr zu dem zu passen, was eben noch in diesem Raum geschehen war. Aber wann tat es das bei Clarence schon.
„Ich kann dir verraten… wie ich dich ansehen und dir sagen kann, du bist ein bisschen ramponiert. Aber es wird dich nicht trösten, genauso wenig wie ich dich trösten oder dir von heute auf morgen deine Gesundheit zurück geben kann.“ – Gott wusste, Clarence gefiel es genau so wenig wie seinem Nebenmann, welchen Preis dieser hatte zahlen müssen für die Ankunft in dieser Stadt hier. Wäre er ein Hexer und der Magie fähig, Claire hätte sich überschlagen um die Dinge ungeschehen zu machen oder Cassie wenigstens wieder in den alten Zustand zurück versetzen zu können. Aber das konnte er nicht, genauso wenig wie er seinem Mann die Schmerzen und die Pein abnehmen konnte.
„Man hat dich hierher gebracht während ich bewusstlos war, aber du warst schon nicht mehr im Behandlungszimmer bis ich hier angekommen bin. Das Einzige, was noch von dir unten war… war ein riesiges Büschel Haar an einem riesigen Stein und eine riesige Lache Blut von dir auf einer Pritsche“, drückte er vorsichtig die Hände seines Liebsten, auch wenn es wohl eher ihn selbst beruhigen würde als Matthew.
„In meinem Leben hab ich schon Männer gesehen… die haben das halbe Hirn weggeschossen bekommen und überlebt… und sind danach als sabberndes Etwas vor sich hin vegetiert. Ich hab Menschen gesehen, denen hat hinab fallendes Geröll am Grey Eagle den Schädel zertrümmert. Als ich diese Treppe da vorn das erste Mal hoch gegangen bin, da… hab ich mir ausgemalt, was dieser Stein wohl mit dir angerichtet hat. Ob dein Kopf nun einen riesigen Krater hat… oder ob Sally dir das Gesicht einmal quer gespalten hat und beide Hälften nun nicht mehr gerade aufeinander sitzen. Aber weder das eine, noch das andere war der Fall... bis Bennett dann irgendwann mit deinem Gedächtnis angefangen hat.“
Ungläubig schüttelte sich der blonde Schopf des Jägers, doch ob er ihr offensichtliches Glück oder die Verzweiflung des Jüngeren nicht fassen konnte, blieb darunter ein Geheimnis.
Vorsichtig neigte er das Haupt um mit den Wangen über seine Schultern zu streichen, doch fast zeitgleich brachte ein leises Schluchzen neue Tränen hervor, unter denen er Matthew schlussendlich doch wieder los ließ. Kurz fuhr er sich mit den Händen durchs Gesicht; wie schwer es dem Bären von Mann fiel sich zusammenzureißen und den aufkommenden Kummer hinunter zu schlucken, war niemals zuvor derart offensichtlich gewesen wie heute.
„Ich hab dich schon… auf dem Deck eines fremden Schiffes stehen sehen, weil du dich nicht mehr an mich erinnerst und auch nicht bei mir bleiben willst“, gestand Clarence leise und wischte sich ein letztes Mal durch die Augen, bevor er sich leise räusperte um seine Stimme zurück zu erlangen. „Und viel schlimmer… hab ich mir ausgemalt wie es wäre, wenn du dich nur an mich nicht mehr erinnerst und denkst, ich wäre irgendein Scherge den Rouge dir geschickt hat. Jemand vor dem du Angst haben müsstest… und den du fortan meidest wie einen Fremden. Aber auch das war nicht der Fall, als du… als du aufgewacht bist und gesagt hast, dass wir verheiratet sind.“
Eindringlich blickte er auf das bisschen dunkelbraunes Haar hinab, welches Matthew ihm von sich gelassen hatte, bevor Claire seinen Blick hinüber zum Fenster schweifen ließ. Der Himmel war grau und verhangen, wie jeden Tag eigentlich – seitdem dieses Verbrechen sie auf offener Straße ereilt hatte, hatte der Jäger in dieser Stadt hier noch keinen einzigen Sonnenstrahl gesehen.
„Du kannst von mir denken was du willst, aber ich denke… angesichts dessen, was dich viel wahrscheinlicher hätte ereilen müssen, bist du wirklich nur ein bisschen ramponiert. Und egal was du sagst oder tust… werde ich weder von dir fort gehen, noch mich von dir abwenden“, drohte er seinem Mann mit warmem Ton an, was Cassie sich derzeit wohl am allerwenigsten wünschte. „Soweit ich mich recht erinnere, habe ich in Coral Valley gesagt bis der Tod uns scheidet und nicht… bis Sally Mitchell kommt und dir einen Stein an den Kopf schmeißt. Ich kann dir deine Last vielleicht nicht nehmen, aber du bist jetzt auch nicht mehr alleine. Und wenn du keine Kraft findest für dich zu kämpfen, wer soll es dann tun wenn nicht ich, mh?“
Der Grund warum Matthew allein sein wollte war nicht Wut oder gar Zorn.
Er hasste Clarence nicht für seine Lüge oder dafür das er dieser Fremden von ihnen beiden erzählt hatte.
Er war nicht enttäuscht von Clarence und er gab ihm auch nicht die Schuld. All das hätte sicher nahegelegen, im ersten Zustand des Schocks. Aber der wahre Grund war ein Anderer. Matthew wollte nicht, dass Clarence ihn so sah wie er war. So schrecklich entstellt und allem beraubt was ihn sonst ausgemacht hatte. Er war nicht einfach nur verletzt, er war vollkommen verunstaltet und überdies nicht mehr besonders schnell im Kopf. Manchmal musste er überlegen wie die einfachsten Abläufe waren, weil er sich nicht erinnern konnte. Wie sollte er in diesem Zustand für irgendwen etwas anderes sein als eine riesige Bürde? Clarence, der viel von Ehre und Aufrichtigkeit hielt, würde ihm nie sagen das er ihn - nun wo das geschehen war - weniger gern hatte. Aber Matthew hatte sich selbst weniger gern und er wollte niemandem so unter die Augen treten.
Sally Mitchell hatte sicherlich gar keine Ahnung was sie angerichtet hatte, dass ihre dumme und sinnlose Tat nicht nur ein Leben zerstörte sondern sogar zwei.
All ihre Pläne und Hoffnungen, die guten Vorsätze, all das war vorerst fort - und niemand konnte mit Gewissheit sagen ob es wieder Anlass geben würde sie neu zu schmieden. Wenn Matthew nicht vollständig gesund wurde, wenn sein Auge nicht mehr mitspielte, sein Gedächtnis ihn weiterhin im Stich ließ, wenn unter den Schwellungen weitere Deformierungen lagen. Was dann? So hatten sie nicht gewettet als sie einander geheiratet hatten und so sollte es für den Blonden auch nicht ausgehen.
Clarence sollte sich nicht seinen Anblick antun müssen, sollte seine Zeit nicht mit ihm in diesem Zimmer vergeuden. Wenn es Zeit brauchte bis er wieder einigermaßen normal aussah, dann sollte der Blonde in dieser Zeit woanders sein. Irgendwo, Hauptsache nicht dem Anblick von Matthew ausgesetzt.
Nichts von dem was Clarence an ihm attraktiv fand war noch da, kein Charme, kein Esprit, kein funkeln in den Augen, kein schiefes Lächeln. Es gab keinen Grund - außer ihrer Ehe - warum Clarence bei ihm sein sollte, ihn wusch und sauber hielt, das Bettzeug wechselte.
Matthew war nicht nur eine Last, er war auch noch eine überaus hässliche Last.
Und das wollte er nicht sein. Das war der Grund warum er den Hünen wegschickte, warum er ihn nicht mehr ansah, sondern das Gesicht abgewendet hielt vor Scham und Kummer. Schon einmal hatte der Hüne ihn gepflegt und aus dem Reich der Toten zurückgeholt, aber damals war es anders gewesen für Cassiel.
Ein Fremder hatte um sein Leben gekämpft - was verdächtig gewesen war. Aber da er diesen Mann nicht kannte, hatte er sich auch wenig aus ihm gemacht.
Heute war das längst völlig anders: er liebte Clarence mehr als sein Leben und dieser Mann sollte sich nicht mit ihm abgeben müssen, wenn er nicht mehr der war in den sich Clarence einst vernarrt hatte.
Während Matthew mit geschlossenen Augen und abgewendetem Kopf dalag, fand Clarence seine Stimme wieder. Sie klang belegt und traurig, schmerzlich verletzt und voller Kummer. Es tat weh den Blonden so reden zu hören, aber Matthew verbot ihm nicht das Wort, auch wenn er am Liebsten völlig allein gewesen wäre im Augenblick.
“Du bist mein Mann…und wenn ich will, sehe ich dich an.“ geisterten die Worte durch Matthews Kopf, obgleich sie längst vergangen waren und Clarence bereits von etwas anderem sprach. Wahrscheinlich hatte der Blonde recht wenn er aufzählte was noch hätte alles passieren können und das Matthew - gemessen an der Wucht des Treffers - noch glimpflich davongekommen war. Aber Cassiel fühlte sich nicht wie ein bisschen ramponiert. Es war auch kein Trost, dass andere Leute mit ähnlichem Schicksal als sabbernde Volltrottel dahinvegetierten und er zumindest nicht sabberte.
Das war kein Glück. Glück wäre gewesen wenn der Stein ihn nicht am Kopf sondern am Hintern getroffen hätte. Dann hätte er da einen großen blauen Fleck bekommen für den Clarence ihn aufgezogen hätte und der nach zwei Wochen schon fast verschwunden war.
Aber Sally Mitchell hatte ganze Arbeit geleistet. Matthew fühlte sich zerstört und beraubt und seines Mannes unwert, dass war die Quintessenz warum er allein sein wollte. Scham und das Gefühl, dass er so wie er gerade war für seinen Bären nicht zumutbar wäre.
Unterm Strich war Cassiel seit früher Kindheit ein vorsichtiger Mensch, kaschierte etwaige Unsicherheit hinter einer großen Klappe und konnte andere erfolgreich darüber hinweg täuschen, dass er oftmals gar nicht so selbstsicher war, wie er gern tat.
Nun war er aber jedoch dieser Fähigkeit beraubt worden und vor Clarence so dazuliegen, so hilflos und obendrein entstellt, angewiesen auf jeden Handschlag des Anderen, dass war zu viel für den jungen Mann, der sonst immer große Stücke auf seine Unabhängigkeit hielt. Während Clarence davon erzählte was geschehen war und welche Befürchtungen er gehabt hatte, versuchte Matthew weitere Tränen zu verdrängen. Es half niemandem wenn er heulte und im Selbstmitleid ertrank, es half auch Clarence nicht dabei über ihn hinwegzukommen. Der Blonde sollte gehen, ihn allein lassen und versuchen ihn zu vergessen. Denn ein Leben mit einem halbblinden, vergesslichen und entstelltem Mann zu führen, dass konnte und wollte der Dunkelhaarige niemandem zumuten - am Allerwenigsten Clarence.
Aber der Bär war anderer Meinung, sondern bekräftigte das er nicht fortgehen würde. Nicht körperlich und nicht mental. Diese Worte hätten aufbauend sein sollen und stützend, Matthew wusste das und doch konnte er keinen Trost in ihnen finden.
„Ich weiß…was du mir…mir sagen willst.“, entgegnete er schließlich, den Kopf weiterhin von Clarence abgewendet weil er nicht ertrug ihn anzusehen und zu wissen, was Clarence sah wenn er in sein Gesicht blickte. „Aber ich kann nicht…ich kann so nicht…mit dir….mit dir zusammen sein.“ Matthews Worte waren leise, seine Stimme brüchig. Er weinte obwohl er nicht wollte, aber es tat so weh diese Dinge zu sagen.
„Du solltest nicht…mich nicht so…sehen müssen. Ich will das nicht…“
Mit kämpfen hatte das nichts zutun, eher mit der scheinbaren Gewissheit für den Mann den er liebte nur noch Verpflichtung und Bürde zu sein.
Hilflos zu sein war das Eine, ein bisschen ramponiert zu sein ebenso. Aber er war nicht nur hilflos und nicht nur ein wenig lädiert. Die Prognosen von Bennett waren mehr als schwammig und sein Optimismus war auf Sand erbaut. In einer Welt wie der ihren waren Handicaps weit verbreitet, freilich. Aber wollte Matt ein Leben als Last für Clarence führen? Nein - unter gar keinen Umstände.
Just in dem Moment öffnete sich die Tür mit einem leisen Knarren und der Mediziner trat ein. Er hatte ein kleines Tablett dabei auf dem ein kleines Fläschchen stand sowie eine Spritze lag. Die dünne Nadel wurde mit Hilfe einer farblosen Tinktur desinfiziert und anschließend in das Fläschchen gestochen.
„Ein stärkeres Schmerzmittel als üblich.“, erklärte Bennett mit wenigen Worten und zog die Spritze auf, in dem er die Flasche kopfüber hielt.
Matthew schwieg, im Augenblick wollte er nur schlafen und vergessen. Der Schmerz war ihm egal. „Alles wird gut werden.“ Verkündete Bennett, aber Matt glaubte ihm nicht.
Mit einem Stich in die Vene an seiner Armbeuge injizierte der Arzt das Schmerzmittel und erhob sich nach kurzem Zögern wieder von der Bettkante.
„Wenn irgendetwas ist…ich bin unten.“
Es war schwer einen guten Rat zu erteilen, wenn der Gegenüber nichts hören wollte und gerade war Matthew nicht empfänglich für irgendetwas aus seinem Mund.
Arquin, der ihm auf der Treppe entgegenkam, wurde von Bennett abgefangen und gleich wieder nach unten eskortiert. Heute, dass war unumstößlich offenbar, war Besuch das Letzte was beide jungen Männer gebrauchen konnten.
„Aber ich kann nicht…ich kann so nicht…mit dir….mit dir zusammen sein. Du solltest nicht…mich nicht so…sehen müssen. Ich will das nicht…“
Das Wetter draußen vor den Ufern der Insel spiegelte deutlich Clarence‘ Gefühlswelt wieder. Dunkel und trist sah es in ihm aus, jederzeit bereit einen ernüchternden Regen oder eisigen Schneefall auf den Boden seines Herzens niederrauschen zu lassen. Matthew besaß als einziger Mensch auf dieser Erde die Fähigkeit, seine ganze Welt zum Strahlen zu bringen indem er sein losgelöstes Lachen ertönen ließ, doch genauso schaffte er es einen ganzen Kosmos mit Trauerflor zu überziehen, wenn er es nicht tat.
Worte waren eine scharfe Waffe, zumeist schärfer als jedes Messer und jede Kugel. Eine Klinge konnte das Herz verfehlen, ein Projektil glatt durch das Gewebe durch gehen, doch ein gut gewähltes Wort – es traf immer und zwar genau da, wo es am meisten schmerzte.
Das leise Weinen unter der Bettdecke wollte nicht verstummen, selbst jetzt nicht als der Quacksalber die Situation wieder etwas beruhigt hatte. Doch nicht das Schluchzen und die erstickte Stimme war es, was Claire wieder vom Fenster ablassen und zurück auf die Gestalt im Bett blicken ließ, sondern alleine Cassie, der – wenn auch noch immer aufgewühlt – endlich Worte fand, die auch sein oftmals träger Bär verstehen konnte.
„Du hast nicht- …“
Bennett war es abermals, der sie unterbrach und damit seinem bisher bereits erbauten Ruf alle Ehre machte. Entweder der Mann kam gar nicht wieder, oder aber in den unpassendsten Momenten – zwei unschöne Charaktereigenschaften, die Clarence bis heute nicht schätzen gelernt hatte.
Woher der Arzt das hatte, diese Gewissheit genau zum falschen Moment hereinzuplatzen während man wann anders vergeblich auf ihn wartete, würde wohl auf ewig ein Rätsel für alle Beteiligten bleiben. Mit großer Wahrscheinlichkeit lag es einfach am Beruf an sich – zumindest redete der Schamane sich das seit Anbeginn gerne ein, einfach um einen weiteren Grund zu haben, Ärzte zu verachten.
Die brummende Stimme des Älteren war derweil wieder verstimmt, denn der ergraute Herr hatte mit ihren privatesten Dingen nichts zu tun und würde es auch niemals haben, wenn es nach Clarence ging.
Aufmerksam verfolgten die graublauen Iriden des Jägers die schimmernde Nadelspitze, während der Doktor das Medikament präparierte; eine Prozedur die Claire nicht gefiel und die er Cassie jedes Mal aufs Neue gerne erspart hätte, wenn die intravenöse Eingabe nicht die schnellste und effektivste Methode gewesen wäre, um ihn wenigstens von seinem Schmerzen ein wenig zu befreien.
Alles wird gut werden, schallten die Worte im blonden Kopf nach und erstmals klang etwas in den Ohren des Hünen wie Hohn, wenn es in diesem Raum ausgesprochen wurde. Gut, das war etwas das danach klang als könne der Kerl nicht nur Behandeln, sondern auch die Zeit zurück drehen – am besten bis zu jenem vermaledeiten Punkt, an dem Clarence den dämlichen Spiegel aus der Kommode gefischt hatte.
Für einen Moment blickte Claire dem Arzt über die Schulter nach und hielt auch noch einen weiteren inne, als er die mittlerweile vertraute Stimme von Arquin auf der Treppe vernehmen konnte. Was der Kerl jeden, aber wirklich jeden Tag bei ihnen machte, hatte er bis heute nicht verstanden; womöglich fehlte dem Knaben eine ordentliche Anstellung oder ein gescheiter Freundeskreis, anders konnte er sich dessen Bemühungen beim besten Willen nicht erklären.
Erst als es auch unterhalb des Treppenabsatzes endlich still wurde und der letzte Schritt verstummt war, wandte Clarence sich wieder dem Häufchen Elend unter der Bettdecke neben sich zu. Ob es daran lag, dass Cassie sich die letzten Kraftreserven nun aus dem Leib geschrien und geweint hatte, oder er einfach generell resignierte: Die Ruhe konnte einen Sturm ankündigen oder auch ein komplettes inneres Abschotten seines Mannes, der Jäger wusste es noch nicht abzuschätzen.
Ein letztes Mal fuhr er sich mit den Händen durchs Gesicht, versuchte wenigstens sich selbst wieder einigermaßen herzustellen wenn er es schon bei dem Jüngeren nicht konnte. Erst dann lehnte er sich über Matthew, mit einer Hand auf der anderen Seite dessen schmalen Körpers abgestützt, und durchbrach leise die aufgekeimte Stille welche sich über den kleinen Raum gelegt hatte.
„Ich will nicht, dass du so etwas zu mir sagst, Cassie… ich sehe dich seit Tagen so und ebenso lange hast du es schon geschafft mit mir zusammen zu sein. Daran soll sich nichts ändern, nur weil du jetzt weißt wie schwer du… verletzt bist…“
Es kostete Mühe den Schmerz über die eigene Ablehnung hinab zu schlucken und ruhig zu bleiben, aber eben diese Aufgabe oblag ihm in diesem Moment nun einmal. Nicht er selbst war es, der Gewissheit darüber hatte in welches Gesicht sein Partner schon die ganze Zeit blicken musste und wenn Cassie nicht dazu in der Lage war die Verbundenheit zu seinem Bären zurück zu erlangen, dann musste eben jener ihm helfen dieses Gefühl zu finden und wieder neu anzunehmen.
„Hätte ich einen Mann gewollt, der makellos und frei von Narben ist… dann hätte ich mir von Anfang an so einen gesucht. Aber ich habe dich gewollt und das will ich auch heute noch“, erklärte Clarence dem dunklen zerwühlten Schopf leise, von dem er langsam müde wurde ihn anzublicken.
Vorsichtig griff er deshalb nach der Bettdecke und zog sie ein Stück weit hinab um wieder einen Teil von Cassie frei zu legen – um ihn anblicken zu können und dessen Blick zu suchen, jedoch ohne ihm seinen selbsterwählten Schutz erneut vollends zu nehmen. Eine Decke richtete immerhin nicht annähernd so viel Schaden an wie Fingernägel.
„Als wir uns kennengelernt haben und du nichts anderes für mich warst als… irgendein Kerl namens Matthew Reed - da habe ich mich auf dein unsittliches Angebot eingelassen, weil ich auch nur ein Mann bin, der sich von gewissen Dingen schnell einlullen lässt. Aber verliebt, das habe ich mich nicht wegen weißer Haut oder weil du vom Hemdsaum aufwärts keine Narben hast, du stures kleines Böckchen...“, hielt er Cassie das mehr oder weniger Offensichtliche vor Augen, denn auch der Schönling hatte durchaus seine Makel. Wenn man genau hinsah und seine Finger wandern ließ, spürte man die zahllosen Narben auf Matthews Leib die ihn schon seit Jahren verunzierten und die auch Farbe unter der Haut nur oberflächlich kaschierte. Selbst letztere war nichts was Claire sich von sich aus ausgesucht hätte, aber auch die bunten Bilder und Formen liebte der Jäger mittlerweile, weil sie zu seinem vorlauten Taugenichts gehörten.
„Deshalb liebe ich dich“, zog Claire abermals die Decke ein kleines Stückchen weiter herunter, bevor er seine Hand deutlich auf die Brust seines Mannes auflegte. Schon oft hatte er das tätowierte Herz mit Küssen bedacht und auch des Nachts sein Ohr auf Cassies Brustkorb gebettet, um mit dem Geräusch seines Herzschlages einzuschlafen. „…und genauso wie ich hoffe, dass du mich noch lieben und mit mir zusammen sein wirst wenn das Leben mich auf unseren Reisen geprägt hat… will ich auch mit dir noch zusammen sein und dich lieben, wenn es dich zeichnet.“
Es gab nichts auf dieser Welt das Matthew würde entstellen können, zumindest nicht in den Augen seines ihn liebenden Mannes.
„Ich will dich ansehen und bei dir sein, weil dein Herz immer das gleiche ist, egal was unter den Schwellungen in deinem Gesicht später sein wird. Und das gilt für alles andere auch, Cassie. Egal was mal auf uns zukommt. Ich werde immer da sein, ich werde immer alles dafür tun damit du wieder auf die Beine kommst… und wenn nicht, dann werde ich alles dafür tun, damit wir gemeinsam eine Lösung dafür finden.“
Eindringlich sag er auf das verquollene Häufchen Elend herab, welches sich so vehement von ihm zu entfernen versuchte; jedes Wort, das er von sich gab, konnte sie wieder näher zueinander bringen oder genau das Gegenteil verursachen.
„Das einzige, was ich niemals tun werde, ist aufhören dich zu lieben und dich zu wollen. Egal ob… fast blind oder für jeden ersichtlich gezeichnet. Solange du wach bist und dich an mich erinnerst, gehöre ich dir und du gehörst mir.“
Hinter geschlossenen Lidern versuchte der junge Mann so etwas wie Ruhe und Ordnung in sein aufgewühltes Gemüt zu bringen, aber wann immer er glaubte sich halbwegs wieder beruhigen zu können, wallte neuer Kummer in ihm auf und machte es unmöglich sich zu besinnen. Wenn es einen Weg geben würde unsichtbar zu werden, der junge Mann hätte alles dafür getan. Er wollte sich vergraben, irgendwie verstecken damit Clarence sich nicht beherrschen musste wenn er ihn ansah.
Was für Cassiel ein Grund war sich zurückzuziehen und abzuschotten war für seinen Gefährten jedoch kein Anlass ihn zu meiden. Sie waren vollkommen unterschiedlich - wie einmal mehr offensichtlich wurde in dieser Situation.
Die Stille welche sich über das kleine Zimmer gelegt hatte und die immer wieder von leisem Weinen unterbrochen wurde, schien Matthew vollkommen endgültig. So würde alles zu Ende gehen, seine Vorhaben und Pläne mit Clarence alt und grau zu werden, denn Clarence würde nicht bei ihm bleiben. Selbst wenn er nicht gleich ging, nicht in den nächsten Wochen oder Monaten… irgendwann würde er es tun - und Matthew würde ihn nicht aufhalten, weil er wusste das er nur eine Last war.
Am Ende würde er nicht auf einer Veranda sitzen und neben sich seinen Mann und Freund wissen, sondern er würde irgendwo allein sein. Wie eh und je zu feige, um sich das Leben zu nehmen. Diese Vorstellung einer fernen Zukunft, die mit dem Steinwurf dieser Sally begonnen hatte, ließ nicht zu, dass Matthew sich wirklich beruhigte. Stattdessen verstrickte er sich mehr und mehr in seinem Kummer und dem seelischen Leid, welches aktuell schlimmer war als die körperliche Pein.
Sein Schniefen klang kläglich wie das eines Kindes und der Schmerz in seinem Kopf ließ ihn sogar etwas zittern. Wie ein verletztes kleines Vögelchen lag er in dem frisch bezogenen Bett. Umgeben von weichen Stoffen und fühlte sich doch vollkommen verlassen und allein.
“Ich will nicht, dass du so etwas zu mir sagst, Cassie….“, mischte sich die vertraute Stimme des Älteren zu Matthews Schluchzen und der junge Mann schluckte kläglich. Es tat ihm leid das er so war, dass seine Reaktion für Clarence alles andere war als hilfreich oder angenehm. Cassiel öffnete sogar seinen Mund um sich zu entschuldigen, aber letztlich blieb er stumm um zuzuhören. Was der Schamane zu sagen hatte, stimmte ohne jeden Zweifel und doch war es schrecklich sich mit der Wahrheit konfrontiert zu sehen.
Als schwer verletzt bezeichnete der Hüne ihn und Cassiel schniefte erneut.
Er fühlte sich nicht in der Lage dazu etwas zu erwidern das über bloßes Jammern hinausging und bei Gott er hasste sich selbst dafür. Also blieb er vorerst stumm. Dass Clarence es allmählich überdrüssig wurde nur mit seinem Hinterkopf zu sprechen, konnte Matthew ihm nicht verdenken - und doch wollte er sich nicht umdrehen. Konnte es nicht. Denn er genierte sich zu sehr, obgleich er nichts für seine Verletzungen konnte.
Der vorsichtige Zug, mit dem Clarence ein Stückchen der Decke nach unten schob, bereitete Matthew Unbehagen aus welchem er seine Schultern reflexartig ein Stückchen hob, als wolle er verhindern das der Blonde auch nur ein Fitzelchen mehr von ihm sah.
Es dauerte einen Moment bis der junge Mann sich getraute vorsichtig das Gesicht in Richtung des Blonden zu wenden um ihn - zumindest ein bisschen - anzusehen. Es kostete ihn unglaubliche Überwindung sich nicht erneut zu verbergen und sich zurückzuziehen.
Aber Clarence fand die richtigen Worte um dem jungen Mann zumindest für den Augenblick genug Mut dafür zu geben.
Der Blondschopf sprach von Liebe, von Narben, davon wie alles angefangen hatte und worin es gegipfelt war. Die Gründe warum sie einander geheiratet hatten waren nicht die Gründe gewesen, die man bei einer arrangierten Hochzeit oft vorfand. Auch nicht die Gründe die leichtsinnige Jugendliche aus wohlhabenden Vierteln hatten.
Es war nicht Narretei und nicht gesellschaftlicher Zwang. Ihre Gründe waren wie aus dem Bilderbuch. Liebe, Vertrauen, Treue, Gefährtschaft in jeder Lebenslage. Sie hatten ineinander gefunden was nur wenige Menschen auf der Welt überhaupt noch suchten. Und das lag nicht an ihren makellosen Gesichtern und Körpern, wie Clarence es schaffte Matthew begreiflich zu machen.
Warm legte sich die Pranke des Bären auf Matthews nackte Brust, unter der des Jüngeren Herz wild und viel zu aufgeregt pochte. Er war vollkommen aufgelöst, neue Tränen bahnten sich ihren Weg über seine Wangen und obgleich es zunächst gar nicht danach aussah als würde er es tun, so drehte sich der Dunkelhaarige schließlich doch noch auf den Rücken zurück, um zu seinem Gefährten und Geliebten aufzusehen.
Es hätte ihm peinlich sein sollen so haltlos zu weinen - aber es waren nicht die Tränen derer er sich schämte, sondern sein Äußeres.
Clarence hingegen zuckte nicht zurück, nahm auch seine Hand nicht wieder von Cassiels Oberkörper fort. Wie auch schon in den vergangenen Tagen, sah der Blonde ihn an, als sei nichts an Matthews Gesicht anders als sonst, als würde es keine Rolle spielen wie er aussah, weil alles was zählte ohnehin nur sein Herz war.
“Ich will dich ansehen und bei dir sein, weil dein Herz immer das gleiche ist…“, unendlich heilsam legten sich die Worte des Größeren auf die klaffende Wunde in Matthews Seele und ließen den jungen Mann neuerliche Tränen vergießen - dieses Mal aber nicht vor Kummer oder Scham, sondern vor Dankbarkeit und Erleichterung.
Zum ersten Mal seit seinem Erwachen vor einigen Tagen versuchte Matthew sich aufzurichten in dem er sich mit beiden Armen links und rechts abstützte und sich ein Stück nach oben hievte. So ganz vernünftig war das nicht, trotzdem schaffte er es und als er einigermaßen mit aufrechtem Oberkörper im Bett saß, hob er seine stützenden Arme und legte sie ungefragt um Clarence Hals. Es bedurfte keiner Worte von Seiten des Kleineren um deutlich zu machen, wie wenig er wirklich wollte das sein Bär ihn alleine ließ. Er hatte ihn fortgeschickt in einem Reflex des Kummers, im Glauben, dass er so wie er gerade war weder Gewinn noch Kür für das Leben des Anderen war, sondern nur hässliche Pflicht.
Sein entstelltes Gesicht behutsam gegen die Halsbeuge seines Bären drängend, atmete er durch, nahm den bekannten und beruhigenden Duft seines Liebsten wahr und schloss seine Augen. Die Dunkelheit hinter seinen Lidern war angenehm, weil so nicht offensichtlich spürbar war, dass er auf dem einen Auge kaum mehr etwas sah.
„Ich werde mich immer an dich erinnern. Jeden einzelnen Tag meines Lebens.“, flüsterte Cassiel nach einem Augenblick des Schweigens und griff damit Clarence’ Worte wieder auf. „Ich liebe dich so unglaublich sehr. So sehr das ich…keine Schande…keine Schande für dich sein will wenn ich….so aussehe.“, brachte er hervor. Ein trauriges Geständnis, wenn man bedachte wie wenig Selbstwertgefühl er damit offenbarte.
Die Angst, für Clarence nicht mehr der Mann zu sein in den sich der Hüne verliebt hatte, war enorm, denn wenn man den Dunkelhaarigen danach fragen würde was andere am meisten an ihm zu schätzen wussten, dann würde er keine seiner inneren Werte benennen. Die Mädchen und jungen Kerle die sich nach ihm die Köpfe verdrehten waren nicht aus auf geistreiche Gespräche über das Weltgeschehen, Kultur oder Kunst.
Sie wollten Geschichten hören von seinen Abendteuern - egal ob erfunden oder nicht, sie wollten Schmeicheleien hören, sich mit ihm sehen lassen, sich mit ihm schmücken. Die meisten Leute die ihn kennenlernen wollten, betrachteten ihn als verwegenes Abendteuer ihres eigenen Lebens und das war in Ordnung so, weil Cassiel ihnen ohnehin nichts von sich preisgeben würde was ihn wirklich ausmachte. Clarence war der erste Mensch der sich Cassiels Vertrauen nicht erzwungen hatte und dessen Gefährte der junge Mann freiwillig war. Nicht Angst und nicht Gold schweißte sie aneinander, sondern ehrliche Liebe. Und doch blieb der Samen der Furcht in Matthew bestehen, dass eines Tages alles wieder vergehen würde und nichts blieb außer Einsamkeit und der Erkenntnis, dass er nicht gut genug war. Und wie könnte er das auch sein, wenn er fortan nicht mehr richtig sehen und denken konnte? Unfähig sich an alltägliche Dinge zu erinnern, würde er auf einem Boot keine Hilfe mehr sein und in der freien Natur nur ein Klotz. Seines Aussehens beraubt wäre auch sein Charme und seine Anziehungskraft auf den Anderen Geschichte und so würde sie nur noch ihre Ehe als Pflicht verbinden.
“Das einzige, was ich niemals tun werde, ist aufhören dich zu lieben und dich zu wollen…“ hatte Clarence gesagt und Cassiel wollte ihm glauben.
Wie frisch gefallener Schnee, die müden Felder und Wälder nach einem langen Sommer bedeckte und ihnen Möglichkeit gab sich zu erholen, legten sich Clarence’ Worte über den Samen des Zweifels, begruben ihn vorerst und ließen Matthew zur Ruhe kommen.
An seinen Bären gelehnt, kämmte er mit einer Hand gegen den Strich durch das weiche Haar in Clarence’ Nacken und hielt ihn mit der anderen bei sich.
Er sollte nicht fortgehen, niemals sollte er das, weil Clarence für Matthew alles war was zählte.
Wie unterschiedlich sie waren und dachten, aus welch verschiedenen Blickwinkeln sie in die Welt zu blicken pflegten, wurde heute an diesem Tag wieder einmal ganz besonders deutlich. Wo es für Matthew selbstverständlich gewesen war für ihn da zu sein und ihn zu lieben – auch mit blutunterlaufenem Gesicht und miserablem Erinnerungsvermögen – so sah Cassie die Dinge anders herum nicht als unumstößlich gegeben an.
Gerade für Clarence, für den es absolut keine Frage war am Bett seines Ehemannes zu harren und den die Verletzungen seines Liebsten auf Ebene seiner Zuneigung nicht beeinflussten, war es schwer gewesen die Gedanken des Jüngeren nachzuvollziehen. Doch wie so oft hatte es nur ein wenig Zeit benötigt um seine Aufmerksamkeit auch für diese Belange zu öffnen und letztlich zu begreifen, welche Schmach so schwer auf der Seele seines Böckchens lastete.
Differenzen, die andere Paare vor einer Heirat vermutlich schon zuhauf ausgefochten hatten und die mittlerweile resistent dagegen waren, waren für das junge Ehepaar absolutes Neuland. Sie hatten sich nach Offenbarung ihrer Gefühle sofort zusammengetan und vor einen Altar begeben, ohne überhaupt ihre Bindung als Liebesgespann auszutesten. Ihre neue Verbundenheit Strapazen auszusetzen. Ohne zu erproben, inwieweit sie miteinander belastbar waren.
Aus dem höchsten Liebesglück waren sie erst durch das Nest voller Spinnen, nun auch noch durch Sally Mitchell ins kalte Wasser gestoßen worden, sich selbst überlassen mit einem Rettungsring, der überhaupt nicht für den Notfall getestet worden war. Sich in den Strömungen nicht zu verlieren war schwer und gemeinsam an ihrem kleinen Rettungsring festzuhalten, ohne den anderen dabei trotz Ertrinken nicht zu vergessen, vielleicht sogar noch schwerer.
Wo andere die Rettung für sich beansprucht hätten, das Neuland der Partnerschaft womöglich in dieser lebensbedrohlichen Lage voll und ganz vergessend, stahl sich Cassie jedoch für keine Sekunde aus dem Gedanken seines blonden Wilden. Wenn es nicht genug Platz für sie beide gab an ihrem Rettungsring oder Matthew es nicht schaffte sich aus eigener Kraft daran festzuhalten, dann musste eben Clarence es für ihn tun – eine Hand an ihrem lebensrettenden Anker, die andere fest um die seines Geliebten geschlossen.
Ihn loszulassen, seinen schönen Taugenichts in den Fluten zu verlieren oder ihn gar bewusst den Haien zum Fraß vorzuwerfen, kam nie und nimmer in Frage. Lieber ertrank er mit Cassie gemeinsam als ein Leben ohne ihn zu führen und auch auf eine einsame Insel geflutet zu werden, überlassen sich selbst und fernab jeglicher Zivilisation, war besser als jemals wieder einen Tag ohne diesen Mann zu sein.
Eben jener war es, der heute seine Kräfte erstmals mobilisierte um durch eigene Anstrengungen ein wenig aus dem Bett hoch zu kommen. Wie gerne hätte der strenge Jäger ihn dazu angehalten es sein zu lassen, sich nicht selbst zu überfordern; auf der einen Seite konnte er ihn aber nicht dazu auffordern wieder mehr am Leben teilzunehmen nur um ihn nun abzusägen, auf der anderen Seite konnte Clarence ihn nicht zurechtweisen als er erkannte, was genau Cassie im Schilde führte.
Die fremden Arme um seinen Hals zu spüren, die Wärme von Cassies Leib auf dem seinen, war mehr als sich Claire während der Bewusstlosigkeit seines Mannes jemals zu erträumen gewagt hätte. Des Nachts bei ihm zu liegen und ihn atmen zu hören war zwar beruhigend, aber nichts ersetzte diese ganz einzigartige Nähe und diesen liebevollen Hauch der Zuneigung, den nur der Dunkelhaarige ihm zu schenken vermochte.
Seit Tagen schon zierte der Schamane sich davor seinem Geliebten allzu nahe zu kommen, doch nicht etwa weil er sich vor dessen Anblick grämen würde. Es war die Angst dem Menschen den er so sehr liebte weh zu tun, die ihn zurück hielt; nun aber, bestärkt durch den ersten Schritt des Jüngeren und das Wissen des langsam aber sicher wirkenden Schmerzmittels, schienen jedwede Befürchtungen des Bären wie vergessen.
Vorsichtig löste auch er seine Hände aus den frischen Laken, legte die arme behutsam um den noch immer vor Tränen zitternden Körper seines kleinen Böckchens und rutschte auf der Bettkante dichter zu ihm heran, um Cassie näher zu sein. Wie gut es tat ihn zu spüren, das konnte der andere sich in seiner aktuellen Gedankenwelt vermutlich nicht mal im Traum ausmalen.
Ganz zaghaft bettete der Blonde seine Nase im mittlerweile zerwühlten dunklen Haar seines Mannes, ließ sich von dem vertrauten Duft berauschen und gab doch noch immer darauf acht, ihn bloß nicht zu sehr an den lädierten Stellen zu bedrängen. Ihre Nähe zueinander sollte nicht durch schlechte Erfahrungen überschattet werden, nicht nachdem Sally ihnen nichts anderes mehr gelassen hatte als ihr Vertrauen und die uneingeschränkte Zuneigung zueinander.
„Du bist keine Schande für mich, mein Herz“, schüttelte der Jäger nach den Worten des Jüngeren widerwillig den Kopf und zog seine behütenden Pranken etwas fester um den schmalen Leib, den er jederzeit mit seinem eigenen Leben beschützen würde. „Du bist mein ganzer Stolz.“ Es schmerzte noch immer Matthew solche selbstverachtenden Gedanken von sich geben zu hören, aber keiner würde ihm diese Befürchtungen nehmen können, wenn nicht Cassies eigener Mann.
Dem zärtlichen Streichen in seinem Nacken folgend, ließ Claire sanft seine Lippen durch das dunkelbraune Haar gleiten, bis hinab zum Ohr seines kleinen bibbernden Vögelchens.
„Weil niemand so stark ist und so kämpft wie du. Selbst wenn der Stein dir wirklich einen Krater in den Kopf geschlagen hätte oder deine Gesichtshälften nicht mehr aufeinander sitzen würden – ich würde jedem mit Stolz berichten, dass du mein Mann bist. Denn nur mein Mann hält selbst Geröll stand und springt dem Tod von der Schippe, niemand sonst.“
In die wispernde Stimme des Blonden hatte sich ein eigentümlich heller Ton gelegt, der sein verliebtes Lächeln für die Ohren sichtbar machte, ganz ohne den Hünen dafür anblicken zu müssen.
In verspielter Manier ließ er die Lippen über die fremde Ohrmuschel und darüber hinaus gleiten, spürte das erwärmte Gesicht seines Freundes und küsste schließlich vorsichtig Tränen von dessen Wange – so zart, als befürchte er den Ramponierten bei zu viel Unachtsamkeit in tausende Splitter zu zerbrechen.
„Als du aufgewacht bist und der Alte warst… war ich unendlich froh. Du kannst dir nicht mal im Traum vorstellen, wie sehr ich erleichtert war, ich hab…“, zittrig atmete Clarence durch. „Ich hab das erste Mal seit Jahren keine Sorgen mehr gehabt. Keine dunklen Gedanken… und keine Trauer in mir. Ich war einfach nur froh darüber, dass du… zu mir zurück gefunden hast.“
Noch immer hielt er Matthew im Arm und schien auch keine Anstalten machen zu wollen ihn je wieder gehen zu lassen. Aber wenn es nach ihm selbst ging, würden sie das auch niemals tun müssen.
„Sei ein braves kleines Böckchen und sorg dafür, dass das auch so bleibt. Hör auf deinen Bären, iss anständig und trink genug. Du musst zu Kräften kommen, damit du es endlich wieder aus diesem Bett raus schaffst. Versprichst du mir das?“
Auffordernd küsste er abermals die feuchte Wange seines Mannes, neigte sein Haupt etwas tiefer und suchte schließlich auch den Mundwinkel des Jüngeren um ihn mit einem sehnsüchtigen Hauch von Kuss zu bedenken, ohne ihm dabei weh zu tun.
„Versprich es mir und sei ab jetzt artig, Böckchen. Unsere wohlverdiente Veranda verschiebt sich von Tag zu Tag weiter nach hinten, je länger du hier liegst und nicht richtig mitmachst. Der Bär will dich sitzen und laufen sehen und dich lachen hören und er will, dass du ihn unendlich froh machst mit deinen Fortschritten. Meinst du, das bekommst du hin?“
“Du bist keine Schande für mich, mein Herz. Du bist mein ganzer Stolz.“, erklang es wohlwollend und beschwichtigend von Clarence. Worte, die schöner nicht hätten sein können. Matthew konnte sich nicht erinnern ob jemals irgendein Mensch für ihn Worte gefunden hatte, wie Clarence sie immer wieder für ihn fand.
Wahrscheinlich lag das nicht etwa daran, dass der Dunkelhaarige ein wenig ramponiert war, sondern weil tatsächlich noch niemand so mit ihm geredet hatte.
Für Madame Coeur war er der Goldjunge, für Le Rouge der petit renard, seine Liebschaften nannten ihn meistens Mattie und in seinen finstersten Jahren hatte man ihn kleines Schäfchen oder süßer Junge genannt.
Selbst Rosalie hatte ihn niemals als ihren ganzen Stolz bezeichnet. Nur Clarence tat es und nur Clarence’ Herz und Stolz wollte Matthew sein. Zu wissen, dass der Blonde ihn liebte und ihn annahm, ganz gleich was Sally Mitchell aus ihm gemacht hatte, war unbezahlbar kostbar und auch wenn ein Rest von Zweifel noch in seiner Brust schlummerte, so glaubte Matthew seinem Bären.
Nähesuchend schmiegte sich der junge Mann an den Wildling, welcher allein für ihn zart und behutsam sein konnte und in dem eine weiche Seite schlummerte, die nie ein anderer zu Gesicht bekam. Der sonst so raue Berg von einem Mann, dessen Blicke so eisig sein konnten das einem das Blut in den Adern gefror, war in Matthews Nähe warm und sanft und umsichtig. Kein böses Wort, kein grober Griff und keine Ungeduld zeichnete Clarence aus wenn es Matthew schlecht ging. Wo sonst schon manchmal die Nerven blank lagen, schien den Größeren nichts aus der Ruhe zu bringen so lange es nur half Cassiel zu beschwichtigen. Wie gut ihm das gelang, wurde dadurch offensichtlich, dass das Zittern des zierlichen jungen Mannes allmählich weniger wurde. Auch Matthews Schluchzen schwand in seiner Intensität, bis es schließlich sogar ganz verebbte.
Dafür legte sich eine wohlige Gänsehaut auf seine Arme, als die weichen Lippen sein Ohr berührten und der warme Atem seines Liebsten über seine Haut glitt.
Es war etwas anderes des Nachts nebeneinander zu liegen und sich kaum zu bewegen, der Eine gequält von Sorge, der Andere gequält von Schmerzen. Sie berührten einander kaum in der Nacht, auch wenn sie unmittelbar beieinander lagen.
Ein unwillkürlicher Schauer und ein prickelndes Kribbeln erfasste Matthews Haut und er lehnte sich Clarence’ Lippen weiter entgegen um die Berührung bloß nicht enden zu lassen. Derweil hatte sich ein noch unvertrauter Klang in die Stimme des Schamanen geschlichen, der sein Lächeln verriet und auch noch Hinweis auf etwas anderes zu geben schien. Cassiel, der die Augen geschlossen hielt, stellte sich das jungenhafte Schmunzeln seines Liebsten vor und fand darin Trost und sogar Zuversicht.
Die Macht welche sein Bär über ihn hatte war grenzenlos, ihm allein oblag es schlimmste Alpträume und größte Angst verstummen zu lassen. So wie Matthew Clarence die Zufriedenheit zurückgebracht hatte, so auch hatte Clarence ihm die Fähigkeit zurückgegeben zu vertrauen, zu lieben und sich lieben zu lassen für das was er wirklich war.
Mit aller erdenklichen Zärtlichkeit küsste sich der Blonde einen kleinen Pfad von Matthews Ohr, hin zu dessen Wange um die vergossenen Tränen in Vergessenheit geraten zu lassen. Erst jetzt öffnete Matthew seine Augen wieder, scheu und fragend, so als müsse er sich rückversichern das Clarence sich daran nicht störte.
Wie unsinnig seine Befürchtungen waren, offenbarte der Größere unmittelbar als er weitersprach. “Als du aufgewacht bist und der Alte warst…war ich unendlich froh…“
Es dauerte einen kurzen Moment bevor Cassiel den Sinn des Gesagten wirklich begreifen konnte. Nicht zufrieden, nicht von einer Last befreit, nicht einen dunklen Gedanken los… sondern froh war er gewesen. Erleichtert und für den Moment frei von allen dunklen Gedanken, frei von aller Trauer. Die Tragweite dieser Worte benötigte zwar einen unüblich langen Augenblick um zu Cassiel durchzudringen, aber als dieser sie verstand, hellte sich sein ganzes Gesicht auf, so als würde nach Wochen ununterbrochenen Nieselwetters endlich die Sonne durch die Wolkendecke brechen.
Froh, also fröhlich - was beinahe das Gleiche war wie glücklich, war Clarence gewesen und brachte damit mit einem Mal die Zuversicht und die Freude zurück in Matthews Herz. Ganz egal was der blonde Wildling ihm jetzt noch sagen wollte oder würde, nichts konnte wichtiger und schöner sein als diese Offenbarung.
Ein weiterer Kuss bedachte seine Wange, dann ein winziger und sehnsüchtiger Hauch sogar seinen Mundwinkel. Matthew hatte noch nichts gesagt, aber in seinem guten Auge war ein freudiger Glanz zu sehen, der mitnichten etwas mit den zuvor geweinten Tränen zutun hatte.
„Du warst froh…?“, echote er leise, beinah verschwörerisch, so als müsse diese Tatsache geheim bleiben. „Du warst wirklich…richtig…froh? Wie ist das möglich?“, forschend musterte er das vertraute Gesicht des Größeren, löste eine Hand aus der Umarmung und legte sie stattdessen an Clarence’ Wange. „Du würdest mich nicht anlügen, nur weil ich einen Stein an den Kopf gekriegt hab, mhhh?“, hakte er nach, doch das Lächeln in seinen Augen - auch wenn es nur in einem deutlich zu erkennen war - sprach bereits Bände.
Was es für Matthew bedeutete, Clarence froh zu machen, konnte sich wahrscheinlich noch nicht einmal Clarence wirklich vorstellen.
Wo Clarence die ganze Zeit über Vorsicht hatte wallten lassen, überkam Matthew jäh der Übermut und er zog den Hünen an seinem Bart dichter zu sich um ihn kaum den Bruchteil einer Sekunde später, ungehemmt auf die Lippen zu küssen. Was vor Wirkungseintritt des Schmerzmittels sicher in katastrophale Schmerzen gegipfelt wäre, verursachte jetzt nur einen Bruchteil dessen und bei Gott: Matthew würde gerade alles ertragen um seinen Mann zu küssen.
Die Augen hatte er wieder vor Genuss geschlossen, als er seine Lippen einen Spalt breit öffnete und sich mit der Zungenspitze Einlass in des Anderen Mund erbat. Gleichzeitig verkrallten sich die Finger in Clarence’ Bart und in seinem Haar im Nacken.
So rasch wie seine Gefühle gerade in eine vollkommen andere Richtung gekippt waren, war es selbst für Matthew ungewöhnlich, der seinen Liebsten sehnsüchtig an sich zog und sich selbst gleichzeitig nach hinten lehnte.
“Ich verspreche…“, setzte er atemlos an, als er die Lippen seines Bären kurz freigegeben hatte um wieder Luft zu holen. “…ich werde ab jetzt artig sein, ein…“ - wieder küsste er Clarence, ungeachtet jedweder Schmerzen.
Obgleich vollkommen gegen jede Vernunft, machte er Anstalten den Blondschopf auf sich zu ziehen um ihm nach Tagen ohne jede Zärtlichkeiten endlich wieder so nahe zu kommen, wie sie es sonst täglich waren. Was immer Clarence auch von ihm hören wollte, Matt würde es ihm versprechen. Gar nicht mal unbedingt um seiner selbst Willen, sondern um seinen Wildling froh - und vielleicht sogar bald glücklich zu machen.
“…ein artiges kleines…Böckchen.“, sich selbst als ein Böckchen zu bezeichnen, wo doch dieser Kosename seinen Ursprung in einer sündhaft amourösen Situation hatte, verdeutlichte seine unvernünftigen Absichten zusätzlich, auch wenn bezweifelt werden durfte, dass der Größere nicht ohnehin bereits verstand wonach Matthew der Sinn stand.
“Ein Böckchen das…alles tut um seinen Bären froh zu machen…“
Erst jetzt gab er die liebgewonnenen Lippen des Schamanen wieder frei und blickte ihn mit einem Lächeln in den Augen und auf den Lippen an.
„Das bekomm ich hin, versprochen.“ Was immer es brauchte um seinem Liebsten das Lächeln und das Glück wiederzubringen, er würde es tun. „Mhh…“, machte der junge Mann schließlich leise, nachdem er eine kleine Weile in das Antlitz seines Mannes gesehen hatte, die Finger noch immer in seinem Bart und Haar verfangen.
„Es gibt da… eine bestimmte Art der Zuwendung die…meine Genesung beschleunigen könnte…“, warf er nachdenklich ein und ließ die Hand von Clarence’ Nacken tiefer tauchen, wo sie unterhalb des Stoffes seines Oberteils über die nackten, muskulösen Schultern strich.