Doktor Bennetts Haus
15. Mai 2210
Es war bereits ein paar Stunden nach Mitternacht, am Morgen des fünfzehnten Mai, da entrang sich der trockenen Kehle Matthews ein kratziges Stöhnen. Seine Hand - die noch immer von Clarence gehalten wurde - zuckte kaum merklich wodurch seine Finger sich unbewusst kurz fester um die des Schamanen schlossen.
Erneut stöhnte der junge Mann vor Schmerz, bevor er zum ersten Mal seit Tagen versuchte seine Augen zu öffnen. Seine Lider fühlten sich dabei unsäglich schwer an, sodass selbst dieser simple Akt scheinbar nicht zu bewältigen war. Unter Anstrengung und nach mehrmaligem Blinzeln schaffte es Cassiel seine Augen aufzuschlagen, wobei er nicht viel mehr erkennen konnte als noch zuvor. Dunkelheit.
Auf der einen Seite sah er verschwommen, auf der Anderen schwarze Schemen und Umrisse. Das silbrige Mondlicht welches an den Rändern der Vorhänge ins Zimmer kroch, nahm er als undefinierbaren hellen Schleier wahr und die Konturen der Möbel als finstere, unförmige Klumpen. Es war dem jungen Mann unmöglich zu bestimmen wo und wann er war. Er hätte sich auf einem finsteren Planeten oder verschüttet unter der Erde befinden können, alles war gleich wahrscheinlich. Wieder zuckte seine Hand kaum merklich und er registrierte, dass seine Hand nicht allein war.
Der Schatten direkt neben seinem Bett gehörte zu einer Person, einem Mann - soviel erkannte er schließlich doch, nicht zuletzt deshalb, weil jene Person mit ihm sprach. Matthew wollte etwas sagen, wollte, so schien es, sich der Gestalt entziehen. Unruhig bewegte er die Füße als wolle er die Decke von sich strampeln, nur das seine Bewegungen zu schwach waren um tatsächlich etwas zu bewirken.
Statt klarer Worte brachte er nur ein klägliches Krächzen zu Stande, ein Geräusch das mehr an die Sterbelaute eines kleinen Tieres erinnerte, statt an die eines Menschen. Wo zur Hölle war er und wie zum Teufel war er hierher gekommen? Matthew versuchte, mit seiner Zunge seine Lippen zu benetzten, doch sein Mund war innen so trocken wie außen, weshalb jenes Unterfangen nichts einbrachte.
Der Mann neben ihm redete derweil weiter auf ihn ein. Er klang bestürzt, wie Matthew registrierte, aber er verstand nicht warum, weil er gar nicht wusste was los war.
Vordringlich nahm der Dunkelhaarige nur eines wahr: nämlich den Schmerz, der in seinem Kopf tobte und der schlimmer wurde sobald er auch nur versuchte den Kopf ein winziges Stück zu bewegen. Während sich die Stimme des Anderen über ihn ergoss, blinzelte er erneut ein paar Mal - langsamer dieses Mal und mit Bedacht um seinen Augen die Möglichkeit zu geben sich anzupassen.
Obwohl hunderte von Fragen naheliegend waren, so war der junge Mann nicht dazu in der Lage sie festzuhalten und zu formulieren. Lediglich eine von ihnen drängte sich immer wieder empor in seinen vernebelten und trägen Verstand und letztlich gelang es ihm, sie mit leiser, immer wieder brechenden Stimme zu stellen: “Wer…sind..Sie?“
Nie zuvor in seinem Leben hatten sich Stunden, Minuten und Sekunden so sehr gezogen wie die zurückliegenden. Die Zeit, die der blonde Durchreisende bereits auf seinem Stuhl saß, fühlte sich an wie ein halbes Leben. Ein Leben voller Angst, Panik und Beklemmungen.
Im gleichmäßigen Takt strömten Gedanken durch Clarence‘ Kopf, die nur zwei Extreme besaßen. Vorstellungen, die von einem plötzlichen Erwachen seines Geliebten reichten bis hin zu einem letzten tiefen Atemzug, auf welchen kein weiterer folgen würde.
Wenn er schon starb, wenn er die hinterlistige Attacke der Fremden nicht überlebte, dann lieber sofort als erst in Tagen. Dann sollte Matthew seinen letzten Atem aushauchen und damit zeitgleich auch seinen Mann erlösen – denn alles andere glich menschenunwürdiger Folter, zumindest in dem winzig kleinen Kosmos, welchen sie beide bewohnten.
Der zurückliegende Abend war laut gewesen; laut, voller Aggression und Unverständnis. Schon dass Doktor Bennett Arquin in die untere Etage geschickt hatte, hatte ausgereicht um Clarence aufzuzeigen als wie schlecht der Arzt die endgültige Prognose empfand, ohne dabei brauchbare Ratschläge zur weiteren Behandlung auszusprechen. Ein Umstand, den der Schamane weder hatte so annehmen, noch so stehen lassen können.
Die Stimme erhoben, hatte er den Quacksalber angewiesen seinem Ehemann notfalls den Schädel zu eröffnen, wenn das nur den Druck von seinem Hirn nahm. Hatte ihn angeplärrt nicht das Ende des Dunkelhaarigen zu verkünden, bevor es wirklich gekommen war.
Doch alle verbale Gewalt, jedes Flehen, jede der unüberlegten Vorschläge waren an dem Arzt abgeprallt, der solche Situationen sicher nicht zum ersten Mal zu überwinden hatte. Für Angehörige war es schwer den Tod eines geliebten Menschen zu akzeptieren, aber Doktor Bennetts Beruf gründete letztlich nicht auf Magie, sondern auf Handwerk und einem kühlen Kopf. Er war es, der die Ruhe bewahren und der Realität ins Auge zu sehen hatte wenn es sonst kein anderer mehr konnte und so hatte der ältere Herr schließlich noch eine Weile bei ihnen gesessen, nachdem Claire erkannt hatte, er würde gegen diese Mauer nicht ankommen können.
Erst mit Doktor Bennetts Abschied in die Nacht, hatte auch Clarence das letzte Mal das Zimmer seines Mannes verlassen. War ein letztes Mal mit den Hunden vor die Tür gegangen, hatte das letzte Mal die salzige Luft der See eingeatmet, die Sonnenstrahlen auf seiner Haut genossen, hatte das letzte Mal die Harper Cordelia betreten.
Seitdem lag, geladen und entsichert, sein Colt in der Schublade des Nachtschranks, welcher früher einst der Tochter ihres Gastgebers gehört haben musste.
Diese eine Nacht noch, keine weitere. Das Leben seines Mannes, seines Geliebten, seines besten Freundes würde enden.
Hier in dieser Stadt. In Cascade Hill City, einem Fleckchen Land von dem sie nie etwas gewusst hätten, wäre es nicht die logischste Anlaufstelle gewesen auf der Suche nach einer Möglichkeit die Vorräte aufzustocken.
Beide waren sie entstanden in einem winzig kleinen Ort, deren Namen kaum ein Mensch kannte. Waren aufgewachsen, hatten Jahre verlebt, unbekannt und unbedeutend. Sie waren weder reich noch arm, weder beliebt noch verhasst. Waren Fremde in der Zivilisation in der sie auf ihrer Reise einkehrten und gingen als Fremde, nirgendwo ansässig werdend, sich niemals große Freunde machend. Und genauso würden sie auch enden.
Als zwei Fremde. Begraben in einem Ort den kaum ein Mensch kannte. Würden in ihren tiefen Gräbern liegen als die zwei Männer die sie waren: Unbekannt, unbedeutend. Der Tod würde sie nicht mit Bekanntheit bereichert und ihnen nichts genommen haben außer ihre Namen, die aller Erwartung nach auch noch falsch auf ihren Grabsteinen stehen würden… zumindest insofern der Jäger das definieren konnte, der davon keine Ahnung hatte.
Würde man sie nebeneinander in zwei ausgehobene Gruben betten? In eine einzige? Widmete man ihnen lediglich einen Findling oder schlug man ihnen aus Kulanz eine Platte zurecht, in die der Steinmetz wenige tröstliche Worte meißelte?
Ein sonores Brummen presste sich die Nase des Bärtigen hindurch, der Kopf lose auf die Brust gesackt und die kalte Hand seines Mannes noch immer in der seinen. Immer wieder nickte er für wenige Sekunden in seinem Stuhl ein, nur um dann – von schlimmen Befürchtungen geplagt – wieder hochzuschrecken, ganz so als habe man sich egrade daran gemacht ihn mitsamt Stuhl zum Fall zu bringen.
Nichts in der Welt würde ihn dazu verleiten können ernsthaft die letzten Augenblicke seines Mannes auf dieser Welt zu verschlafen.
Viel zu wertvoll war dessen Leben, als dass er es unbemerkt würde aushauchen dürfen.
Viel zu sehr wurde er geliebt, als dass er alleine würde von dieser Welt gehen müssen.
Ein leises Schnarchen teilte die Stille im Raum, während Clarence ein weiteres Mal in dieser Nacht desorientiert den Kopf empor schnellen ließ, die Hand seines Mannes zaghaft drückend. Es war ein komisches Gefühl jene Geste aus dem Verdacht heraus zu vollführen, er könne bereits steif gewordene Finger unter seinen eigenen ruhen haben ohne den Tod persönlich im Raum angetroffen zu haben – aber auch zu dieser dunklen Mitternachtsstunde wurde der Jäger damit beruhigt, dass sich sein Cassie noch weich und wenigstens ein bisschen warm wie immer anfühlte.
Mit der freien Hand rieb sich Clarence die Augen und ließ sich schließlich wieder zurück gegen seine Lehne sinken, unfähig zu begreifen womit er dieses Leben verdient hatte und was er als Kind angestellt haben musste, dass Gott ihn derart strafte.
Er war müde. Endlos müde. Nicht weil er aufgrund seiner Wache nicht genug schlief oder das bisschen Schlaf, was er doch fand, nicht qualitativ genug wäre.
Clarence war des Lebens endlos müde.
Er war müde des Wanderns. Des Reisens. Des Kämpfens.
War müde der Verletzungen. Den Verlusten. Dem Verlieren von geliebten Menschen und Familie.
Sollte es wirklich jenen Tropfen geben, der ein Fass endgültig zum Überlaufen brachte, dann war es Matthews Zustand und all die Träume, die sein Ableben mit sich nehmen würde. All die Hirngespinste, die sie sich für nah oder fern zusammengesponnen hatten, wären verweht wie Pulverschnee im erbarmungslosen Winterwind und Clarence war es müde geworden darüber hinaus zu denken.
Neue Kontakte knüpfen. Alte wieder aufnehmen. Neue Wünsche formulieren. Sich neu orientieren.
Dieser Karren war vor die Mauer gefahren, weil der Kutscher es einfach endlos überdrüssig geworden war die Zügel in seinen schwachen, zittrigen Händen zu halten.
Nein… wenn Matthew heute Nacht ging, dann ging sein Mann mit ihm, zurückbleibende Hunde hin oder her. Die beiden waren noch jung und hatten sich gegenseitig – das konnte Clarence nicht mehr von sich behaupten, hatte seine bessere Hälfte die diesseitige Welt erst einmal verlassen.
Abermals musste der Blonde tatenlos dabei zusehen wie die Welt um ihn herum immer weniger wurde, als seine schweren Lider ihm langsam zufielen und sein sonores Brummen erneut den Raum einnahm. Nur wenige Sekunden hatte er es dieses Mal geschafft seine aufrechte Position beizubehalten und trotzdem war er im Geiste noch immer zu aufgewühlt um echtem Schlaf zu verfallen.
Erst als es nicht mehr seine eigene Stimme war, die eine halbe Stunde später den Raum erfüllte, schreckte der Schamane erneut für längere Zeit aus seinem mehr schlechten als rechten Schlaf und sollte von nun an sogar seiner Augen wieder Herr werden.
Er rechnete mit allem, mit dem schlimmsten – mit Erstickungskrämpfen weil Cassies Atmung noch vor seinem Herz ausgesetzt hatte oder damit, dass sich sein Mann auf den letzten Metern so schwer an seinem eigenen Speichel verschluckt hatte, dass ihn ein derartiger Zwischenfall noch vor dem Absehbaren dahin raffte.
Aber er rechnete nicht mit Worten.
Gehaucht und abgehakt, aber sie waren da, ebenso wie der fahle Mond, welcher sich in offenen Augen zu brechen schien.
„Gütiger Gott…“, hörte sich der Christ ungläubig wispern und sah sich selbst Matthew zuwenden, ohne dabei einen klaren Gedanken fassen zu können.
„Allesistgut, ichbinhier. Hörstdumich? Dukannstnichtaufstehen, dumusst-“
Seine Atmung ging so schnell, das sich seine Worte gegenseitig überschlugen und so versuchte der bis eben noch halb weggetretene Jäger tief durchzuatmen, um sich - um Cassies Willen - zur Ruhe zu bringen.
„Du bist schwer am Kopf verletzt“, fand Clarence nach überschaubaren Sekunden des Schocks genug Kraft, um sich langsam und klar zu artikulieren – in der Hoffnung, dass er so am besten zu dem eben noch Sterbenden durchdrang.
In diesem Augenblick war es völlig egal was Matthew von sich gab, das konnte man später noch sacken lassen – wichtig war, dass er überhaupt wieder unter den Lebenden verweilte, denn darüber hinaus alles andere zu verarbeiten, dazu war Clarence gerade sowieso nicht in der Lage.
Vorsichtig legte er seine freie Hand auf der Brust des Jüngeren ab, versuchte ihm zu bedeuten im Bett zu bleiben, wo er hingehörte.
„Du bist schwer am Kopf verletzt“, wiederholte er daher eindringlich und langsam, so wie vermutlich eher ein Quentin auf einen Feivel eingeredet hätte.
„Du musst liegen bleiben. Ruhig liegen bleiben, damit ich den Arzt holen kann. Verstehst du mich?“
Die hellen Brauen hatten sich in seinem verspannten Antlitz zusammengezogen; halb panisch, halb ungläubig musterte er Matthew, so wie ein Sterblicher auf ein waschechtes Gotteswunder blicken würde.
„Du kannst… hast du Schmerzen? Tut dir der Kopf weh?“ – Bei Gott, wenn es eines gab woran Cassie just in dieser Nacht nichts fehlen sollte, dann war es eine ordentliche Dosis Morphium oder ein paar Tropfen Opium in einem Schluck Wasser. Clarence war im Augenblick alles Recht, auch wenn es dazu führen sollte, dass sein Mann wieder schläfrig wurde – solange er nur nicht aufhörte zu atmen und er ihm am nächsten Morgen wieder erwachte.
Fahrig wischte er sich an den Schultern seine feucht gewordenen Wangen ab; der unerwartete Ausgang dieser Nacht musste noch lange nichts heißen, das wusste Clarence. Nicht selten blühten Sterbende ein letztes Mal auf bevor sie sich für ewig verabschiedeten, aber auch wenn dem nicht so war… so wusste der übermüdete Bär gerade nicht wohin mit sich und seinem Gefühlschaos.
In seinem lädierten Kopf dröhnte der Schmerz. Rhythmisch wie der Schlag seines Herzens. Tobend wie ein Unwetter. Dazu die Worte des Hünen über ihm „Du bist schwer am Kopf verletzt.“
Warum war er das? Nichts ergab mehr einen Sinn. In seinem Mund lag der Geschmack von Kupfer. Durch die Nase bekam er schlecht Luft und immer wenn er stärker einatmete machte sich gleißender Schmerz in seinem Gesicht breit. Wie ein Netz spannte es sich unter der Haut entlang und setzte alle Nervenbannen scheinbar in Brand.
Die Dunkelheit die ihn umgab machte es ihm zudem unmöglich sich zu orientieren, die einzige Lichtquelle waren die fahlen hellen Streifen, die Cassiel in seiner Benommenheit noch nicht einmal als Mondlicht identifizieren konnte. Er wusste überhaupt nichts und diese Unwissenheit machte ihm Angst.
Matthew versuchte sich aus der Trägheit die ihn gefangen hielt zu befreien, jedoch waren alle Bemühungen sich einen Reim auf die Situation zu machen vergebens. Sein Denkvermögen, sonst klar und messerscharf, gab nicht mehr her als tumbe Fragen.
Wo war er?
Was war passiert?
Wie lange war er schon hier?
Matthew öffnete seinen Mund erneut um eine dieser Fragen zu stellen, aber seine Stimme war so leise und schwach, dass man beim besten Willen nicht verstehen konnte was er sagte.
Außerdem hatte er auch auf seine erste Frage keine Antwort erhalten, jedoch war sich der Verletzte auch nicht sicher ob er sie überhaupt gestellt oder sie nur gedacht hatte.
Die Grenzen zwischen Realität und Einbildung waren fließend und schienen verwischt.
Träge blinzelte er, doch schon das Schließen seiner Lider für diesen winzigen Moment machte ihn wieder schläfrig und es war ein Kampf sie wieder zu öffnen. Der junge Mann, der sonst stets das war was man schnell im Kopf nannte war nicht Herr seiner Sinne und schon gar nicht Herr der Lage. Er verstand die Aufregung des Hünen nicht, er verstand nicht wieso es so dunkel war, wo er sich befand und wie er hierher gekommen war. Alle Zusammenhänge die ihm hätten klar sein sollen waren verschüttet und die Unfähigkeit sich zu artikulieren machte ihm Angst.
Erneut versuchte er mit den Füßen die Decke abzustrampeln, doch der Versuch war so sinnlos wie beim ersten Mal. Seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen und noch nicht einmal den Kopf konnte er drehen, weil schon allein der Ansatz einer Bewegung ihn schier wahnsinnig machte vor Schmerz. Was auch immer passiert war, es war nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
„Du musst liegen bleiben. Ruhig liegen bleiben, damit ich den Arzt holen kann. Verstehst du mich?“ - welcher Arzt? Er kannte keinen Arzt. Matthew stöhnte benommen, leckte sich über die Lippen und machte die Augen wieder zu. Er war so unsäglich erschöpft und alles was er hörte und sah war unfassbar anstrengend.
“Kopf…schmerzen…“ rang er sich ab und gab mit jenem Wort spärlich Antwort auf die ihm gestellte Frage.
Das Wort wurde der eigentlichen Qual gar nicht gerecht, aber der junge Mann war nicht in der Lage zu benennen wie stark die Schmerzen wirklich waren.
Verwirrt und schwach wie er war, hätte der Hüne ebensogut ein Hirngespinst sein können. Vielleicht war er gar nicht da? Oder vielleicht stand er selber kurz vor seinem Tod, sodass sein dröhnender Schädel etwas fantasierte? Vielleicht war alles was er gerade wahrnahm nur ein Traum? Vielleicht schlief er? Vielleicht auch nicht?
Was auch immer nun wahr sein mochte, Matthew war nicht in der Lage es herauszufinden und allein die Versuche nachzudenken machten ihn müde und noch schwächer als ohnehin schon. Kraftlos und matt ließ er zu, dass seine Lider sich wieder schlossen und dieses Mal kämpfte er auch nicht darum sie noch einmal zu öffnen. Er wollte nicht mehr sein, nicht wenn das bedeutete diese Schmerzen ertragen zu müssen. So unerwartet wie Matthew aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, so schnell dämmerte er auch wieder dahin zurück.
Doch als Doktor Bennett den Patienten mitten in der Nacht schließlich besuchte, den weißen Kittel zerknittert über einem einfachen Hemd tragend, da offenbarte sich, dass Clarence sich nicht getäuscht hatte als er ihm versichert hatte sein Partner wäre wach gewesen. Zunächst sah der Dunkelhaarige so reglos aus wie am Abend zuvor. Nichts deutete darauf hin das sich der dZustand des jungen Mannes geändert hatte und Bennett seufzte bereits unglücklich. Mehr routiniert als hoffnungsvoll setzte er sich an die Bettkante, schlug die Decke an Matthews Füßen zurück und löste erneut einen Schmerzreflex aus. Doch dieses Mal krümmten sich nicht nur Cassiels Zehen, sondern er zuckte mit dem kompletten Fuß zurück und öffnete zugleich seine Augen.
Ein kleines Nachtlicht auf der Kommode unter dem Spiegel tauchte den Raum in ein warmes, anheimelndes Licht, trotzdem tat es Matthew in den Augen weh.
Desorientiert ließ er seinen Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen, wobei er auf der einen Seite nur verschwommen sah. Durch die besseren Lichtverhältnisse konnte er aber zumindest das Zimmer als Zimmer erkennen, was die Situation für ihn zumindest etwas weniger bedrohlich machte. Die Einblutungen unter seiner Haut und im Weiß seines einen Auges konnte er ja zum Glück nicht sehen. „Mein Name is Nikodemus Bennett, ich bin Arzt.“ - stellte sich der ältere Herr mit ruhiger Stimme vor. Verständnislos erwiderte Matthew den Blick des Fremden, er schien Schwierigkeiten zu haben das Gehörte zu verstehen, weshalb Bennett langsam und mit Bedacht sprach. „Sie wurden am Kopf verletzt, deshalb fühlen Sie sich benommen.“, erklärte er.
„Blinzeln Sie zweimal wenn Sie mich verstehen.“, Matthew blinzelte zweimal nacheinander und Bennett lächelte - eine Regung die er seit dem Vorfall auf dem Markt nicht mehr gezeigt hatte.
„Es ist wichtig, dass Sie liegenbleiben und keine schnellen Bewegungen machen.“ - er machte eine Pause in der der junge Mann erneut zweimal blinzelte um zu signalisieren das er verstanden hatte.
Bennett blickte zu Clarence und nickte ihm kaum merklich zu, jetzt gab es Anlass zur Hoffnung, auch wenn der Patient noch nicht über dem Berg war.
Ruhe, Schlaf und vor allem Flüssigkeit - das waren die besten ‚Medikamente‘ die der Dunkelhaarige nun bekommen konnte, dennoch erhob sich Bennett mit den Worten „Bleiben Sie ruhig liegen, ich hole Ihnen etwas gegen die Schmerzen.“ noch einmal von dem Bett. An seinen Medikamentenkoffer hatte er gar nicht gedacht als Clarence ihn geweckt hatte, immerhin war nicht absehbar gewesen, dass der junge Mann tatsächlich erwacht war. Der Arzt hatte sich zur Nachtruhe begeben in der Befürchtung und dem Glauben, dass der Dunkelhaarige versterben würde - eine Fehleinschätzung wie er nun sah und über die er sich freute, auch wenn er wusste, dass vieles noch im Ungewissen lag. In Ermangelung der passenden Schmerzmittel musste er nun noch einmal kurz den Raum verlassen, was Matthew die Gelegenheit gab seine schon wieder schwindende Aufmerksamkeit auf den Anderen zu lenken. Der Blonde sah abgekämpft und zugleich hellwach aus, er starrte ihn an als sei er die Erfüllung all seiner Träume und Wünsche. Dass genau das auch der Fall war konnte der junge Mann nicht wissen, denn von all den Gebeten die der Größere für ihn in den vergangenen Tagen gesprochen hatte, trug er keinerlei Kenntnis. Mit einem Blick der merkwürdig entrückt und benommen war und in dem auch kein Erkennen lag, sah er den Hünen schweigend an.
Leise räusperte Matthew sich, versuchte sich zu besinnen und wiederholte schließlich die Frage, die er auch schon bei seinem ersten Erwachen gestellt hatte. „Wer…wer…sind Sie?“
Gefangen zwischen Hoffnung und Kummer, Glück und Sorge, war es schwer für den Jäger zu begreifen wohin mit sich. Vor wenigen Stunden erst hatte man ihm beibringen müssen, sein über alles geliebter Matthew würde die kommende Nacht nicht mehr überstehen und nun regte er sich und gab plötzlich wieder Worte von sich, so leise und desorientiert sie auch sein mochten.
Jedes Blinzeln, jedes etwas längere Schließen der kandisfarbenen schönen Augen ließ das Herz des Blonden aussetzen und Adrenalin durch seine Adern strömen. Würde er wieder erwachen oder seine Lider nie wieder heben? Blieb er bei Bewusstsein oder glitt er wieder dahin in tiefste Dunkelheit, aus derer Cassie nie wieder erwachen würde?
Hilflos wie ein Mensch, der niemals zuvor in die Bredouille gekommen war einem verletzten helfen zu müssen, harrte Clarence am Bett seiner besseren Hälfte und schien keinerlei brauchbare Worte finden zu können, um dem Jüngeren seine Lage zu erleichtern. Er wusste weder wie er ihm über die offensichtliche Verwirrung hinweg helfen sollte, noch ihm die Schmerzen nehmen – alles was er einst gewusst hatte, von wilden Mixturen über Pasten bis hin zu brauchbarer Kräutermedizin, war von einer Sekunde auf die andere Sekunde weggeblasen wie schwebende Pollen in den ersten Sonnenstrahlen des Frühlings.
Das Gefühl der Kälte, welches ihn bereits auf dem Marktplatz überkommen hatte, nahm auch nun wieder seine Glieder ein und machte seine Beine zittrig. Im Augenblick schien nichts schlimmer sein zu können als sein Mann der Schmerzen litt, weil man aufgrund der aussichtslosen Prognose und des reaktionslosen Zustandes an entsprechender Medizin eingespart hatte. Alleine die Vorstellung wie es Matthew im Augenblick gehen mochte, erwachend in absoluter Dunkelheit mit einem Schmerz der womöglich keiner bisherigen Erfahrung im Leben gerecht wurde, beschwor die bekannte Übelkeit in Claires Magengrube erneut hinauf und ließ sämtliche Farbe aus seinem Gesicht weichen.
Mit ansehen zu müssen wie der andere schließlich langsam aber sicher wieder dahin dämmerte, brach dem sonst so kühlen Hünen nicht nur das Herz, sondern ließ ihn sich das erste Mal auch um sein eigenes Leben sorgen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Patient mehr bewusst als unbewusst von seinem weltlichen Dasein losließ, alleine weil der Schmerz nicht mehr zu ertragen war oder einem der eigene Zustand so aussichtslos erschien, dass man lieber von selbst den Weg in eine bessere Welt suchte. Was wäre er für ein Mann, wenn er einem solchen Szenario einfach tatenlos beiwohnen würde, zu angsterfüllt um sich lösen zu können und einen Arzt herbei zu holen? Zu ängstlich den eigenen Geliebten zu verlieren und ihn gerade deshalb einbüßen zu müssen eben weil man zu ängstlich war?
Das Gepolter, welches das gutbürgerliche Haus erfüllte kaum da Clarence sich vom langsam wegdämmernden Matthew hatte lösen können, hätte in der Stille der Nacht vermutlich eine ganze Metropole wecken können. Doch wen auch immer er tatsächlich in der Nachtruhe störte und damit dessen ewigen Groll auf sich zog, dem Jäger war es völlig eins – denn in seinem keinen Kosmos zählte niemand so sehr wie Matthew, egal ob lebendig oder bereits mit einem Fuß im Reich der Toten.
Trotz der weit fortgeschrittenen Nacht und dem Tiefschlaf, aus der Clarence den Arzt damit einhergehend gerissen hatte, zeigte sich deutlich, dass Doktor Bennett derzeit ein weit besserer Umsorger des Jüngsten im Raum sein würde als der Schamane.
Mit klaren und überlegten Worten versuchte er Matthew seine Situation verständlich zu machen und fand darüber hinaus einen Weg der Kommunikation, welche dem Verletzten derzeit weit weniger Probleme bereiten würde als das mühsame Sprechen.
Mit einem undefinierbaren Kribbeln im Bauch, von dem er noch nicht wusste ob es von Hoffnung herrührte oder von seiner Übelkeit, beobachtete Clarence das zögerliche blinzeln seines Mannes. Erst ein, dann ein zweites Mal gab er dem Arzt zu verstehen, dass ihm trotz seiner Verletzung noch genug Geist geblieben war um Aufforderungen aufzugreifen und umsetzen zu können.
Mit geöffneten Lippen musterte er im trägen Licht der Nachtlampe das geschundene Antlitz seines Geliebten und hoffte für den Doktor, jener möge sich bloß beeilen um dem Patienten die so offensichtlich nötigen Medikamente herbei zu schaffen, die Cassie derzeit brauchte. Lieber sollte er noch zwei weitere Tage am Stück durchschlafen und dafür kein Leid ertragen, als dass er von seiner eigenen Qual wach gehalten wurde und daran früher oder später verging.
Wie sehr er gepeinigt wurde, konnte man an jedem einzelnen Muskel im verquollenen Gesicht ablesen, das Clarence einst vertraut gewesen war wie sein eigenes Antlitz. Heute aber war es nicht nur die Säurewunde, welche den sonstigen Schönling entstellte, sondern vor allem auch tiefe Einblutungen, Schwellungen und nicht zuletzt der ansatzweise rasierte Schädel, an dessen Rand ihn auf ewig eine neue sichtbare Narbe zieren würde, sollte er je wieder zu kurzer Haarpracht zurück kehren.
Wortlos erwiderte der Blonde den entrückten Blick seines Mannes, suchte Erkennen und den alten Esprit darin, doch beides ließ sich in dieser Nacht nicht finden. Seine Hoffnungen waren groß, dass die Abwesenheit in Cassies Augen nur der Situation geschuldet war und sich legen würde, sobald das Schmerzmittel griff, er sich ausgeschlafen und nach und nach genug Flüssigkeit zu sich genommen hatte.
Doch so optimistisch wie seine Einstellung auch war, so sehr sollte sie ins Wanken geraten, als Matthew selbst bei Licht seine desorientierte Frage wiederholte: „Wer… wer… sind Sie?“
Sekunden gingen ins Land, in denen Clarence einfach nur auf den Mann den er liebte hinab blickte, beinahe so als wäre die Zeit stehen geblieben. Keine Regung ging durch sein erstarrtes Gesicht, viel zu sehr schossen seine Nervenbahnen wilde Informationen durch seinen Leib, die ihn unfähig machten etwas anderes zu tun. Diese Frage, so einfach und simpel sie doch sein mochte, ließ ganze Welten zusammenbrechen, just da sie ausgesprochen worden war.
Es klang völlig fremd und verrückt aus dem Mund seines Mannes ihn zu fragen, wer er überhaupt sei und am liebsten hätte er Cassie abermals vorgeworfen, ein derartiges Verhalten wäre gerade alles andere als witzig.
Doch der Bick der kandisfarbenen Augen, unter dem Schimmer der Schmerzensqual, gab tatsächlich nichts anderes her. Gar nichts. So als wäre er ein Fremder in den Augen seines eigenen Ehemannes, nichts weiter als ein Handlanger des Arztes oder eine Sitzwache, um den Status des Patienten im Auge zu behalten.
Kein Erkennen, keine Zuneigung, keine Liebe, kein Hilfegesuch an eine ihm bekannte Person.
Nichts.
Geräuschlos ließ sich Clarence zurück in seinen Stuhl sinken, unfähig auf die Frage des Dunkelhaarigen sofort eine Antwort zu geben. Gemessen an dessen Zustand, was antwortete man auf so eine Frage? Würde es Cassie zu sehr aufregen wenn sich ein ihm Fremder als Ehemann vorstellte, würde es Folgen für seine Genesung haben, wenn Claire es nicht tat?
Die graublauen hellen Iriden musterten den Verletzten, erkannten unter all den Hämatomen und den unförmigen Schwellungen noch immer das schöne Gesicht seines Freundes, das ihm auch schon zu Beginn ihres Kennenlernens als erstes aufgefallen war.
Wenn er Matthew anblickte, so hilflos und unwissend wie er aus seinem Bett zu ihm hinüber sah, dann sah er keinen Patienten mit Hirnschaden und schwersten Schädelverletzungen. Dann sah er noch immer den Mann, der ihm einem alten ausgesessenen Lehnstuhl seine Liebe gestanden hatte, der ihm versprochen hatte nie wieder von ihm zu weichen wenn Claire ihn nicht wegschickte und er sah jenen unsicheren Taugenichts, der dem Pastor bei ihrer Trauung mitten ins Wort gefallen war.
Aber was sah dieser in Clarence?
…so distanzlos es Cassie auch erscheinen mochte – oder eben nicht – war Clarence nicht dazu in der Lage, die Hand seines ihn nicht wiedererkennenden Gatten los- und ihn sich selbst zu überlassen. Noch immer war er zu überfordert mit der Situation, jetzt erst recht. Auch wenn der Verwundete im Mittelpunkt stehen sollte, kam Clarence nicht umhin sich mit der Frage nach dem Wer sind Sie? schlagartig auch als selbst durch Sally und Molly Mitchell geschädigt zu fühlen.
Matthew mochte seine Erinnerung ja vermutlich – hoffentlich – wiedererlangen sobald die Zeit verging und die Blutungen nicht mehr auf sein Hirn drückten. Aber wer um alles in der Welt entschädigte ihn für dieses unbeschreibliche Gefühl des Fallens, wenn der eigene Ehemann einen anblickte und fragte, wer man denn sei?
„Ich… ich…“ – unsicher blinzelte Claire, schüttelte leicht den Kopf. Im Augenblick wünschte er sich nichts so sehr wie den Quacksalber zurück an seine Seite der für ihn das Reden übernahm, aber ein Schmerzmittel zu besorgen war gerade weit wichtiger als alles andere.
„Doktor Bennett hat schon vermutet, d-dass es… dass es sein kann… dass du dich durch die Verletzung an manche Dinge nicht mehr erinnern k-kannst…“
Selbst die zu Beginn noch empor gestiegenen Tränen waren dem sonst hartgesottenen Bären von Mann im Halse stecken geblieben. Würde ein Mediziner seinen derzeitigen Zustand als Schock bezeichnen? - Könnte sein.
„Ich bin… Clarence, dein…- … Weiß du, w-wer… weißt du, wer du bist…?“ – eine Gegenfrage die seinem Mann sicher als ungerecht erschien, immerhin war er in einer Position in derer er sich nicht wehren konnte und auf andere verlassen musste.
Aber wäre es im Augenblick förderlich sich Cassie als Ehemann vorzustellen, ihm eine Unruhe einzupflanzen die er sicherlich gerade ganz und gar nicht gebrauchen konnte? War es sinnig ihn noch weiter zu überfordern, bevor er überhaupt irgendeine Art von Erstversorgung durch den Arzt erfahren hatte?
Gerade ging es ihm wie dem Jüngeren ihres Duos: Er wusste überhaupt nichts mehr, sein Kopf war wie leer gefegt.
„D-du wurdest angegriffen und… bist schwer verletzt worden. Alle dachten du stirbst, du hast die… die letzten zwei Tage im Koma gelegen. Es ist gerade… mitten in der Nacht…“, versuchte der Schamane seine Hilflosigkeit durch einfache Informationen zu kompensieren, auch wenn er – kaum laut ausgesprochen – daran zweifelte, Matthew würde überhaupt gerade so viel auf einmal aufnehmen können.
„W-wir bekommen dich… wieder hin, okay? Ich versprech‘s dir, wir… wir machen alles dafür, dass es dir… bald wieder besser geht, ich… ich versprech’s…“
Schweigsam starrte der Andere ihn an, mit hellen Augen in denen etliches an Kummer lag, alle Farbe war mit einem Schlag aus seinem Gesicht gewichen, so als wäre das Blut in seinen Adern jäh gestockt. Es dauerte ein paar Sekunden bis neue Worte die Stille im Raum füllten. Was Doktor Bennett vermutete war nicht die Antwort auf seine Frage. Schon wieder nicht, wie der Verletzte registrierte, denn dieses Mal war er sich relativ sicher, dass er die Frage wirklich gestellt und nicht nur gedacht hatte. Aber so oder so: Matthew war nicht in der Lage sich darüber zu beschweren.
Er musste hinnehmen was man ihm an Informationsbrocken hinwarf - auch wenn das gegenwärtig nicht viel war.
Im Moment erklärten ihm die Leute immer nur das gleiche, nämlich das er schwer am Kopf verletzt worden war - wodurch, dass hatte noch niemand gesagt, vielleicht weil es nicht wichtig war, vielleicht aber auch um ihn nicht zu beunruhigen, sollte eine Kugel noch in seinem Schädel stecken. Egal was es war, dass sein Kopf etwas abbekommen hatte, stellte er nicht in Frage.
Denn für berechtigte Zweifel waren die Schmerzen viel zu einnehmend. Jede Regung schmerzte, jedes Blinzeln kostete Kraft, selbst seine Augen zu bewegen tat weh. Der desorientiert Blick des Dunkelhaarigen sprach von Müdigkeit und allgemeiner Schwäche. Er fühlte sich nicht gut, gar nicht und doch versuchte er aufmerksam zu sein und bei Bewusstsein zu bleiben, auch wenn seine Lider so schrecklich schwer waren, dass es sie immer wieder nach unten zog.
Sein Körper wollte schlafen, brauchte die Ruhe vielleicht noch immer, obgleich er - den Worten des Hünen nach - schon seit zwei Tagen im Koma gelegen hatte. Eine lange Zeit der Regeneration mochte man meinen. Trotzdem reichten seine Reserven offenkundig nicht aus, um lange wach zu bleiben. Wie ein Ertrinkender, der seit Stunden auf dem Wasser trieb und den die Kräfte mehr und mehr verließen, so erging es Cassiel gerade.
Er wollte unbedingt oben bleiben - ein Sinnbild für das Bewusstsein. Doch fand er unter den Füßen einfach keinen Grund und so schwappten immer wieder Wellen über seinem Kopf die ihn unterkriegen wollten. Der Sog des Wassers war wie ein Gewicht das ihn hinabziehen wollte und das mit jeder Sekunde immer schwerer zu werden schien. Machte es Sinn dagegen anzukämpfen? Wahrscheinlich nicht. Hörte man deshalb aber auf zu strampeln? Andere vielleicht, Matthew aber nicht.
„Mhhm…“, machte er leise, die Augen wieder schließend. Einen Moment schien es, als würde er die Lider nicht noch einmal heben, doch dann öffneten sich seine Augen doch wieder und sein Blick suchte Clarence, der auf seine Frage lieber mit einer Gegenfrage geantwortet hatte und der so kummervoll aussah, als hätte man ihn schwer am Kopf verletzt.
Die Information, dass alle dachten er würde sterben, ließ Matthew erneut nachdenklich Brummen, wobei selbst dieses leise Geräusch letztlich wegbrach.
Wer waren diese ominösen alle? Er hatte dieses Zimmer noch nie gesehen, er wusste nicht wo es war, geschweigedenn erinnerte er sich an Bekanntschaften. Wenn es sie gab, dann hatte er sie vergessen und welchen Sinn sollte es haben, ihn diesbezüglich anzulügen?
Die stockende Stimme des Blonden erzählte derweil weiter, leise und bedacht. Aber vor allem klang er dabei so, als würde er unmittelbar davor stehen in Tränen auszubrechen. Verzweifelt und melancholisch und bemüht sich das nicht anmerken zu lassen. Überhaupt sah er so aus als hätte er in letzter Zeit viel geweint, was dafür sprach, dass er einer der Menschen war, die gedacht hatten er würde sterben. Und vielleicht starb er ja auch noch?
Wenn er aufhörte zu strampeln und unter die Wasseroberfläche geriet, dann schaffte er es vielleicht nicht wieder hinauf für einen weiteren kraftlosen Atemzug. Und wäre das so schlimm gewesen? Seine Schmerzen würden aufhören in der tiefen Dunkelheit, all die quälenden Fragen würden verstummen und der Kampf wäre zu Ende.
Es dauerte einen geraumen Moment bis Matthew die Kraft fand zu antworten und den bisher sehr einseitig geführten Dialog wieder aufzunehmen.
“Ich…ich…bin…“, er zögerte, schien nachdenken zu müssen und verstummte erneut für einen vielsagenden Augenblick. Zögerlich leckte er sich über die Lippen, ganz vorsichtig, weil sogar das wehtat. Der junge Mann schloss noch einmal seine Augen, verhältnismäßig kurz nur dieses Mal, bevor er sie wieder öffnete und den Anderen ansah.
“Ich bin Matt-hew…Matthew… Sky und ich…bin…mit dir ver-hei-ratet. Wollte dich…wollte dich n-nur…ein bisschen…auf-ziehen.“, immer wieder unterbrachen flache Atemzüge seine wenigen Worte, dafür hatte sich ein winziges, schelmisches Schmunzeln auf seine Lippen gelegt, das man - wenn man ihn denn gut genug kannte - durchaus mit dem vergleichen konnte welches er sonst auch oft genug an den Tag legte. Die Augen waren ihm mittlerweile wieder zugefallen, doch das Lächeln des Dunkelhaarigen blieb noch einen Moment erhalten.
“Wie könnte ich…dich je-jemals…vergessen…hm?“ Seine Augen öffneten sich wieder und müde sah er Clarence an. Er erkannte ihn, hatte ihn in dem Moment erkannt, als er die Augen im durch das Lämpchen erhellte Zimmer geöffnet hatte. Was Clarence für fehlende Zuneigung gehalten hatte war in Wirklichkeit einfach nur fehlende Energie. Matthew war schwach und jeder Moment in dem er wach war zerrte an seinen ohnehin spärlichen Kräften. Das kleine Lächeln das er dem Blondschopf gewidmet hatte, war - trotz aller Winzigkeit - so typisch für den jungen Mann wie auch sein unmöglicher Scherz, den er zum Glück recht schnell aufgelöst hatte als ihm bewusst geworden war wie ernst sein Zustand offenbar war und wie sehr Clarence um ihn gebangt hatte. Und immer noch bangte. “Hab…k-keine Angst…“ flüsterte er leise. “Du machst…schon jetzt…dass es…mir besser…geht.“, wieder lächelte Cassiel vage, ein Lächeln das trotz seiner Verletzungen noch immer nach dem jungen Mann aussah, der Clarence liebevoll aufzog wenn dieser zu viel Schokoladentorte aß oder der sich mit ihm über den Sinn und Unsinn von Badeschaum duellierte.
“Weißt du noch…in…in…deinem Lager…da-damals?“, ermattet schloss der Jüngere die Augen wieder, als würde er sich besagtes Lager in Gedanken vorstellen.
“Das hier…das ist k-kein solches Lager.“ Auf keinen Fall, nicht mal dann wenn man ihm noch ein dutzendemal erklärte, dass er schwer am Kopf verletzt war.
Sterben war keine Option und Clarence musste essen und trinken, schlafen und sich erholen. So wie er aussah, hatte er all das in den letzten Tagen zu wenig getan und auch wenn Matt eindeutig derjenige von ihnen beiden war um den es körperlich schlechter stand, so lenkte ihn sein eigener Zustand nicht davon ab zu erkennen, dass es auch Clarence nicht gut ging.
Der Blonde neigte dazu schnell abzubauen wenn er nicht genug zu Essen bekam und begünstigt wurde dieser Verfall auch noch dadurch, dass er einfach nicht gut auf sich aufpasste. Wie ein groteskes Selbstgeißelungsprogramm war es Matthew in der Vergangenheit oft vorgekommen, wenn der Hüne mal wieder unmögliches von seinem Körper gefordert hatte. Märsche durch Dornenfelder ohne Schuhe, das Aufessen irgendwelcher bitteren Kräuter oder rohem Fisch, das Löschen der Glut mit nackten Fußsohlen.
Der Blonde war nie gut zu sich gewesen - zumindest nicht seit Matthew ihn kannte - und dies bedeutete, dass Cassiel darauf achten musste, dass Clarence nicht zurück in alte Muster fiel.
Aber das war nur fair, immerhin tat der Andere das selbe für ihn und das schon seit dem Moment als sie einander kennengelernt hatten.
Für Bennett - der noch immer nicht zurückgekehrt war - würde es nicht weniger als eine medizinische Sensation sein wenn sich herausstellte, dass Matthews Gehirn und damit auch sein Gedächtnis, offensichtlich in keiner Weise oder lediglich minimal beschädigt war.
Obwohl das derzeitige Geschehen fremd war und so noch nie zuvor dagewesen, waren gewisse Parallelen unverkennbar. In vertauschten Rollen war dieser Tage der Ältere ihres Duos derjenige, welcher sich nah am Wasser gebaut sah und seinem Mann folgen würde, wohin immer dieser auch ging. Und Matthew? – Der zog es vor die beliebteste Kommunikationsform seines wilden Barbaren zu übernehmen, nämlich das universelle Brummen.
Das war eine Sprache, die der Bär eigentlich am besten beherrschen sollte und doch klang sie heute fremd in seinen Ohren. Ganz so als würde Cassie einen fremden Dialekt sprechen, den man nur schwer entziffern konnte wenn man ihn nicht kannte und doch verstand der Bärtige die Quintessenz dessen, was sein Gegenüber mit seinem Brummen auszudrücken versuchte: Es geht mir nicht gut, ich muss mich sortieren, ich denke nach.
Nachdenken, das war etwas, das auch der Bär am besten konnte. Nur eben nicht heute, nicht in dieser Nacht.
Sein Blut zirkulierte noch immer irgendwo unterhalb seiner Brust umher ohne seinem Kopf die Möglichkeit zu geben sich zu sammeln, ein Umstand der Fluch und Segen zugleich war. Dadurch schien es unmöglich das Gesagte seines Partners bis in die Tiefe zu begreifen, es nahm ihm die Möglichkeit noch am Bett des Verwundeten verrückt zu werden und gleichsam hatte Clarence in seinem Schockzustand doch auch nicht die Fähigkeit mehr, in Ruhe und mit Überlegung auf den Erinnerungslosen einzugehen.
Noch immer hielt er die schwache Hand des Mannes dem er fremd geworden war, spürte unter jener Berührung wie kaltschweißig sich seine eigene Haut mittlerweile anfühlte und das Zittern, welches ihn unkontrollierbar übernommen hatte.
Was sein würde, sollte Matthew trotz Zeit zur Genesung keinen Zugriff mehr auf seine Erinnerungen erhalten, war kaum auszumalen. Immerhin war er kein Mensch, dessen Charakter sich durch wohliges Behüten und ein stabiles, noch lebendes Umfeld geformt hatte. Wie auch Clarence, waren seine teils harschen Züge durch die Höhen und unmenschlichen Tiefen des Lebens entstanden, was einzigartige Ecken und Kanten in ihn geformt hatte. Sie beide waren keine bequemen Menschen, sie waren niemand mit dem man sich rundum wohlfühlte, wenn man sie erst mal bis auf den Grund kannte. Sie beide hatten ihre dunklen Kisten, in denen sie den tragischen Schmerz des Vergangenen in sich trugen und die von innen heraus das Grundgerüst ihres ganzen Seins stabilisierten.
Aber was blieb von Matthew unterm Strich übrig, wenn er dieses Gerüst – durch welch traurige Erlebnisse es auch entstanden war – nicht mehr besaß? Was wurde aus dem Biss für den Clarence ihn so sehr liebte? Aus seinem bewusst zur Schau getragenen Stolz, mit dem er über den Dingen stand? Was wurde aus dem vorlauten Taugenichts, der sein loses Mundwerk als Wall gegen die Welt einsetzte?
Sie mochten noch so verschieden sein, Matthew und er, doch ihr Grundgerüst war gleich: Es bestand aus Schmerz und Verlust und das war es doch, was ihre Bindung zueinander so besonders machte. Man wurde nicht aus mitleidigen Augen betrachtet, man sprach mit niemandem der die Bedeutung eines hart verlebten Lebens nicht verstand - und dazu hatte es erst deshalb kommen können, weil der jeweils andere der Erste gewesen war, dem sie seit langer Zeit vertraut hatten.
Wo wäre ihr Zauber hin ohne dieses hart erkämpfte Vertrauen? Wo der Leim der sie zusammenhielt, sollte Matthew wieder auf die Beine kommen und sich erinnerungslos fragen, wodurch er sich nur so einen grummelnden, stets mehr schlecht als recht gelaunten Gatten verdient hatte?
„Ich…ich…bin…“
Mit zusammengezogenen hellen Brauen und derart traurigen Augen, dass er Cassie zu dessen besten Tagen in nichts mehr nachgestanden hätte, ließ Clarence seinen Blick am Liegenden hinab wandern. Die entblößten Schultern hoben sich fahl von der weißen Bettwäsche ab, denn schon am ersten Tag hatte man ihn nach der Erstversorgung durch Doktor Bennett aus seinem von Blut befleckten Hemd geschnitten. Clarence hatte es schlicht und ergreifend unterlassen seinen Mann neu einzukleiden; vom Gefühl her war sogar die kleinste Bewegung am Bewusstlosen schon eine zu viel gewesen und bis er den Dickschädel seines bockigen Böckchens durch ein Hemd bekommen hätte, hätte er wahrscheinlich noch mehr Knochen an dessen Schädel zertrümmert als eh schon kaputt waren.
Mittlerweile hatte Matthew den Versuch aufgegeben die Decke von sich zu strampeln, lag wieder einigermaßen reglos in seinem Krankenbett und überlegte noch immer wer er selbst wohl war, wenn er sich schon seines eigenen Angetrauten nicht mehr entsann. Wortlos ließ der Blonde seinen entrückten Blick wieder an dessen Beinen hinauf gleiten, über die sich angestrengt hebende und senkende Brust und suchte schließlich den verquollenen Blick des Jüngeren, als jener die Last seiner Lider erneut gehoben hatte.
„Ich bin Matt-hew…Matthew… Sky und ich…bin…mit dir ver-hei-ratet. Wollte dich…wollte dich n-nur…ein bisschen…auf-ziehen.“
Regungslos schaute er in die müden, kandisfarbenen Iriden und konnte weder begreifen was Matthew Sky gerade dem Mann mit dem er verheiratet war gesagt hatte, noch was das bedeutete.
Noch immer drückte der Kloß in seinem Hals schmerzhaft gegen die bärtige Kehle und Claire wagte es zögerlich zum Nachtschrank hinüber zu blicken, dessen Schublade nach wie vor geschlossen war. Hatte er den Revolver, welcher dort drinnen lag, vielleicht doch schon benutzt? Lag er in der Realität gerade neben diesem Stuhl, den Inhalt seines eigenen Schädels quer im Zimmer verteilt, und hatte sich bereits im Jenseits eingefunden, ganz ohne es zu merken?
Die Aufmerksamkeit zurück in das geliebte Antlitz seines Gefährten verlagernd, erkannte Clarence auf den geschwollenen Lippen ein bekanntes Lächeln, welches er die vergangenen Tage so sehr vermisst hatte wie die Sonnenstrahlen des vergangenen Sommers.
„Hab…k-keine Angst…“, nahm die brüchige Stimme des Mannes der die Welt für ihn war den Raum erneut ein, „Du machst…schon jetzt…dass es…mir besser…geht.“
Erneut legte sich jenes Schmunzeln über die Lippen seines tot geglaubten Mannes und erst jetzt, gefühlte Äonen nachdem Matthew sein Wiedererkennen kundgetan hatte, brannte sich jene Erkenntnis auch in seiner eigenen Wahrnehmung ein – und ließ jene Dämme brechen, welche der Schock bislang zurück gehalten hatte.
Die Erleichterung, die ihn just in diesem Augenblick überkam, war so enorm, dass ein haltloses Schluchzen aus dem Bären hervor brach, noch bevor die ersten Tränen es überhaupt konnten. Die Last, ihn eben noch benebelt vor Schmerz und Enttäuschung, fiel mit einer solchen Gewalt von seinen entkräfteten Schultern, wie er es nie zuvor in seinem Leben kennenlernt hatte.
Jeder, jeder der geliebten Menschen deren Leben am seidenen Faden gehangen hatte, hatte ihn letztlich verlassen. Brutal, geschlachtet, erschlagen oder mit hoher Wahrscheinlichkeit von Mutanten zerfleischt. Dass sich Cassie in diese Reihe durch einen Steinwurf einreihen würde, war dem Jäger nach der Arztansprache am Abend so sicher erschienen wie das Amen in der Kirche und dass es nun eben doch nicht so sein sollte, dass Cassie allem Anschein nach überlebte, war für Clarence ein derart ungewohnter Ausgang, dass er damit noch weniger umzugehen wusste als mit dem Tod an sich.
Seine unvollständigen Finger zittrig mit denen seines Geliebten verschränkend, hatte der Hüne von Mann die andere Hand vors Gesicht geschlagen und versuchte den Tränen der Erleichterung Herr zu werden, jedoch nur mit mäßigem Erfolg.
Bei Gott, wäre Matthew nicht so schwer verletzt und hätte er ihm nicht versprochen fortan nie wieder bösartig zu ihm zu sein wenn er nur nicht starb, Clarence hätte ihn für diesen derben Streich auf der Stelle grün und blau geschlagen. Oder nochmal auf dem Marktplatz gesteinigt. Oder gleich mit einem Sack über dem Kopf im nächstbesten Brunnen ertränkt. Verdient hätte der Kerl es allemal.
„D-dann sorg a-auch d-dafür… dass es… dass es so blei-bt“, erwiderte der vom Weinen geschüttelte Bär mit Unterbrechungen leise, denn auch wenn sein Kopf bis eben kaum mehr funktioniert hatte, so verstand Clarence nur allzu gut worauf der Jüngere mit dem Lager anspielen wollte. Eine dunkle Zeit in ihrer gemeinsamen Geschichte, so dunkel, dass sie es seit Aufkeimen ihrer Freundschaft nicht mehr wertgewesen war darüber zu sprechen.
„Und w-weißt du… n-noch… in der Nacht, als… a-als wir uns das er-… erste Mal ge-geküsst haben…?“ – stockend atmete er tief ein und richtete den Blick für einen Moment hinauf zur Decke um sich zu beruhigen, während er mit der Hand versuchte seine Wangen einigermaßen trocken zu wischen. Erst dann wandte er sich wieder Cassie zu.
Noch immer war die Farbe nicht in sein Gesicht zurück gekehrt und vermutlich würde sie das erst dann vollends wieder tun, wenn der Arzt zurück war und das Licht zurück von Rot auf Tieforange umstellte. Doch mit Matthew zu reden, nach so vielen Tagen des Bangens und der Einsamkeit in dieser fremden Stadt, war mehr als sich Claire für diese Nacht hätte erhoffen können.
„W-Wehe du… lässt los. Ich bin h-hier und… halte dich f-fest, Tag und… und Nacht. Okay?“, schlossen sich für einen Moment seine Finger fester um die des Verwundeten.
Wehe im benebelten Kopf seines Mannes begann Clarence‘ Stimme herum zu hallen Cassie solle loslassen während er tief schlief – wehe er klammerte sich nicht mehr an das Leben mit seinem wilden Bären. Wehe er ließ sich gehen und davontragen.
„Bennett sorgt dafür, dass… d-dass deine Schmer-zen… dass sie besser werden und… ich mich um den Rest. D-Du musst was trinken, bevor… bevor du gleich von den… M-Medikamenten wieder einschläfst, du…“
Doch alleine der Gedanke daran, er müsse Cassie alsbald wieder dem unkontrollierbaren Schlaf überlassen über den Clarence keine Kontrolle besaß wie tief er reichen würde, ließ ihn für einen Moment wieder in Schweigen verfallen.
Neue Tränen stahlen sich in sein Blickfeld, machten das Bett in dem sein Geliebter lag verschwommen und so erhob sich der Jäger abermals dieser Nacht von seinem Stuhl, nur um vor dem Krankenbett erneut auf die Knie zu gehen wie es die zurückliegenden Tage schon so oft der Fall gewesen war.
Sachte hob er die fremde Hand von der Bettdecke, führte sie an seine von Tränen benetzten Lippen und hauchte vorsichtig einen Kuss auf ihren Rücken.
„D-Denk daran, dass wir… noch in den Süden segeln müssen… dass ich d-dir ein Pferd sch-schulde und dass… und d-… dass du mir ver-versprochen hast… mit mir alt und… und grau und senil auf… auf einer Veranda zu sitzen… ja? Ich liebe dich und wehe du lässt… einfach los, dann… komm ich hinterher und m-mach dir… dir die Hölle heiß…“
Dieses Mal war es Cassies Hand mit der er sich übers Gesicht wischte, aber sicher verzieh sein Mann ihm das – immerhin war er ja auch der Ursprung der bärigen Auflösung.
Hatte Clarence in seinem Beisein je so haltlos geschluchzt und geweint wie in diesen Augenblicken, als ihm klar geworden war, dass Matthew - lädiert und geschwächt zwar - noch immer er selber war? Gegenwärtig konnte sich der Dunkelhaarige daran nicht erinnern, doch wusste er nicht, wie verlässlich sein Erinnerungsvermögen gerade war. Alles was um ihn herum passierte nahm er nur gedämpft wahr. Das Licht, die Stimme seines Mannes, der Inhalt seiner Worte. Nur der Schmerz war vollkommen klar und präsent.
Aber dennoch gab es etwas, was er mit unumstößlicher Sicherheit wusste und das war, dass er Clarence keinen Anlass geben wollte um Tränen zu vergießen.
Was immer mit ihm passiert war, den großen und sonst so beherrschten Bär von einem Mann derart aufgelöst zu erleben, war schrecklich und tat auf einer ganz anderen Ebene weh als sein dröhnender Schädel es tat.
Matt würde alles versuchen um seinem Liebsten nicht noch mehr Kummer zu bereiten, er würde um sein Leben kämpfen weil er wusste alles andere würde Clarence gegenüber nicht fair sein. Sie hatten einander versprochen ihr Leben mit dem jeweils Anderen zu teilen. Sie hatten Pläne gemacht und sich Hirngespinsten hingegeben. Aber es würde keine schöne gemeinsame Zeit mehr geben, wenn er nun starb und Clarence zurückließ. Die Parallelen zu dem Auffinden des Blonden im Feld der Spinnen, waren Cassiel gerade nicht offensichtlich, aber der Schmerz des Älteren war es. Obgleich er in seinem umnebelten Verstand nicht wusste was passiert war, ob er an seinem Zustand selbst Schuld trug oder nicht, verspürte der junge Mann ein schlechtes Gewissen seinem Partner gegenüber weil er ihm solchen Kummer bereitete.
“Musst nicht…musst nicht…wei-nen,…Bärchen.“, brachte er leise über die Lippen und sah erschöpft zu dem Blonden auf, der ihm so ungewohnt hilflos vorkam.
Der Jäger war es sonst immer der einen kühlen Kopf behielt, der wusste was zutun war wenn Verletzungen einen lahmlegten. Er fand immer irgendwo ein Heilpflänzchen, tat stets irgendwie das richtige Mittelchen auf und schaffte es letztlich immer das man heil blieb oder wieder heil wurde.
„Und w-weißt du… n-noch… in der Nacht, als… a-als wir uns das er-… erste Mal ge-geküsst haben…?“ - ja…und wie er das noch wusste. Es hatte in seinem Leben keinen magischeren Moment gegeben als jenen da er Clarence’ Nähe zum ersten Mal wahrhaft gesucht hatte. Noch heute wusste er wie Clarence ausgesehen hatte, wie die kleinen Wassertropfen von seinen Haarspitzen über seine nackte Brust gelaufen waren, funkelnd wie goldene Perlen da sich der Schein des Feuers in ihnen verfangen hatte. Die Erinnerung an eben diese sternenklare Nacht, ließ das schwache aber ehrliche Lächeln zurück auf seine trockenen Lippen finden, denn selbst heute noch erfüllte die Erinnerung ihn mit einem warmen Gefühl des Glücks.
Damals hatte der Größere ihn beschworen loszulassen, der Kontext war ein vollkommen anderer und doch brachte Clarence eben jene Worte nun ein. Anders als in der besagten Nacht, als es ihm darum gegangen war Matthew zum loslassen zu bewegen, untersagte er es ihm jetzt. Matthew senkte für einen Moment seine müden Augenlider und machte leise “Mhmm…“ um zu signalisieren dass er verstanden hatte. Es fiel ihm ungeheuer schwer wach zu bleiben, auf der anderen Seite jedoch hatte er den Kampf gegen die Erschöpfung noch immer nicht aufgegeben.
Mit einem - für seine Verhältnisse - tiefen Atemzug hob sich seine flache Brust einigermaßen weit und er zwang sich dazu, Clarence wieder anzusehen.
“Du hältst…mich fest…? Das ist…schön…“ Der Größere war weit mehr als nur ein Gefährte, Freund und Ehemann - obgleich all diese Dinge für sich genommen schon enorm kostbar waren.
“Was…soll…mir…schon…pass-ieren mit…einem…Wä-Wächter wie…dir, an meiner…Seite, hm?“ Matthew versuchte seine freie Hand zu heben und über die des Größeren zu legen, aber dazu reichte seine Kraft nicht aus. Sein Körper wollte ihm so wenig gehorchen wie seine schwache Stimme, die ihm ständig wieder wegbrach. “Da kann…ni-nichts…nichts…schiefgehen.“
Clarence hatte von je her auf ihn aufgepasst, er war immer bei ihm gewesen wenn es schlecht um ihn stand. Seit sie einander kannten hatte Cassiel nie allein mit etwas fertig werden müssen und so war dem jungen Mann auch klar, dass er in den vergangenen Tagen nicht verlassen gewesen war.
Es war ein Privileg Clarence bei sich wissen zu können, die Gewissheit das er - wann immer er die Augen aufschlug - nicht alleine war.
Doch für den blonden Wildling schien es im Moment keinen Anker zu geben, an dem er sich festhalten konnte. Seine Tränen wollten nicht versiegen, selbst die Versuche Matthews ihm ein wenig Zuversicht zu spenden schienen nicht von Erfolg gekrönt zu sein. Mit allen Mitteln versuchte er, Cassiel an ihre gemeinsamen Pläne zu erinnern, ihm dadurch Kraft und Anlass zu geben bloß nicht diese Welt zu verlassen, obgleich aufgeben und loslassen so viel einfacher gewesen wäre.
„D-Denk daran, dass wir… noch in den Süden segeln müssen… dass ich d-dir ein Pferd sch-schulde…“ - wieder entlockte Clarence seinem Böckchen ein Lächeln und als Matt dieses Mal seine Hand zu heben versuchte, da gelang es ihm schon besser. Der junge Mann schob seinen Arm ein Stück über die Decke, quer über seinen Bauch und legte seine Hand auf der des Größeren ab.
“Mmmh…das klingt…schön.“, pflichtete er Clarence müde bei und leckte sich über die Lippen. Das Reden bereitete seiner ohnehin trockenen Kehle zunehmend Schwierigkeiten, aber das hinderte den Dunkelhaarigen nicht daran zu sagen, was er seinem geliebten Seelenverwandten sagen wollte. “In…in…vierzig Jahren…oder…oder so…“, fing er mühselig an und schmunzelte verträumt. “Werden wir ge-meinsam …auf…auf unserer Ver-anda sitzen und…wir werden…über unseren…unseren Hof…schauen und alles wird…alles wird…“, Cassiel gab sich alle Mühe die Hand des Blondschopfes zu drücken um so seine Zuversicht deutlich zu machen. “Gut sein…Alles wird gut sein.“ Wenn schon Clarence im Augenblick nicht daran glauben konnte das sich alles zum Guten wenden würde, dann würde Matthew eben für sie beide daran glauben. Natürlich war es Utopie zu glauben, dass eiserner Wille und hoffnungsvolle Worte allein ausreichen würden um gesund zu werden, aber da der junge Mann gar nicht wusste was genau passiert war und was ihm fehlte, fiel es ihm leichter optimistisch zu sein.
“Wenn ich…wieder einschlafen sollte…“, noch während er sprach fielen ihm die Augen schon wieder zu, was bereits vorwegnahm das erneutes Einschlafen keine Option sondern unvermeidbar war. Aber Cassiel wäre nicht er, wenn er nicht selbst in Phasen ärgster körperlicher Defizite jene enorme Willenskraft bewies, die ihm schon oft geholfen hatte am Leben zu bleiben. Obgleich es schon seit seinen ersten leisen Sätzen vor wenigen Minuten so ausgesehen hatte als würde Matthew gleich wieder in den Schlaf oder in die Bewusstlosigkeit hinüber gleiten, schaffte er es erneut sich aus den Fängen der Erschöpfung soweit zu befreien, dass er die Augen öffnete und weitersprach. “…Leg dich…leg dich dann zu mir, okay? Wir…schlafen…zusammen ein, wie…wie sonst auch…“, schlug er vor, ohne zu bedenken, dass das vielleicht nicht angemessen war in einem fremden Haus. Doch unter wessen Dach er sich befand, war dem Dunkelhaarigen ohnehin bereits wieder entfallen. Den Doktor mitsamt dem versprochenen Schmerzmittel und das er doch eigentlich noch etwas trinken sollte, hatte er auch schon wieder vergessen. Seine Aufmerksamkeit und Konzentration reichte nicht für mehr als für Clarence, der - egal was passiert war und was noch passieren würde - immer das Zentrum von Matthews Kosmos sein würde.
Wie Matthew es schaffte trotz seines Zustandes - mehr tot als lebendig und sichtlich geplagt von unvorstellbaren Schmerzen – einen dermaßen ruhigen und weisen Eindruck zu hinterlassen, würde jeder anderen Menschenseele auf dieser Welt wohl auf ewig ein Rätsel bleiben.
Besonnen lag er da, der Schönling, von den jüngsten Erlebnissen genauso gezeichnet wie von den zurückliegenden, und tröstete seinen weinenden Ehemann, obwohl er selbst eigentlich den meisten Trost von ihnen allen verdient hätte.
Die leisen und endlos liebevollen Worte „Musst nicht…musst nicht…wei-nen,…Bärchen“ lösten abermals in Clarence eine Woge des haltlosen Schluchzens aus. Doch nicht etwa vor Trauer um seinen Gefährten, sondern vor maßloser Dankbarkeit derjenige Auserwählte zu sein, welcher sich – womit auch immer – die Liebe dieses ganz besonderen Wesens verdient hatte.
Niemand auf der ganzen Welt wusste selbst im Sterbebett noch derart tröstliche Worte zu finden, wusste Claire auf jene Weise zu beruhigen wie sein Taugenichts es tat, selbst wenn der Jäger im Augenblick alles andere als besonnen wirken mochte.
Die zurückliegenden Tage hatten den sonst unumstößlichen Brocken von Mann gezeichnet, das stand völlig außer Frage. Clarence trotzte Wind und Wetter, trotze Hitze wie Kälte, brennender Sonne wie tödlichem Eis. Er scheute sich weder vor Frostbeulen auf seinen Zehen, noch vor einem Sonnenstich mit tagelang andauernder Übelkeit und Dehydratation. Und doch gab es eines wovor sich der Bär, schroff wie der Devils Teeth, auf ewig fürchten würde:
Seinen besten Freund und Partner, seinen Weggefährten, die zweite Hälfte seiner zerbrochenen Seele zu verlieren.
Seit viel längerer Zeit als normale Zweckgemeinschaften andauerten, wachte er bereits über den Jüngeren, hegte und pflegte ihn, wann auch immer Cassie Unterstützung benötigte. Selbst scheinbar getrennten Weges durch die Wälder streifend, hatte er seinen Kameraden doch nie völlig aus den Augen gelassen, ganz so als sei es seine Lebensaufgabe sich für dessen körperliche Unversehrtheit zu verpflichten.
Und war dem nicht auch ein wenig so? Hatte er nicht wirklich, schon mit ihrem Kennenlernen, einen Pakt mit sich selbst geschlossen – Matthew zu umsorgen und zu verarzten, auch wenn es das letzte war, das er in seinem eigenen Leben tat?
Nicht immer war er seinen guten Vorsätzen gerecht geworden, hatte seinen eigenen Mann in einem Feld voller Spinnen verloren und hier, in Cascade Hill City, sogar an eine Verrückte mit einer Tasche voller Steinen. Wahrlich, der Schamane versuchte stets sein Bestmöglichstes zu tun um seinen Versprechen gerecht zu werden, auch wenn die Voraussetzungen dafür oftmals nicht die besten waren.
Trotzdem war er im Haus des Quacksalbers geblieben, hatte das Bett seines Geliebten nur für die nötigsten Gänge verlassen und hatte ansonsten an Matthews Seite geharrt, Tag wie Nacht. Seitdem sie sich kannten und unausgesprochen beschlossen hatten fortan ihren Weg vorerst gemeinsam zu beschreiten, waren sie keinen Tag wirklich voneinander getrennt gewesen, nicht mal in Städten oder in Coral Valley. Tagesbesorgungen mochten sie in verschiedene Richtungen durch die Straßen geführt haben und doch hatten sie sich nie alleine über die Stadtgrenzen hinfort bewegt.
Sie waren beieinander geblieben, geographisch wie auch emotional, bis zu dem Tag an dem sie beschlossen hatten, diese Bindung durch ihr Ja-Wort offiziell zu machen.
Dass eben jene Gefühle weit über Gesundheit oder Krankheit hinaus gingen, bewies Matthew heute abermals durch seine sanften und wohl gewählten Worte. Wie liebevoll er mit Clarence sprach, ließ jedem Fremden einen weit tieferen Einblick in die Welt der beiden sonst rauen Männer erhaschen und offenbarte, dass eine weit tiefere Verbundenheit zwischen ihnen existierte als bloße Liebe jemals Brücken schlagen konnte.
Aus vor Kummer gleichsam Freude glänzenden Augen blickte der Blonde zum Liegenden empor, kaum dass er dessen andere Hand behütend über den eigenen spüren konnte. Es war nicht selbstverständlich, dass Cassie den Schmerz seines Bärchens genauso zu spüren vermochte wie auch der Schamane den körperlichen Schmerz seines Partners wahrnahm; wenngleich es unfair schien, dass der Jüngere in die Bedrängnis gekommen war den Knienden aufzufangen, so hätte es für Clarence keine schönere und heilsamere Zuwendung geben können als die seines eigenen Freundes.
„M-mach… mach fünfzig Jahre draus… ja?“, korrigierte er den anderen leise, denn mittlerweile hatte er den flüsternden Tonfall des Verwundeten schon längst übernommen. Vermutlich war die Ruhe angenehmer für Cassies dröhnenden Schädel, vielleicht wollte Clarence auch einfach nur die Geheimnisse ihres kleinen Kosmos‘ für sie beide bewahren, ohne Gefahr zu laufen ihre Träume mit einem Dritten zu teilen.
Im Augenblick, so unvorhersehbar und willkürlich aus dem ihnen bekannten Leben gerissen, erschienen ihm vierzig Jahre wie nichts, wenngleich bereits das eine einzige sich rückblickend angefühlt hatte wie ein halbes Leben. Jede Minute mit diesem zauberhaften Mann war kostbarer als Gold oder Diamanten und selbst die Schatzkammern von Rio Nosalida hätten ihm nicht aufwiegen können, was Matthew für ihn bedeutete.
Vorsichtig schmiegte der Bär seine bärtige Wange an die Hand seines vermissten Geliebten und schloss für einen Moment die Augen, ebenso wie auch Cassie es tat. Das Zeitfenster, das ihnen blieb um miteinander emotionale Nähe auszutauschen, war durchaus überschaubar; als hätte sich zwischen zwei Parallelwelten ein Spalt geöffnet, der jede Sekunde wieder zusammenzufallen drohte und damit auch den Blick hinüber in die andere Welt auf unabsehbare Zeit verloren machte.
Neue Tränen flammten in den geröteten Skleren auf, kaum da der mehr Schlafende als Wachende den unüberlegten Vorschlag unterbreitete, Claire in sein Krankenbett einzuladen.
Wenige Atemzüge nur waren es, die eine simple Angewohnheit in Worte kleideten und doch traf Matthew damit einen Nerv bei seinem Mann, der über eine bloße Vorliebe weit hinaus ging.
Ob es an dem angenehmen Zauber der erstmals aneinander geschmiegten Nacht in Cassies Zelt lag oder an dem luxuriösen und komfortablen Bett der Hurenkönigin, der Bär wusste nicht zu sagen warum ihn das bloße Zusammenliegen mit seinem Partner immer wieder aufs Neue ausglich wie kaum eine andere Zuwendung durch den Dunkelhaarigen. Angesichts der sonst viel mit Reisen und Wandern gefüllten Tage, war jene Form der Zweisamkeit vielleicht auch einfach nur ihr beider Ausgleich zu der sonst so erbarmungslosen Welt in der sie ihre Zeit verlebten; wenige Momente der Ruhe, des Friedens und der Geborgenheit fand Claire nur in den Armen seines Mannes, die Augen geschlossen, und auch nur dort schlief er das erste Mal seit Jahren wie niemals zuvor.
„Wenn… Bennett dich versorgt h-hat und du dich ent-spannen kannst, dann… dann leg ich mich zu dir. Ich halt dich warm und… p-passe auf, dass du mir n-nicht aus dem Bett fällst, ja?“, schlug er seinem manngewordenen Hoffnungsschimmer der heutigen Nacht mit einem zaghaft erwachenden Lächeln auf den Lippen vor, wobei insbesondere Letzteres essentiell war. Cassie war, so elegant und anmutig er sich auch durch die Straßen bewegen mochte, prädestiniert dafür in Fettnäpfchen zu treten – und nun, wiederauferstanden von den Toten, würde er es sicher nicht sein lassen dieses einzigartige Talent wieder aufzunehmen.
Ein Segen war es dass der Arzt noch nicht wieder zurück gekehrt war, denn sicher hätte er den beiden jungen Männern ihre gerade beschlossenen Pläne unumwunden verboten. Doch was wusste Doktor Bennett schon davon, was ihnen gut tat und wie heilsam ein wenig Balsam für die Seele auch für den Körper sein konnte? Schon bei seiner eigenen Rekonvaleszenz hatte sich Clarence nichts so sehr gewünscht wie seinen Mann wieder zurück bei sich im Bett zu wissen und erst als jener von der Bankreihe im Essbereich wieder zu ihm ins Schlafzimmer gezogen war, hatte auch seine eigene Genesung langsam aber sicher einen Aufschwung bekommen.
„Ich hab dich die… die letzten zwei Tage… furcht-bar vermisst, mein Böckchen…“, wisperte der Bär leise und löste sich vorsichtig von der fremden Hand, doch nur um an der mittlerweile gewohnten Bettkante ein Stück empor und somit näher zu seinem Partner heran zu rutschen. Auf dem Nachtschrank standen noch immer das Glas mit Wasser und das Handtuch, mit dem Claire es die letzten Stunden gewohnt war seinen Partner zu erfrischen.
„Erschreck dich n-nicht…“ - Auch jetzt griff er wieder nach den Stück Stoff, tauchte eine Ecke in das kühle Nass ein und ließ es im Anschluss mit vorsichtigem Tupfen über die spröde gewordenen Lippen des Jüngeren gleiten. Aus dem einstmals sinnlich geschwungenen Rot war ein Schlachtfeld geworden, ähnlich wie aus dem Rest des schönen Gesichts, aber das machte Matthew für den Blonden nicht weniger liebens- und begehrenswert.
Noch immer war ihm schmerzlich bewusst, dass Matthews Erwachen noch lange nichts hieß, dass es damit keine Garantie gab er würde nicht doch noch plötzlich im nächsten Tiefschlaf die Atmung einstellen – aber wenigstens für diese wenigen Minuten, die Augenblicke in denen die Welt für zählbare Sekunden heil war, wollte er vergessen welche Dunkelheit jenseits ihres kleinen Kosmos auf sie wartete.
„Lass mich nie wieder… nie wieder so l-lange alleine… hörst du? D-Du weißt doch ganz genau, dass ich… nicht ohne dich zurechtkomme. Nicht, wenn ich mir… die ganze Zeit Sorgen um mein Böckchen machen muss. A-aber…“, setzte der bärtige Jäger flüsternd zu einem Gegenangebot an, „…aber wenn du mir versprichst… dass du k-kämpfst und dass du… wieder auf die Beine kommst, dann… dann versuche ich ein artiger, tapferer Bär zu sein.“
Das haltlose Schluchzen des Blonden erklang erneut und Matthews Herz wurde unwillkürlich schwer. Er hatte nie gewollt das Clarence sich seinetwegen solche Sorgen machte, dass er derart litt.
Und gleichzeitig machte es dem jungen Mann deutlich, dass es um ihn wirklich schlecht stand. War die Situation hoffnungslos?
Vielleicht war sie es wirklich gewesen, vielleicht war das was ihm zugestoßen war so schrecklich, dass es keinen Grund gegeben hatte um an sein Überleben zu glauben.
Aber das würde ihn nicht daran hindern trotzdem am Leben zu bleiben. Es war schon so viel passiert, so oft schon hatte er sich in einer ausweglosen Lage befunden und doch war er noch immer hier. Schwach zwar, jedoch unbestreitbar lebendig.
„Wenn… Bennett dich versorgt h-hat und du dich ent-spannen kannst, dann… dann leg ich mich zu dir. Ich halt dich warm und… p-passe auf, dass du mir n-nicht aus dem Bett fällst, ja?“
Die liebevollen Worte Clarence’ ließen Matthew müde lächeln. Mhhh machte er zustimmend und leckte sich neuerlich vorsichtig über die Lippen.
Sein sonst so kühl wirkender Gefährte hatte jeden Schutzmantel abgelegt, er schämte sich seiner Sorge um ihn nicht und er versuchte auch nicht sie zu verhehlen. Kein bissiges Wort - und sei es auch nur im Spaß gemeint - verließ seine Lippen, kein Vorwurf weil geschehen war, was auch immer mit ihm geschehen sein mochte. Es war die Offenheit des Blonden, die vorbehaltlose Liebe und die Verzweiflung ob Matthews Zustand, die dem Jüngeren aufzeigte wie unbedingt Clarence ihn brauchte und wollte. Wenn er starb, wer kümmerte sich dann um den schönen Burschen mit seinen weltfremden Anschauungen? Wer lachte über seine trockenen Witze die gar nicht immer witzig gemeint waren? Wer sollte ihm helfen das Glück wiederzufinden? Wer sollte mit ihm in fünfzig Jahren auf einer Veranda sitzen, den trüben Blick über ihr Land schweifen lassend, während sie über die alten Zeiten sinnierten und dabei - schon leicht debil - den ein oder anderen Fakt verdrehten?
„Ich hab dich die… die letzten zwei Tage… furcht-bar vermisst, mein Böckchen…“, gestand Clarence leise und rutschte ein Stück gen Kopfteil, doch nicht etwa um Matthew zu küssen, sondern um ein kleines Handtuch mit Wasser zu benetzten welches auf dem Nachtschrank befindlich war.
Mit äußerster Behutsamkeit tupfte er mit dem Stück Stoff anschließend über Cassiels Lippen, befeuchtete sie mit dem kühlen Nass und machte Matthew erstmals bewusst wie durstig er eigentlich war. „Lass mich nie wieder… nie wieder so l-lange alleine… hörst du?…“ Der Dunkelhaarige hob erneut seine Hand, doch dieses Mal mobilisierte er seine Reserven soweit, dass er seinen Arm mit anhob um seine Handfläche sanft an die bärtige Wange seines Liebsten zu legen. Die Berührung war kraftlos und entbehrte der sonstigen Leichtigkeit mit der Matthew sie sonst ausführte, doch irgendwie war sie diesmal dennoch gewichtiger als sonst.
Seine Augen - das eine rot verfärbt von Einblutungen und fast gänzlich zugeschwollen, das Andere sanftmütig und so wach dreinblickend wie es eigentlich nicht möglich sein sollte, sahen den Hünen an und behutsam streichelten seine Finger durch das wohlbekannte und geliebte Gold von Clarence’ Bart. “Jetzt…jetzt…hör mir…g-gut zu, hm?“, wisperte Cassiel.
“Ich…ver-lasse dich nie-…mals.“ Clarence war sein Leben und so lange wie Matthew atmete, würde er um die gemeinsame Zeit kämpfen.
“Du musst nicht…nicht…traurig sein. Hab…hab…keine…Angst, okay?“ flüsterte der verletzte junge Mann weiter, während seine Finger noch immer kaum merklich über Clarence’ Wange streichelten. Es war ein beruhigendes Gefühl ihn so zu berühren wie er es schon hunderte Male getan hatte im Laufe der letzten Monate. So viele Dinge mochten sich geändert haben, so viel mochte passiert sein - aber die wirklich wichtigen Dinge blieben immer gleich. Ihr Vertrauen zueinander, ihr Zusammenhalt, ihre Liebe.
“Ich w-werde wieder…wieder gesund und dann…dann…be-segeln…“, er musste sich selbst unterbrechen, da seine Stimme ihm versagte. Trotzdem lächelte er ein zartes Lächeln. “…besegeln wir die…Welt. Du bringst uns…in…die Sonne. An…w-weiße…Str-Strände wo wir…nachts am Lagerfeuer sitzen…“, die Vorstellung war schön und auch wenn die Schmerzen ihm zu sagen schienen, dass nichts dergleichen je passieren würde, weil sein Ende gekommen war und in diesem Zimmer der Tod auf ihn wartete, ließ Matthew sich den Optimismus nicht nehmen.
“Ich liebe dich.“, sagte er mit leiser aber fester Stimme und strich ein letztes Mal über die bärtige Wange des Hünen, ehe er seine Hand wieder sinken ließ und die Augen schloss.
“Das…sage ich und…m-meine es.“ fügte Matthew flüsternd an, ohne das er die Lider noch einmal hob.
Seine Kraftreserven waren erschöpft und binnen weniger Sekunden hatte der Schlaf ihn wieder umfangen. Als Doktor Bennett schließlich zurückkehrte, lag Matthew wieder ruhig schlafend in seinem Bett, bis auf die Einblutungen und das Narbengewebe auf der anderen Gesichtsseite, war er blass. Sein Puls war nach wie vor schwach, gleiches galt für seine Atmung. Und doch verabreichte Doktor Bennett ihm ein intravenöses Mittel gegen die zweifellos vorhandenen Schmerzen. Das Risiko, dass die Substanz den jungen Mann umbringen würde weil sie schlichtweg zu viel für den ohnehin geschwächten Körper war, konnte er zwar nicht ausschließen, jedoch war es vertretbar gering.
In dieser Nacht erwachte Cassiel nicht erneut und auch am nächsten Morgen und Vormittag nicht. Arquin kam und ging, Bennett versorgte die Wunden und überprüfte in regelmäßigen Abständen den Allgemeinzustand des jungen Mannes. Am Nachmittag des fünfzehnten Mai kam Matthew noch einmal kurz zu sich, er war ansprechbar und einigermaßen orientiert.
Clarence gelang es, ihm etwas Wasser einzuflössen und Bennett konnte ihm kurz ein paar Fragen stellen um Aufschluss darüber zu gewinnen inwieweit Matthew einen eventuellen Hirnschaden davongetragen hatte. Bei jener Untersuchung stellte sich heraus, dass der junge Mann offenbar lediglich eine Gehirnerschütterung hatte, sein Gedächtnis bezüglich der letzten Stunden vor dem Angriff auf dem Markt war lückenhaft und unvollständig, doch alles was weiter zurückreichte konnte der junge Mann auch abrufen.