Für einen scherzhaften Augenblick kam es ihm in den Sinn, wie leichtsinnig und gefährlich es war, freiwillig mit einem Zeppelin zu fliegen. Einem riesigen Gerät, das irgendwo weit oben über den Wolken schwebte, den Naturgewalten ausgesetzt, während alle Passagiere die sich an Bord befanden auf den Piloten und die Technik vertrauen mussten. Sie legten ihre Leben in die Hand von Fremden und einer Maschine die sie weder kannten noch verstanden, ganz gleich von wie vielen Problemen mit solchen Geräten man bereits gehört hatte – und obwohl auch die Alten aus ihrer Technik hatten kein ewiges Leben ziehen können, nur Tod und Verdammnis.
Doch war es auf dem Erdboden so viel sicherer? Wären sie auf der langen Reise nach Poison Ivy zu Fuß oder zu Pferd nicht auch überfallen worden? Hätte man ihnen nachts nicht aufgelauert, sie überfallen oder sogar zu Geiseln genommen? Oder wären sie nicht vom Schneesturm überrascht worden und nachts heimlich in ihren Zelten erfroren?
Die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Boden zu Schaden gekommen wären, erschien Clarence bei weitem viel größer als jene mit dem Zeppelin abzustürzen. Und doch bargen beide Optionen einen winzigen, aber den wohl bedeutendsten Unterschied:
Unten auf der Erde waren sie ihres eigenen Glückes Schmied, hier oben waren sie völlig machtlos.
Gerne hätte er seinem Mann Mut gemacht, hätte ihm gesagt welch großartige Idee diese Sache mit den Fallschirmen doch war, aber am Ende schwieg Claire. Denn wenn eines sicher war, dann, dass das Personal sich in einem solchen Fall schon längst mit den Dingern gerettet hatte – was trauriger weise auch das Fehlen der meisten Mitarbeiter erklären würde.
Stattdessen konzentrierte er sich auf das einzige was er in dieser Situation beeinflussen konnte und was ihm das wichtigste war, nämlich seinen Mann weder aus den Augen, noch aus der Hand zu lassen, ganz gleich wohin dieser ihn im Flugschiff dirigierte. Vorbei an der großen Fensterfront, die den anderen Fluggästen zum Verhängnis werden würde sobald die Gläser barsten und sie nicht mehr im Inneren halten würden wenn ausgerechnet diese Seite zum Boden wurde, vorbei an dem armen Pagen, auf den eingeschrien wurde, als wäre er der Schuldige und hätte das einzige Ticket zum Überleben in der Tasche, obwohl er letzten Endes genau so elendig mit ihnen untergehen würde wie jeder andere auch.
Mit der Explosion verstummte im Sturz auch die Meute, welche man trotz der Distanz und der dazwischen liegenden Tür noch bis zum Treppenhaus poltern gehört hatte und selbst seine eigene Frage danach, ob er Cassie beim Aufprall etwas getan hatte ging im panischen Schreien eben jenen Mannes unter, als ihre Umgebung erneut eine unangenehme Kehrtwende einnahm und den Blonden vom Treppengeländer herunter beförderte.
In der Luft spürte er sein eigenes Gewicht viel schwerer wanken als sonst, an der kräftigen aber zarten Hand seines Mannes hängend, die zu viel mehr fähig war als man es ihr zutraute. Obgleich die Welt um sie herum in Trümmern zu liegen schien, war alles was blieb die Schreie die Clarence im Lärm kaum verstand und der verstörte Blick Matthews, aus dessen Augenwinkeln sich Tränen ergossen und vereinzelt auf den Blonden nieder fielen um in seinem Pullover zu versiegen. Beinahe lautlos wurden sie überholt von Thea, deren blutende Kopfwunde sich in dünnen Spritzern über seinem Gesicht verteilte und ihn sich an das Loch erinnern ließ, über dessen Abgrund er gestanden hatte, tief drinnen im dunklen Feld der Spinnen.
„Ich weiß, i-ich… lass nicht los“, beschwor er den Jüngeren und schaffte es unter Kraftaufwand sich ein Stück hinauf zu ziehen und die freie Hand auch im Matthews Arm zu legen, damit ihm wenigstens ein Teil der Last seines Gewichts abgenommen wurde. Natürlich würde Cassie auch loslassen, so überheblich wie das auch klingen mochte, aber Clarence zweifelte keine einzige Sekunde daran. Er würde ihm überall hin folgen, genauso wie der Jäger damals ohne zu zögern seinem Mann hinterher in das tiefe Loch hinab gesprungen war, in dem der Schrei des Dunkelhaarigen verhallt war; umso wichtiger war es ihm eng beieinander zu bleiben, damit keiner von ihnen irgendeine Dummheit beging. Die Wahrscheinlichkeit, das gleiche Schicksal zu erleiden, war größer wenn sie zusammen waren. Eine Welt ohne Matthew war nicht seine Welt und dass der Jüngere bereit war ihm überall hin zu folgen, hatte er bereits in Miami ausdrucksstark bewiesen.
Mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen umfasste er die Taille des Jüngeren kaum da sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Das Adrenalin, das mittlerweile durch seine Adern floss, machte jeden Muskel in seinem Körper zittern – sogar solche, die er bislang noch gar nicht bekannt hatte und von denen er sicher war, sie bis zum heutigen Tag noch nie gebraucht zu haben.
Vom näher rückenden Qualm und dem unaufhörlichen Gedanken abgelenkt mitsamt dem Boden rumpelnd in die Tiefe zu stürzen, ein seltsames Gefühl hinterlassend das sich mit Worten nicht beschreiben ließ, löste er schließlich seinen Blick von den schwarzen Rußschwaden aus Richtung Speisesaal und betrachtete Matthew in seinen Armen, dessen Gesicht von Dreck verschmiert und durch die Tränen von weißen Striemen durchzogen war. Die Stimme seines Mannes klang dumpf und weit entfernt in seinen Ohren, gedämpft durch das Adrenalin welches hindurch rauschte, so als würde Watte ihn noch weit von der Realität entfernt halten. Als wäre es noch lange nicht vorbei, als gäbe es noch Grund für Hoffnung, wo schon seit Minuten keine mehr war.
Zittrig erwiderte er den Kuss des anderen halbherzig.
„Wieso… sagst du sowas?“, murmelte er leise gegen Cassies Lippen, die Lider nicht vollends geschlossen um den Jüngeren im Blick behalten zu können, damit er ihm nicht im Moment einer Unachtsamkeit verloren ging. Er wollte keine Verabschiedung hören, kein unterschwelliges Lebewohl.
Doch noch während er das sagte und ein erneutes Beben unter seinen Füßen spürte, das ihn ins Taumeln geraten ließ und ihn zu Boden riss, Matthew in seinen Armen hinter sich her auf die Knie ziehend, bereute er seine fehlende Konzentration – denn wenn das wirklich ihre letzten Sekunden miteinander waren, was dann? Wenn es der letzte Kuss war, der letzte Atemhauch den sie sich schenkten?
Auch sein verlorenes Blinzeln machte Cassies Anblick nicht klarer, als Tränen seine Augen füllten und er mit zusammengepressten Lippen durch Matthews Haar strich um ihn zu mustern. Alles was er wünschte war, dass diese zwei Sekunden endlos sein mochten, wenigstens für den Augenblick. Dass alles um sie herum stehen blieb, die Zeit einfror – und ein bisschen fühlte es sich auch so an, während er die Tränen vom verschmierten Gesicht seines Mannes wischte und sein eigenes von neuen benetzt wurde.
„Ich l-liebe dich, a-aber… heute nicht - heute stirbt… keiner von u-uns beiden, hörst du?“, geräuschvoll musste er die Nase einen Moment hoch ziehen um seine Stimme nicht zu verlieren und versuchte mit Cassie in den Armen dichter zurück ans Treppengeländer zu rutschen, damit sie dort das bisschen Schutz finden konnten, was ihnen auf einem abstürzenden Zeppelin noch blieb, aus dessen Rumpf Flammen hinauf schlugen. Kurz zögerte er, tauchte aber schließlich mit einer Hand unter Matthews Hemd; nicht etwa um an die Erlebnisse der letzten Nacht anzuknüpfen, sondern um ihm das dünne Band abzunehmen, mit dem er seinen Ehering zur Kette umfunktioniert hatte um ihn unsichtbar bei sich zu behalten. Das Band fand schon nach einem kurzen Zug mit Claires Zähnen sein Schicksal auf dem Boden, bevor er den Ring zurück an Matthews Finger steckte, wo er hin gehörte.
„G-Gott hat… dich mir nicht geschenkt, damit… d-damit er uns heute beide hier sterben lässt. Ich w-weiß, du… kannst damit nichts anfangen, aber…“
Er mochte nicht länger überzeugt davon sein dass das hier nur Turbulenzen waren, die klimpernd Glasscherben an ihnen vorbei über den Boden tanzen ließen während die Decke beziehungsweise der ehemalige Boden über ihnen von panischen Schritten erfüllt war, aber sein Nicken war dafür umso fester, als er seine eigene Gedanken damit unterstrich.
„Aber ich weiß es e-einfach, okay? N-Nichts auf der Welt kann uns… uns voneinander t-trennen. Ich w-will doch n-noch mit di-“ - „SKY! REED!!“
Widerwillig löste er seinen Blick von Matthew, folgte dem Ruf der vertrauten Stimme mit dem Blick nach oben und erkannte am Loch, durch das man eigentlich die Treppe hinab steigen musste um in der ehemaligen Etage unter ihnen zu landen, die Fratze des Pomadengotts – der sich angesichts der katastrophalen Zustände, in denen sie sich befanden, nicht anmerken ließ, ob ihn die ineinander verwobene Pose der beiden Männer aktuell noch verwirrte oder mittlerweile alles egal war.
„Scheiße man, helft mir runter, ich will hier nicht alleine verrecken! Bitte!!“, flehte er gen Untergeschoss und Clarence konnte diese Angst verstehen, denn selbst wenn er Cassie nicht in seinem Leben hätte, selbst mit Fremden hätte er sich lieber zusammen gekauert als alleine in einer dunklen Ecke zu sitzen und schreiend auf das Ende zu warten. Was hatten sie schon noch zu verlieren? Es gab keinen Plan A oder B, nicht mal mehr einen Plan M, wenn alle anderen Stricke gerissen waren.
Bedrohlich knarrten die hölzernen Vertäfelungen um sie herum, während sich der Rauch entfernt am Ende des Ganges zu einer dickten schwarzen Wand verformte und dabei wirkte wie ein Schlund, der sich aufsperrte um sie zu verschlucken, sollte der Zeppelin sich noch einmal wenden.
„Halt dich fest“, wies er Matthew an und legte dessen Hände an das Geländer neben ihnen, bevor er sich selbst daran empor zog und sich Cameron entgegen reckte, der schon halb durch die Öffnung in der Decke durch war und nur etwas abgesichert werden musste, damit er nicht abrutschte und sich den Hals brach; wobei das vielleicht sogar ein humaneres Ende wäre, wie es Clarence kurz durch den Kopf ging.
Mittlerweile waren die Schreie und der Tumult am Ende des Flures erstorben, entweder erstickt durch den Rauch der Flammen oder weil man fortgerannt war, wohin auch immer. Was blieb war das Knarren des Holzes, das leise Knistern eines entfernten Lagerfeuers und das leise Surren welches die auf dem Boden tanzenden Glassplitter hinterließen… und die gähnende Stille der Hoffnungslosigkeit, die durch keinen einzigen Lichtfunken am Horizont wieder zu erfüllen war.
„Wir waren… bis fast am Ende des Schiffs, die haben… der… der Antrieb hat seit letzter Nacht einen Schaden“, stöhnte Barclay, völlig außer Atem, und klammerte sich kaum unten angekommen am Geländer fest, um nicht umzukippen. Seinen aufgeschürften Armen sah man an, dass er die meiste Strecke des Rückwegs durchs Kippen des Zeppelins wohl mehr über die Flure gefallen und gerutscht sein musste als gerannt… Und trotzdem liegen die Haare wie geleckt, ging es Claire durch den Kopf und ein trauriges Lächeln huschte dabei über seine Lippen. Wenigstens auf diese eine Sache war immer Verlass.
„Adrianna…?“ – „Die Irre ist… auf Selbstmordmission. Hat irgendwas von ihrem… shit“, entfuhr es ihm spitz als ein heftiger Ruck durch den Raum ging und klammerte sich fester ans Geländer. „…von Rucksack gelabert und dass sie nachkommt. Aber… ich denke, mittlerweile ist es überall gleich scheiße.“
„Lasst uns… wenigstens durch die Tür da vorne, ein Stück weg vom Feuer“, schlug Clarence vor, nicht dass das jetzt noch was brachte – doch der Boden begann sich schon wieder unter ihnen gen Nase zu neigen und wenn es eines gab, das Claire weniger haben wollte als der Aufprall, dann war es vorher von den Flammen gefressen zu werden.
Auffordernd gab er den beiden anderen einen Schubs in die Richtung vor ihnen und langte nach dem Geländer, als ein so heftiger Ruck durch den Zeppelin ging, dass man meinen konnte sie wären stehen geblieben und bereits irgendwo aufgeprallt ohne… aufgeprallt zu sein. Spitze Schreie ertönten aus der Etage über ihnen, als ein Halbwüchsiger durch die entstandenen Kräfte durch eben jenes Loch fiel aus dem sie Cameron eben noch hinab geholfen hatten und der dem dunklen Rauch am Ende des Ganges entgegen purzelte, als sich der Boden unter ihren Füßen abermals krächzend hinab zu neigen begann, dem Magen eines großen gefräßigen Wals gleich, der nun genug gefressen hatte und sich zur Ruhe hinab auf den Meeresgrund begab.
„Los, Beeilung!“, legte Barclay seinen Arm um Matthews Rücken und gab ihm, unterstützt durch eine Hand des Blonden, etwas Schwung in die richtige Richtung solange die Neigung des Schiffs es noch zuließ und sog erschrocken die Luft ein, kaum da es dumpf hinter ihm polterte.
Als Cameron über die Schulter hinter sich sah, erkannte er das Geländer und den von Blut verschmierten Dielenboden – doch Sky erblickte er erst einige Meter später, der auf seinen blutenden Fußsohlen ausgerutscht sein musste.
„Kacke man, halt dich fest, halt dich irgendwo fest!!“, kreischte er dem Blonden hinterher, Reed noch immer im einen Arm, während er den anderen um mehrere Streben des Geländers geschlungen hatte um sich festzuhalten. Doch auf dem abfallenden Weg hinab gab es nichts an dem man sich greifen konnte, auch keinen Halt auf dem Boden mit nackten und verschmierten Füßen, sondern erst den dumpfen Aufprall auf einer vorgezogenen Wand, die im Flur hervor stand.
Ein schmerzverzerrtes Stöhnen stieg aus dem aufgewirbelten Nebel von Dreck und Rauch hervor, in dem man nur die Silhouette des Hünen und schließlich ein leises „Gut… ist alles gut…“ vernehmen konnte, während er sich ächzend eine Hand auf die andere Schulter presste und mit einem leisen Schrei auf die andere Seite rollte.
Erst danach überrollten den Flur der Lärm und das eiskalte Grollen, indem die Vertäfelung an ihrer Seite plötzlich von einer grauen starren Masse zerteilt und das Holz regelrecht zerfetzt wurde. Stahl und Stein riss den Bauch des gefräßigen Wals auf, brachte ihn für einen Moment regelrecht zum erliegen und ergoss über die zerborstenen Fenster des Speisesaals schreiende Kreaturen über einen von Schnee bedeckten Vorsprung, den Cameron von der Höhe des Geländers aus durch eines der kleinen runden Fenster des Ganges erkennen konnte. Wie kleine Fackeln, kleine… Funken tanzten sie über die weiße Fläche des Gebäudes hinweg, mit dem sie kollidiert waren.
Cameron brauchte einen Moment um zu begreifen, dass es nicht das Feuer war, das so schön aussah, sondern Passagiere aus dem Speisesaal, die in Flammen standen.
Und dann kippte die Welt abermals, einer Trommel gleich, die wie beim Bingo Dinge aus ihrer aufgerissenen Öffnung warf. Glassplitter, Gemälde, Geschirr und Besteck, den Koffer der Thea erschlagen hatte, das Band das Clarence vom Ring gezogen hatte und das der Schwerkraft den Flur hinab gefolgt war.
„Nein… nein, nein! Nein!! NEIN!!!“
Panisch kratzte Clarence mit seiner Hand über die Holzvertäfelung hinweg, blieb an einem der vereinsamten vorstehenden Nägel hängen und riss sich daran die Finger blutig, schrie schmerzverzerrt auf als das Chaos ihn auf die kaputte Schulter warf und versuchte irgendetwas zu erreichen, an dem er sich festhalten konnte.
Voller Hysterie zerriss seine Stimme das Ende des Flurs, ließ sogar Cameron das Blut in den Adern gefrieren während er mit aller Kraft sich selbst und Matthew ans Geländer presste um dem strudelnden Sturz des Rumpfes etwas entgegen zu setzen und konnte gerade noch erkennen, wie die blutverschmierte Hand durch das Loch ragte um sich an einem der zerfetzten Hölzer festzuklammern, bevor sie lautlos abrutschte und in der Tiefe verschwand.
Schon so oft hatte Matthew Angst um sein Leben gehabt, dass er mehr darüber vergessen hatte, als andere in ihrem ganzen Leben erfahren würden.
Ein bitterer Geschmack lag auf seiner Zunge und er fühlte sich zittrig und schwach, so als hätte man ihm alle Kraft geraubt auch nur noch einen Schritt zu machen.
Und wozu sollte er auch? Sie waren verloren. Es gab keinen Fluchtweg, keine Fallschirme, keinen Ort an den sie rennen konnten.
Clarence sah ihn an und weinte, was es nur schlimmer machte, denn ihn weinen zu sehen hieß, alle Hoffnungen fahren zu lassen. Das hier war das Ende.
Matthews Herz zog sich schmerzhaft zusammen bei der Gewissheit, dass dieser Mann, der ihm alles war ebenso ums Leben kommen würde wie er selbst.
„D-doch, Claire...w-wir stürzen ab, w-wir sterben....“ widersprach er seinem Mann, aber Clarence ließ das nicht gelten. Er rutschte mit ihm dichter zur Treppe und drückte ihn mit sanfter Bestimmtheit in die Ecke, ihn abschirmend von dem Gang und damit auch von potentiellen Gefahren durch herumfliegende Gegenstände.
Cassie klammerte sich an ihn, drängte das Gesicht gegen die Halsbeuge des Größeren und schniefte.
„Ich will nicht, dass du stirbst.“ fiepte er tonlos. Er dachte an all die vielen glücklichen Stunden, daran wie sie Kain und Abel gekauft hatten, daran wie Clarence vor der Kirche auf ihn gewartet hatte - im feinen Anzug und mit Schuhen an den Füßen, während Matthew seine extra ausgezogen hatte...
Er dachte an Clarence‘ erstes Lachen, an die zahllosen Küsse, an das freche Schmunzeln seiner Lippen wenn er mal wieder versuchte ihn zu necken.
Sie hatten so viel gewollt, so viel gemeinsam vorgehabt und nichts von alledem würde noch passieren, weil in wenigen Minuten alles enden würde.
Auf vertraute Weise fühlte er die Finger seines Geliebten auf der Haut und er schmiegte sich fester an ihn, so fest, dass ihm die Seite wehtat mit der er zuvor auf das Geländer geprallt und mit dem Gewicht des Hünen beschwert worden war. Aber das war egal.
Clarence fischte das dünne Lederband hervor, löste es mit den Zähnen und steckte den Ring an Cassies Finger zurück. Erst wenige Stunden zuvor, als sie an Bord des Zeppelins gestiegen waren, hatte Matt den Ring abgenommen und sich wieder um den Hals gehängt. Er hatte befürchtet, dass man ihn ihm in Poison Ivy vielleicht stehlen würde.
Nun fand er den Weg zurück an seinen Platz und Matthew schluchzte erneut. Gott würde sie nicht retten - aber anders als vorhin wollte er dieses Mal nicht widersprechen. Clarence wollte glauben, dass man auf sie aufpasste also wollte auch Matthew, dass es so war.
Der Dunkelhaarige nickte, wischte sich mit dem Unterarm die Nase und blickte überrascht empor als er die Stimme von Barclay hörte.
Der Andere sah verzweifelt aus, seine Augen glänzten, sein Gesicht war blass - doch die Frisur war noch immer tadellos, wie es Matthew verwirrt durch den Kopf ging.
Benommen ließ er seine Hände von Clarence um das Geländer legen, unfähig sich selbst zu rühren.
Cameron gelang es mithilfe des Blonden aus dem Loch zu kriechen, seine Hände und Unterarme waren voller Striemen und Abschürfungen, hellrotes Blut lief ihm in die Handflächen und er hinterließ rote Abdrücke auf allem was er anfasste.
„Ihr Rucksack?“, entfuhr es Cassie und gleich darauf lachte er auf, es war ein Geräusch welches im Chaos des abstürzenden Zeppelins schrecklich traurig klang und wenn man Cassie dabei ansah, erkannte man auch wie wenig Freude in dem Geräusch lag.
Adrianna brauchte keinen Rucksack mehr, niemand auf dem Schiff brauchte noch einen Rucksack.
Aber die Frau war einfach verrückt... verrückt bis zum Schluss. Unsicher kam Matthew auf die Beine, sich mit einer Hand am Geländer festhaltend.
Clarence wollte weiter weg von dem Feuer... eine gute Idee, aber angesichts der Instabilität ihrer Umgebung schwerer umzusetzen als gedacht.
Der nächste Ruck war so stark, dass es Matthew an das Geländer warf. Einen anderen jungen Mann warf es durch den Treppenaufgang, er schrie und ruderte mit den Armen, versuchte verzweifelt irgendwo Halt zu finden und wurde letztlich vom Rauch verschluckt.
Barclay war es der Cassie weiter vorwärts schob und auch Clarence versetzte ihm einen Schubs nach vorn. Sie mussten diesen Gang hinter sich lassen, vielleicht hatten sie dann den Hauch einer Chance.
Aber jenen Gang sollte keiner von ihnen hinter sich lassen.
Ein dumpfes Poltern machte, dass Matthew über seine Schulter zurückblickte und im ersten Moment nichts sah außer blutige Schlieren.
„Claire…?“ leise, fragend, ungläubig. Und dann, als ihm bewusst wurde, dass er wirklich nicht mehr direkt hinter ihnen war schrie er den Namen des Blonden regelrecht.
„Claire?! Claire, bleib wo du bist... b-bleib da, ich komm dich holen!“ Matthew wollte sich von Barclay befreien, aber dieser hielt ihn zurück und in dem Moment rollte sich der Hüne hustend auf die Seite. Leise versicherte er, dass alles gut war aber Matthew würde das erst glauben, wenn Clarence wieder bei ihm war.
„Komm schon...“, bat Matthew leise aber hörbar denn eine gespenstische Stille hatte sich über den Teil des Flugschiffs gesenkt. Barclay, der ihn festhielt musste sein Zittern spüren und auch, dass der Dunkelhaarige drauf und dran war sich loszureißen, denn er ließ Matthew nicht eine Sekunde aus seinem eisernen Griff.
Mit unvorstellbarer Wucht schlug plötzlich Stahl und Beton ein gigantisches Loch in die Außenhülle des Passagierraums, Menschen kreischten, eine weitere Explosion schickte eine Feuerwalze durch den Rumpf, sprengte endgültig die Fenster, und setzte alles in Brand was im Weg war. Wände, Teppiche, Bilder, Betten, Menschen.
Jetzt kreischte auch Matthew, kreischte hysterisch den Namen seines Mannes und versuchte zu ihm zu gelangen.
„Komm schon! Komm schon, Claire! Halt dich fest, halt dich fest. Komm hoch hier!“ Matthew schrie so laut, dass er seine eigene Stimme nicht mehr erkannte. Sein Herz hämmerte rasend schnell in seiner Brust und Tränen strömten ungehindert über seine Wangen.
„Clarence! Claire, bitte, bitte halt dich fest.“
Aber egal wie laut er schrie und egal wie verzweifelt sein Geliebter auch um Halt kämpfte, als der Zeppelin ein weiteres Mal kippte, konnte sich der Blonde nirgends mehr festklammern. Er rutschte unweigerlich dem Abgrund entgegen durch welchen eisigkalte Luft strömte.
„Nein! NEIN!!“, schrie Matthew voller Panik, sein Herz schien sich zu überschlagen, das Blut in seinen Adern schlagartig zu kochen, ihm wurde heiß und kalt zugleich und er riss abermals an seinem Arm um sich zu befreien.
„Ich komme zu dir, Claire...halt dich fest. Halt dich fest, BITTE...“ aber Cameron hielt ihn weiterhin fest, sodass Matthew sich schließlich wieder ihm zuwandte.
Hasserfüllt funkelte er ihn an.
„Lass mich Verflucht nochmal los!“, spie er ihm entgegen.
„Nein! Du stirbst wenn du ihm folgst!“ schrie Cameron ihn an, sein Blick war gequält, Matthew sah Tränen in den Augen des Anderen und er schniefte.
Er hatte mit einem Mal keine Kraft mehr zu atmen, alles war zu viel. Clarence durfte nicht fallen, er hatte gesagt heute starb keiner von ihnen. Er hatte es gesagt....
„Claire...“ weinte er und sah wieder zu Clarence... oder viel mehr dorthin wo der Blonde wenige Augenblicke zuvor noch gewesen war. Nun klafften dort nur noch die gezackten Ränder des Loches, auf dem Vorsprung war niemand mehr und das war der Moment in dem Matthew vor Schmerz aufschrie. Mit einem finalen Ruck schaffte er es, sich von Cameron zu lösen und er rannte den Gang hinunter, rannte in den Qualm, rannte zum Loch, zum Feuer und in den Tod.
Aber welchen Sinn sollte es haben nicht zusammen mit Clarence zu sterben, wenn sie nicht gemeinsam leben konnten?
Tränen verschleierten seinen Blick während er auf das Loch zu rannte, sich durch die Schräglage beinahe überschlug. Er hatte etwa die Hälfte der Stecke zurückgelegt als eine gewaltige dritte Explosion den Zeppelin buchstäblich auseinanderfetzte.
Holz barst in alle Richtungen, die Luft wurde so heiß, dass sie in den Lungen brannte und alle menschlichen Schreie wurden übertönt vom Krachen und Knirschen der splitternden Wände und Böden. Die Stahlkonstruktion des Schiffes bog sich, riss aus und unter einem ächzenden Laut verdrehte sich das Gerippe des Zeppelins.
Die Wucht der Explosion schleuderte Matthew so heftig zurück, dass er ein weiteres Mal gegen die Stelle knallte, an der zuvor noch das Geländer gewesen war.
Jetzt war es größtenteils herausgerissen, die Überbleibsel ragten wie spitze Zähne aus dem gesplitterten Boden, dahinter klaffte ein neues Loch, durch das Matthew für einen kurzen Augenblick den Himmel sehen konnte.
Er war grau, so stahlgrau wie die Augen Clarence‘...
Einen Moment später durchflutete eine Welle heißer Schmerzen seinen Rücken als er mit diesem voran gegen die Reste des Geländers prallte. Die scharfkantigen Spitzen bohrten sich durch seinen Pullover, rutschten an der Wirbelsäule ab und spießten sich unterhalb seines Schulterblatts in sein Fleisch.
Dann hatte die Feuerwalze auch jenen Teil des Zeppelins erfasst, steckte alles in Brand und brachte den Gestank von verkohlten Menschen mit.
Panisch versuchte Cassie sich zu befreien, schrie vor Schmerzen als sich das Holz in seinem Rücken bewegte.
Eine neuerliche Erschütterung folgte, dieses Mal der Aufprall und er war so hart und heftig, dass das stählerne Gerippe des Luftschiffes sich beinahe komplett verzog und bis zur Unkenntlichkeit verdrehte. Die Kerzenhalter riss es aus den Wänden, die Wände selbst barsten krachend, Türen öffneten sich und Gepäck flog umher, alles brannte, sogar die Luft flirrte.
Das Geländer wurde aus der Verschraubung gerissen und mitsamt dem jungen Mann an die gegenüberliegende Seite geschleudert. Trümmerteile der herabstürzenden Decke fielen auf Cassie herunter, klemmten ihn ein und nahmen ihm erst die Luft als sie ihn unter sich begruben und schließlich auch das Bewusstsein.
Auf diese letzte Erschütterung folgte eine holprige Rutschfahrt durch den Schnee wobei der Zeppelinkadaver eine Schneise durch das kalte Weiß zog. Etliche Meter später blieb das Wrack liegen, in drei Teile war es zersprengt, und bis auf das Knistern der Flammen und das Heulen des Windes der durch die menschenleere Stadt pfiff, hörte man kein einziges Geräusch.