Zuhause
11. Januar 2211
Nach dem schweigsamen Marsch zurück durch die Kälte in ihre Wohnung, waren die Wärme des Jüngeren und sein vertrautes Gewicht auf dem Schoß des Blonden mehr als willkommen. Obwohl sie nun schon so lange zusammen waren, war ihm nichts an Matthew selbstverständlich geworden. Weder seine Gesellschaft, noch seine Nähe.
Clarence konnte sich noch gut erinnern an die Nacht etwa zwei Wochen von Coral Valley entfernt, als es bitterkalt geworden war und sie erst ein Streit entzweit hatte, bevor Cassie sich getraut hatte ihn zu küssen. Ihn, den verschrobenen Wilden, zu dem der Dunkelhaarige zwar tiefe freundschaftliche Gefühle gehegt, ihn aber körperlich und emotional nie näher an sich heran gelassen hatte als nötig. Er hatte ihn geküsst und sich mit ihm auf dem schmutzigen Waldboden geliebt, hatte ihm später ein ledernes Glutbündel gepackt um im Zelt seine nackten Füße damit zu wärmen und sich in der Nacht eng an ihn heran geschmiegt wie er es noch nie getan hatte. Es war ein ungewohntes Gefühl gewesen Matthew so dicht bei sich zu haben, seine Wärme und den Atem des Jüngeren im Nacken zu spüren und dennoch hatte es ihm von der ersten Sekunde an einen wohligen Schauer versetzt der ihn hatte spüren lassen, dass da mehr war als nur die Hoffnung darauf in der Kälte der Nacht nicht zu erfrieren.
Matthew so dicht bei sich zu spüren bescherte ihm damals wie heute eben jenes wohlige Gefühl. Sich an seine Brust zu lehnen verlieh Clarence eine Form von Frieden, wie es in ihrer aktuellen Lage eigentlich kaum zu denken gewesen wäre; schon immer hatte sein Mann die einzigartige Fähigkeit besessen ihn mit wenigen Worten oder Berührungen so zu beruhigen wie noch nie jemand vor ihm es geschafft hatte. Nach all den Abenteuern und Gefahren, die sie beide schon gemeinsam durchlebt hatten, war die anschließende Nähe zu seinem Mann schon immer ein Garant dafür gewesen, dass ab jetzt alles gut werden würde. Daran wollte der Jäger auch heute glauben, selbst wenn sie erst am Anfang dieser Reise standen, die Mo’Ann ihnen mit ihrer Offenbarung aufgebürdet hatte.
„So wie ich dich kenne, lässt du am Ende so deinen Charme durchsickern, dass die sich ungeahnt in dich schockverlieben statt dich noch länger zu hassen… Vielleicht legt sich die Fehde dadurch auch schon von allein bei“, murmelte er wohlig gegen die Brust seines Mannes und machte keine Anstalten sich aus seiner wohltuenden Umarmung zu befreien, die Cassie über ihn gelegt hatte. Bei ihm und Cameron war es ja recht ähnlich gewesen, denn auch wenn sie ihr gegenseitiges Unbehagen nicht offen zur Schau getragen hatten, unterm Strich waren sie sich zu Beginn ihres Kennenlernens nie so wirklich grün gewesen. Wer sagte ihnen mit Sicherheit, dass es mit Ryan, Odette oder Rory nicht auch soweit kommen könnte? Selbst Clarence hatte sich in diesen Kerl verliebt, obwohl der Dunkelhaarige zu Beginn eine ziemliche Kratzbürste gewesen war.
Doch so viel es um das unangenehme Dreiergespann und ihre allheilige Mo’Ann auch zu bereden gab, am Ende lenkte sein Mann das Thema doch wieder auf die beiden kleinen Mädchen auf den Fotos zurück, deren Aufenthaltsort und Allgemeinzustand sie derzeit nicht im geringsten benennen konnten. Matthew musste das nicht tun – musste sich weder den Erpressungen der kahlköpfigen Witwe hingeben, noch sich einem Leben fügen das ihm potentiell durch die Vergangenheit des Blonden aufgebürdet wurde. Er müsste nicht in Falconry Gardens bleiben wenn er nicht wollte und noch weniger musste er sich um zwei Kindern kümmern die er nicht kannte und die er – bis auf zwei verblasste alte Fotos versteckt in einer Bibel – noch nie zuvor gesehen hatte. Dass sich ihr Leben mit den beiden Mädchen im Haus fortan von dem unterscheiden würde das sie bislang geführt hatten, war offensichtlich und dennoch machte sein Mann ihm deshalb keine Vorwürfe oder stellte gar Forderungen die zu erfüllen waren, wenn er Matthews Unterstützung erwarten wollte. Cassie versicherte ihm einfach nur, dass alles gut werden würde… und dass sie beide auf die Mädchen Acht geben würden, ganz so als wäre das selbstverständlich, obwohl es das eigentlich gar nicht war.
„Das… das bedeutet mir mehr als alles andere auf der Welt. Dass du auf mich aufpasst – und auf sie aufpassen willst“, fügte er mit einem Nicken gen Tisch an. „Ich meine… ein Sky ist ja manchmal schon zu viel für dich. Was willst du mit zwei weiteren von meiner Sorte machen, mh?“ – das war eine berechtigte Frage wenn man seinen blonden Dickschädel bedachte und die ausweglosen Situationen, in die er sich oft Hals über Kopf stürzte ohne nachzudenken. So überlegt und organisiert er meistens seine Entscheidungen traf, genauso hitzköpfig konnte er sein und Matthew war Zeit ihres Zusammenlebens nicht nur ein Mal fast an Clarence verzweifelt. Das war also alles in allem ein sehr anspruchsvoller Job, den er sich da gerade ans Bein binden wollte.
Während er sprach, hatte sich eine seiner Hände in gewohnter Manier unter den Pullover des Jüngeren verloren und nach seiner warmen Haut getastet, bis seine Fingerspitzen sachte unter dem Hosenbund Cassies zur Ruhe gekommen waren. So an ihn geschmiegt und beieinander sitzend, fühlte sich die Welt fast wieder ein wenig normal an obwohl in den letzten Tagen und auch heute so vieles aus den Fugen geraten war.
„Es ist komisch mit jemandem so viel über sie zu reden. Das hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr getan. Die Leute wollen nichts hören über die toten Kinder eines anderen, das deprimiert sie nur und macht ihnen Angst“, erhob sich Claires Stimme brummend, nachdem er eine Weile geschwiegen und abermals die Bilder auf dem Tisch begutachtet hatte. Schließlich streckte er seine freie Hand nach jener Fotografie aus, auf der die beiden Mädchen mit Decken bekleidet nebeneinander standen. Es war eines der wenigen Bilder, auf denen sie zusammen abgelichtet waren und nicht aussahen als fürchteten sie gerade um Leib und Leben, auch wenn ‚glücklich‘ ebenfalls nicht ein Wort war, das man für ihre Gesichtsausdrücke verwenden könnte.
„Können wir… können wir das auf die Fensterbank stellen? Wäre das okay?“, wollte er schließlich wissen und hielt Cassie das Foto entgegen, der mit seinem Rücken viel näher am Fenster lehnte, unter dem ihr Esstisch stand. Als Christ aus dem Madman Forest hielt er normalerweise nicht viel von Abbildern und noch weniger etwas davon diese zur Schau zu stellen, aber das war nie der Grund gewesen, weshalb er die Fotos seiner Kinder selbst hier stets versteckt gehalten hatte. Wind und Wetter hatte sie nicht weiter ausbleichen und noch mehr der wenigen Erinnerung nehmen sollen, die als einzige von ihnen existierte.
„Wenn sie-… falls sie irgendwann hier bei uns sein sollten“, korrigierte sich Clarence, der es sich noch immer nicht vollends erlauben wollte sich echte Hoffnungen auf die Behauptungen Mo’Anns einzubilden, „wirst du dir bis dahin einen neuen Bogen anschaffen müssen. Wenn Harper hört, dass du damit umgehen kannst, will sie sicher alles von dir lernen. Sie hat… hatte… ein sehr fragwürdiges Talent dafür. Schießt dir ein Ziel nach dem anderen auf zwanzig Meter Distanz weg, obwohl sie die Pistole kaum halten kann. Gott allein weiß zu was das Kind mit einem Bogen alles in der Lage ist, wenn du ihr einen baust, der zu ihrer Größe passt.“
Von unten herauf musterte er Matthew, den er mehr liebte als er jemals mit Worten würde ausdrücken können. Dieser Mann hatte sich nicht ausgesucht was vor ihm lag und wenngleich Mo’Ann ihnen mit ihrer Erpressung beiden gleichermaßen aufgebürdet hatte was kommen würde, hatte der Dunkelhaarige bei den beiden Mädchen weit weniger Mitspracherecht besessen als Clarence, der sich zu Lebzeiten selbst dazu entschieden hatte Kinder in die Welt zu setzen.
„Falls es so weit kommt… dann wirst du das großartig machen, hörst du? Das weiß ich. Und ich will, dass du das auch weißt.“
Es mochte stimmen, dass ihn Clarence oft genug überforderte - aber noch nie hatte Matthew das zum Anlass genommen um ihn zu verlassen. Auch wenn das zweifellos oftmals die leichtere Lösung gewesen wäre.
Aber es stand längst nicht mehr in seiner Macht den Blonden zu verlassen. Wohin sollte er gehen, wenn er nicht dorthin ging wo es Clarence hinzog?
Was sollte er lieben, wenn nicht die Gespräche und schweigenden Augenblicke mit seinem Wildling?
Und über wessen schlechte Ideen sollte er sich monieren, wenn nicht über die des dickköpfigen Jägers?
Wen sollte er in frühen Morgenstunden leise anhimmeln, wenn nicht seinen besten Freund und Ehemann?
Natürlich band ihn nichts und niemand wortwörtlich an ihn. Weder ein Versprechen, noch eine Unterschrift auf Pergament. Und trotzdem konnte er nicht weggehen und wollte es auch gar nicht.
„Ich bin seit geraumer Zeit selbst ein Sky, du Dummkopf. Ich komme mit dir und deinen Töchtern locker klar. Und am Ende hebe ich all meinen Charme für sie auf, statt ihn an Odette und ihren Club von Dumpfbacken zu verschwenden.
Bei deinen Mädchen ist mein Charme sowieso viel besser aufgehoben.“
Der Gedanke, dass jene Kinder zu Clarence gehörten und damit auch irgendwie zu ihm, machte Matthew Angst. Aber er wollte nicht, dass der Blonde sich auch noch deshalb Gedanken um ihn machen musste.
Aktuell wollte der Dunkelhaarige selber nicht daran denken wie es werden würde, wenn beide Mädchen in dieses Haus kamen und sich fortan mit einer Welt konfrontiert sahen, die sie in keiner Weise kannten.
Eine Welt in der ihr Vater keine Frau hatte, sondern einen anderen Mann. Eine Welt in der Schulbildung nicht aus Bibelversen bestand und in der sie Sonntags nicht in die Kirche mussten. Eine Welt in der sie mit so vielem klarkommen mussten, dass sie ihn vielleicht nicht wollten oder nicht mochten - weil er eben nicht ihre Mutter war.
Matthew, der Kinder für sich immer ausgeschlossen hatte, hatte durchaus Angst davor wie sich die Dinge verändern würden - doch so lange es ging würde er versuchen jene Angst von sich wegzuschieben - denn bei allem was ihm lieb und teuer war: Clarence hatte es nicht verdient, dass man ihm etwas so schönes, wie die Wiederkehr seiner Kinder, verdarb.
Mo‘Anns Forderung war bereits unsäglich genug.
„Jetzt wo es so aussieht als würde ich sie kennenlernen… müssen wir noch viel mehr über sie sprechen. Denn wenn sie in ein paar Tagen oder Wochen bei uns sind, dann ist es gut, wenn ich etwas mehr über sie weiß, hm? Und früher… ich meine… Ich wollte dich nicht verletzten. Wenn du von ihnen erzählt hast, warst du immer auch traurig. Zumindest hat es so auf mich gewirkt.“
Auch jetzt war der Schmerz noch lange nicht verflogen und vielleicht würde er das auch nie tun, wenn Mo‘Anns Behauptung sich als falsch erweisen sollte.
Aber falls sie nicht gelogen hatte, dann würde der Kummer vergehen und Clarence wäre erlöst von den Gefühlen der Schuld und des Kummers.
Zärtlich streichelte Matthew durch den blonden Schopf und nahm schließlich das Foto der Kinder in die Hand.
Einen Moment lang musterte er die Gesichter jener Mädchen. Sie sahen unbedarft aus, jung und makellos. Kein Lächeln zierte ihre Lippen - aber immerhin wirkten sie auch nicht verängstigt oder eingeschüchtert.
„Natürlich stellen wir es auf. Und wenn sich die Gelegenheit ergibt, dann werden wir es früher oder später durch eines ersetzen auf dem sie lächeln. Zusammen mit ihrem Daddy am Besten.“, vorsichtig lehnte er das Bild gegen den Übertopf einer Zimmerpflanze und betrachtete es noch einen Moment länger, bevor er wieder zu Clarence sah.
Der Blonde wirkte matt und angeschlagen, übermüdet und angespannt - aber er war auch der Inbegriff der Sanftmut und Wärme.
Cassie wollte im Augenblick nirgends anders sein als auf seinem Schoß und auch wenn es nicht Sand und Palmen waren die sie umgaben, so war er genau am richtigen Ort.
Wie sehr das stimmte zeigte ihm der Größere einmal mehr auf, als er von Harper zu erzählen begann und letztlich Worte an Cassie richtete, die dem Jüngeren viel bedeuteten und ihn zugleich in Zweifel stürzten.
Er glaubte nicht, dass er gut darin sein würde den Kindern etwas beizubringen, er glaubte nicht, dass er ein gutes Vorbild sein konnte oder jemand war, zu dem so kleine Seelen aufblicken sollten.
Unbehaglich rutschte er ein wenig auf Clarence‘ Schoß herum und nestelte am Kragen von Clarence‘ Oberteil in dessen Nacken herum. Er lächelte zwar, aber sein Lächeln war bemüht und ließ ihn jung und unsicher wirken.
„Ich… Ich weiß das zu schätzen. Wirklich. Ich meine… dass du sie mir anvertrauen würdest ist… das ehrt mich.“
Und damit übertrieb Matthew keineswegs. Es ging ihm nahe jene zwei Kinder auf den Bildern zu sehen, sich vorzustellen was ihnen schon alles passiert war und welche Ängste sie vielleicht ausstehen mussten. Er fürchtete um ihre Unversehrtheit weil er wusste zu was Menschen fähig waren und er hoffte von ganzem Herzen, dass sie beide viel zu wichtig waren als das man ihnen auch nur ein Haar krümmte.
„Du siehst in mir… schon immer viel mehr als da ist.“, er lächelte melancholisch, noch immer am Stoff des Oberteils zupfend. „Und ich versuche der Mensch zu sein für den du mich hältst. Ich hoffe… ich krieg das einigermaßen hin. Zumindest an guten Tagen.“
Oh nein, er war nicht überzeugt, dass er seine Sache gut machen würde, aber er wollte auch jenen Zweifel nicht in den Vordergrund rücken - wo es doch ganz andere Dinge zu besprechen gab.
„Soll ich unseren Met nochmal aufgießen und ans Bett holen? Und dann trinken wir da unseren Honigwein während du mir von deinen Töchtern erzählst?“
Es würde kein Tag vergehen, an dem er seine Kinder nicht vermisste. Genauso wenig wie kein Tag vergangen war an dem er Matthew nicht vermisst hatte, als dieser verschollen gewesen war.
Mit dem Verlust der eigenen Nachkommen ging ein Schmerz einher den man nicht verstehen konnte, wenn man ihn nicht selbst durchlebt hatte. Auch als junger Mann hatte er sich oft gefragt wie für manch einen der Abgang einer unentwickelten Leibesfrucht ein Weltuntergang war, wenn man nie das fertige Kind in der Hand gehalten hatte und es doch einfach nochmals versuchen konnte. Aber das waren die Gedanken eines unwissenden Jünglings gewesen, der nie das wochenlange Leid, die Sorge, die Hoffnung und die Freuden durchlebt hatte die es bedeutete, wenn man sein Erstgeborenes in die Arme gelegt bekam.
Seine beiden Mädchen waren das Schönste und gleichsam das Traurigste, was Clarence jemals in seinem Leben widerfahren war und so schmerzhaft es auch manchmal war von ihnen zu erzählen, so verlor sich doch niemals der Stolz den sie ihm beschert hatten und auch heute noch bescherten. Harper und Cordi mochten nur der Bruchteil einer Sekunde auf der unendlichen Zeitachse der von Gott geschaffenen Welt sein und dennoch hatte ihr kurzes Dasein alles verändert was jemals gewesen war oder je sein würde.
Er wollte weder hoffen, noch daran glauben, dass Mo‘Ann und ihre Handlanger tatsächlich in Willow Creek gewesen waren um die Totenruhe seiner Kinder zu stören und doch war er sich einer Sache ganz sicher:
Wenn die Fotografien echt waren, wenn die beiden doch wieder auf dieser Erde verweilten… dann würden sie die Macht besitzen auch für Matthew alles zu verändern was gewesen war und sein würde. Das war einfach der Zauber jener beiden Kinder, die ihn zu dem Mann gemacht hatten, der er heute war.
Mit sanftem Ausdruck in den Augen musterte er seinen Mann, dessen liebkosende Finger er noch immer auf seiner Kopfhaut nachkribbeln spürte und dessen Nähe er in den vergangenen Tagen so sehr vermisst hatte. Sie waren sich nicht fremd gewesen, hatten sich nicht zerstritten oder waren sich uneins gewesen und doch hatten sie nicht so zueinander finden können wie sie es gerade jetzt wieder taten.
Clarence bezweifelte nicht, dass Matthew und sein sagenumwobener Charme bei den beiden Mädchen nicht weniger gut ankam als bei ihm selbst - und da durch ihre Adern mindestens zur Hälfte das gleiche Blut wie das des Blonden floss, würden sie sich vermutlich auch genauso schnell in den Dunkelhaarigen schockverlieben wie der Ältere es getan hatte. Dass Cassie seinen eigenen Wert jedoch nur selten auf jene Weise erkennen konnte wie Clarence es tat, war traurig und schmerzte ihn auf eine Art wie man sie nur dann empfand, wenn man den anderen auf eine echte, tiefgreifende Weise liebte.
„Vielleicht. Vielleicht sehe ich mehr als in Wahrheit da ist - genauso wie du mich für einen viel besseren Menschen hältst, als ich tatsächlich bin“, gab er leise zu bedenken, während Matthew unsicher an seinem Oberteil zupfte. Dieser Mann auf seinem Schoß, der oftmals Konflikte mit seiner großen Klappe, lauten Worten und seinem Reed-Gehabe löste und wirkte, als läge ihm die ganze Welt zu Füßen… eben jener Mann war hinter den verschlossenen Türen ihres Zuhauses ein ganz anderer Mensch als der, den man draußen auf der Straße traf. Er konnte genauso zerbrechlich, unsicher und unbeholfen sein wie er auf der anderen Seite talentiert und begabt war - und Clarence liebte alles an ihm, selbst den Selbstzweifel, der Cassie dann und wann von innen heraus aufzufressen schien. Das machte ihn menschlicher als all die anderen Männer die in den Jahren zuvor seine Wege gekreuzt hatten und von denen kein einziger es je geschafft hatte dem Jäger so den Kopf zu verdrehen wie der einstige Söldner es getan hatte.
„Vielleicht siehst du aber auch einfach viel zu wenig in dir, obwohl da so viel zu erkennen, zu entdecken und zu lieben ist. Traust du mir wirklich so wenig Menschenkenntnis zu, mh?“
Glaubte er wirklich Claire hätte ihn geheiratet, wenn er irgendein Taugenichts von der Straße wäre? Anscheinend. Aber selbst dann musste er ja irgendwelche Talente haben die es dem Blonden attraktiv gemacht hatten, ihm einen Ring an den Finger zu stecken und fortan bei ihm zu bleiben.
„Ich finde jedenfalls…“, nickte er schließlich gen Tassen und auch wenn er Matthew nur ungern von seinem Schoß hinab rutschen ließ, erschlossen sich ihm durchaus die Vorzüge eines kleinen Ortswechsels. „Ich finde, nach diesem verfluchten Abendessen haben wir es uns mehr als verdient uns die Erinnerung daran schön zu trinken. Auch, wenn das auf leeren Magen ganz schön gewagt ist.“
Weder er, noch Matthew hatten von dem guten Braten wirklich etwas angerührt. Das war recht schade angesichts von Kevins Kochkünsten aber auch für Cassie, dem schlimme Begebenheiten weit weniger auf den Magen schlugen als ihm selbst. Doch es waren weder das Dinner bei Mo‘Ann, noch der Honigwein, an dem seine Gedanken lange hingen.
Fast schon friedvoll lehnte das Bildnis seiner Kinder an dem Pflanzentöpfchen auf der Fensterbank, ein vergleichsweise sicherer Ort wenn man bedachte, wo sie wohl in Wirklichkeit gerade waren. All die Dinge die er an diesem Abend gespürt hatte und noch immer fühlte waren nur da, weil es diese Fotografien gab. Abbilder, die er eigentlich mit jeder Faser seines Seins ablehnte und von denen er ähnliche damals im Geheimen hatte anfertigen lassen, da die Gemeinde ihn ansonsten der Sünde bezichtig hätte. Trotzdem war er die letzten Jahre umso mehr froh gewesen sie zu haben, selbst wenn sie eigentlich gegen all das gingen, wofür er war.
„Lass uns ein Bild anfertigen lassen. Von uns beiden“, sprach er schließlich seinen Gedanken laut aus und blickte nach kurzem Zögern wieder zu Matthew empor, den er noch immer umarmt hielt und nicht von seinem Schoß hatte aufstehen lassen. „Eins nur, nicht mehr. Aber ein schönes. Damit wir einander immer dabei haben können.“ - Wenn wir wieder so lange getrennt sind oder uns etwas passiert, bedeuteten seine Worte die er nicht laut aussprach, die aber umso offensichtlicher waren. Wäre Matthew nicht zu ihm zurück nach Falconry gekommen, sondern im Schnee gestorben und auf ewig verschollen… Clarence hätte nichts von seinem Mann gehabt. Rein gar nichts außer einem Ring - und das, obwohl die Fotografien seiner beiden Kinder das einzige gewesen waren, an das er sich die vergangenen Jahre hatte klammern können um nicht verrückt zu werden.
Schon oft hatten sie so beieinander gesessen wie jetzt. Matthew auf dem Schoß des Größeren, ihm durch das Haar kraulend. Als das Blond noch eine blonde Mähne gewesen war, da hatte er dann und wann eine Strähne um seinen Finger gewickelt nur um sie anschließend zu entlassen, um sie neu aufzunehmen.
„Ich weiß nicht ob ich dich für zu gut halte oder du dich für zu schlecht. Aber in der Frage werden wir uns sicher nie einig.“ - Es gab einfach Sichtweisen und Empfindungen die sich niemals auf den jeweils anderen übertragen ließen. Aber das mussten sie auch gar nicht.
Matthew musterte das Bild der zwei Kinder auf der Fensterbank, während er die Zeilen des Briefes nochmal durchging. Er glaubte nach wie vor nicht, dass den Mädchen eine beschwerliche Reise durch den Schnee zugemutet worden war. Er war sich nicht einmal sicher ob sie überhaupt wirklich als Geiseln betrachtet wurden oder nicht eher als kostbarstes Wunder der jüngeren Menschheitsgeschichte.
Wahrscheinlich ging es ihnen vergleichsweise gut, sie waren in Sicherheit, sie hatten ein Dach über den Köpfen und mussten weder hungern noch frieren.
Aber das war nicht das entscheidende - und Matthew wusste das ganz genau. Satt zu sein und ein Bett in einem Haus zu haben war nicht das wichtigste, wenn es darum ging ob es einem Kind auch gut ging.
Wichtig war viel mehr in welchem Haus dieses Bett stand und welche Leute noch darin schliefen.
Clarence riss ihn aus seinen Gedanken als er Cassiel beipflichtete, dass sie es verdient hatten sich heute zu betrinken. Das Abendessen welches den Namen eigentlich gar nicht verdiente, hatte ihnen beiden auf den Magen geschlagen und es stand ihnen schon alleine deshalb zu, es sich mit ein bisschen Alkohol gemütlich zu machen.
Zwar hatten sie keinen Rum den Matt aus dem Bauchnabel seines Mannes schlürfen konnte - aber wer wollte am heutigen Abend schon so kleinlich sein?
Der Dunkelhaarige lächelte vage und zuckte die Schultern.
„Gewagt? Ich glaube besonders du hattest schon weitaus gewagtere Ideen als ein Umtrunk auf nüchternen Magen.“
Er könnte sicherlich ein Dutzend Ideen und Eingebungen des Älteren aufzählen die weitaus riskanter um nicht zu sagen lebensmüde gewesen waren.
Angefangen bei seiner ewig andauernden Marotte barfuß zu gehen - die er mittlerweile zum Glück abgelegt hatte. Bis zu seiner Idee eine Insel zu erkunden, deren Bewohner viel zu viele Beine und Augen hatten, die Netze woben und giftige Säure spuckten.
Aber Clarence vertiefte jenes Thema nicht, sondern schlug stattdessen etwas vor, mit dem Matthew ebensowenig gerechnet hatte wie mit der Vorstellung, einmal Clarence‘ tote Kinder kennenzulernen.
„Hmmm ein Bild mit uns beiden?“, wiederholte er und lächelte spitzbübisch. „Wie soll das schön werden, wenn du mit drauf bist? Ich glaube da wäre selbst der beste Fotograf machtlos.“ - stichelte er, wobei klar war, dass er das nicht ernst meinte. Selbst früher, zu Zeiten da der Bär wirklich wie ein Waldkauz gewirkt hatte mit seinem Bart, den langen Haaren und den nackten Füßen, war er attraktiv gewesen. Matthew hatte es ihm damals nicht gesagt - aber ihr Arrangement, welches irgendwann mehr geworden war, hatte ihn schließlich verraten.
„Aber wenn du auch mit einem semi-schönen Foto zufrieden bist, halte ich es für eine gute Idee. Eine sehr gute sogar.“
Die Art wie er auf Clarence herunterblickte war warm und keck und noch immer so verliebt wie am Tag ihrer Hochzeit.
Damals hatte der Bär von Mann ihn zum glücklichsten aller Menschen gemacht und auch wenn seither viel passiert war, so hatte sich daran doch nichts geändert.
Dass sie bis hierher gekommen waren, war nicht weniger als ein Wunder und keinesfalls selbstverständlich. Viele hatten weniger Glück gehabt als sie.
Ellen, Ceyda und Gabe waren nur drei von ihnen.
So viele hatten sie auf ihrer Reise verloren, dass Matthew nicht mal mehr all ihre Namen kannte - und es gab keine Garantie, dass ihnen beiden nicht auch irgendwann das Glück ausging.
Ein Foto würde daran nichts ändern. Es würde den Verlust nicht wettmachen, sollte einem von ihnen etwas passieren. Aber es würde - mit der Zeit - ein Anker sein um sich eben jenen Menschen vor Augen zu führen, den man am deutlichsten immer nur mit dem Herzen gesehen hatte.
„Lass uns das machen.“, bekräftigte Matthew nochmal und beugte sich anschließend zu Clarence hinab um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben.
„Du weißt, dass ich dich liebe, hm? Vergiss das niemals. Egal was kommt. Okay?“ - weder war das Morgen noch das Übermorgen gewiss. Nur was sie jetzt hatten, nur der Augenblick war sicher. Schon morgen könnten sich die Dinge fundamental ändern ob nun mit oder ohne Harper und Cordelia Sky. Aber vielleicht… nur eventuell … änderten sich die Dinge ja auch zum Guten.
Gewagte Ideen kannte Clarence nur zu gut, dafür brauchte man waghalsige Abenteuer gar nicht erst mit einschließen. In Coral Valley hatte er es für eine gute Idee gehalten sturzbetrunken auf dem Dach einer Kneipe herum zu klettern und hatte den tiefen Sturz in die Gasse vermutlich nur deshalb überlebt, weil er auf ein paar Schweinehälften im Wagen eines Metzgers gelandet war. Von diesen und ähnlichen Geschichten hatte er einen ganzen Haufen zu berichten und dabei dann und wann auf nüchternen Magen getrunken zu haben, war sicher die unverfänglichste all seiner Entscheidungen. Doch an den Maßstäben seiner Heimat gemessen, wäre das Anfertigen lassen von Fotografien wohl nicht weniger waghalsig als ein Ausflug auf eine Insel voller Spinnen.
Ein empörtes „Heee~“ war in diesem Fall aber die einzig richtige Entgegnung auf die Reaktion seines Mannes, der es sich nicht nehmen ließ einen eigentlich nett gemeinten Vorschlag als Nährboden für fiese Seitenhiebe zu verwenden. Alter Reed-Tradition folgend, war es eigentlich nicht verwunderlich, dass Matthew sich für den unschlagbar Schönsten auf Gottes großer weiter Welt hielt und dennoch hätte er sich vielleicht einen besseren Augenblick dafür aussuchen können als jenen Moment, in dem sie sich nach den vergangenen Tagen endlich wieder einander annäherten. Als wären seine fiesen Worte nicht genug, gab es am Ende noch einen Kuss auf die Stirn um seine Worte zu bestätigen.
Zwischendurch mal zu vergessen, dass Cassie ihn liebte, war also gar nicht mal so unwahrscheinlich.
„Ich glaube, wir gehen einfach nur eins von dir machen und lassen uns das zwei Mal aushändigen. Dann kann jeder von uns beiden ein Bild von dem Mann dabei haben, den er am meisten liebt“, konterte der Blonde und kniff Matthew mit jenen Fingern, die eben noch sanft die nackte Haut seiner Taille gestreichelt hatten, mahnend in selbige. „Oder ich fülle dich vor dem Termin mit heißem Met ab. Dann kannst du dir deinen semi-schönen Ehemann ein bisschen schöner trinken. Gut, dass wir mit der Strategie eh gerade anfangen wollten.“
Ein wenig Übung vor dem eigentlichen großen Tag konnte ja nicht schaden und weil die Taktik angesichts der semi-schönen Misere, mit der Matthew tagtäglich konfrontiert wurde, äußerste Dringlichkeit besaß, ließ Clarence auch keine weitere Sekunde mehr verstreichen.
Kurzerhand schob er seinen anderen Arm unter die Knie des Jüngeren, verstärke seinen Griff auch um den Rücken Matthews und er hob sich schließlich mit dem vorlauten Taugenichts in den Armen vom Stuhl. Er mochte seit Denver etwas abgebaut haben und der bekloppte Quacksalber mit seinen Tabletten und Salben für den zerbissenen Arm hätte in diesem Moment zweifelsohne aufgeschrien, aber das änderte nichts an Claires Willen seinem Mann den rechten Platz zu weisen, wenn dieser wieder derart freche Allüren an den Tag legte. Als hätte er in den vergangenen Wochen ihrer Trennung gar nichts dazu gelernt. Frechheit!
„Hier, da ist dein Platz“, stichelte er nach einem zwar nicht mühsamen, aber auch nicht ganz so eleganten Weg wie noch vor einigen Monaten und fünf Kilo Muskelmasse mehr und ließ seinen Mann erst wieder am Küchenofen angekommen herunter. Wer in den Wald rief, der musste auch damit rechnen dass man ihm eine Grube grub – so oder so ähnlich ging doch eines dieser Sprichwörter mit denen Clarence es noch nie so richtig gehabt hatte. Wie dem auch sei, ein neckender Klaps auf den Hintern zeigte Matthew hoffentlich, dass er sich nicht über ihr semi-schönes Foto zu beschweren hatte, wenn er eins von ihnen gemeinsam statt nur von sich alleine haben wollte. „Wir können wohl froh sein, dass wenigstens du so hübsch bist. Sonst hätte ich dich vermutlich damals am Baum liegen lassen und dann wäre ich nie in den Genuss deines Charmes gekommen.“
Cassie wohl auch nicht in seinen – und sie beide zusammen nicht in den von heißem Honigwein, der gerade deutlich mehr Reiz auf den Blonden ausübte als etwas zu Essen. Wenigstens hochprozentige Flüssignahrung hatte er schon immer gut runter bekommen, ganz gleich wie es ihm ging.
Bevor sie es sich allerdings im Bett bequem machten, begann Clarence damit am Fuße selbigem die gute Kleidung abzulegen, die er ganz unsinnigerweise zum Treffen mit Mo’Ann angezogen hatte. Nach den Wochen in Denver waren die neuen Sachen, die Matthew und er zusammen in Falconry gekauft hatten, so ziemlich die einzigen die keine Löcher, Flicken oder Flecken aufwiesen. Ein Großteil der Wäsche, die sie in Denver getragen hatten, war nicht mal ihre eigene gewesen sondern Teile die sie im geborgenen Gepäck gefunden hatten – was ihn sich stets hatte unwohl fühlen lassen in den meisten der Hosen und Pullover.
„Wir hätten dir in der Küche noch etwas vom Braten mitgehen lassen sollen. Kevin hätte uns sicher etwas eingepackt, wenn wir ihn darum gebeten hätten“, bemängelte Clarence schließlich ihr übereiltes Aufbrechen, während er unachtsam den Pullover zum restlichen Chaos in den Schrank warf. Wie auch in ihren unzähligen Lagern, war auch die kleine Wohnung unter ihrer beider Zutun schnell im Chaos versunken; mit Ordnung hatten sie es beide nicht so besonders, was es manchmal gar nicht so einfach machte die eigenen Sachen in den gemeinsamen Bergen aus Kram wiederzufinden.
Schon lange bevor Matthew über den Gulasch von Dora hinweg versucht hatte, den Bären nochmals zu küssen, waren sie beide einander wichtig gewesen.
Sie hätten schon Monate vorher einander nette und charmante Dinge sagen können, wie es normale Menschen wohl getan hätten die sich der eigenen Gefühle für den anderen bewusst wurden.
Aber nicht diese beiden.
Sie hatten es vorgezogen ihre Sympathien anders auszudrücken. Etwa in dem Clarence Matthew die Ohrenspitzen mit wärmender Paste bestrich oder wenn Matthew akribisch den Fisch filetierte um daraus eben jene Fischsuppe zu kochen, von der er wusste Clarence mochte sie - obgleich er sich selbst aus ihr gar nichts machte.
Mit Kosenamen wie Kauz, bärtiger Unhold oder Klotz hatte Matt es schon immer verstanden Clarence auf möglichst uncharmante Art zu titulieren. Und der Jäger hatte jenen Jargon schnell adaptiert und ihm Namen wie Schnösel, Torfkopf oder Taugenichts verpasst.
Demnach war das Geplänkel zwischen ihnen vertraut und wohlbekannt und sie konnten zwischen den Zeilen der Stichelei ganz deutlich die Zuneigung füreinander herauslesen.
Zum ersten Mal seit Tagen erklang Matthews Lachen in ihren vier Wänden, nämlich als Clarence nüchtern verlautete, dass ein Foto von Matthew ausreichen würde um sie beide gleichermaßen glücklich zu machen. Unterstrichen wurde jener schlagfertige Kommentar von einem Kniff in seine Haut. Beides für sich genommen hätte den Jüngeren bereits amüsiert, doch die Kombination war es, die ihn auflachen und für einen Moment ihre Probleme vergessen ließ.
„Du bist so ein Spinner! Halt, warte was wird das?Nicht, nicht, nicht!“, er schlang die Arme um seinen Mann, lachte und tadelte ihn gleichzeitig und hoffte inständig, dass die verletzte Schulter des Bären selbigem nun nicht den Dienst versagte.
„Lass mich runter! Ich bin zu schwer für dich. Hilfeee~“ - rief er lachend, doch Kain und Abel spitzten lediglich ihre Ohren in Anbetracht des Irrsinns ihrer beiden Menschen.
Entgegen der schlimmen Befürchtungen, sein Mann würde ihn fallenlassen, schaffte es Clarence erstaunlich unbeeindruckt von Cassiels Gewicht, selbigen durch den Raum zu tragen und galant vor dem Herd abzusetzen.
Hier nun war sein Platz wie der Blonde insistierte und Cassie zeigte ihm amüsiert kurz den Mittelfinger.
„Träum weiter, Blondie. Ich weiß ja nicht ob du heimlich Pilze genascht hast, aber wir wissen beide, dass meine Wenigkeit am Herd sowas von verschwendet ist. Heeeey, aua!“, der Klaps auf seinen Hintern war alles andere als wirklich schmerzhaft - aber ein bisschen Gezeter war nur standesgemäß. Schmunzelnd blickte er über seine Schulter zurück und beobachtete seinen Mann dabei wie er zum Bett ging - dabei weiter Frechheiten von sich gebend über die Matt nur grinsend den Kopf schütteln konnte.
„Ach? Du hast mich also nur gerettet, weil ich so hübsch bin? Und ich dachte die ganze Zeit, du hast mich mitgenommen weil du ein so gutes Herz hast!“
Nun drehte Cassie sich vollständig um und beobachtete den Blonden dabei wie er sich auszog - was ein schöner Anblick war. .
„Schon okay, ich will nichts von dem essen, was für diese glatzköpfige Alte zubereitet wurde.“ - wenn er an Mo‘Ann dachte, dann verging es ihm direkt wieder. Also würde es bei Met und Clarence‘ Gesellschaft bleiben, beides zwei gute Alternativen zu einem Abendessen.
Den Topf vom Tisch holend, stellte er ihn nochmal auf den Herd um die Flüssigkeit darin wieder so zu erhitzen, dass das Getränk wenig später aus ihren Bechern auf dem Nachttisch dampfte.
Ebenso wie der Blondschopf entledigte sich auch Matthew seinen Kleidungsstücken und warf diese reichlich achtlos auf einen nahen Stuhl statt in den Schrank.
Nur seine schwarzen Shorts behielt er an und setzte sich mit dieser schließlich neben Clarence aufs Bett. Beide waren sie mit dem Rücken gegen das Kopfteil gelehnt und hatten die Beine gerade vor sich ausgestreckt. Clarence in seiner liebsten, weiten Leinenhose - die er immer nur dann anzog, wenn er es gemütlich haben wollte und Matt mit Beinen die ab Mitte seiner Oberschenkel nackt waren.
„Mhhh~ hätte nicht gedacht, dass du mich tragen kannst.“
Er sah zu Clarence, lehnte sich mit dem Hinterkopf zurück an das Kopfteil des Bettes und musterte seinen Mann.
„Ist gut, dass es dir allmählich besser geht. Abgesehen von… naja den neuesten Entwicklungen… tut es dir gut hier zu sein.“ - Falconry war lange Zeit nicht das Ziel ihrer gemeinsamen Reise gewesen, aber letztlich hatte das Schicksal dafür gesorgt, dass sie hier waren. Und auch wenn Cassiel selbst noch nicht recht wusste was er von ihrem künftigen Leben hier zu erwarten hatte, so konnte er durchaus nachempfinden, warum man in der Stadt sesshaft wurde.
„Bereit für Met und Geschichten von deinen Mädchen?“, fragte er schließlich eine Frage, auf die er die Antwort bereits zu kennen glaubte. Vorsichtig reichte er den Becher mit dem heißen Alkohol von seinem Nachttisch an Clarence weiter und nahm dann seinen eigenen.
„Lass uns anstoßen. Auf die Wunder, die uns immer auf das Gute hoffen lassen.“, er stieß behutsam seinen Becher gegen den des Hünen ehe er vorsichtig daran nippte, Clarence für keine Sekunde aus den Augen lassend.
Matthews Lachen an diesem sonst bislang eher deprimierenden Abend war wie Medizin für seine geschundene Seele. Wann immer der Dunkelhaarige sich von ihm zum Lachen bringen ließ, hatte er den Jäger damit schon immer glücklich gemacht - auf seine ganz eigene Weise, auch damals noch, als es Claire schwer gefallen war etwas wie Glück überhaupt zu empfinden.
Es war ein Laut der davon sprach, dass für einen Moment alle Sorgen, alle Ängste wie weggeweht waren. Nichts spielte eine Rolle so lange sie beide beieinander und dazu in der Lage waren gemeinsam alle Hürden zu überwinden die das Leben ihnen in den Weg warf und nicht mal Mo‘Anns Gehabe konnte ihn ernsthaft verletzen, so lange er Matthew lachend an seiner Seite wusste.
Dass er seine Pilze niemals heimlich naschen würde, sollte dem Jüngeren nach all der Zeit miteinander eigentlich klar sein, selbst wenn er nicht von jedem seiner berauschenden Kräuter und Zöglinge etwas an Cassie abgab. Die Vorwürfe seines Mannes waren also haltlos, wie so oft wenn er versuchte dem Blonden etwas anzukreiden.
„Du scheinst da mein gutes Herz und meine gute Libido miteinander zu verwechseln. Mein Dasein als Gutmensch hatte wenig mit deinem Überleben zu tun. Ich sag ja, wir können froh sein, dass du so ein hübsches Kerlchen bist“, klärte er den Jüngeren derweil beiläufig auf, ganz so als wären all diese Erkenntnisse das Normalste der Welt obwohl sie wussten, dass dem definitiv nicht so war. Noch gar nicht allzu lange war es her, da hatten sie in einer vereisten Geisterstadt vor Cameron so getan als wäre nichts weiter zwischen ihnen als Freundschaft und auch die Antwort auf die Frage danach, wie sie gemeinsam vor dem Clan auftreten wollten, hatte lange auf der Kippe gestanden. Zueinander zu stehen war für Clarence lange Zeit etwas anderes gewesen als zu ihrer Beziehung zu stehen. Letztlich war es trotz all den traumatischen Geschehnissen ihrer jüngsten Vergangenheit erst das Verschwinden seines Mannes gewesen, das ihn den wahren Wert hatte erkennen lassen den es bedeutete, ein offenes Leben außerhalb der Schatten seines Daseins zu führen.
Ein verschmitztes, jungenhaftes Schmunzeln zierte seine Lippen, während er seinen Mann dabei beobachtete wie er den erneut erhitzten Met auf ihre Becher verteilte und sich schließlich in bequemer Tracht zu ihm aufs Bett gesellte. Nach all den vergangenen Tagen voller Schweigen und Zurückhaltung war dieser Abend der erste, an dem sich die Stimmung zwischen ihnen wieder einigermaßen normal anfühlte. Mo‘All als neuer Aggressor sorgte zweifelsohne dafür, dass sich ihr gemeinsamer Unmut von einem Widerstand zwischen ihnen weg und dafür auf einen Gegner vor ihnen verlagerte und sie dadurch wieder gemeinsam auf eine Seite stellte. Sie gemeinsam gegen den Rest der Welt - so hatte Clarence sie am liebsten und genau das ließ er sich gerade auch offen ansehen.
„Naja. Hier zu sein tut mir eigentlich erst gut, seitdem du auch endlich hier bist“, korrigierte Claire den Jüngeren und erhob seinen Becher, um mit seinem Mann anzustoßen. Auf was auch immer - denn auch wenn er nicht an das Wunder glauben wollte, das Annedore ihnen prophezeite, so war er ein Mann der Feste zu feiern wusste wie sie fielen. Außerdem brauchte er auch eigentlich keinen guten Grund um zu trinken, Hauptsache es gab Alkohol.
Ruhig nahm er einen großen Schluck Met, dessen Wärme ihm schon Seite dem ersten Becher wohltuend im Magen lag und ihn mit einer Form der Glückseligkeit übermannte, wie nur heißes Hochprozentiges es vermochte.
Neben Matthew an das Kopfende des Bettes gelehnt, betrachtete er seinen Mann einen Moment ganz unverhohlen, ebenso wie auch die kandisfarbenen vertrauten Iriden den Hünen musterten. Kein Härchen war ihm mehr fremd an Cassie und was für andere schnell zu einer Form von alltäglicher Langeweile führte die nur schwer auszuhalten war, war es eben jene Vertrautheit, die der Blonde unbeschreiblich genoss. Nur an der Seite des Jüngeren fühlte er sich angekommen und dazu in der Lage sich gehen zu lassen. Matthew verurteilte ihn nicht dafür wer er einst gewesen war, wen er heute repräsentierte oder was für ein Mensch er in ein paar Jahren sein würde, wenn das Leben ihnen weiterhin übel mitgespielt hatte… oder eben auch nicht, je nachdem ob sich die Worte der glatzköpfigen Alten als Finte herausstellten oder nicht.
„Meine Mädchen, mh?“, wiederholte er schließlich leise, denn noch immer war es ungewohnt mit Matthew über sie zu reden. Sie waren kein Geheimnis, er hatte weder seine Vergangenheit, noch seine erste Ehe und die daraus hervor gegangenen Kinder jemals vor dem Schnösel verschwiegen. Trotzdem waren sie etwas, über das sie selten gesprochen hatten - aus offensichtlichen Gründen. Was vergangen war, war vergangen und letztlich hatte auch Clarence nie große Fragen zu Cassies verlebten Bindungen oder Bekanntschaften gestellt. In einer Zeit, die so schnelllebig war wie die ihre, war es wichtiger im Hier und Jetzt zu leben als den Toten ewig nachzutrauern. So hart diese Wahrheit auch war.
„Die Leute erzählen einem immer, das erste Kind wäre das ruhigere und das zweite dann das pure Chaos, das einen in die Verzweiflung stürzt. Das kann ich nicht bestätigen, bei meinen war es immer anders herum“, begann er vorsichtig zu erzählen und beobachtete dabei Matthew, nachdenklich noch einen kleinen Schluck aus seinem Becher nehmend. „Harper war kein Kind, das viel geschrien hätte. Aber sie war sehr aktiv und in den ersten Jahren… hätte ich meinen halben Viehbestand dafür hergegeben, dass sie mich nachts endlich durchschlafen lässt. Ein sehr wildes Mädchen, das nicht gut in das Leben gepasst hat, in das sie hinein geboren wurde. Für sie waren Regeln da um sie zu überschreiten und Grenzen dazu da um gesprengt zu werden. So kam sie mir oft vor. Aber ich war auch nicht besser früher, deshalb konnte ich ihr das nie zum Vorwurf machen.“
Ein dickköpfiges Ding - und um ehrlich zu sein hätte es sie nie schlechter treffen können als nach ihrem Vater zu kommen aber ein Mädchen zu werden. Als Junge hätte sie es zweifelsohne leichter gehabt.
„Sie fand all die Dinge gut, die sich für ein Mädchen nicht gehören - und ich hab sie machen lassen, weil es sie glücklich gemacht hat. Sie ist auf Bäume geklettert, ist den Schweinen im Schlamm hinterher gerannt und hat fast alle Kleider ruiniert, die Ruby ihr genäht hat. Ich will nicht sagen, dass sie das mit Absicht getan hat. Aberrr…“ - Clarence machte eine abwägende Geste mit der freien Hand, wobei man ihm jedoch auch deutlich ansehen konnte, wie sehr ihn die Berechenbarkeit seiner Tochter amüsierte. „Jedenfalls hat sie ihren Kleiderschrank derart gekonnt dezimiert, dass ich ihr irgendwann erlaubt habe Zuhause auf dem Hof Hosen zu tragen, auch wenn es sich für Mädchen nicht gehört. Aber sie war klug und hat schnell verstanden, dass sie in der Gemeinde und in der Kirche funktionieren und hören muss. Ich hab mich… immer gefragt, was für ein Mensch Harper mal sein und was für ein Leben sie führen wird, wenn sie groß ist. Sie hatte einen so starken Charakter und so viel Weitblick für ihr Alter. Das hätte dir gefallen, das weiß ich. Und du hättest ihr genauso wenig für ihre Flausen böse sein können wie ich, weil sie immer Recht von Unrecht unterschieden hat und eingestanden ist für Dinge, die richtig und ihr wichtig waren.“
Es waren keine üblichen Diskussionen wie man mit einer Achtjährigen führte, wenn man mit Harper am Tisch saß und ihrem Kreuzverhör standhalten musste. Dieses Kind hatte ihm genauso oft den letzten Nerv geraubt wie es ihn fasziniert hatte und der Gedanke daran, dass er zu diesem einzigartigen Wesen beigetragen hatte, hatte ihn oftmals für all den Ärger entschädigt den er sich wegen ihr eingefangen hatte.
Manche Dinge, die das Leben bereithielt hatten einen ganz eigenen Zauber. Und oft waren es nicht die großen und außergewöhnlichen Dinge, von denen man wusste man würde sie nur ein einziges Mal im Leben haben können.
Es waren Wolken in besonderen Formen am Himmel, es war der Geruch einer Spezialität aus der Heimat, es war eine bestimmte Aussicht die etwas in einem anrührte, weil der Ausblick einen an Abenteuer oder an Zuhause erinnerte.
Es waren Melodien welche einen sich glücklich und unbeschwert fühlen ließen.
Solche und tausende weitere Begebenheiten waren es, die eine Magie besaßen, von der man nicht wusste woher sie stammte. Aber das war ja auch der Kern von Magie.
Bis auf eine Ausnahme.
Mit Clarence hier zu sitzen und ihm zu lauschen, in einem Bett wie es hunderte Male allein im Umkreis von zehn Meilen existierte, barg einen Zauber dessen Ursprung Matthew ganz genau kannte.
Es war Clarence. Schon immer gewesen.
Der Blonde war es damals an den Grenzen des Madman Forest gewesen, als er ihn gefunden und mitgenommen hatte. Er war es gewesen, als Matthew ihn argwöhnisch über das Feuer hinweg betrachtet hatte, das der Wildling entzündet hatte. Noch schwach vom Fieber und noch von jenen Wunden übersät, die sein einstiger Lehrer ihm zugefügt hatte. In seinem Schweigen war Magie gewesen ebenso wie in seinen Worten. Er hatte nur gesprochen um etwas zu sagen das ihm wichtig erschien. Er hatte nie geplappert, hatte nie versucht ihn mit Sprüchen aus der Reserve zu locken oder ihn davon zu überzeugen, dass er nichts schlechtes im Sinn hatte.
Clarence hatte Taten immer lauter sprechen lassen als seine Stimme - und auch das war magisch.
Jener Mann war für Matthew so viel mehr als nur sein Mann oder sein bester Freund.
Er war alle seine guten Zeiten, er war das einzige wirkliche Zuhause, er war sein Ausblick auf die Welt, sein warmer Windhauch, sein Sommertag auf einer grünen Wiese.
Neben ihm zu sitzen und ihm nahe zu sein, ihm zuzuhören und dabei mitgenommen zu werden in eine Zeit, in der sie einander noch nicht gekannt hatten, erlaubte Matthew mit ihm jene Vergangenheit zu besuchen.
Er stellte sich Harper vor - die so frech und willensstark gewesen sein musste, dass sie Clarence definitiv mehr stolz als ärgerlich gemacht hatte. Der Mann der selbst als Sturkopf auf die Welt gekommen war, hatte jenen offenbar in potenzierter Form an jenes Mädchen weitergegeben.
Cassiel hatte keine Mühe sich Harper vorzustellen, dass Mädchen mit dem forschenden Blick hatte - zumindest auf dem Foto das Clarence gehörte - trotz ihrer Skepsis etwas freches und selbstbewusstes an sich gehabt.
„Es klingt als wäre sie du… nur in süß und klug.“ - zog Matthew schließlich sein Fazit und konnte es einmal mehr nicht lassen, den Blonden zu necken.
„Nein…ernsthaft, ich denke sie hatte Glück, dich als Vater zu haben. Euer Heimatort ist nicht gerade dafür bekannt sehr liberal zu sein. So wie du sie beschreibst, hat sie nicht so richtig in das Rollenbild gepasst, dass man Mädchen zuschreibt.“ - die Region war nicht umsonst als Gebiet den Fanatisten bekannt. Eine unrühmliche Wortschöpfung die sowohl Fanatiker als auch Extremisten vereinte.
Es war eine ganz eigene Welt in der jene Menschen lebten und sie duldeten in aller Regel sehr wenig Abweichung von dem, was ihr Glaube ihnen vorgab. So zumindest die Geschichten rund um die Region.
Als Mädchen wie als Junge hatte man überall - aber auch besonders in Willow Creek - Pflichten zu erfüllen. Man wurde an Attributen wie Frömmigkeit, Loyalität, Anstand und Betragen gemessen. Nicht etwa daran ob man ein gutes Gespür für falsch und richtig besaß, ob man sensibel war oder neugierig.
Ein Mädchen wie Harper hatte es sicher nicht einfach gehabt - aber mit einem anderen Vater als Clarence, wäre es noch viel schwieriger gewesen.
„Wenn Mo‘Ann recht behält… dann ist diese Welt hier vielleicht die Welt, die besser für sie ist.“ - nachdenklich nickte Matthew über diese Feststellung.
Die Aussicht darauf jene Kinder kennenzulernen weckte gemischte Gefühle in ihm, aber es fühlte sich irgendwie auch noch nicht real an. Eher wie eine abstrakte Möglichkeit - irgendwo zwischen eventuell und vielleicht.
„Erzähl mir von Cordelia. Wie viele Jahre trennen die beiden eigentlich?“
Der Dunkelhaarige überschlug seine Beine lose um es sich noch bequemer zu machen, nippe erneut an seinem heißen Honigwein und ergänzte schließlich noch:
„Wie war das Leben in Willow Creek so? Stimmt es, was die Leute über diesen Ort erzählen? Ich war selber nie dort aber was ich gehört habe… von anderen aber auch von dir… lässt mich daran zweifeln, dass es ein Ort ist, an dem man seine Kinder aufwachsen sehen möchte.“
In Matthews Stimme lagen weder Vorwurf noch Wertung. Er wusste sehr gut, dass vieles im Auge des Betrachters lag und das man - war man Teil von einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft - manche roten Flaggen einfach nicht mehr wahrnahm.
Aber Clarence der damals ein gläubiger Christ und auch liebender Vater gewesen war, musste in dieser Heimat auch einen Ort gesehen haben, der gut war. Der schöne Seiten hatte, der seinen Kindern eine gute Zukunft bieten würde. Und eben von diesen Seiten wollte Cassiel hören - jene Geschichten, die die Leute jenseits des Madman Forest nicht kannten.
Clarence hatte es früher immer seltsam gefunden, wenn Leute so vernarrt und überzeugt von ihren Kindern waren. Wenn sie kleinste Taten oder neue Errungenschaften zum Himmel lobten. Wenn sie so taten, als wären die eigenen Sprösslinge die einzigen auf der Welt, die dieses oder jenes Talent meisterten wie kein zweiter - oder wenn sie gar mit den Fortschritten des Nachwuchses prahlten, als wäre es ihr ganz eigener Verdienst gewesen. Am liebsten hätte er dem ein oder anderen dafür eine goldene Plakette in die Hand gedrückt und sie damit zum Teufel gejagt.
War er selbst genauso gewesen? Er hoffte nicht. Aber erst nachdem er selbst Vater geworden war, hatte er jene Vernarrtheit in die eigenen Kinder begriffen und nachvollziehen können wie sehr es einen faszinierte ein so kleines Wesen heranwachsen zu sehen, in dem doch so viel von einem selbst steckte.
Es waren nicht die ersten Schritte, das erste Wort oder das erste erkennbar gekrakelte Bild gewesen, das Clarence in Entzückung versetzt hatte. Vielmehr war es das alltägliche Durcheinander und die kleinen Errungenschaften, die ihn hatten staunen lassen. Mitzuerleben wie seine Kinder sich erste Zusammenhänge erschlossen oder von ihm gelernte Kleinigkeiten in ihren Alltag integrierten und dadurch selbstständiger zu werden, waren die wahren Meilensteine, die ihn glücklich gemacht hatten. Gespräche die er mit diesen kleinen Wesen geführt hatte und positive Affirmationen, die er versucht hatte ihnen mitzugeben damit sie im Leben ihren Platz fanden und Stärke um diesen zu verteidigen, waren Tag für Tag seine Erfüllung gewesen. Als Teil der christlichen Gemeinde seiner streng konservativen Heimat wäre es sein Auftrag gewesen den beiden einen rechten Weg vorzugeben, aber das hatte er nie gewollt. Alles, was Clarence als Vater gewollt hatte, war ihnen das passende Werkzeug für ihren eigenen Weg vorzugeben damit sie sich ein eigenes Schicksal schmieden konnten - und vielleicht war das im Grunde nichts anderes gewesen als seine eigene Mutter damals bei ihm versucht hatte, die oftmals nicht nach den Vorgaben von Gemeinde oder Kirche gehandelt hatte.
Nachdenklich strich er sich mit der freien Hand durch den Bart als Cassie die These aufstellte, eine Stadt wie Falconry könne vielleicht ein besserer Ort sein um aufzuwachsen, wenn man ein Kind wie Harper war. Was es nicht nur generell bedeuten würde, wären seine Kinder wieder am leben und bei ihm, sondern vor allem örtlich, war bislang noch kein Teil seiner Gedankenwelt gewesen. Doch just in der ersten Sekunde, da Matthew es nun ansprach, bereitete ihm dieser Gedanke erneut Bauchschmerzen.
Seit ihrem Essen bei Mo‘Ann waren unheimlich viele Informationen auf sie eingeprasselt und doch war im Verhältnis dazu viel zu wenig Zeit verstrichen, um sich über alles richtige Gedanken zu machen. Dass das, was die Glatzköpfige ihnen vorgehalten hatte, wirklich stimmen sollte… das wagte Clarence noch immer kaum zu begreifen und vor allem auch nicht zu glauben.
Hatte er sich schon früher die Frage gestellt wie es sein würde, könnte er seine Kinder wieder bei sich haben? - Natürlich hatte er das. Es war menschlich sich vorzustellen das zu haben, was man niemals würde haben können. Aber hatte er dabei auch darüber nachgedacht wie es wäre die beiden an einem Ort außerhalb ihrer Heimat großzuziehen? Welte anderen Regeln, Pflichten und Werte das mit sich bringen würde?
Verdrießlich strich er sich ein letztes Mal über den Bart, bevor er noch einen Schluck vom Honigwein nahm um diesen Gedanken so schnell wieder zu verdrängen wie er gekommen war.
„Ach ja, was erzählen die Leute denn über diesen Ort?“, wollte er schließlich im Gegenzug wissen und irgendwie amüsierte ihn die Frage dabei genauso sehr wie sie ihn auch verärgerte. „Meinst du, hier kann man Kinder besser großziehen? Sind sie hier sicherer als in Stillwaters Reach oder mit Leuten wie Nathan um sich herum?“
Dass diese Frage provokant war wusste er, aber genau so war sie auch gemeint. Zweifelsohne hatte jeder Flecken auf dieser Welt ganz klare Vor- und Nachteile, aber niemand brauchte ihm gegenüber so tun, als wüsste hier irgendjemand mehr über Den so genannten Madman Forest als er selbst.
Hier in Falconry hatten ihn die Leute zu Beginn zwar deutlich spüren lassen woher er kam, doch ihn niemals direkt darauf angesprochen. Später, in Tavernen und Gasthöfen, hatte Clarence die Leute dann und wann mal am Nachbartisch über den Madman Forest reden hören - und das hatte ihm eigentlich schon gereicht um zu wissen, dass er derartige Konversationen besser für sich ausschließen sollte.
Dass Matthew ausgerechnet jetzt, nach all der Zeit die sie sich bereits kannten, mehr über seine Heimat wissen wollte, lag angesichts der Mädchen irgendwie nahe und gleichsam fühlte es sich jedoch auch seltsam an. Sein Mann hatte sich nie besonders spürbar für diesen Ort interessiert und geredet hatten sie darüber auch nie. Nicht wirklich jedenfalls.
„Die Leute erzählen sich, was für irre Gewalttäter an diesem Ort wohnen. Dass man durchreisende Leute wahllos verschleppt und erschießt, weil sie wahnhafte Gottesanbeter wären, die den Teufel in Fremde hinein projizieren. Interessanterweise erzählen die Leute aber nie, dass sie nachts zum Spaß unsere Häuser überfallen, unser Vieh abknallen oder im Sommer unsere Weizenfelder anzünden. Es erzählt auch keiner darüber, dass wir Durchreisende an unseren Tisch einladen und ihnen einen Schlafplatz anbieten, nur damit sie uns abends beim Essen beleidigen und auslachen für unsere Gebete oder unsere Traditionen. Dass wir über die Jahre hinweg nicht mehr ganz so wohlwollend über all das hinweg sehen, macht nicht uns zu den schlechten Menschen“, kopfschüttelnd fuhr er sich nach einem weiteren Schluck mit dem Handrücken über die feuchte Oberlippe und stellte schließlich seinen leeren Becher neben sich auf dem Nachtschrank ab. „Es mag vielleicht etwas überzogen sein, dass man als Kind schon gelehrt wird, alles jenseits des Waldes wäre Fegefeuer und wer die Heimat verlässt, wird all seine Ewigkeit und er Hölle verbringen. Aber nach der Sorte Mensch, die größtenteils von jenseits der Wälder zu uns kommt, ist diese Vorstellung auch nicht weit hergeholt. Du wirst innerhalb der Gemeinde keinen einzigen finden, der die Welt hier draußen als einen guten Ort erachtet um seine Kinder dort aufwachsen zu sehen. Aber da geht es den Leuten hier draußen nicht anders, von euch würde auch niemand seine Kinder zu uns schicken. Niemand will sich selbst den Spiegel vorhalten und erkennen, dass keiner besser ist als der andere.“
Das war die Wahrheit und es wäre gelogen zu behaupten, dass die Gemeinden innerhalb des Madman Forest nur aus Gutmenschen bestand und die Welt dort in Ordnung war. Es gab genug Zeremonien und Gebräuche, die sich im laufe der Jahrzehnte radikalisiert hatten und rückblickend, nüchtern betrachtet, passierte dort eine ganze Menge, die man unschuldigen Kinderaugen eigentlich ersparen sollte. Aber das passierte hier draußen auch - nur auf andere Weise und aus anderen Gründen.
Das was auf Matthews interessierte Aufforderung mehr über Clarence‘ alte Heimat zu erfahren folgte, sah der Dunkelhaarige nicht kommen und er verstand gar nicht, woher plötzlich der latent verärgerte Ton des Größeren herkam. Mit einem Mal war die lockere und vertraute Atmosphäre zwischen ihnen verschwunden.
An ihre Stelle war eine merkwürdige, provokative Stimmung getreten die nicht nur durch den Tonfall, sondern vor allem auch durch die Worte des Blonden erzeugt wurde.
Plötzlich waren es keine Gewalttäter die dort lebten, sondern die Leute von außerhalb waren die eigentlichen Aggressoren.
Es ging um ein Wir gegen Die und und mit Die meinte Clarence eigentlich mit Hinblick auf Matthew ein Euch.
Die Menschen die nicht zur Gemeinde gehörten waren das Problem, sie zündeten unsere Felder an, überfielen unsere Häuser - mit einem Mal zog Clarence verbal eine Linie und stellte sich auf die Seite der Bewohner von Willow Creek und Matthew auf die andere.
Matt, der mit keiner Silbe auch nur im geringsten daran gedacht hatte seinen Mann mit seinen Worten zu verärgern, betrachtete ihn mit einem zunehmend irritierten Blick.
Ihm gefiel nicht was Clarence da von sich gab, der plötzlich so tat als wären die Menschen von dort noch immer seine Leute. Doch dann fiel ein Satz der Matthew begreifen ließ, dass Clarence sich offensichtlich wirklich noch als einen von ihnen begriff. Und damit kippte Matthews Emotion von Irritation zu Verärgerung.
„Aber da geht es den Leuten hier draußen nicht anders, von euch würde auch niemand seine Kinder zu uns schicken.“
Mit einem Ausdruck als würde er gerade jemandem zuhören der den größtmöglichen Blödsinn erzählte, betrachtete er Clarence und wartete noch einen Moment ab, ob der Blonde seinen Worten vielleicht noch etwas hinzufügen wollte, was das Gesagte relativierte oder in ein anderes Licht rückte. Aber als klar war, dass da nichts mehr kam erwiderte er schließlich in einem Tonfall der sowohl seine Verärgerung als auch seine Verwunderung zum Ausdruck brachte:
„Jetzt ist es also schon ein ihr gegen uns. Ist ja interessant. Ich dachte, nach allem was dort passiert ist, siehst du dich weniger als einen von ihnen, als als einen Menschen aus der freien Welt.“
Aber das war noch gar nicht alles was jenes Gespräch zu Tage gefördert hatte. Diese Erkenntnis allein wäre vielleicht streitbar aber auch nicht essenziell gewesen. Viel schwerer wog die Tatsache, dass Clarence diesen Ort mit Stillwaters Reach in einen Topf warf. Natürlich verstand Matthew warum er das tat, nämlich um provokant darauf hinzuweisen, dass man den kleinen Matti Reed nicht aus Willow Creek verschleppt hatte und das ihm all die schlimmen Dinge auch nicht in der Gemeinde dieser guten Menschen passiert waren.
Diese guten Menschen, deren Felder abgebrannt und deren Höfe von den freien Menschen überfallen worden waren.
„Vielleicht war es ein Fehler dich nach den guten Seiten deiner Heimat zu fragen. Ich habe vermutet, dass es welche geben wird - auch wenn ich mir da nicht so sicher bin.“, er zuckte die Schultern.
„Aber fang bloß nicht an, meine Heimat mit deiner zu vergleichen, oder Falconry mit Willow Creek. Der Unterschied zwischen deiner und meiner liegt darin, dass man in Willow Creek nicht nur Verbrecher tötet, sondern es gesellschaftlich anerkannte Methode ist, Verwandte und Freunde hinzurichten, deren einziges Vergehen darin besteht nicht so zu leben, wie es in irgendeinem verfickten Buch steht, dass sowieso kaum einer lesen kann.“ - er stellte seinen Met ab und erhob sich vom Bett.
„Alles was ich gesagt habe war, dass man an einem Ort wie diesem seine Kinder sicherlich nicht aufwachsen sehen möchte. Nicht nachdem die erste Jugendliebe gekreuzigt und vor den braven Bürgern der Gemeinde zu Asche verbrannt worden ist. Und zwar nicht wegen Raub, Vergewaltigung oder Mord. Sondern weil diese Person liebte, wen sie liebte. Hätte ich Kinder…~“ würde ich wollen, dass sie niemals dafür bestraft werden, wen sie lieben. Weil sie das ausmacht und weil sie nie Angst haben sollten zu sein, wer sie sind.
Aber statt diese Dinge auszusprechen, wandte er sich von dem Bett und von Clarence ab, durchquerte den kleinen Raum und verzog sich ins Badezimmer, wobei er die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss warf.
Matthew hatte keinen Streit gewollt, hatte ihn nicht einmal kommen sehen - aber zuzuhören wie sein Mann im Bett saß und so tat als sei Willow Creek so gewöhnlich, wie jeder andere Ort und als sei das was man über die Gemeinde erzählte vollkommen an den Haaren herbeigezogen, ließ Matthew einfach nur fassungslos und wütend zurück.
Jener unglückselige junge Mann für den Clarence einst geschwärmt hatte und der jene Schwärmerei erwidert hatte, hatte mit seinem Leben genau deshalb bezahlt.
Er war unter den Augen seiner Eltern ermordet worden. Unter den Augen seiner Freunde. Unter den Augen seiner Jugendliebe. Und obwohl Matt Benedikt nicht persönlich kannte, so empfand er es als ungeheuerlich selbstgerecht, dass Clarence diese Taten seiner Gemeinde offenkundig nicht zum Anlass genommen hatte, um sich nicht mehr als einer von ihnen zu fühlen. Und um nicht zu begreifen, dass man in Willow Creek besser keine Kinder aufzog, die nicht ins Bild passten.
Noch immer aufgebracht griff er nach dem mit Wasser gefüllten Steingut-Krug, goss etwas davon in die verschlossene Waschmuschel und spritzte sich mehrfach kaltes Wasser ins Gesicht- bis er das Gefühl hatte sich wieder etwas beruhigt zu haben.
Hunderte Male schon hatte das Gefühl gehabt, dass er Clarence besser kannte als sich selbst - aber gerade eben hatte jener Mann eine Facette von sich gezeigt die Matt nicht kannte und die ihm auch nicht sonderlich gefiel.