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Schlafkoje

15. Juni 2210


Clarence B. Sky

Drei Tage war ihr erwachen in dem fremden Dorf nun schon her. Zweiundsiebzig Stunden voller Schweigsamkeit, die weder feindselig noch grollend waren, aber auch der sonstigen sinnfreien Gespräche entbehrten, die sonst den Bauch und das Deck der Harper Cordelia erfüllten. Kein flapsiger Streit darüber, wer sich um die Wäsche oder das Zusammenfegen der Hundehaare kümmerte, keine Diskussionen wer das Feuer im Ofen am Leben hielt um ihnen Nutz- und Trinkwasser abzukochen und auch keine Auseinandersetzung darüber, wer die warme Mahlzeit vorbereitete.

Ungewohnt komplikationslos gestaltete sich seitdem der Alltag zwischen ihnen, ihre Abläufe gingen ohne zu stocken Hand in Hand und vor allem – das musste Clarence gestehen – war es vielleicht nie so ordentlich auf ihrem Boot gewesen. Statt gemütliche Stunden im Bett oder gemeinsam am Tisch zu verbringen, hatten sie sich jeder für sich eine sinnvolle Ablenkung gesucht um die neu gewonnene Zeit zu füllen; die Vorratskammer war letztlich doch wieder einigermaßen mit Fleisch aufgestockt und ein paar weitere Seemeilen waren hinter ihnen gelassen worden, jedoch ohne Hals über Kopf ohne Ziel nur noch an Deck zu schuften.

Was Clarence anging, so hatte er sich mittlerweile mit der Situation abgefunden, insoweit dies denn möglich war.

Die ersten Tage waren… nervenaufreibend und schlaflos gewesen, so viel stand fest. Cassie hatte ihn nicht gemieden, seine Gesellschaft aber auch nicht wirklich gesucht und nicht nur einmal hatte ihn die eigentümliche Panik überfallen sein Mann könne ihn mitten in der Nacht verlassen und einfach abhauen, wenn er es sich denn nur wagte tief genug einzuschlafen. Weit hergeholt schien ihm diese Idee nicht zu sein; Matthews Ängste hatten unausgesprochen aber dennoch greifbar in der Luft gelegen und wenn man bedachte wie die damaligen Umstände gewesen waren unter denen sie sich kennengelernt hatten, dann hatten sie beide damals immer wieder dazu geneigt, vor ihren Problemen davon zu laufen. Wer konnte ihm schon versprechen, dass niemand von ihnen in alte Muster zurück fiel, wenn es ihnen einfacher erschien statt für das zu kämpfen was sie hatten?

Am Morgen nach ihrem fragwürdigen Abenteuer hatte der Blonde ihm einen Kuss geklaut, später einen zweiten, doch so wirklich wie in der Zeit vor Miami war der Funke nicht zwischen ihnen übergesprungen weshalb Clarence selbst jenen Versuch schließlich eingestellt hatte, Nähe zu seinem Partner zu suchen – von allem anderen ganz zu schweigen. Matthew brauchte Freiraum, keinen Trost und der Jäger, der sich vor ihrer Ehe schon oft genug einen Korb vom Jüngeren eingefangen hatte, ertrug derartige Abweisungen seit sie verheiratet waren wesentlich schlechter als noch vor wenigen Monaten.

Was auch immer er versucht hatte sich zu überlegen um Cassie aufzuheitern, letztlich hatte er die Gedanken verworfen oder für unmöglich erklärt. Der Köcher, den sie auf ihrem Heimweg nicht hatten finden können, war mit ihrem kurzen Ablegen um Strecke zwischen sie und den Ort des Geschehens zu bringen in unerreichbare Ferne gerutscht, sodass er nicht mal den als Überraschung hätte besorgen können und unterm Strich kannte er sich auch nicht genug mit jener Form der Waffe aus, damit der Versuch lohnenswert gewesen wäre, Cassie wenigstens ein paar neue provisorische Pfeile zu schnitzen.

Lustlos wickelte er sein Garn um ein paar Ästchen frischer Kräuter, die er auf dem heutigen Ausflug mit den Hunden gefunden hatte, und die er später zum Trocknen aufhängen würde. Seit einer Weile schon saß er hier, auf seinem angetrauten Stammplatz am Esstisch, und nestelte still schweigend vor sich hin während die Hunde zu seinen Füßen den Schlaf der Gerechten schlummerten und sein Mann nebenan auf dem Bett lag um zu lesen; so viele Bücher hatte der Kerl eigentlich überhaupt nicht um damit ständig seine Zeit tot zu schlagen, aber im Augenblick traute Claire ihm sogar zu die Teile bereits zum zweiten Mal zu lesen, einfach um einen Grund zu haben, Ruhe im Nachbarzimmer zu benötigen.

Wie auch immer es Matthew ging, bereits früh hatte sich heraus kristallisiert, wie einfach dessen Launen und Befindlichkeiten auf den Bären von Mann übertrugen. War Cassie überdreht, überspannte das automatisch auch den Jäger; war der andere ausgelassen und fröhlich, hatte er in den letzten Wochen vermehrt auch dem Blonden ein Lachen entlocken können.

Aber ging es seinem Mann nicht gut… Clarence wusste nicht, wie er dann selbst zu guter Laune hätte kommen sollen. Seine Gedanken kreisten um Matthew, was dieser wohl denken mochte, was er fühlte und wie um alles in der Welt er es nur anstellen sollte, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen die ihre Erfahrung mit den Vetala angerichtet hatten. Für die Wunden, die in Cassies Herz geschlagen worden waren, kannte nicht mal er als Schamane ein Heilmittel und auch seine andere Berufung als liebender Ehemann, hatte ihm noch keine brauchbare Lösung des Problems eingebracht.

Einsam, beinahe wie ein Hund der von seinem über alles vergötterten Herrchen verprügelt worden war, schielte Claire kurz hinüber zum Türrahmen und erkannte von hier aus doch nichts weiter als den Schrank, da er kaum die Fähigkeit besaß um die Ecke blicken zu können. Sein eigener Partner war so fern und schien doch so nah, dass man sich selbst auf diesem winzigen Boot zu zweit schnell einsam fühlen konnte und selbst wenn sie dabei nicht redeten, hatte der Christ seinen Mann lieber still und emotional etwas zurückgezogen bei sich, als überhaupt nicht.

Unsicher senkte er den Blick zurück auf das nächste Bündel Kräuter in seiner Hand, setzte den letzten Knoten und legte die Arbeit schließlich doch wieder zur Seite. Die zurückliegenden Tage hatten ihm unmissverständlich gezeigt, dass Cassie zwar nicht über das Geschehene mit ihm reden wollte, seine Gesellschaft - im Gegensatz zum Versuch etwas Spaß miteinander zu haben - aber nicht generell scheute; ihre sonst so chaotischen vier Wände waren mittlerweile sauber und so hatte Clarence eigentlich nur noch eines anzubieten das weder ungewollte Nähe zu provozieren in der Lage war, sie sinnvoll miteinander beschäftige und das zeitgleich vom Inhalt her so weit von unangemessenen Themen weg war, wie nur möglich.

Vorsichtig hatte er sich aus der Essecke heraus geschoben, weder die Hunde unterm Tisch weckend noch seine sortierten Kräuter durcheinander bringend, und klopfte leise an den Türrahmen zum Schlafzimmer um Cassies Aufmerksamkeit sachte vom Buch weg und auf sich zu lenken:

„Kannst du mir von dir einen Stift und ein Blatt Papier leihen? Ich dachte mir gerade… vielleicht schreibe ich dir die Buchstaben und ein paar Wörter auf die ich schon kann, dann kannst du schauen ob sich daraus vielleicht irgendwann mal was machen lässt. Falls du magst.“


Matthew C. Sky

Die nächsten Tage verliefen ermüdend ereignislos und schlichen so dahin. 

Was getan werden musste, dass taten sie und wo sie sich gegenseitig Hilfe leisten mussten, halfen sie einander. 

Die Harper Cordelia war vergleichsweise still in dieser Zeit, sie redeten zwar miteinander aber es fehlte der Biss und die Lockerheit. Geschwätz und Witzeleien gab es nicht mehr. 

Sie lachten nicht miteinander, sie gängelten einander nicht, es gab keine heißen Küsse und keine romantischen Liebesschwüre. 

Man konnte nicht sagen, dass Matthew Clarence wirklich mied. Aber es war unbestreitbar so, dass sich beide einander auch nicht so annäherten wie es sonst zwischen ihnen üblich war.  

Die Nächte verbrachten sie gemeinsam in ihrem Bett, wo Matthew jedoch einfach keinen wirklichen Schlaf mehr finden wollte. 

Die meiste Zeit über lag er wach und gelang es ihm doch mal kurz einzuschlafen, so weckte ihn das kleinste Geräusch oder die kleinste Veränderung bei Clarence‘ Regungen. 

Eine Unregelmäßigkeit seiner Atmung, ein Zucken, eine Verlagerung seiner Position. Er lauschte auf alles und alles verursachte im ersten Moment Panik. 

Die Angst Clarence zu verlieren hatte sich zu etwas ausgewachsen dass Cassie hemmte und vereinnahmte und jeden schönen Augenblick überschattete. 

Es würde zu Ende gehen, das Glück, die Freude, die Gesundheit, das Leben. An nichts anderes konnte der Kleinere mehr denken. 

Der Mangel an Schlaf und die innere Anspannung des Jüngeren übertrug sich von Stunde zu Stunde auch mehr auf Clarence. Der Blonde, der anfangs noch versucht hatte dort anzuknüpfen wo sie vor dem unheilvollen Traum der Vetala gewesen waren, hatte schnell erkannt, dass sich die Dinge geändert hatten. 

Wo Matthew sonst schnippisch oder vorlaut gewesen war, war er schweigsam geworden. Er legte sich nicht mit Clarence an, in keiner einzigen Situation, aber er behielt ihn immer im Blick oder lauschte auf ihn. 

Es war eine durch und durch befremdliche Stimmung die sich auf der Harper Cordelia breit gemacht hatte, aber obgleich ihnen beiden das nicht gefiel, waren sie beide nicht in der Lage daran etwas zu ändern. 

Nach Tagen die beide zwar nicht allein, aber doch irgendwie einsam verbracht hatten, hatte sich eine unschöne Distanz zwischen sie geschoben. Clarence war in sich gekehrt, Matthew zurückgezogen. Sie versuchten beide irgendwie alles richtig zu machen und machten dadurch nur alles noch merkwürdiger. 

Wie absurd ihr Umgang mittlerweile geworden war, ließ sich gut daran ablesen als Clarence an den Türrahmen klopfte welcher Hauptraum mit Schlafnische verband. 

In seinem eigenen Zuhause sollte niemand erst klopfen müssen bevor er irgendwohin ging. 

Matthew blickte von seinem Buch auf und legte es, Seiten nach unten und aufgeschlagen, auf seinem Bauch ab. 

„Hm?“ machte er fragend und gleich darauf: „Du musst doch nicht anklopfen.“

Aber selbst diese Worte klangen tonlos und nicht so richtig nach ihm selbst. 

Matthew trug ein schwarzes Unterhemd und eine dunkle, legere Stoffhose, die Füße waren barfuß. Alles in allem wirkte er adrett wie immer, wobei sich eben jene frühere Trauer zurück in seine Augen geschlichen hatte die ihn immer etwas melancholisch hatte wirken lassen, selbst wenn er gelacht hatte. Ein Ausdruck der sich nicht exakt begreifen ließ, der seinen Augen jedoch etwas älteres verlieh, etwas resigniertes. 

Fragend hob Cassie die Augenbrauen an als er hörte was Clarence vorschlug, dann lächelte er und richtete sich auf, rutschte etwas zur Seite und klopfte neben sich auf das Bett. Dass ihm die Idee gefiel, könnte ihm selbst ein Blinder ansehen. 

„Komm her, ich hab alles hier was wir brauchen.“ sich ganz auf die Knie begebend, suchte er im Bücherregal am Fußende des Bettes sein Notizbuch heraus. 

Daran befestigt war ein abgegriffener Bleistift der für ihre Zwecke vollkommen ausreichen sollte. 

Mit dem in Leder eingeschlagenen Büchlein ließ er sich im Schneidersitz nieder, klappte das Buch das er gelesen hatte zu und schob es zur Seite. 

„Du kannst...“, begann er und blätterte durch die Seiten. Diverse Zeichnungen aber auch Notizen fanden sich darin. Bilder von Muties, von Tieren aber auch Skizzen von Landschaften die sie gemeinsam durchstreift hatten. 

Bei vielen Bildern stand ein Datum dabei und wenn er gewusst hatte wo sie waren, eine ungefähre Ortsbeschreibung oder der Name der Gegend. 

Der letzte Eintrag lag Wochen zurück und zeigte auf der einen Seite ein imposantes Pferd in schneebedeckter Landschaft und auf der anderen Seite eine heiße Quelle.

Daneben gab es noch die Skizze eines markanten, bärtigen Mannes mit einem losen Zopf, einer spitzen Nase und kleinen Segelohren. Ein amüsierter Ausdruck lag in den funkelnden Augen und ein süßes Schmunzeln auf den Lippen. 

Nach diesem Bild folgte nur noch Text. 

Cassie blätterte zu einer leeren Seite und reichte das Büchlein dann an Clarence weiter, der sich artig und achtsam neben ihn gesetzt hatte, jedoch eine gewisse Grunddistanz wahrte. 

„...ab hier loslegen. Ich schau erstmal zu was du schon kannst.“, er löste den Stift aus dem Buch und hielt ihn Clarence entgegen, rutschte etwas dichter zu ihm und wartete. 

Natürlich war er nicht naiv genug zu glauben, dass Clarence mit der Idee zu ihm gekommen war weil er selbst plötzlich ganz versessen darauf war Lesen und Schreiben zu lernen. Aber das machte den Schritt den er gegangen war nur umso wertvoller, zumindest für Cassie. 

Der Blonde griff nach dem Stift, wobei er sichtbar einen Augenblick lang brauchte um die richtigen Positionen für seine - teilweise - unvollständigen Finger zu finden. 

Konzentriert hatte der Hüne den Blick auf das Weiß der leeren Seite gerichtet, während Matthew zwischen dem Buch und Clarence hin und her sah. 

Schon immer war Matthew von dem Größeren fasziniert gewesen und schon immer hatte er ihn beobachtet ohne sich selbst dabei beobachten zu lassen. Clarence war ein ausgesprochen schöner Mann, perfekt in Cassies Augen und es gab nichts wofür sich der Dunkelhaarige nicht begeistern konnte so lange es mit Clarence in Zusammenhang stand. 

Für so ziemlich jeden Menschen auf der Welt war nichts besonderes daran wie Clarence den Stift kurz drehte um schließlich seine Finger in der richtigen Art und Weise an das Holz zu legen. Aber für Matthew war es schön anzusehen. 

Er liebte diesen Mann für alles was er war und nicht war, für alles was er werden konnte und auch dafür was er niemals sein würde. 

Wenn er Clarence ansah, dann sah er den einen Menschen der die ganze Welt für ihn bedeutete.  

Schließlich setzte Clarence den Bleistift an und begann in fließender Handbewegung ein Wort zu schreiben. Er tat es sicher, nicht zögerlich oder fragend und als das erste Wort vollendet war begann er sofort das Nächste. 

Cassie, der mit allem gerechnet hätte nur nicht damit, sah verblüfft auf die ersten drei geschrieben Worte hinunter. 

Clarence Bartholomy Sky stand da in geschwungener und doch scharfer Schrift. Nicht krakelig und uneben waren die einzelnen Buchstaben, sondern filigran und elegant. Die Kinderschrift die Matthew erwartet hatte war es eindeutig nicht und der eigene Name war auch noch nicht alles was sein Mann schreiben konnte. 

Es gesellten sich noch mehr Wörter dazu und zwar solche die Matthew selbst noch nie gehört hatte und die ihn schmunzeln ließen, in dem Glauben Clarence nehme ihn auf den Arm. 

„Du sollst richtige Sachen schreiben und dir nicht einfach irgendwelche Wörter ausdenken.“, tadelte er Clarence liebevoll nachdem dieser das Wort decrescendo vollendet hatte. Er piekste Clarence rügend mit dem Zeigefinger in die Seite und überflog was der Größere aufgeschrieben hatte. Es war nicht viel aber es war viel mehr als Matthew gedacht hatte. 

Den Einwand, dass decrescendo ein richtiges Wort war, ebenso wie diminuendo ließ der Kleinere nicht gelten. Für ihn gehörten diese Worte in das Reich der Fantasie. 

„Hmmm...das ist allerhand.“, stellte Cassie schließlich fest, denn Clarence hatte durchaus noch mehr auf Lager, Worte die zwar ungewöhnlich waren aber die Cassie einordnen konnte. Das Lob das er für den Blonden fand war aufrichtig gesprochen und es war weder zu übersehen noch zu überhören, dass Clarence ihn einmal mehr überrascht und beeindruckt hatte. 

„Du schreibst gut. Flüssig und...gar nicht wie ein Anfänger.“

Kurz richtete sich der Kleinere nun wieder auf, verließ zielstrebig das Bett und fing an in seiner Umhängetasche zu kramen. Es dauerte einen Moment bis er einen Füllfederhalter ans Tageslicht befördert hatte und mit diesem zurück auf das Bett kam. 

„Ich denke...wir fangen trotzdem von vorne an. Ich schreibe dir die Buchstaben auf und du sagst mir wie sie heißen.“

Clarence, der in einigen Lebensbereichen einen übertriebenen Hang zum Perfektionismus an den Tag legte, sollte sich nicht überfordert oder überrumpelt fühlen, weshalb Cassie hastig anfügte:

„Wo du nicht weiterkommst, helfe ich dir, keine Sorge.“

Er lächelte aufmunternd und bestärkend gen Clarence, beugte sich dann etwas zu ihm herüber und fing an das Alphabet auf eine leere Seite zu schreiben. 

Langsam und Buchstabe um Buchstabe, während er den warmen Atem seines Mannes an seinem Hals auftreffen spürte...


Clarence B. Sky

Clarence hatte mit so ziemlich allem gerechnet, aber nicht damit, sich sofort zu dem Jüngeren setzen und augenblicklos loslegen zu sollen – eine Überraschung die sich in seinen Augen widerspiegelte, deren Ausdruck aussah wie der eines kleinen Kindes, das gerade in der Schule mit einem Überraschungstest überrumpelt wurde.

Für wenige Sekunden stand er wie angewurzelt im Türrahmen, abwägend welcher inneren Intention er nun nachgehen sollte. Wegrennen, in der Hoffnung er wäre schneller als sein Lehrer und dieser würde ihn nicht an seine Eltern verpetzen, oder sich in die Höhle des Löwen begeben, zu Gott betend, der Test würde nicht annähernd so schlimm ausfallen wie befürchtet?

Wie er es auch anstellen würde, aus der Nummer kam der Blonde nun kaum wieder heraus.

Irgendwie hatte er sich das anders vorgestellt. Mit einem leeren Blatt Papier und einem abgegriffenen alten Stift am Esstisch, sich die nächsten zwei oder drei Stunden dem Verdrängen hingebend, dann und wann den nächsten Buchstaben kritzelnd, ohne sich wirklich konzentriert und ernsthaft dem leidigen Thema des Lesens und Schreibens hingeben zu müssen.

Doch Matthew, sein unerbittlicher Lehrmeister in Sachen Folter und Bloßstellung, verfolgte da eine weit andere und effizientere Taktik.

Von einem Fuß auf den anderen tretend, taxierte Claire den freien Platz auf dem Bett neben seinem Mann als würde die Matratze aus flüssiger Lava bestehen – doch letztlich, weil es ja auch irgendwie tatsächlich kein Entkommen gab außer er wollte sich später unangenehmen Fragen stellen, begab er sich freiwillig an den Pranger in Reichweite des Dunkelhaarigen, ihm verbissen beim Blättern im Notizbuch zusehend.

Schon oft hatten sie beieinander gesessen während Cassie schrieb oder etwas kritzelte, meistens aber hatte der Blonde sich dabei desinteressiert anderen Dingen zugewandt, da er davon sowieso nichts verstand. Stille Geheimnisse die in so einem Buch lauerten waren ihm eh nicht zu entziffern und was interessierten ihn schon Skizzen ihrer Umgebung, wenn er sowieso gerade mittendrin saß, um sie mit eigenen Augen zu sehen. Doch die wenigen Bilder, die er in den kurzen Sekunden des Blätterns erkannte… die friedliche Quelle mit dem Pferd, auf dem sein Mann davon geritten war, wo Clarence ihn schließlich gefunden hatte und auch das Bildnis von ihm selbst

Vom Jäger existierten keine Fotos und auch keine Gemälde, durch die er sich durch fremde Augen hätte sehen können. Alles, was er von sich kannte, sah er maximal vor sich im Spiegel oder im ruhigen Wasser und es war kein Geheimnis, dass man sich stets selbst etwas anders wahrnahm, als andere Menschen das von einem taten.

Diese eine kleine Skizze, scheinbar unbedeutend in dem Bruchteil eines Wimpernschlages den es andauerte bis Matthew die nächste Seite aufgeschlagen hatte, berührte Clarence auf eine ungeahnte Art und Weise. Das deutliche Funkeln in den Augen die er als die eigenen wiedererkannte sowie das kecke Schmunzeln, die so befremdlich und doch vertraut schienen… war das die Art, auf die Cassie ihn sah wenn er ihn anblickte?

Schweigend musterte er seinen Mann verstohlen und ohne es zu merken schlich sich dabei eben jenes Lächeln wieder auf seine Lippen, das Matthew für die Ewigkeit in seinem Büchlein festgehalten hatte, bevor er es dem Älteren in die Hand drückte um niederzuschreiben, was er bereits beherrschte.

„Lass mich, das sind richtige Wörter, du…“ – normalerweise hätte er ihm an dieser Stelle irgendeine miese Betitelung an den Kopf geworfen wie es sich gehörte, doch nachdem sie in den vergangenen Tagen eh schon nur wenige Sätze miteinander gewechselt hatten, sollte das erste was sich annähernd wie Gespräch anfühlte, nicht unbedingt so beginnen.

„…ungebildeter Waldläufer“, beendete er den Satz einigermaßen galant ohne dabei allzu ausfällig zu klingen und verpasste dem vorlauten Jüngeren als Racheakt einen sanften Piecks mit dem stumpfen Bleistift auf die Hand, damit er ihn nicht weiter für seine Leistungen kritisierte.

Es war Jahre her, dass Clarence all diese Dinge überhaupt geschrieben hatte und wäre er sich nicht so sicher die Worte hart genug eingebläut bekommen zu haben um sie nicht plötzlich falsch zu schreiben, vielleicht hätte er sich gar nicht erst getraut es überhaupt zu tun. Immer wieder drehte er zwischen jedem Wort den Stift sachte zwischen den drei brauchbaren Fingern die ihm geblieben waren – ein ungünstiger Missstand der das Schreiben nicht gerade erleichterte – und fragte sich dabei, was er hier gerade überhaupt tat. Sicher, all diese Dinge niederzuschreiben hatte er schon vor Jahren gelernt und das auch noch von seinem Großvater, einem der Dorfältesten seiner Heimat; das änderte aber weiterhin nichts daran, dass es für jemanden seiner Herkunft blasphemisch und mehr als verboten war. Nicht so sehr wie als Mann andere Männer vögeln, aber eben trotzdem nicht legal.

Wart’s ab bis ich was anderes schreiben soll als das hier. Ab da bin ich verloren“, murmelte es konzentriert hinter dem blonden Bart hervor, damit deutlich klar machend wie wenig empfänglich Clarence für Komplimente war wenn es um diese Sache hier ging. Das lag aber weniger an seinem Mann und dessen Befinden in den vergangenen Tagen, sondern mehr an der Einstellung des Älteren zu Buchstaben, Wörtern und Sätzen an sich.

Den Bleistift von sich werfend, als sei der Überraschungstest für heute gelaufen und der blonde Bub endlich wieder in die Freiheit entlassen, richtete Clarence sich seufzend auf. Doch die Strafe für diese unerlaubte Vorfreude kam auf dem Fuße, als er mit einem resignierten „Och nöö!“ feststellen musste: Für Matthew war das nicht die erste Etappe gewesen, sondern gerade erst das Aufwärmen.

Selten gab es etwas, das einem Clarence Bartholomy Sky wirklich schnell die Puste ausgehen ließ. Kilometerlanges Marschieren, nasses Feuerholz zum Brennen bringen, stundenlanges auf der Lauer liegen um Wild zu schießen – es schien nichts zu geben, was den Jäger irgendwie mürbe machen konnte, noch etwas das sein Interesse nicht weckte, wenn man es ihm nicht gut verkaufte. Gäbe es einen für ihn sinnvollen Grund um zu erlernen wie man weibische Handarbeiten verrichtete, womöglich würde Claire sogar das lernen wenn es ihm irgendwie von Nutzen war.

Es schien ein völliges Novum zu sein wie sich jede Zelle des Hünen gegen so etwas Banales wie Lesen und Schreiben sperrte und doch versiegte das infantile Gezeter des Älteren schlagartig in Schweigen, als sich Cassie vorbeugte um ihm das Alphabet vorzumachen.

Irritiert über die plötzliche und seit so vielen Tagen… ach was, seit so vielen Millionen von Sekunden ungewohnte Nähe, blieben die eben noch motzig dreinblickenden Iriden des Älteren am Nacken seines Mannes hängen, der sich an ihm vorbei gebeugt hatte um besser an das Notizbuch zu kommen. Genauso gut hätte Matthew ihm das Heftchen abnehmen können um es auf dem eigenen Schoß zu haben und wäre sich Claire nicht sicher, der Kerl machte so verflucht langsam damit sein Bär aufmerksam dessen folgte wie man die einzelnen Buchstaben schrieb, er hätte seine Pranken dafür ins Feuer gelegt, dass der Dunkelhaarige sich absichtlich Zeit ließ um ihn mit seiner verführerisch dargebotenen Haut zu locken. Auf der anderen Seite verdeckte Cassie ihm mit seinem Quadratschädel sowieso den Blick aufs Buch und überhaupt… wie zur Hölle war Clarence eigentlich hier gelandet und was hatten sie bis eben noch vor gehabt?!

Lautlos seufzte er, schloss die Augen um die verführerische Sünde in Dunkelheit zu ertränken und machte sein trauriges Schicksal damit doch nur noch schlimmer. Er war ein Mann mit unzweifelhaft gesundem Hunger, sodass die verruchten Fantasien es hinter gesenkten Lidern nur noch leichter hatten ihn zu überfallen; wie sehr Clarence es vermisste die Haut seines Mannes zu schmecken, ihn zu küssen und zu spüren, davon konnte Cassie höchstens den dunklen Hauch einer Ahnung haben.

Wie gerne hätte er nun seine Nase in den dargebotenen Nacken des Jüngeren gedrängt, ihn sanft geküsst und gefühlt, wie er darunter eine prickelnde Gänsehaut bei Matthew beschwor. Die lockenden Ohren hätten sich in dezente Röte getaucht und unter dem schwarzen Hemd, dünn und anschmiegsam, hätten sich früher oder später die süßen kleinen Knospen seines Geliebten abgezeichnet, auf dass seine unvollständigen Finger besser den Weg zu ihnen fanden… und es hätte nicht lange gedauert, da wäre das Notizbüchlein und das Alphabet in Vergessenheit geraten, während er seinem Mann half sich von der störenden Kleidung und noch ganz anderen Dingen zu befreien…

Wohlig brummte der Bär, die Lider wieder etwas hebend bevor Cassie ihn auf frischer Tat ertappte, und ließ den Blick zurück über den entblößten Nacken vor seinem Gesicht gleiten. Markant und doch filigran gingen die Muskeln über in die schönen, definierten Schultern des Jüngeren, in welche Clarence während ihrer Hochzeitsnacht noch verloren seine Nägel geschlagen hatte, und erkannte langsam aber sicher doch die Vorteile seiner Entscheidung, sich freiwillig in die Höhle des Löwen begeben zu haben.

Mach ein bisschen langsamer… ich werd mir nicht merken können wie man das alles schreibt, wenn du da so durch rast“, kritisierte Clarence leise – völlig ungeachtet dessen sowieso nichts von Cassies Stiftführung zu sehen, so wie dieser sich vor ihn gelehnt hatte. Aber spielte das eine Rolle? Am Ende wusste er ja tatsächlich nicht welchen Schnörkel und welchen Strich man wie zuerst setzte und wenn sein Mann es ihm nicht genau zeigte, sich geduldig Zeit für seine Lektionen nehmend, würde Claire wohl nie Lesen und Schreiben lernen.

Denk dran, ich hab das alles lange nicht mehr gemacht.“ – Weder Buchstaben schreiben, noch die unschuldige und doch intensive Nähe zu seinem genießen.


Matthew C. Sky

Wie wenig Clarence eigentlich Lust darauf hatte Lesen und Schreiben zu üben, offenbarte sich mit schonungsloser Offensichtlichkeit als sein quengeliges Och nöööö... die Schlafnische erfüllte. 

Der Schamane war offenkundig dem Irrglauben aufgesessen nach ein paar auswendig gelernten Wörtern sei bereits Schluss für heute, doch da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. 

Matthew schenkte dem Gezeter keine Beachtung und tat auch dann noch so, als sei er völlig mit seiner Schreibarbeit beschäftigt, als Clarence ganz plötzlich verstummte. 

Mit warmen, langsamen Atemzügen hob und senkte sich die breite Brust seines Mannes, der Cassie ganz nah war. Er sah sie sich auf und ab bewegen und fühlte im gleichen Rhythmus den Atem des Blonden auf seinem Hals. 

Das Gefühl der Nähe war schön und auch deshalb schrieb Matthew die einzelnen Buchstaben ganz langsam. 

Aus dem Augenwinkel sah er wie Clarence die Lider schloss - was natürlich nicht gerade dafür sprach, dass er aufmerksam auf die Linienführung achtete. 

Doch statt Clarence darauf hinzuweisen, legte sich ein sanftes kleines Schmunzeln auf Matthews Lippen, während er den nächsten Buchstaben schrieb. 

Ganz leise und eigentlich kaum hörbar kratzte die Spitze des Füllfederhalters über das Papier. Das kräftige Blau der Tinte wurde durch die Handbewegung des Jüngeren zu ordentlichen, geschwungenen Linien - und würde Clarence denn auch hinsehen, hätte er durchaus erkennen können wie man die einzelnen Buchstaben schrieb. 

Das leise und wohlige Brummen welches wenig später in seiner Kehle grollte, veranlasste Cassiel dazu mit dem Schreiben kurz komplett innezuhalten. 

Er wartete ein paar Sekunden, wollte Clarence die Gelegenheit geben... nun... mehr zutun und fuhr dann schließlich mit seinem Tun langsam fort. 

„Du wirst es dir nicht merken können weil du die halbe Zeit über die Augen geschlossen hältst.“, korrigierte Matthew seinen Mann und ließ ihn erkennen, dass ihm seine Tagträumerei keineswegs entgangen war. Doch statt genervt oder schnippisch zu klingen, lag in seiner Stimme Sanftmut und Geduld. 

Er drehte den Kopf etwas und blickte Clarence ins Gesicht. Sie waren einander so nah wie schon seit Tagen nicht mehr und ganz von allein beschleunigte sein Herzschlag etwas. 

Es war schön, Clarence nah zu sein. Zeit mit ihm zu verbringen ohne das es sich befremdlich anfühlte. 

Ihre zurückliegenden Gespräche, wenn man es denn überhaupt so nennen wollte, waren recht oberflächlich und kurz gewesen. Sie hatten aufgepasst einander mit nichts zu nahe zu treten und dabei hatten sie sich ein Stück weit wieder voneinander distanziert. 

Die Unsicherheit darüber was sie sich erlauben konnten oder sollten hatte sie zurück in ihre einsamen Lager getrieben, ohne das die beiden etwas dagegen hatten tun können. 

Kurz hefteten sich Cassies dunkle Augen auf die zartrosa Lippen des Größeren und er konnte vor sich selbst nicht verhehlen, dass er sich danach sehnte diese Lippen zu küssen. Er wusste wie sie sich anfühlten und wie sie schmeckten, aber im Augenblick brachte er nicht den Mut auf, sie für sich einzunehmen. 

Also wandte er das Gesicht wieder ab und sah zurück auf das Buch in Clarence‘ Schoß. 

„Es ist... ganz leicht, wenn du die Buchstaben einmal auswendig gelernt hast.“

Ihm hatte Le Rouge Schreiben und Lesen beigebracht und zwar in mehr als nur englischer Sprache. 

„Dann kannst du...mit ein paar Linien auf einmal alles ausdrücken was du willst.“

Einmal gelernt, gab es keine Grenzen mehr. Man konnte jedes Wort niederschreiben, Gedanken formulieren und konservieren um sie später wieder ins eigene Gedächtnis zu holen. 

„Und du kannst alles Lesen... das Wissen der Alten ebenso wie eine einfache Speisekarte in einer Schänke.“, er lächelte vage weil er schon jetzt wusste, Clarence würde dieses Argument wahrscheinlich sofort entkräften in dem er darauf hinwies, dass in nahezu jedem Lokal kleine Skizzen und Bilder der Gerichte aufgelistet waren. 

Die Fähigkeit Lesen und Schreiben zu können war nicht essenziell in ihrer Welt und selbst die gutbetuchten Bürger einer Stadt oder Metropole konnten noch lange nicht alle flüssig Lesen oder Schreiben. 

Cassie schrieb den letzten Buchstaben, dann hob er den Füller und steckte die Kappe wieder auf die Feder. Er richtete sich auf, brachte wieder etwas Distanz zwischen seinem Hals und den verführerischen Lippen des Blonden und blickte auf das Buch herunter. 

„Okay... fang an. Sag mir die Buchstaben die du schon kennst.“

Auffordernd und dennoch ruhig sah Cassiel zwischen Clarence und dem Büchlein hin und her, ließ ihm Zeit zu überlegen und sich zu konzentrieren. 

Für jemanden der weite Strecken seines Lebens gut zurechtgekommen war ohne Lesen und Schreiben können zu müssen, war es vermutlich schwer sich nun mit dem Thema befassen zu müssen und dabei noch seine Unkenntnis zu offenbaren. 

Doch weder war Matthew irgendein Fremder, der sich höhnend über Clarence lustig machen würde, noch fühlte er sich selbst dem Blonden überlegen nur weil er sowohl das Eine als auch das Andere fließend beherrschte. 

Nach anfänglichem Zögern begann Clarence schließlich die Buchstaben zu benennen die er schon kannte, wobei er sie anfangs nur aufsagte. 

„Am Besten...du schreibst die Buchstaben die du kennst, gleich unter meine.“

Also fingen sie von vorne an. Der Blonde nannte den Buchstaben und tippte mit dem Bleistiftende auf besagtes Zeichen und wenn Matthew nickte, schrieb er das Symbol unter die Vorlage. Dabei wurde schnell deutlich, dass er die Anfangsbuchstaben seiner Namen sicher beherrschte. Doch die anderen Buchstaben sagten ihm entweder gar nichts, oder er war sich nicht sicher genug um sie zu nennen. 

Bisher hatte Cassie noch völlig darauf verzichtet auch die Minuskeln aufzuschreiben um Clarence nicht zu viel auf einmal zuzumuten. Sie hatten Zeit und Matthew genoss es ungemein sie mit seinem Mann zu verbringen. Deshalb war es aus seiner Sicht auch überhaupt nicht schlimm, dass das Alphabet für Clarence weitaus mehr Lücken besaß als alles andere. 

„Okay...dann nun zu denen die du noch nicht kennst.“, bis auf das B, C, M und S waren das alle Buchstaben, auch wenn Cassie sicher war, den ein oder anderen zusätzlichen Buchstaben kannte Clarence auch noch, aber er getraute sich vermutlich nicht sie zu nennen um nichts falsches zu sagen. 

Matt tippte auf das A und benannte es, ließ Clarence es sagen und aufschreiben und ging weiter. Auf diese Weise arbeiteten sie sich bis zum Buchstaben F durch, dann gingen sie zurück zum Anfang. 

Wie der erste Buchstabe hieß hatte sich Clarence gemerkt, aber die Linien zu schreiben fiel ihm sichtbar schwer. 

Behutsam legte Matthew also seine Hand über die des Größeren, strich mit den Fingerspitzen zärtlich über die seines Mannes und beugte sich wieder ein Stückchen zu ihm herüber, aber ohne ihm die Sicht auf das Blatt zu nehmen. 

„Lass uns...das zusammen machen.“, sagte er leise und führte Clarence‘ Hand über das Papier, schrieb mit ihm gemeinsam die Buchstaben D bis G

„Genau so, siehst du...“ - er lächelte sanft während sie gemeinsam zum nächsten Buchstaben übergingen. Langsam und sorgfältig schrieben sie, wobei man nicht sicher sagen konnte ob sich der Jüngere deshalb so viel Zeit ließ damit Clarence besser lernen konnte oder weil er den Körperkontakt zu ihm auf diese Weise länger genießen konnte. 

Bei jedem neuen Zeichen sagte Matthew wie der Buchstabe hieß, bis sie beim bekannten M angekommen waren. „Nochmal von vorne, hm?“

Sie gingen zurück zum A, wobei Matthew seine Hand zwar noch auf der des Blonden beließ, aber ihm schon weitaus weniger half. Und obwohl er nur noch sacht die Hand seines Mannes führte, schrieb dieser schon viel besser die bis eben noch unbekannten Buchstaben. „Das... machst du wirklich gut.“, wisperte er leise und anerkennend. Dabei hob er den Blick von dem Papier und musterte stattdessen das Profil des Größeren. 

Es gab nichts, wirklich gar nichts, was ihm an diesem Mann nicht gefiel. Er liebte den konzentrierten Ausdruck in den blauen Augen, die spitze Nase, den dichten blonden Bart und die oftmals ungezähmte und wilde Mähne. 

Aber was er am allermeisten an Clarence liebte war seine Bereitschaft für ihn über jeden verdammten Schatten zu springen - und sei er noch so groß. 

Seinen Gedanken nachhängend merkte Cassie zuerst gar nicht, dass ihre beiden Hände nicht mehr schrieben, aber als er es tat, lachte er kurz auf - es war das erste Lachen seit Tagen. „Nicht aufhören, Faulpelz...“


Clarence B. Sky

Auch wenn er sich sonst immer recht desinteressiert gab wenn sie abends mal gemeinsam am Tisch saßen, er mit seinem handwerklichen Krimskrams beschäftigt den der Blonde immer irgendwie zu tun fand und sein Mann mit einem seiner Büchlein hantierend:

Clarence hatte schon immer genossen wie Cassie neben ihm saß und die Stifte übers Papier gleiten ließ.

Das leise Kratzen der Feder oder das bleierne Rauchen des Stiftes in seinem Heftchen, hatte etwas unheimlich Beruhigendes an sich und die Weise wie der Jüngere dabei mal konzentriert, mal mit einem seichten Schmunzeln auf den Lippen sein Werk betrachtete, bedachte den Bären von Mann mit dem Gefühl trauter Heimeligkeit und Wärme in der Brust.

Sie hatten ihre lieb gewonnen Rituale, hatten sie bereits von Beginn an gehabt, schon lange bevor sie ein Paar geworden waren. Clarence auf der einen Seite des Feuers, Seile aus feuchter Baumrinde knüpfend oder Kräuter über dem Rauch zum trocknen aufhängend; auf der anderen Seite der Söldner mit seiner Schreibkunst.

Lesen und Schreiben war nichts das ihm jemals an seinem vorlauten Gefährten imponiert hätte, dafür gab er zu wenig auf diese Begabung, andererseits hatte es schon immer irgendwie zu Cassie gehört. Es hatte keine Wegstrecke gegeben, auf derer der Andere nicht ein neues Buch gegen ein altes eingetauscht hatte um zu lesen, und in manchen Wochen hatte es keinen Abend gegeben, an dem Cassie abends nicht das ein oder andere Bildchen auf eine freie Seite gekritzelt hatte.

So wie zu Clarence eine Kräutertasche und seine Waffen gehörten, gehörten Bogen, Pfeile und Buch zu seinem Mann und genau das war eines der kleinen Details, das er so sehr am Jüngeren liebte. Matthew war kein charakterloser Standardtyp aus irgendeiner Stadt, kein autonomer Wildling aus dem Wald und trotz allem war er nicht mal eine Mischung aus beidem. Er war… einzigartig mit allen seinen kleinen Merkmalen, wenigstens für Clarence – und als er seine Augen wieder öffnete, erkennend dass der Jüngere zu ihm zurück blickte und dabei für einen kurzen Moment sogar mit den kandisfarbenen Iriden an seinen Lippen hängen blieb, da flammte die vertraute Wärme frischer Verliebtheit ganz neu in Claires Herz auf.

Ich muss keine Speisekarten lesen können, da sind Bilder drin“, konterte er murmelnd ohne zu wissen, damit der Vorhersehung seines Mannes genau in die Karten zu spielen. „Und wenn nicht, dann frag ich einfach was das Tagesangebot ist… dein Beispiel überzeugt mich also nicht besonders, wie du merkst.“

Trotz seiner Widerworte stellte er sich bei den geduldigen Lehrversuchen des Jüngeren nicht quer und wiederholte artig die Buchstaben, welche Cassie ihm vorgab. Es war knapp zwei Jahrzehnte her, dass Clarence eine Schule besucht hatte – und wenn es nach seinem Partner ging, würde Sonntagsunterricht in der Kirche und das bisschen Rechnen sicher nicht zählen, das man ihnen als Kinder im Fort beibrachte. Lesen und Schreiben hatte dort nie auf der Agenda gestanden und wenngleich dem Blonden bewusst war, dass das hier eher das Programm für Kleine war, fühlte er sich trotzdem nicht unwohl dabei Matthew den Schüler zu mimen… aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Ein kaum hörbares Raunen ging über die Lippen des Bärtigen kaum da er die Finger des Jüngeren auf den seinen aufkommen spürte und eine zarte Gänsehaut begann hinauf über seinen Arm zu branden. Natürlich hatte sich Cassie die letzten Nächte an ihn geschmiegt, es war kaum so gewesen als hätten sie selbst im Bett räumlich distanziert nebeneinander gelegen und sich gemieden. Wirkliche Zärtlichkeit aber, wie etwa das sanfte Streicheln der fremden Fingerspitzen über seine Haut, hatte es nicht gegeben und so unscheinbar wie die kleine Berührung wirkte, umso mehr sehnte sich Clarence nach ihr.

Wie wenig der Bär eben noch aufgepasst hatte als die Buchstaben ihm vorgeschrieben worden waren, war kein großes Geheimnis mehr und dass Cassie ihm beim ersten Durchlauf die Hand führte, machte es deutlich einfacher. Erst einmal begriffen welcher Strich wohin kam und auf welche Weise man die Schnörkel und Kurven daran verband, machte das Gekritzel schnell einen größeren Sinn und erschien – wenigstens für den Moment und jeden Buchstaben einzeln genommen – gar nicht so schwer zu sein, wie zuerst gedacht. Schon im zweiten Durchlauf begann er mutiger seine Linien zu ziehen, nichtsdestotrotz dann und wann noch zögernd. Nicht etwa weil er sich plötzlich nicht mehr sicher war, sondern weil zu schnelles Lernen auch ein schnelleres Ende der vermissten Zweisamkeit herbeiführen würde, das war sicher.

Immer wieder senkte sich Claires Blick vom Buch hinauf zum Nacken seines Geliebten, seinen nackten Schultern und hinab über den definierten Arm des jungen Mannes, dessen Muskeln sanft tanzten bei jeder Linie, die sie gemeinsam schrieben. Ein wenig erinnerte ihn die Szenerie an ihre erste gemeinsame Nacht miteinander, die ebenfalls im Streit begonnen und im Schein des Lagerfeuers mitten im Wald geendet hatte. Ganz sanft und vorsichtig hatte sich Cassie ihm angenähert, hatte seine warmen weichen Lippen auf Clarence‘ Hals niedergelegt und damit erstmals eine Kluft zwischen ihnen überbrückt, welche bis dato stets unüberwindbar erschienen war.

Dem Blonden war in jenem Moment nie etwas so wohltuend erschienen wie jene Lippen, nie etwas so warm wie jenes Flattern in seiner Brust, das jener einzelne, vorsichtige Kuss ausgelöst hatte. So lange hatte er sich da bereits danach verzehrt von diesem Mann geküsst zu werden und ihn zu küssen, ihm endlich näher zu sein als bedeutungslose Vereinigungen aus fehlenden Optionen heraus, die auf verschrobene Art und Weise trotzdem schon immer mehr gewesen waren als das.

Cassie war… so ein schöner Mann. Äußerlich, das stand völlig außer Frage, aber das war nie der einzige Grund gewesen warum Clarence sich von Anfang an derartig zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Was ihn so schön machte war sein Charakter, die Unverdorbenheit und das Reine, das er sich trotz der rauen Welt in der sie lebten erhalten hatte und trotz all der Erfahrungen, die sein Leben geprägt hatten. Es waren seine Bewegungen und Blicke die ihn ausmachten, der Bedacht mit dem er Claires Finger am Stift über das Papier gleiten ließ und der konzentrierte Ausdruck der dabei in seinen kandisfarbenen Augen lag und offenbarte, wie wichtig es ihm war, dass sein Bär das Schreiben von Anfang an ordentlich lernte, ohne sich dabei überfordert zu fühlen von all den möglichen Wegen, auf die man solche Buchstaben sicher schreiben konnte. Es war das Lachen des Jüngeren das ihn so unglaublich schön machte, die Weise auf welche sich dabei seine dunklen Brauen hoben, seine Augen strahlten und seine Mundwinkel sich dabei zum Lächeln formten…

Und als würde Cassie ganz genau ahnen, woran sein Mann gerade dachte, da lachte er – zum ersten Mal seit Miami – um Clarence‘ Herz erneut mit Liebe und Wärme zu füllen, ganz so als sei er einzig alleine dafür gemacht worden, die ewige Traurigkeit und Kälte aus dem Leben des Blonden zu vertreiben.

Ich… was?“, brabbelte er, auf frischer Tat ertappt, ohne sich derer überhaupt bewusst zu sein. „Ich mach doch gar nichts…“

Dass das den Nagel direkt auf den Kopf traf, konnte Clarence nicht ahnen, denn den Bleistift in seiner Hand hatte er mittlerweile völlig vergessen angesichts des Mannes an seiner Seite, der ihn viel mehr faszinierte als Bildung es jemals können würde.

Damals am Lagerfeuer, in einer furchtbar kalten Nacht und voller Hunger auf Matthew, hatte er den Jüngeren einfach gepackt und voll flammender Leidenschaft geküsst, so wenig hatte er es noch länger aushalten können es nicht zu tun. Heute, einige Monate und eine Hochzeit später, hatte er jenem Mann bereits unzählige Küsse gestohlen und trotzdem nichts an seiner Faszination für den Dunkelhaarigen verloren. Man sollte meinen irgendwann sah man sich aneinander satt, das Prickeln ebbte ab und man gewöhnte sich aneinander, doch nichts davon war bis heute der Fall gewesen.

Sachte löste Clarence seinen Zeigefinger vom Stift und zog ihn unter Cassies Griff hervor, um zärtlich über den Finger seines Mannes zu streichen.

Bis heute, und das stimmte wirklich, hatte Claire noch nicht begriffen wie er es geschafft hatte, Matthew für sich zu gewinnen. Was er getan haben musste um sich die Zuneigung des Jüngeren zu verdienen, seine Liebe und auch die ungeteilte Aufmerksamkeit, mit derer er jeden Tag aufs Neue von ihm bedacht wurde. Matthew war ein Mann von Welt, ein Typ Mensch der jeden haben konnte den er nur wollte… und trotzdem war er bei ihm, Clarence Bartholomy Sky, einem verschrobenen schweigsamen Wildling der von Fanatisten abstammte und der Cassies Herz zeit ihres Kennenlernens mehr durch Schweigen gewonnen hatte, als mit echtem Charakter zu brillieren.

Leise seufzte der Hüne, lehnte sich etwas vor und überbrückte die wenigen Zentimeter die noch zwischen ihnen lagen, um sein spitzes Näschen gegen den dargebotenen Nacken seines Mannes zu lehnen. In den vergangenen drei Tagen hatte sich die weiche Haut nicht im geringsten verändert, sie roch noch genauso vertraut wie eh und je und als Clarence das Haupt etwas hob um zärtlich hinauf zu Cassies Ohr zu streicheln, brandete sein Atem in ebenso vertrauter Manier über die bunten Farben hinweg, die den Jüngeren zierten.

Mhh, du… machst mich… so glücklich wenn du lachst, Matthew…“, brummte er leise und tief seinem Geliebten entgegen und schloss erneut die Augen, während sein Finger noch immer den des anderen Liebkoste. Es stimmte, Miami mochte nicht die Realität gewesen sein, aber deshalb war noch lange nicht alles, was dort geschehen und gefühlt worden war, automatisch auch nur eine Träumerei. Das Glück, welches er dort empfunden und formuliert hatte, hörte nicht auf nur weil er erwacht war und dass sein Mann ihn glücklich machte hing nicht von einem sonnigen Ort und ein paar verwilderten Palmen ab.

Sein Glück war dort wo Matthew war; egal ob hier, im Süden, im Norden, schlafend oder wach. Nirgendwo wollte er sein wenn sein Mann dort nicht bei ihm war um neben ihm zu lachen, ihn mit strahlendem Blick anzusehen und ihn zu lieben, selbst dann, wenn manch ein Tag schweigsamer war als andere.

Sachte, völligem Übermut entbehrend wie er damals am Lagerfeuer verlebt worden war, hauchte Clarence einen liebkosenden Kuss hinters Ohr des Jüngeren, geprägt von Zurückhaltung und Respekt vor der Distanz, die Cassie sich die vergangene Tage eingefordert hatte. Weder plante er den anderen zu verführen, noch dessen Widerstand zu brechen, auf dass Matthew sich ihm wieder unter Druck etwas mehr zuwandte. Was der Bär von Mann wollte, das war nichts weiter als unschuldige Nähe um das schmerzende Vermissen zu stillen, das der leere Fleck an seiner Seite hinterlassen hatte seit dem Überfall durch die Vetala und wenngleich es ein Leichtes gewesen wäre sein Glück dennoch auf die Probe zu stellen, blieb Clarence artig und beließ es bei jenem einzelnen kleinen Kuss, auch wenn er sein spitzes Näschen nicht gleich wieder vom Jüngeren löste.

Ich liebe dich… - ich gehe davon aus, dafür braucht man ein… I… ein L… und vielleicht ein… ein…“ – ein „Deh“ vielleicht, insofern es im Alphabet nicht noch einen anderen Buchstaben gab, der sich „Dih“ schimpfte. Aber wer konnte das schon wissen bei so vielen Lauten und Strichen und Schnörkeln…


Matthew C. Sky

„Ganz genau, du machst gar nichts...“, entgegnete Matthew mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. Clarence war in Gedanken überall, aber nicht wirklich bei den Schreibübungen, ein Missstand, den Matthew keinerlei Probleme hatte ihm zu vergeben. 

Er wusste sehr gut, dass der Blonde keine Affinität zu Buchstaben hatte. Er interessierte sich nicht für Bücher und Schriftstücke, hatte nie gefragt was Matthew las, worum es in den Büchern ging oder darum gebeten, Matt möge ihm etwas anderes vorlesen als die Speisekarte in einem Lokal. Erst die Geschichte von Moby Dick hatte einen Unterschied gemacht. Aber weder davor noch danach hatte der Blonde Interesse gezeigt. 

Nicht nur einmal hatte Matthew ihn deshalb gefragt wieso er eine Bibel über den Kontinent schleppte wenn er doch in ihr gar nicht lesen konnte. 

Nicht immer hatte Clarence ihm geantwortet, öfter nur genervt gebrummt. Aber einmal hatte er ihm auch verraten, dass er in der Bibel nicht zu lesen brauchte - weil er die Psalmen und Sprüche, die Gleichnisse und Aussagen der Propheten auswendig kannte. 

Die Bibel als heiliges Buch musste er also nicht selbst lesen, um zu wissen was in ihr stand und worin der Auftrag eines jeden treuen Christen lag. 

Diese Erklärung hatte Matthew verstanden, aber nicht begriffen. Für ihn war es undenkbar sich auf die Aussagen anderer zu verlassen und so hatte er im Laufe der Zeit immer mal wieder nachgebohrt ob Clarence denn gar nicht neugierig darauf war zu überprüfen ob überhaupt stimmte was man ihm zum Inhalt der Bibel erzählt hatte. 

Das Ergebnis einer solchen Unterhaltung war selten fruchtbar gewesen und mittlerweile nahm Cassie es einfach als einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen ihnen hin. 

Nicht die Fähigkeit Lesen und Schreiben zu können meinte er, sondern die Fähigkeit des Größeren auf das Wort anderer zu vertrauen und sein Leben nach einer Schrift auszurichten, die er nie gelesen und nie selbst interpretiert hatte. 

Warm und sanftmütig blickte Cassiel seinen Mann an, in seinen Augen lag ein zartes Funkeln und auf seinen Lippen der Hauch eines verlegenen Lächelns. 

Das Kribbeln in seinem Bauch, dass in jenem Moment eingesetzt hatte als er den ruhigen Atem vertraut auf seiner Haut hatte auftreffen spüren und welches seither nie ganz verschwunden war, wurde stärker je länger sie einander so nah waren. 

Und Clarence‘ Mangel an Konzentration bezüglich der Buchstaben bedeutete nur, dass es ihm ganz genauso wie Matthew erging. 

Die zurückliegenden Tage waren geprägt gewesen von einer emotionalen und körperlichen Distanz ohne dass ein Streit vorausgegangen war. 

Sie hatten miteinander gesprochen, sie hatten zusammen die Tage bestritten und sie hatten zusammen die Nächte in ihrem Bett verbracht. Aber so wirkliche Nähe war ausgeblieben. Ihr ungezwungener Umgang war abgelöst worden durch Zurückhaltung und der Sorge etwas falsch zu machen. 

Es war der der Dunkelhaarige gewesen, der nicht bereit dazu gewesen war weiterzumachen wie bisher, denn die Bilder aus dem Traum der Vetala hatten ihn nicht losgelassen und in jeder bisher verstrichenen Nacht, hatten ihn Alpträume gequält in denen sich Clarence wieder und wieder das Leben genommen hatte. 

Es waren die grausamen Bilder aus der Bücherei, die sich in seine Erinnerungen gebrannt hatten und ihm - so sah es jedenfalls derzeit aus - die Unbeschwertheit genommen hatten, die er sonst im Zusammenleben mit Clarence besaß. 

Matthew war gewiss nicht dumm und es hatte nicht die Illusion dieser Wesen bedurft um ihm begreiflich zu machen, dass das Leben endlich war. Doch der junge Mann war ein Meister darin Sorgen und Ängste zu verdrängen. Dieses „Talent“ hatte ihm schon oft das Leben gerettet, denn es hatte ihm geholfen schreckliche Erfahrungen und schmerzvolle Erlebnisse zu vergraben und vorzugeben sie seien entweder überwunden oder nie geschehen. Eine ganze Siedlung namens White Bone hatte er in seinem Erinnerungen verscharrt. Nur ab und zu lugte ein blanker Knochen aus dem Fundament hervor der ihn ins Straucheln brachte wenn er zufällig darüber stolperte. 

Was Matthew insbesondere an jenem Ort an Grausamkeit erfahren hatte, hatte er größtenteils verdrängt, eine Art Selbstschutz die es ihm möglich gemacht hatte überhaupt weiterzuleben. 

Und obgleich man hätte meinen sollen, er habe schon weitaus schlimmeres gesehen und ertragen, als einen Alptraum, hatte das Erlebnis in der städtischen Bücherei ihn so tief schockiert, dass er die Erinnerung derzeit noch nicht verdrängen konnte. 

Der Tod seines Mannes hatte echt ausgesehen, sich echt angehört, sich echt angefühlt. 

Die unendliche Angst die er seitdem um Clarence hatte, wollte sich auch durch Vernunft und sinnvolle Argumente nicht zum Schweigen bringen lassen. 

Doch zumindest jetzt schaffte es der Zauber des Augenblicks, ihn für einen Moment nicht an das unausweichliche Ende denken zu lassen, sondern einfach den Moment zu genießen. 

Auch Matthew hatte die Nähe zu Clarence vermisst, hatte vermisst ihn zu berühren und von ihm berührt zu werden und als er spürte wie die fremde Nase sachte gegen seinen Nacken stieß, stellten sich die feinen Härchen an jener Region auf und eine zarte Gänsehaut bildete sich auf ihnen. Sie lief über seinen Rücken, die nackten Schultern und erfasste selbst noch seine Unterarme. Matthew erschauerte sacht und lehnte sich ein winziges Stückchen weiter zu Clarence. Lautlos schloss er die Augen und ließ sich in dem Gefühl fallen, welches der Größere in ihm heraufbeschwor.

Vorsichtig entzog Clarence seine Hand schließlich der von Cassie und dieser verharrte ungeachtet dessen. Er hätte sich nun aufrichten können, auf Distanz gehen, sein schnell klopfendes Herz wieder etwas zur Ruhe mäßigen. Aber das wollte er nicht, er wollte die Situation nicht auflösen und so wie die rauen Fingerspitzen ganz behutsam über seine Hand streichelten, seine Finger sacht tanzend liebkosten, spürte der Kleinere ganz genau wie der Hüne ihn gerade schwach machte. 

Der Bär von Mann, dem man nicht zutraute zärtlich und liebevoll zu sein, der Fremde mit einem scharfen Blick seiner kühlen Augen zum Schweigen bringen konnte und der gewiss schon mehr Menschen getötet hatte als so mancher Durchschnittsbürger... eben jener Mann war für den Kleineren das Seelenheil. Es mochte für Außenstehende absurd anmuten, aber Cassie fand in Clarence alles was er brauchte. 

Halt und Beständigkeit, Wärme und Verständnis, ein Zuhause das nicht auf Ignoranz und Lügen basierte, oder darauf keine bessere Option zu haben. 

Alles glitzernde Mehr was Cassiel hatte, hatte er nur wiederbekommen weil Clarence bei ihm war und es glitzerte auch nur in dessen Gegenwart. Matthew konnte weder selbst glücklich sein noch andere glücklich machen wenn der Blonde nicht bei ihm war. Ohne ihn war er ein Nichts und die ganze Welt war ohne Bedeutung. 

Es war Matthew nicht bewusst, wie wenig Clarence verstand warum er von ihm geliebt wurde, denn für ihn selbst war vollkommen unumstößlich, dass er ihm alles verdankte. 

Allem voran sein Leben - welches er ohne Clarence schon vor Jahren ausgehaucht hätte, aber vor allem sein Wille wieder in Menschen zu vertrauen, seine Unbeschwertheit und das Gefühl der Leichtigkeit. Vor noch nicht einmal einer halben Stunde hatte er noch allein in diesem Bett gelegen und gelesen, ernst und nachdenklich und mit diesem nagenden Gefühl der Beklemmung in der Brust. 

Doch schon in dem Moment als Clarence sich neben ihn gesetzt hatte, hatte sich die Anspannung und die Sorge begonnen aufzulösen. Der Größere machte ihn komplett und er nahm Matthew - ganz ohne es zu begreifen - die Fähigkeit sich bitteren Gedanken und Gefühlen hinzugeben. 

Wäre er nicht gewesen und hätte Matthew wie durch ein Wunder damals dennoch überlebt: der Dunkelhaarige wäre heute ein anderer Mensch als er es durch Clarence geworden war. Der Jäger hatte ihn Demut gelehrt, Treue und Respekt. Er hatte ihm beigebracht was es hieß Geduld aufzubringen und hartnäckig zu sein. 

Wirkliches Interesse an einer anderen Person zu finden, sich Irrtümer einzugestehen und von dem eigenen hohen Ross zu steigen... zu lieben hatte er ihm ebenso beigebracht wie sich lieben zu lassen, die wohl wichtigste Lektion im Leben überhaupt.

Clarence hatte Matthew weitaus nachhaltiger geprägt als alle Lehrmeister zuvor es es getan hatten - und von ihnen gab es in der Vergangenheit des jungen Mannes einige. 

All jene vermittelten Lektionen waren um ein Vielfaches bedeutsamer als Lesen und Schreiben zu lernen, weshalb Matthew sich zu keiner einzigen Sekunde dem Anderen überlegen gefühlt hatte. Was waren schon ein paar Buchstaben im Vergleich zu dem, was Clarence ihn gelehrt hatte und auf welche Reisen er ihn mitgenommen hatte?

Auf die wispernden Worte des Blonden erwiderte Cassiel nichts, doch vielleicht musste er das auch nicht, vielleicht verstand Clarence ihn auch schweigend. 

Verlegen schaute der Jüngere wieder auf die Seite im geöffneten Büchlein, als stünden auf ihr mehr Informationen als das ABC. 

Der Sanftmut des Blonden ließ sich Matthew geborgen fühlen und die Nähe welche Clarence aufrecht erhielt wurde auch durch Cassie nicht aufgehoben. 

Man konnte ihm anmerken, dass er den Augenblick genoss und das er weder angespannt war noch unsicher oder wankelmütig. 

Zart küsste Clarence die Stelle unmittelbar hinter seinem Ohr und beschwor damit erneut ein kleines verliebtes Schmunzeln auf die Lippen Cassiels. Die Geste war süß und voller Unschuld und so war schließlich auch der Blick des Jüngeren, als er den seines Mannes suchte. Ein wenig verträumt schaute er den Blondschopf an, jeden Zweifel ob der Richtigkeit des Moments vermissen lassend. 

„...Dafür brauchst du ein D, richtig...“ entgegnete Matthew leise und blickte zwischen den Augen des Größeren hin und her. „Hier...“, er tippte auf das niedergeschriebene D in dem Buch und betrachtete es einen kurzen Moment länger. 

„Ich...zeige dir noch einen wichtigen Buchstaben...“, fügte er schließlich nach einem Augenblick des Schweigens an und zog seine Hand unter der sanften Pranke seines Geliebten hervor. Den Bleistift legte er zwischen den Wölbungen der aufgeschlagenen Buchseiten ab, ehe er seine Hand über die von Clarence legte. Den Zeigefinger über dem des Größeren platzierend, malte er ohne Stift eine unsichtbare senkrechte Linie in das Buch, hob ihre beiden Finger und fügte einen schrägen Strich von oben an und einen sanft gebogenen von unten. Beide Linien trafen sich in der Mitte des imaginären senkrechten Strichs, wodurch aus dem I ein K wurde. 

„Das ist ein K...wie in...‘Kuss’.“  flüsterte er und wandte den Blick von dem Buch ab und sah stattdessen wieder zu Clarence. Sein Herz pochte schneller als üblich und Cassie war - im positiver Weise - ziemlich aufgeregt als er den Kopf ein Stückchen hob. 

Langsam näherte er sich den Lippen seines Mannes, wollte ihm Zeit lassen zu intervenieren falls er nicht das selbe wollte wie Matthew. Doch Clarence entzog sich ihm nicht und so hauchte der Kleinere schließlich einen behutsamen Kuss auf den Mund des Blonden. 

Es war nur ein kurzer Moment in dem sich ihre Lippen berührten, doch das Gefühl das sich sofort in seiner Brust ausbreitete machte Cassiel zittern. 

Verklärt öffnete er die Augen wieder, wurde sich erst da bewusst sie überhaupt geschlossen zu haben und sah Clarence aus nächster Nähe ins Gesicht. 

Oh wie sehr hatte er vermisst seinem Geliebten auf diese Weise wieder nahe zu kommen...Wie unendlich sehr...

 „Du hast mir...so gefehlt.“


Clarence B. Sky

In so vielen Dingen unterschieden sie sich, der weltgewandte Söldner und der wilde Barbar aus den Wäldern. Traf man auf sie beide, es schien beinahe, als wäre selbst so etwas Einfaches wie eine Freundschaft fast unmöglich.

Der eine war gebildet und wusste sich auszudrücken, er nutzte freie Zeit um sich durch Bücher zu wälzen und laue Abende, damit er im Bad Haut und Haar ins rechte Licht rücken konnte - immerhin war ein gepflegtes Aussehen das A und O nebst einem angenehmen Körpergeruch, der durch Tiegelchen und Cremechen unterstützt wurde.

Und dann war da Clarence, der unter dem Schutz von ausgehöhlten Baumwurzeln genauso gut schlief wie in einem Daunenbett und der sich nur deshalb angewöhnt hatte vor dem Schlafen seine dreckigen nackigen Füße zu waschen, weil ein gewisser jemand ihn sonst nicht mit unter die Decke ließ.

Die Unterschiede waren prägnanter als die bunten Bilder unter der Haut, die ihnen Ähnlichkeit verliehen; es gab keine Bücher über deren Inhalt sie sich unterhalten konnten, keine mathematischen Rätsel an welche sie sich gemeinsam setzten im abendlichen Schein der Öllampen an ihrer Decken und keine tiefgründigen Diskussionen über die opulenten Worte großer Missionare und Apostel, um gemeinsam die Grundsätze des Christentums zu leben.

Sah man sie beide beieinander oder kannte man sie sogar, man würde niemals darauf kommen, sie könnten zueinander gehören.

Doch über all dem vergaß man schnell eines:

Die Basis, auf der ihre Zuneigung zueinander gründete, war wertvoller und bedeutungsstärker als alles, was sie nicht miteinander gemein hatten.

Es spielte keine Rolle ob sie die gleiche Freizeitbeschäftigung mochten, solange sie die des anderen respektierten und trotzdem mit ihm teilten, um Zeit miteinander zu verbringen; es war nicht wichtig ob sie auf die Wuchsrichtung jedes Härchens Acht gaben oder weniger auf ihr Aussehen hielten, nur um dem anderen dadurch mehr zu gefallen.

Was zählte, das war einzig und alleine die Richtung in welche sie in ihrem Leben gehen wollten und jene, die war die gleiche.

Es waren dieselben Werte die sie schätzten, die gleichen Hoffnungen die sie trieben und das ernsthafte Streben nach Mehr, das sie von anderen abhob. Sie kämpften gemeinsam für die Zukunft, von der andere bis zu ihrem letzten Atemzug nur träumten statt ihr eigenes Glück in die Hand zu nehmen und das Vertrauen, von dem fremde Paare behaupteten es zu besitzen nur um es zu hintergehen wenn es doch eines Tages hart auf hart kam, lebten Matthew und Clarence aus, ohne auch nur für den Bruchteil einer Sekunde darüber nachdenken zu müssen. Der Christ würde ohne Bedenken sein Leben in die Hände seines Mannes legen und anders herum, da war er sich sicher, war es nicht anders.

Noch während seine Lippen auf der zarten Haut hinter dem Ohr des Jüngeren lehnten, da wusste Clarence, er hatte niemals einen anderen Menschen mehr geliebt als Matthew und es würde niemals jemand kommen, der seinem kleinen vorlauten Taugenichts den Platz an seiner Seite streitig machen konnte. Selbst nach all den wenigen Jahren und den vielen Monaten die sie sich schon kannten, machte Cassie seine Haut kribbeln, seinen Puls vibrieren und sein Herz schlagen, als würden seine Lippen zum allerersten Mal auf die Haut des Jüngeren treffen. Nicht nur ihre gleichen Vorstellungen zum Leben waren es, die sie perfekt füreinander machten, sondern ebenso die Anziehung, die sie beide immer wieder zueinander führte als würden sie sich gerade erst kennenlernen.

Die Phase der Verliebtheit, die bei den meisten schon nach einem halben Jahr oder weniger abflaute, hatte bis heute nichts von ihrer Faszination verloren und als sein Mann zu ihm schaute um Clarence zu betrachten als wären sie einander niemals zuvor so nahe gewesen wie heute Nachmittag, da war ihm das D in Matthews Heftchen völlig egal, ebenso wie der imaginäre Buchstabe, den der Jüngere auf sanfte und beinahe schon verträume Art und Weise mit seinem Finger zeichnete.

Voller Faszination betrachtete der Blonde das Profil seines Mannes, die tiefbraunen Augen in denen so viel Konzentration, Liebe aber auch Verlegenheit lag. Jeden kurzen Stoppel seines dunklen Bartes schien Claire zu kennen, das kleine Muttermal auf Cassies rechter Wange, jede der langen sinnlichen Wimpern und jede schmale Sorgenfalte aus der später mal ein wahres Charaktergesicht werden würde, wenn er Matthew in den kommenden fünfzig Jahren erst mal völlig um den Verstand gebracht und wahnsinnig gemacht hatte mit seinen unüberlegten Kamikaze-Aktionen, von denen bestimmt noch einige kommen würden.

All das wollte der brave, christliche Junge. Dieses unberechenbare Leben, die Höhen die er im Beisammensein mit Cassie empfand, aber auch die traurigen Tiefen die das Leben mit sich brachte. Wenn es etwas zu betrauern gab, wollte er keinen anderen Trost an seiner Seite haben außer Cassie und wenn der Bär glücklich sein wollte, wäre das ohne den Jüngeren in seinem Leben sowieso unmöglich.

Die vergangenen Tage voller Schweigen und Distanz waren grausam für Clarence gewesen, nicht etwa weil er den unbeschreiblich befriedigenden Sex vermisst hatte oder Cassies Stöhnen in ihrem Schlafzimmer – sondern den Jüngeren selbst, in seiner reinsten und ursprünglichsten Form. Er hatte sich nach der zarten Gänsehaut auf Cassies Armen gesehnt die er so gerne herauf beschwor, nach seinem leisen Seufzen wenn er seinen Mann schwach werden ließ und dem seichten Zittern der fremden Muskeln, wenn ein wohliger Schauer durch sie hindurch fuhr; und er hatte das eigene Kribbeln und Prickeln in seinem Innersten vermisst das damit einher ging, wenn sie diese unvergleichliche Nähe und Vertrautheit ineinander heran wallen fühlten.

Schon in jenem Bruchteil eines Augenblicks, als die Lippen des Jüngeren sich hauchzart an seine schmiegten, drängte sich ein wohliges Brummen Clarence‘ Kehle hinauf und ließ sein Herz schneller schlagen. Es war sowas von verrückt, dass Cassie es selbst heute noch schaffte ihn sich fühlen zu machen, als küssten sie sich zum allerersten Mal; als wäre das, was sie miteinander hatten, neu und frisch und unbedarft. Nichts nutzte sich ab, keine Berührung wurde bislang selbstverständlich zwischen ihnen oder verlor den Zauber, der von Beginn an zwischen ihnen gelegen hatte – und kein D oder K der Welt konnte den Blonden so sehr in seinen Bann ziehen, wie sein geliebtes C es tat.

Und du mir erst…“, entgegnete der gezähmte Bär deshalb leise, sich in den wohligen Schauern verlierend, die Matthew ihm über die Haut jagte. An manchen Tagen fiel es ihnen denkbar einfach ungezügelt übereinander her zu fallen, als hätten sie monatelang im Zölibat gelebt; nach einem Streit aber, wo sie tatsächlich für eine Weile mehr oder weniger getrennt voneinander waren – wenigstens emotional oder räumlich – da war es noch nie ihre Art gewesen, wild und hungrig miteinander umzugehen. Es war erstaunlich welche Sanftheit und Wärme sie füreinander aufbringen konnten wo die Welt um sie herum doch sonst immer Stärke forderte, aber gerade darin erkannte man, welchen Wert sie füreinander hatten.

Auch wenn er nur teilweise verstand warum sein Mann sich die letzten Tage so introvertiert zurückgezogen hatte und alles wollte, aber sicher nicht den Jüngeren verschrecken, so konnte Clarence nicht anders als sich weiter nach den warmen Lippen des Dunkelhaarigen zu verzehren, die Heimat und Geborgenheit für ihn bedeuteten. Ein kurzes Zögern war es, das ihn stocken ließ; doch keine dunkle Vermutung oder Angst konnte so groß sein, dass sie Clarence davon abhalten konnte sich nach seinem eigenen Mann zu sehnen.

Zart stupste er die Nase des Jüngeren mit seiner an, gab ihm nun ebenso seinerseits die Möglichkeit sich dessen zu verwehren was sich anbahnte und das sich am Ende aller Tage wohl doch nicht verhindern ließ. Ein Leben mit Matthew aber ohne Nähe zu diesem Mann… das war etwas dessen er sich stellen, aber nichts was er überleben würde, dafür brannte jede Faser seines Körpers zu sehr für den Dunkelhaarigen, für den er jede einzige Prinzipe aufgeben würde, wenn es sein müsste.

Vorsichtig haschte er nach Cassies Lippen, nahm sie für sich ein ohne sich ihnen aufzudrängen oder den fremden Mund in gieriger Manier aufzuspalten, wie es sich sonst zwischen ihnen ziemte. Derartig ausgeprägte Zärtlichkeit war selten zwischen ihnen, was es vielleicht sogar noch prickelnder machte; sie ließ alle Wege offen, sowohl einander wieder näher zu kommen nach all den Tagen ohneeinander, aber auch sich mit zunehmend weniger werdender Konzentration aber dafür wieder vereint dem leidlichen Alphabet zu widmen, das mit passenden Beispielen gar nicht mal sooo schwer zu verstehen war.

Ich denke, wenn du mich… für jeden Buchstaben, den ich richtig nenne… so küssen würdest…“

Zuckerbrot und Peitsche mochte bei vielen anderen funktionieren, nicht aber bei dem Jäger, der bereits vielerlei Lehrer jener Art hatte genießen dürfen – da kam ihm das Belohnungsprinzip für seinen Schlag von Mann wesentlich produktiver vor, da war er sich jetzt schon sicher.

…dann wäre ich ein wesentlich begabterer Schüler, als du vielleicht denkst… Was hältst du davon, mh…?“


Matthew C. Sky

Unterschiedlich waren sie beide wahrhaftig wie Tag und Nacht und es gab sicher auch eine ganze Reihe an ungewöhnlichen Schnittstellen, die dafür sorgten, dass sie letztlich doch perfekt füreinander waren. 

Doch das wahrscheinlich bemerkenswerteste an ihrer Beziehung war das Maß an Hamoniebedürftigkeit die sie unabhängig voneinander hegten, drehte es sich um den jeweils anderen. 

Die ganze Welt war feindselig und rau, überall und jederzeit musste man sich zu behaupten wissen. Vor Gewalt, vor Betrug, vor hinterhältig gelegten FalIen. Man durfte nicht zart besaitet sein, wenn es darum ging die eigenen Pläne umzusetzen und man durfte nicht anfangen an sich selbst zu zweifeln. 

Sie beide hatten den Widrigkeiten des Daseins bisher erfolgreich getrotzt, hatten einen Weg gefunden zu überleben und sich - notfalls auch mit Gewalt - durchzusetzen. 

Doch die Fähigkeit sich rücksichtslos über die Belange anderer zu erheben, fokussiert nur auf die eigene Person, erstreckte sich nicht auf den Bereich ihres gemeinsamen Lebens. 

Matthew würde jeden Kompromiss für seinen Bären eingehen, würde jeden Stolz über Bord werfen, jedes eigene Prinzip verraten. Für Clarence würde er alles her- und aufgeben was er hatte. Käme es hart auf hart, Cassie würde nicht auf seinem eigenen Standpunkt beharren und in Kauf nehmen, dass Clarence allein eine andere Richtung einschlug. Clarence war sein engster und gleichwohl stärkster Verbündeter und ihn aufzugeben hieße, sich selbst aufzugeben. 

Wie sehr sie einander nicht nur brauchten, sondern vor allem auch wollten, zeigte sich ganz besonders darin wie schlecht sie zurechtkamen, wenn etwas zwischen ihnen stand. In den zurückliegenden Tagen hatten sie einander vermisst obgleich sie eigentlich gar nicht voneinander getrennt gewesen waren.

Sie hatten sich das selbe Zuhause geteilt, das selbe Bett und sogar die selbe Decke. Was für andere Paare alltäglich war - nämlich Phasen der Entfremdung - war für beide jungen Männer unvorstellbar schmerzlich und schlimm und kein Zustand an den sie sich gewöhnen konnten. 

Die unausgesprochenen Gedanken und die in Worte gehüllten Erfahrungen des Jüngeren waren alles was zwischen ihnen gestanden hatte, weil sie nicht den Weg über Matthews Lippen gefunden hatten. Kein Donnerwetter oder Vertrauensbruch war vorausgegangen und doch hatte es ihre eigene kleine Familie belastet - und belastete sie noch immer. 

Die Dinge die in der gemeinsamen Illusion der Vetala passiert waren, hatten in Cassie etwas ausgelöst von dem er glaubte er müsse es erst noch mit sich selbst regeln, bevor er zur Tagesordnung übergehen konnte. 

Er wollte nicht, dass sich ihre Beziehung änderte, ihre Ziele oder Wünsche, aber gleichzeitig...tat er sich schwer damit nicht irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen. 

Die Art wie sie zusammen lebten war für ihn ein Novum, auch noch nach über einem halben Jahr Ehe. In Coral Valley hatten sie einander geschworen immer füreinander da zu sein, in guten wie in schlechten Zeiten und Matthew hatte irgendwie gedacht, sie wären wirklich für immer zusammen. Er hatte gar nicht erst die Möglichkeit erwogen, dass einer von ihnen beiden vor dem anderen sterben würde, dass zwangsläufig einer den anderen zu Grabe tragen musste und das der, der zurück blieb, mit dem Verlust leben musste. 

Seit ihm das bewusst geworden war, war ihm die Fähigkeit unbeschwert zu sein abhanden gekommen und allein dieser Verlust war es im Grunde, der sich in den letzten Tagen zwischen ihnen aufgebaut hatte. 

Vielleicht lag es an der verstrichenen Zeit, dass der Dunkelhaarige gegenwärtig seine Ängste etwas ausblenden konnte, doch viel wahrscheinlicher war es, dass Clarence’ Gegenwart ihm dabei half. Das zarte Stupsen der fremden Nase gegen seine war so viel mehr als nur eine sanfte Berührung. Es war eine Frage und zu gleich ein Statement. 

Die Frage danach ob es okay war weiterzumachen und die Aussage das Clarence selbst es gern tun wollte. 

Matthew wusste, er konnte jederzeit alles sagen und fragen was ihm auf der Seele brannte, doch während er den Atem des Anderen auf seiner Haut spürte, die lebendige Wärme seines Mannes fühlte und das wohlige Brummen zwischen den geschlossenen Lippen hindurch dringen hörte, da wollte er sich einfach nur an ihn schmiegen und machen, dass die Zeit stehenblieb. 

Dementsprechend wartete der Bär von Mann vergeblich darauf, dass Matthew die Nähe auflöste in dem er den Kopf zurückzog oder sonst in irgendeiner Form Distanz zwischen sie brachte. Das hier, die Intimität des Augenblicks, war alles was der Dunkelhaarige wirklich wollte und so war es nicht verwunderlich, dass er den behutsamen Kuss des Älteren zart erwiderte.

Auch er ließ seine Zunge nicht forsch gegen die Lippen seines Mannes drängen um diese ungestüm zu öffnen, sondern küsste Clarence mit liebevoller Zurückhaltung .

Es war die Unschuld jener Berührung die ihn sich fühlen machte als würden sie einander zum ersten Mal küssen und gleichzeitig genoss er das vertraute Gefühl der Liebkosung unheimlich. Egal wie viele Worte er verwenden würde um zu beschreiben was Clarence mit ihm machte, letztendlich würde keine Formulierung ausreichen um den beschworenen Empfindungen gerecht zu werden. Das Kribbeln in seinem Bauch und das elektrisierende Prickeln jeder Faser seines Körpers ließen ihn die düsteren Gedanken vergessen und schließlich lehnte Matthew sich etwas weiter zu den Lippen seines Geliebten hinüber ohne forscher oder einnehmender zu werden. Aber er wurde schwach und anschmiegsam in den Armen seines Mannes. Und wahrhaftig: Clarence betörte ihn einfach. 

Leise, ganz leise nur, seufzte Cassie in den zärtlichen Kuss während die sinnliche Röte seine Wangen einzufärben begann, wie es nur dann der Fall war wenn er sich auf ganz bestimmte Weise liebkost und wahrgenommen fühlte.

Nur zögerlich öffnete er seine Augen wieder, als die Verbindung ihrer Lippen sich wieder aufgelöst hatte und er suchte den Blick des Größeren. Jener Mann war so viel mehr und so viel wichtiger als alles sonst in Cassiels Leben und er wusste - wusste es mit unumstößlicher Sicherheit - dass er niemals damit aufhören könnte ihn bedingungslos zu lieben. 

Die Distanz der letzten Tage war kein Zeichen mangelnder Liebe oder mangelnden Vertrauens, sondern ein Abbild jener verzweifelten Zuneigung die alles andere in den Schatten stellte und mit ihr ging die Angst einher, Clarence eines Tages verlieren zu können. 

Im Blick der dunklen Augen lag diese Furcht jedoch gegenwärtig nicht. Stattdessen strahlten sie Aufregung und zu gleich ein gewisses Maß an Passivität aus. 

Anders als sonst sehr oft der Fall, kokettierte Cassiel gegenwärtig nicht, spielte weder Katz noch Maus und forderte Clarence auch zu nichts heraus. 

Und auch der Blonde war im Hier und Jetzt weder Lehrer noch wilder Bär, kein Fallensteller und kein Häscher. Es gab keine Jagd und somit auch keine Trophäe. Worauf ihre zarten Liebkosungen hinauslaufen würden war vollkommen offen und auch jene Offenheit trug ihren Teil dazu bei, dass die Situation eine gewisse Spannung besaß. 

Ein weiches Lächeln stahl sich auf Matthews Lippen als er Clarence‘ Worte hörte und er richtete sich etwas auf, was die Nähe vorläufig wieder ein wenig aufhob.

„Du willst also...für jeden richtigen Buchstaben einen Kuss?“, hakte er nach, ganz so als gäbe es die Möglichkeit eines Missverständnisses. 

„Wie nennt sich diese Lehrmethode? Ich bin nicht sicher ob die zulässig ist, immerhin....immerhin musst du dich bei den Übungen konzentrieren und ich bin nicht sicher, dass du das in angemessener Weise tun kannst wenn...“, kurz schweifte sein Blick von den glänzenden Augen des Blonden ab und heftete sich flüchtig auf die verführerischen Lippen. 

„...wenn du eigentlich nur daran denkst...geküsst zu werden.“

Der Vorschlag des Älteren war gelinde gesprochen schon etwas unverschämt. Erst tauchte er hier auf unter dem Deckmantel Bildung zu erfahren und kaum hatte er ein paar Buchstaben nachgemalt und nachgesprochen wollte er auch schon ein Belohnungssystem einführen. Ohne Frage ein frecher wie auch mutiger Schachzug. 

Und Mut sollte immer belohnt werden:

Andererseits... will ich deiner Begabung nicht im Wege stehen...“, erneut lächelte er zaghaft, noch immer den verträumt-verklärten Ausdruck in den Augen. 

„Also...lassen wir es auf einen Versuch ankommen.“, erklärte Matthew den Vorschlag des Blonden schließlich für zulässig und zwang sich dazu, den Blick endlich mal wieder nach unten in das Buch zu senken statt Clarence anzuhimmeln. 

Er räusperte sich kurz und versuchte seine Gedanken wieder zu fokussieren, wobei er die Sache längst nicht so ernst nahm wie man eigentlich hätte meinen können. 

„Nenn mir die Buchstaben die du kennst und schreib sie unter meine. Dann werden wir sehen wie begabt du in solcherlei Dingen wirklich bist.“

Wie gut oder wie schlecht jener Versuch ausgehen würde, dass war vollkommen egal. Es war nie wirklich darum gegangen Clarence das Lesen und Schreiben beizubringen... im Fokus hatte der Versuch gestanden wieder gemeinsam Zeit zu verbringen. 

Und jenes Ziel hatten sie beide dank Clarence längst erreicht. 

 


Clarence B. Sky

Es stimmte, harmoniebedürftig waren sie beide was den anderen anging. Ein gemeinsames Streben was dem Älteren neu war in einer Beziehung, aber von dem er trotzdem wusste, woher dieser plötzliche Drang kam.

Er war nie jemand gewesen, der sich mit jedem grün oder von allen geliebt sein musste. Schon in seiner Heimat und Jugendzeit war er für viele eine Art Außenseiter gewesen und nicht selten hatte Clarence es verstanden anzuecken; auch in seinem Clan, das war kein Geheimnis mehr zwischen ihnen, war er nicht mit jedem gut Freund. Es hatte keinen Grund gegeben sich beliebt zu machen, sich zu verhalten wie andere es von ihm erwarteten oder in der grauen Masse unterzugehen, um Differenzen zu vermeiden. Letztlich war er der Auserwählte vom Führer des Clans gewesen, ein Status für den man so oder so Feinde hatte, ob man das wollte oder nicht – und in seiner Heimat, in der die Dinge sowieso anders liefen als hier draußen… dort lagen die Höfe und Dörfer so weit auseinander, dass man die Missgunst der anderen eh nicht alltäglich zu spüren bekam.

Auch in seiner ersten Ehe, an die Claire sich nur widerwillig zurück erinnerte, war Harmonie nicht mehr gewesen als ein Wort und eine Strebsamkeit, die höchstens im Gottesdienst gepredigt wurde. Der Tag begann meistens schon im Streit und endete auch im Disput, einen gemeinsamen Nenner hatte es selten in den überschaubaren Jahren des Zusammenlebens gegeben. Mit Cassie allerdings…

Es war ja nicht so, als würde sich die heile Welt mit ihm einfach jeden Tag aufs Neue ergeben, so war es definitiv nicht. Genug Punkte zum anecken würden sie wohl finden, das stand fest.

Aber Clarence hatte die Zeiten des Kämpfens und des Streitens satt – nicht zuletzt deshalb da er begriffen hatte, es brachte ihn nicht weiter im Leben. Schon früh hatte er damit begonnen dem sinnlosen Zoff mit seinem Gefährten zu entgehen, indem er sich einfach umgedreht hatte und gegangen war bis die erhitzten Gemüter sich beruhigt hatten und auch heute noch verfiel er lieber in Schweigen, als sich in irgendetwas hinein ziehen zu lassen.

Viele mochten behaupten, dass Reibungspunkte und Auseinandersetzungen dazu gehörten um eine gesunde Partnerschaft zu führen, die sich weiterentwickeln und stabil bleiben konnte. Man musste Kämpfe bestreiten um aneinander zu wachsen und eine gemeinsame Basis zu entwickeln, man sollte lautstarke Streitigkeiten austragen, damit sich die Missgunst über die Jahre hinweg nicht aufstaute und irgendwann zum Supergau wurde.

Aber wer die Dinge so sah, da war Clarence sich unumstößlich sicher, der hatte niemals seine Familie, sein Heim und sein Glück verloren; dieser Mensch wusste nicht wie kostbar jeder einzelne gemeinsame Tag war, von denen man niemals wusste, wie viele man noch miteinander haben konnte.

Das Leben war rau und grausam, das hatten sowohl Matthew, als auch er selbst gelernt. Eine einzige Wendung reichte aus, damit alles verloren gehen konnte was man besaß und das Ende kam nie lautlos und ohne Chaos, auch das hatten sie am eigenen Leib erfahren müssen. Man wachte nicht einfach eines schönen Morgens auf und war mit sich alleine, hatte Ruhe und genug Selbstwertgefühl, um das Geschehene nüchtern zu betrachten und zu verarbeiten mit all der Zeit, die es benötigen würde.

Die Wahrheit war blutig und erbarmungslos und eben weil dem so war, weil alles von jetzt auf gleich vorbei sein konnte, nichts als verstörende Erinnerung und unbändigen Schmerz hinterlassend, wollte Clarence keine einzige Sekunde damit verschwenden, der Harmonie nicht zu frönen.

Suche Frieden und jage ihm nach, das riet einem schon eine Passage der Bibel und erst mit dem Dunkelhaarigen hatte Clarence verstanden, was das für ihn selbst hieß.

Selbst das neuerliche Aufrichten seines Mannes, mit dem eine räumliche, aber kaum nennenswerte Distanz erneut Einzug zwischen ihnen hielt, konnte die gelöste Stimmung des Blonden trüben und ein zart spitzbübisches Grinsen stahl sich dabei auf die Lippen des Jägers, unter dem er den anderen aufmerksam musterte.

Effektiv nennt sich diese Lehrmethode. Wusstest du das noch nicht?“, warf er kurzerhand ein, um keine Antwort verlegen wenn es um den erbetenen Lohn für seine unbeschreiblichen Mühen ging, und nahm mit Wohlwollen wahr wie die geliebten kandisfarbenen Augen für einen kurzen Augenblick hinab zu seinen Lippen wanderten. Matthew lag schon ganz richtig die Konzentration seines Bären zu bezweifeln wenn er am Ende nur an seine Belohnung dachte, aber es ließ sich nicht verhehlen, der Spross jener Aussicht war bereits auch schon in der Fantasie des Jüngeren gekeimt.

Ob er nun ernsthaft versuchen würde Lesen und Schreiben zu lernen war völlig dahingestellt und das Ergebnis von Matthews Lehren irrelevant, denn egal wie sehr sich der Jüngere anstrengen würde, um Bildung ging es schon lange nicht mehr und hatte es auch nie getan. Was Clarence wollte war Zeit mit Cassie zu verbringen, qualitative Zeit, anstatt nur nebeneinander her zu leben und ihm ein wenig nahe zu sein, ganz ohne sündhafte Hintergedanken im Anschlag – für die es sicher Zeit und Raum gab, aber nicht hier und jetzt.

Voller Unschuld leckte sich der Bär für einen Moment über die Lippen, seine Konzentration sammelnd um der Einwilligung seines Mannes wenigstens ansatzweise gerecht werden zu können und doch dreist genug um nicht nur sein Glück, sondern auch seinen Standpunkt ernst genommen zu werden aufs Spiel zu setzen.

Mit leisem Rascheln nahm er den Bleistift aus der aufgeschlagenen Buchmitte, drehte das Stück Holz ein paar Mal in seinen unvollständigen Fingern umher bis er den richtigen Griff gefunden hatte und kratzte im Anschluss geschmeidig über das Papier, sich seiner Sache ungewöhnlich sicher:

„B… C… und M…“, benannte er das Offensichtliche stolz, malte ohne zu zögern seine Striche und Kurven unter die Vorgaben die Cassie ihm zuvor gemacht hatte und ließ die bleierne Spitze vielsagend über die Spalten hinweg tippen, welche er erfolgreich gefüllt hatte.

„Und… K wie Kuss. Das sind vier an der Zahl, die es zu entlohnen gilt.“ – Fünf Stück sogar, wenn man das S mitzählte das er bereits konnte. Da sie im Büchlein bislang aber nur beim M angekommen waren und die neue Lehrmethode laut Matthew besagte, er hatte die Vorgeschriebenen zu wiederholen, würde er auf den S-Kuss wohl noch etwas warten müssen.

Abermals tippte er siegessicher auf die Seite auf seinem Schoß, hob seinen Blick abwartend zu Cassie empor und musste verdrossen den wenig begeisterten Blick feststellen, den er sich für seine überragende Leistung einfing. Recht offensichtlich wurde man hier nur für Dinge belohnt, die einem neu waren – da hatte Clarence die Rechnung wohl ohne den Wirt gemacht, auch wenn seine unverschämte, selbstlose Entlohnungs-Idee ansonsten gar nicht mal sooo schlecht gewesen war.

„Ist ja gut, ist ja gut… ähmm…“, die hellen Brauen leicht zusammenziehend, immerhin hatte er nicht mit derartigem Widerstand gerechnet was seinen Sold anging, senkte er – plötzlich unerwartet fokussiert – die Augen zurück auf das aufgeschlagene Papier vor sich und fuhr die Reihen überlegend mit der Spitze des Stiftes ab.

„Hier das ist… ein A… und das hier ein B…

So sicher und formschön wie er seinen eigenen Namen und die paar wenigen sonstigen Worte schreiben konnte, die Cassie nicht als solche akzeptierte, wo wenig fließend fielen ihm die bislang unbekannten Buchstaben, die völlig fernab dessen waren was der Blonde jemals hatte fabrizieren müssen. Schnell fiel dabei auf, seine ansatzweise Fähigkeit zu schreiben entsprang nicht etwa von Verstehen was er dort tat, sondern lediglich daher die Worte früher auswendig gelernt zu haben; die persönliche Handschrift, die sich eben noch gezeigt hatte, schlug sich nicht automatisch auch auf die nun zu lernenden Buchstaben übrig und was blieb waren die holprigen Versuche eines Ungeübten, wie sie von Anfang an zu erwarten gewesen waren.

D und… G?… und bei denen hier weiß ich’s nicht sicher, die sehen sich viel zu ähnlich“, gestand er ein, immerhin war das ganze Gekrakel wirklich ein wenig undurchschaubar wenn man es zum ersten Mal bewusst vor sich hatte.

Aufzeigend deutete er vom E zum F, die sich wirklich nur in einem einzigen winzigen Strich unterschieden und vom I zum J, die beide auch nicht besonders besser waren. Wenn man das Chaos in einem Buch stehen sah, wirkte kein Wort so wirklich wie das andere, aber einzeln gesehen…?

Dass Schrift aus lediglich so plumpen Stricheleien bestand kam Claire gerade reichlich unsinnig vor, immerhin war das I nichts weiter als ein Ausrutscher das man auch schnell als Dreck auf dem Blatt verkennen konnte.

Und das hier ist ein H. Das find ich ziemlich gut für den Anfang und wenn du mich fragst… kann man sich dafür schon den ein oder anderen Kuss mit K verdienen“, erinnerte er seinen Mann an den Grund für ihre Übung – auch wenn er die Schwerpunkte damit ganz offensichtlich verschob – und hob erstmalig wieder den aufmerksamen Blick vom Buch zu seinem Partner empor.

Und nach meiner Lernmotivation… da verrätst du mir, warum man Clarence mit ‚Tzeh‘ schreibt statt mit Kah. Das kommt mir nämlich reichlich unlogisch vor, oder lieg ich da falsch…?“


Matthew C. Sky

Ob nun effektiv oder doch eher frech auf die auserwählte Lehrmethode des Christen zutraf, offenbarte Clarence unmittelbar nachdem er den Stift wieder in die unvollständigen Finger genommen hatte. 

Zielstrebig und mit geübter Präzision schrieb er jene Buchstaben nieder die er bereits sicher beherrschte. Ein Schachzug von dem er entweder wirklich gedacht hatte Matt würde ihn nicht vorausahnen oder den er getreu dem Motto ‚Wer nicht wagt der nicht gewinnt‘ trotzdem versuchen musste. 

So oder so fing er sich von dem Jüngeren keinen Kuss sondern nur einen vielsagenden Blick ein, der das fragende Wörtchen ‚ernstlich?‘ wunderbar zu vermitteln wusste. 

Weder für das B und C noch für das M bekam er den erhofften Lohn, doch statt sich darüber zu echauffieren nahm Clarence sein Schicksal tapfer an als das was es war: unabänderlich. 

Matthew musste die Spielregeln nicht verbalisieren um sie deutlich zu machen und Clarence fügte sich nach kurzem Gemoser um sich - dieses Mal deutlich konzentriert - wieder seiner Aufgabe zu widmen. 

Während der Wildling also die Linien studierte und versuchte die zugehörigen Laute richtig zuzuordnen, studierte der Dunkelhaarige ihn. 

Die hellen Brauen die etwas zusammengezogen waren, die Falten der in Konzentration angespannten Stirn und das Glänzen der wachen, intelligenten Augen... all das waren so banale kleine Details, keiner Erwähnung wert und vielleicht noch nicht einmal bemerkenswert genug um wirklich wahrgenommen zu werden. 

Doch Matthew nahm sie wahr und für ihn komplettierten sie das Bild der Perfektion, die Clarence innewohnte. 

Die Art wie er überlegte, das Zögern in seinem Blick und die Konzentration in seiner ganzen Mimik. Es ging um nichts, aber der Blonde legte dennoch eine nicht zu unterschätzende Ernsthaftigkeit an den Tag, weil es für ihn eben doch um etwas ging. 

Es waren nur ein paar wenige Buchstaben die er sicher zuordnen konnte, aber es ging gar nicht so sehr um den Erfolg an sich, sondern darum dass er sich Mühe gab. 

Die Linien jener Zeichen, die Clarence heute frisch kennengelernt hatte, waren noch etwas holprig und ungelenk. Es fehlte die Routine, doch das war etwas das nur Zeit und Übung mit sich brachten. 

„...ein G, richtig...wie in Glaube oder Gott.“, erklärte Cassiel leise während er auf die Bleistiftspitze herunter sah. Zögerlich und krakelig schrieb Clarence den Buchstaben unter die Vorlage ehe er erneut ins Stocken geriet, weil ihm die Unterschiede zwischen E und F zu gering ausfielen um beide sicher voneinander unterscheiden zu können. 

Nachsichtig und zugleich stolz beobachtete Matthew wie der Größere auch noch das H niederschrieb und fing den aufmerksamen, optimistischen Blick seines Mannes ein, als dieser sein Werk vorerst beendet hatte. 

“Ich würde sagen, dass war richtig gut.“ , lobte er und lächelte, senkte den Blick wieder ins Buch und nahm, mit zarter Berührung den Stift aus Clarence‘ Hand. 

„Wegen dem E und dem F hast du recht. Die sind sich ähnlich. Aber was das I und J angeht, weiß ich was.“, er setzte die Bleistiftspitze am Ende des unteren Bogens des J an und verlängerte diesen schräg, sodass eine Schleife entstand welche die senkrechte Linie kreuzte. „Das J kann man auch so schreiben, so sehen sich beide Buchstaben nicht zu ähnlich.“, dunkle Kandiszucker-Augen sahen auf und erneut schenkte er Clarence ein selten gewordenes Lächeln. 

Der Größere machte ihn glücklich, doch die Melancholie und die Angst konnte er ihm nicht mehr zur Gänze nehmen, zumindest nicht die in seinem Blick. 

Ungeachtet dessen schuldete der Jüngere seinen Mann nach dessen Mühe wirklich einige Küsse und diesen Lohn wollte Cassie ihm nicht vorenthalten. 

Geschickt drehte er den Bleistift in seinen Fingern, sodass das stumpfe Ende vorne war und er es gefahrlos unter Clarence‘ Kinn legen konnte ohne ihn zu pieken. 

Behutsam dirigierte er den Kopf des Blonden zu sich heran, sah einen Moment verhangen in die blau-grauen Augen und genoss das stärker werdende Aufwallen des vorfreudigen Kribbelns in seinem Bauch. 

Langsam näherte er sich den fremden Lippen und legte schließlich- behutsam wie die Berührung von Seide - die eigenen auf den Mund seines Liebsten. 

Ganz zart küsste er Clarence, schloss die Augen und gab sich der sanften Berührung ihrer Lippen ganz bewusst hin. Wie sehr Matthew es genoss Clarence so nah zu sein, konnte der Wildling wohl nur erahnen und nicht einmal Matthew selbst begriff das Ausmaß seiner Sehnsucht. 

Clarence fühlte sich so wundervoll an, seine Lippen waren weich und anschmiegsam und Matthew wusste genau wie sie schmecken würden, würde er sich wagen die Zungenspitze  zart dagegen zu schmiegen. Aber auch das bekannte und doch noch immer faszinierende Kratzen des blonden Bartes verstärkte das Kribbeln in Cassies Bauch. 

Verträumt war sein Blick als er die Augen wieder öffnete und sich wieder von dem süßen Mund seines Geliebten löste. 

„K wie...Kuss...zum Ersten.“, wisperte er und lächelte vage, ehe er Clarence‘ Lippen neuerlich einfing und im Zuge dessen auch wieder die Lider senkte. 

In den zurückliegenden Tagen hatte derartige Nähe nicht zwischen ihnen stattgefunden, aber daran allein lag es nicht, dass Matthew sich derart zu dem Größeren hingezogen fühlte. 

Schon früh - sehr früh sogar - hatte er sich dabei erwischt sich in der Nähe des Anderen wohl zu fühlen. Er hatte zwar versucht aufmerksam und skeptisch zu bleiben - und hatte das auch nach außen hin zur Schau gestellt, aber Clarence hatte lediglich ganz zu Anfang ihres Kennenlernens zu spüren bekommen wie es wirklich war, wenn einem das geballte Misstrauen Matthews entgegenschlug. 

Es lag an der Art wie Clarence war, wie er seine Umgebung im Blick behielt, wie er schwieg wenn er nachdachte und wie er ohne zu Nörgeln seinen Weg verfolgte. 

Wie er auf Matthew geachtet hatte, obgleich sie sich nicht gekannt hatten. Sein Fleiß und sein Mut, sein Brummen wenn er überlegte oder etwas genoss... Jeder Geste und jede noch so winzige Mimik seines Gesichts, war Matt im Laufe der Zeit vertraut geworden und der Dunkelhaarige liebte alles an ihm. 

Noch in duzenden Jahren würde der Hüne seine Faszination nicht auf ihn eingebüßt haben. Die verstrichene Zeit der letzten Tage war also vielleicht ein Fragment, aber bei weitem nicht die Basis für die Innigkeit die sie gerade miteinander teilten und ohne die sie beide nicht auskommen würden auf Dauer. 

„Und...Nummer zwei...“, erst jetzt ließ er die Hand mit dem Bleistift sinken und legte das Schreibuntensil zwischen die aufgeschlagenen Buchseiten. 

„Clarence...“, nachdenklich hob er den Blick wieder von dem Alphabet und betrachtete den Blonden, dessen Namen noch auf seiner Zunge zu liegen schien.

 „Ich weiß nicht, warum man deinen Namen mit C schreibt... Es gibt manche Wörter... die schreibt man einfach wie man sie schreibt. Man lernt sie im Laufe der Zeit auswendig. Und was Namen angeht...hmm... da gibt es keine richtigen Regeln“, 

Immer wieder schweifte sein Blick über das vertraute Gesicht seines Mannes und verlor sich in winzigen Details wie den hauchfeinen Fältchen um seine Augen oder dem Bogen den seine Brauen machten. 

„Chaos...ist auch so ein Wort, man schreibt es mit C aber es spricht sich wie K. Oder...Cicero...ein römischer Philosoph...wird auch mit C geschrieben aber wie Z gesprochen.“, derartige Beispiele fielen ihm noch zu Hauf ein, aber sie waren dennoch die Ausnahme von der Regel. 

Irgendwann würde Clarence dahinter kommen, irgendwann würde er diese Namen und Schreibweisen kennen und richtig anwenden, doch darum ging es bei ihrer Übung gar nicht. 

Matt hob die Hand die eben noch den Bleistift gehalten hatte und strich mit ihr, nach einem winzigen Moment des Zögerns, eine kleine Haarsträhne des Blonden zurück hinter dessen Ohr. Es war nur eine kleine Geste, aber sie steckte voller Liebe und symbolisierte gerade auf ganz einfache Weise die Situation zwischen ihnen. 

Einerseits wollte Matthew den Kontakt, auf der anderen Seite war er zurückhaltend was die Intensität anging. 

Er atmete durch, lächelte verlegen und sah wieder nach unten. Der Größere machte ihn unsicher obwohl er gar nichts weiter tat und er machte ihn nach Dingen sehnen, die die letzten Tage nicht stattgefunden hatten. 

Auch die nachfolgenden zwei Küsse, die der wohlverdiente Lohn des Blonden waren, änderten an der Zurückhaltung des Jüngeren nichts. Er küsste seinen Mann umsichtig, verliebt und auf unschuldige Art und Weise, beinah so als sei jeder Kuss der Erste. 

Schließlich, die Lippen noch kaum von denen des Hünen gelöst, griff er nach dem Buch auf Clarence’ Schoß und legte es neben das Bett um sich stattdessen selbst dorthin zu begeben wo eben noch das Büchlein gewesen war. 

Ungefragt und ohne ein Wort darüber zu verlieren was er gerade tat, setzte sich Matthew auf den Schoß des Größeren, legte eine Hand an dessen Wange und suchte erneut dessen köstliche Lippen. Erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit, stahl sich dabei nun seine eigene Zungenspitze etwas hervor und schmiegte sich zart gegen das Lippenrot seines Mannes. 

Leise, fast unhörbar raunte Cassie just in dem Augenblick auf als er die Lippen des Blonden schmecken durfte und sein Oberkörper drängte sich kurz etwas gegen die Brust seines Liebsten, als die Sehnsucht für jenen Moment die Oberhand über die Melancholie gewann. 


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