Schlafkoje
15. Juni 2210
Ob Matthews Lob nun ernst gemeint war oder nicht, immerhin war die Anzahl der Buchstaben die der Blonde sicher niedergeschrieben hatte recht überschaubar, wusste Clarence nicht mit absoluter Sicherheit zu sagen. Vielleicht war seine Leistung tatsächlich gut gewesen für jemanden der keine Ahnung hatte, vielleicht war sie auch nur gut im direkten Vergleich mit einem lernbehinderten Trottel. Aber um die Begabung des Älteren ging es nicht und war es nie gegangen, eine Tatsache, die auch seinem Mann schnell bewusst geworden sein musste angesichts dessen, mit welchem verliebten Bedacht er sich in seiner Nähe verhielt.
Unter der Lehrstunde lag schon längst das angenehme Kribbeln elektrisierender Spannung die nur dann entstand, wenn zwei Menschen sich einander mehr als zugetan waren und ihre körperliche Nähe zueinander tat ihr übriges, damit sich bei Clarence schon jetzt hauchzart die Härchen seiner Arme aufstellten. Dabei hatte Cassie gar nicht wirklich etwas getan – seine bloße Anwesenheit reichte aus und seine Art, die schon immer auf besondere Weise auf den Blonden eingewirkt hatte.
Wie er mit ihm sprach, so ruhig und bedächtig, die Aufmerksamkeit die er seinem Mann schenkte und die pfiffige Art dem Älteren die Stolpersteine der Schrift ein wenig einfacher zu machen… der Bär brummte verstehend als Matthew versuchte ihm die recht ähnlichen Buchstaben differenzierbarer zu gestalten, dabei mit verlorenem Blick den fremden Fingern folgend.
Vermutlich wusste sein Mann nicht einmal wie schön er aussah wenn er einfach nur dort neben ihm saß, die vertrauten Finger um den Stift gelegt, mit sanftem Lächeln wieder zu ihm aufblickend. Das dunkle Haar zerwuselt von dem bequemen Tag, den er beinahe ausschließlich im Bett lesend verbracht hatte, gekleidet in sein legeres Hemdchen und die bequeme Hose. Der schwarze Stoff verdeckte mehr als er für Clarence offenbarte, hob allerdings gerade deshalb die definierten Arme hervor in denen der Jäger so gerne lag und die sinnlich geschwungenen Schlüsselbeine, welche sich ganz besonders zärtlich küssen ließen bevor sie abends, eng aneinander geschmiegt, die Augen schlossen um in tiefe Träume zu versinken. Schon recht früh nach ihrem Kennenlernen hatte Claire feststellen müssen welch prägende Faszination der Anblick des Unbekannten auf ihn ausübte und dafür war es nicht mal annähernd nötig gewesen, dass der andere sich zum Umziehen entkleidete. Es waren seine Statur, die Art wie er sich bewegte, die Blicke die Cassie ihm dann und wann zuwarf… ein Zauber der bis heute anhielt und ihn noch mehr in seinen Bann zog, als sich das Ende des Bleistifts unter sein Kinn legte.
Ein verhangener Schimmer legte sich über die blaugrauen Iriden des Bären kaum da er von dem Buch aufsah und ihre Blicke sich trafen und just in diesen Moment verstand Clarence mit jeder Faser seines Leibes wie es sein konnte, dass dem Jüngeren die Leute willig zu Füßen lagen und Cassie auf ihren Reisen abends nur selten alleine irgendwo hin verschwunden war. Matthew wusste die Menschen zu bezirzen, auf ganz natürliche Weise, ohne dabei aufgesetzt oder gar berechnend zu wirken und auch nun, das legten die vergangenen Tage nahe, ging es seinem Mann nicht bewusst darum seinen Bären zu irgendetwas zu verführen oder ihn gar zu necken. Das zarte Knistern zwischen ihnen war weder forciert noch durch ernsthafte Romantik oder Erotik herauf beschworen und doch seufzte Clarence leise auf, schon jetzt sein Herz schneller schlagen spürend, obwohl ihre Lippen einander noch kaum berührten.
Matthew zu küssen hatte heute, Monate nach dem ersten Kuss und tausende später, keinen Deut von seiner Magie verloren. Egal ob er dabei die Zunge des Jüngeren zu schmecken bekam, sie sich wild und gierig küssten im Taumel der Lust oder einfach nur beinahe barsch wie im Schatten der Baumwurzeln vor drei Tagen, schlicht und ergreifend glücklich darüber sich wieder zu haben… Sobald sich ihre Lippen berührten, spürte Clarence die Liebe genährt, welche er für diesen Mann empfand und dass es keinen anderen auf der großen weiten Welt gab, von dem er seine Sehnsucht gestillt wissen wollte. Er brauchte keine anderen Männer nach denen er sich umblicken konnte, noch wollte er in anderen Armen außer denen liegen, die zu Matthew gehörten. Alles was er brauchte, fand er an der Seite seines Mannes und was noch wichtiger war: Egal wonach er sich verzehrte, er wusste, Cassie war bereit es ihm zu geben und wenn es unbekannte Pfade waren, die zu beschreiten es ihn reizte, der Dunkelhaarige würde sie mit ihm gehen, ganz egal was sie am Ende der Reise finden würden.
„Mh…?“, entfleuchte es dem Blonden, kaum da ihre Lippen sich voneinander gelöst hatten und der Stift wieder zwischen den beiden Hälften des aufgeschlagenen Buches lag. Sich deutlich angesprochen fühlend ob der Art, mit der sein Mann nachdenklich seinen Namen ausgesprochen hatte, brauchte er eine geraume Zeit um zu begreifen, das leise ‚Clarence‘ war nichts weiter als ein Bogen den Cassie zurück zur ursprünglichen Frage schlug; auf ihre Übungen konnte sich der Bär schon lange nicht mehr konzentrieren und er bezweifelte die Kraft dafür zu besitzen, wenigstens so zu tun als ob.
Wie sich Chaos oder Cicero schrieben entzog sich unlängst seiner Aufmerksamkeit, stattdessen hingen seine Augen an den fremden Lippen die sich beim Reden schier tonlos bewegten und die ihn bis eben noch so verführerisch weich geküsst hatten. Manchmal, da schien die Zeit still zu stehen und alles was blieb war das warme Leuchten das Cassie umgab, wenn der Blonde seine Liebe zu ihm in jeder Pore seines Leibes pulsieren spürte und als würde jener ahnen was gerade in ihm vorging, da gab er dem Älteren genau das, was seine sehnenden Lippen am meisten brauchten.
Raunend schloss Clarence die Augen und lehnte sich dem anderen entgegen, sich zärtlich in den belohnenden Küssen verlierend die er sich erfolgreich ausgehandelt hatte und welche doch schon lange nicht mehr nur der Sold für erbrachte Leistung waren. Sanft wehte ihm das Kribbeln erneut aufwallender Gänsehaut die Arme empor, ergoss sich über Nacken und Rücken und kaum dass es ihm erschien, als hätte er seine Entlohnung nun vollends eingestrichen… da machte sein Mann, dass alles von A bis M aus dem Gedächtnis des Blonden radiert wurde.
Bis auf das Rascheln von Kleidung und Bettwäsche legte sich kein Laut über den Raum; es bedurfte keiner Worte und keiner kurzen Silben um einander verstehen zu machen, wie sehr sie sich in den vergangenen Tagen nacheinander gesehnt und sich vermisst hatten, selbst wenn sie nicht wirklich getrennt voneinander gewesen waren. Zu schnell konnte ein einzelner falsch ausgedrückter Satz die zaghafte Annäherung zwischen ihnen zerstören und warum reden, wenn man genauso gut spüren machen konnte?
Bedächtig legte der blonde Bär seine kräftigen Pranken auf den rahmenden Schenkeln seines Mannes ab, streichelte warm über die straffen Muskeln des Jüngeren und brummte genüsslich auf, kaum da die fremde Zungenspitze sich warm gegen seine Lippen schmiegte um das vertraute Rot aufzuspalten, das sich sofort willig für den Jüngeren öffnete um ihm Einlass zu gewähren.
Niemals in seinem ganzen Leben würde Clarence vergessen wie der Mann den er liebte schmeckte oder wie sich dessen Zunge windig an seiner eigenen anfühlte und doch schien die Liebkosung neu und aufregend, ganz so als hätte er Matthew niemals zuvor auf diese Weise erleben dürfen. Ein sehnsüchtiges Brummen drängte sich die bärtige Kehle des Größeren empor, das davon sprach wie schwer es ihm fiel seine sonst so frechen Finger in unschuldigen Gefilden zu lassen und dennoch schaffte er es, sich zu beherrschen – immerhin war weitläufig bekannt dass kleine Böckchen Fluchttiere waren und so auch sein eigener Ehemann, dem man aufgrund seiner vorsichtigen Zurückhaltung anmerkte, ihre plötzlich wiedergekehrte Nähe schien noch lange nicht in Stein gemeißelt.
Cassie wieder bei sich zu spüren, die sich hebende und senkende Brust an die eigene geschmiegt und den Geschmack der fremden Zunge auf der eigenen liegend, machte Clarence erst jetzt begreifen wie sehr er sich nach dem Jüngeren sehnte. Nach seiner Zuneigung, der ungeteilten Aufmerksamkeit Matthews; danach ihn zu berühren und ebenso von ihm berührt zu werden. Er wollte den Dunkelhaarigen riechen und schmecken, wollte hören wie das leise Raunen seines Mannes das kleine Schlafzimmer einnahm, auf dass Cassie alle Sinne des Blonden durch sich vereinnahmte und es schien einem kleinen unerklärlichen Wunder gleich, woher Claire die Beherrschung nahm die unsichtbare Linie nicht einfach zu überschreiten um sich zu nehmen, wonach er so sehr begehrte.
Nur ganz zart hob er die Lider, offenbarte den verhangenen Schleier der sich in seine Iriden geschlichen hatte und ließ den Blick für einen Moment über das vertraute Antlitz seines Partners gleiten, bevor er dessen Lippen erneut suchte um sich am lieb gewonnenen Geschmack seines Mannes zu berauschen. Seine großen Hände waren dabei auf Wanderschaft gegangen und hatten es zwar geschafft sich vor den delikaten Rundungen des schönen Gesäßes zu bewahren der auf seinem Schoß ruhte – nicht so allerdings vor der warmen weichen Haut der fremden Flanken, die sich vor dem Bären unter dem dunklen Hemdchen verbarg.
Er wollte Matthew sagen wie schön er war, wie sehr er von seinem blonden Wilden geliebt wurde und wie sehr er sich in den vergangenen Tagen nach ihm gesehnt hatte; doch kein Wort dieser Welt würde auch nur annähernd beschreiben können was er für den Jüngeren empfand, der ihm so viel mehr bedeutete als alles andere, was er besaß. Stattdessen streichelten seine kräftigen Pranken die zarte Haut unter dem schwarzen Hemd hinauf, genoss die definierten Partien die in die breiten Schultern seines Mannes überliefen und versenkte, an den Schulterblättern angekommen, ganz behutsam ein wenig die Nägel im Leib des Jüngeren um hingebungsvoll den vertrauten warmen Körper auf dem Rückweg ein wenig dichter an sich zu drängen.
Egal was Cassie sich wünschte oder was er bereit war zu geben, Clarence war in diesem Moment alles recht so lange Matthew nur nicht wieder diese unliebsame Distanz zwischen sie brachte, an welcher der Bär früher oder später ganz sicher zerbrechen würde… so viel stand fest.
Zu behaupten, Cassie wüsste nicht um seine Wirkung auf Andere, wäre eine glatte Lüge gewesen, so dreist, dass vielleicht nicht mal er selbst es gewagt hätte sie ernsthaft zu behaupten.
So wie Clarence auf einen breiten Erfahrungsschatz in Sachen Spuren lesen, Exorzismen und Jagd-Techniken zurückgreifen konnte, so hatte Matthew reichlich Erfahrungen damit wie er an seine Ziele kam. Es fiel ihm leicht, andere um den Finger zu wickeln und es stellte auch kaum eine Herausforderung dar sich jemandem anzunähern um Informationen oder Zugang zu bestimmten Kreisen zu erhalten.
Er wusste, dass sein verwegenes Aussehen auf viele anziehend wirkte und er hatte ein Näschen dafür andere einzuschätzen um zu wissen was derjenige wollte. Einen raubeinigen Betrüger konnte er ebenso überzeugend spielen wie einen charmanten Abenteurer oder einen missverstandenen Melancholiker und Träumer. Er konnte derjenige sein der die Jungfrau in Nöten vorm Drachen rettete, oder der mysteriöse Schurke der die Prinzessin aus ihrem Turm raubte - dabei selbst den Drachen reitend, vor dem die Schöne sich eigentlich fürchtete.
Ohne Frage war eines von Matthews größten Talenten das, anderen genau das zu geben wonach sie sich sehnten - bewusst oder unbewusst - und er gab es ihnen so natürlich und überzeugend, dass man einfach auf ihn hereinfallen musste.
Zu sagen, dass er also nicht dann und wann bewusst damit kokettierte und ganz gezielt seinen Bären reizte und ihm den Kopf verdrehte, wäre Unfug - denn von Zeit zu Zeit tat er das wirklich. Doch heute war keiner dieser Momente. Der zarte Kuss diente nicht dazu Clarence hörig zu machen oder ihre Begegnung in irgendeine bestimmte Richtung hin zu manipulieren. Tatsächlich war der Dunkelhaarige gerade vollkommen bei sich selbst und er hörte nur auf das, was ihm Herz und Körper zuflüsterten. Er wollte dem Wildling nahe sein, wollte seine Lebendigkeit spüren, seiner Liebe gewahr werden. Er wollte ihn schmecken und er wollte ihn fühlen, wollte die Gänsehaut aufrecht erhalten die auf seinen Armen lag ebenso wie das Kribbeln in seinem Bauch.
Es ging ihm nicht darum seinen Mann zu verführen, ihm zu geben was er sicherlich wollte oder ihn für sich zu gewinnen - denn ganz gleich wie distanziert die letzten Tage auch verlaufen waren, so wusste Matthew doch mit unumstößlicher Sicherheit, dass er Clarence längst für sich gewonnen hatte.
Sie verband mehr als nur eine flüchtige Schwärmerei füreinander und es bedurfte keiner Gefälligkeiten oder Beweise um ihre Beziehung aufrecht zu erhalten.
Behutsam schoben sich die Hände des Größeren unter sein dunkles Unterhemd, eine Berührung die zwei völlig konträre Botschaften übermittelte. Zum einen steckte etwas besitzergreifend darin und zum anderen ging der Blonde so umsichtig vor, dass Cassie sich weder gehetzt noch zu irgendetwas gedrängt fühlte.
Wie so oft, hatten sie ihr ganz eigenes Tempo und ihre ganz eigene Art die Dinge zu genießen und sich entwickeln zu lassen, es gab keine imaginären Vorgaben an die sie sich halten mochten oder ein Protokoll das ihre Handlung vorgab.
Ein leises und wohliges Seufzen wehte über Matthews Lippen als der Größere ihn etwas fester an sich presste während sie einander küssten und sich einfach nur Gutes taten. Der Dunkelhaarige neigte etwas den Kopf zur Seite, löste sich von den fremden Lippen und küsste stattdessen behutsam das bärtige Kinn des Hünen.
Das Gesicht seines Mannes mit beiden Händen umfangend, zwang er seinen Liebsten dazu ihn anzusehen und für die Dauer da sich ihre verhangenen Blicke trafen, las Cassie jene unbändige und bedingungslose Liebe in den Augen des Größeren, die er noch nie in einem anderen Paar Augen gesehen hatte.
Schwärmerei und süße Verliebtheit waren ihm bekannt, solcherlei Emotionen hatte er schon öfter erkannt, wenn man ihn ansah. So manches Mädchen war in ihn vernarrt, so mancher junge Kerl von trunken vor Hormonen. Es gab diejenigen die ihn mochten ohne ihn zu kennen und es gab jene die zumindest ein Stück weit wussten wer er war. Manche davon mochten in ihn verliebt gewesen sein, aber niemand - ausnahmslos keiner - hatte ihn je so angesehen wie Clarence ihn anzusehen pflegte.
So voller Hingabe, so voller Wärme, so voller endloser Güte und Liebe. Egal was in der Vergangenheit passiert war, der Blonde verurteilte ihn nicht und er würde ihn nicht verlassen. Wenn Clarence ihn so ansah wie er es gerade tat, dann wusste der Kleinere mit unumstößlicher Sicherheit, dass sie beide füreinander geschaffen waren und dass sie die gleichen Gefühle füreinander hegten. Gefühle die jenseits von Vernunft und Logik lagen und denen nicht beizukommen war durch verstreichende Zeit.
Es mochten Jahre und Jahrzehnte vergehen, Matthew würde nie aufhören Clarence zu verehren und der Größere wiederum würde nicht nachlassen in Matthew das Kostbarste auf der Welt zu sehen.
Jene allumfassende und unerschütterliche Liebe war nicht selbstverständlich, viele Menschen suchten ein Leben lang nach einem Partner mit dem sie eine solche Beziehung eingehen konnten...und fanden sie nicht.
Zärtlich strich Cassie mit dem Daumen über die Lippen seines Mannes, zeichnete erst die Kontur der Oberen und dann die Linie der Unteren nach. Verliebt betrachtete er ihn und doch lag in seinem Blick auch der bekannte, unterschwellige Kummer.
Er hatte keine Schätze die ihm etwas bedeuteten, nur Clarence und ihn hatte er sterben sehen und der Schmerz den jenes Erlebnis ihm zugefügt hatte war noch immer präsent. So viele Menschen hatte er schon verloren, so viele Verluste erlitten und überlebt - aber Clarence' Verlust würde er nicht überleben, niemals.
"Du darfst nicht verschwinden...", sagte er leise. "Verstehst du mich?", eindringlich und beschwörend.
"Schwöre mir....schwöre mir, bei meinem Leben, dass du mich nicht allein zurücklässt, ganz egal was passiert."
Im Zweifel, das war Cassie klar, würde es nichts bringen den blonden Bären auf sein eigenes Leben schwören zu lassen.
Das Leben welches ihm wichtiger war als das eigene, war Matthews.
„Ich habe dich nicht mein ganzes bisheriges Leben entbehrt, nur um dich wieder zu verlieren.“ - Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören, auch wenn er nach wie vor leise redete.
Er war nicht zornig auf den Größeren, die letzten Tage über hatte er ihn nicht bestrafen wollen noch hatte er die Distanz zwischen ihnen gewollt.
Was den Vorfall vor wenigen Tagen betraf so war Matthew vor allem eines: verunsichert.
Hätte sein Mann sich geirrt, hätten sie beide den Freitod gewählt ohne Sinn, sie hätten weggeworfen was sie hatten ohne Möglichkeit einer zweiten Chance. Für den Blonden mochte sich alles langsam erschlossen haben, er hatte Logik hinter seinem Tun erkannt – aber für Cassie galt das nicht. Für ihn hatten sich die Ereignisse in der Bücherei überschlagen, eben hatten sie noch nach den Büchern gesucht und plötzlich klebte das warme Blut seines Mannes in seinem Gesicht, während Clarence tot in sich zusammensackte.
Die Plötzlichkeit dieser Handlung hatte den Dunkelhaarigen völlig überfordert und auch wenn er im Nachhinein den Schritt als Notwendigkeit einsah, änderte es nichts an seiner Angst, alles könnte sich wiederholen. Jeder schöne Moment konnte im Grunde Illusion sein und er wusste nie wann Clarence sich das nächste Mal vor seinen Augen tötete – sich vielleicht eines Tages irrend, ob Traum oder Realität vorherrschte.
Behutsam legte Cassiel seine Lippen erneut auf die seines Geliebten, hauchte einen zarten Kuss auf sie noch bevor Clarence dazu gekommen war zu antworten. Er liebte diesen Mann, liebte ihn so sehr, dass es ihn schlicht und ergreifend innerlich auffraß jeden einzelnen Tag und jede einzelne Stunde um sein Leben fürchten zu müssen.
„Sag es und mein es…“ und weil das nicht auszureichen schien, korrigierte sich der Jüngere gleich selbst.„Nein…schwör es…“, flüsterte er gegen den eben geküssten Mund, die eigene Stirn an die seines Mannes gelegt und die dunklen Augen voller Sorge und Furcht.
Noch in dem Moment, wo sich Matthews Hände behütend an seine Wangen legten um den Blick des Älteren hinauf zu beschwören, stand die Zeit still.
In Clarence‘ Augen lag der verhangene Nebel von Betörung, von verführerischem Prickeln aber auch von der unbeschreiblichen Liebe, welche er für seinen Geliebten empfand. Wie eine Erscheinung saß er dort auf seinem Schoß, der schöne Mann mit dem dunkelbraunen Haar und den tiefsten Augen der Welt, in der sich alles und nichts ablesen ließ. Wer Cassie nicht kannte, der würde niemals im Kandisbraun etwas erkennen können das nicht für ihn bestimmt war aber für Claire… da eröffnete sich in den Iriden des Jüngeren eine ganze Welt, in der er sich verlieren wollte.
Dort fand er Vertrauen, Hingabe, flammende Leidenschaft in sündigen Stunden und eine Art der Zuneigung, wie sie niemals ein Mensch zuvor für den einstigen Fanatiker empfunden hatte. Er fand dort ein Zuhause das nicht abhängig war von Ort oder Zeit; aber auch Schutz in den meist unerwarteten Augenblicken, etwa dann wenn er sich eigentlich um seinen Ehemann kümmern sollte, als dass Cassie Rücksicht auf ihn hätte nehmen müssen. Noch immer erinnerte er sich daran wie Matthew auf dem Dachboden des Quacksalbers von Cascade Hill City das erste Mal seine schweren Lider gehoben hatte, wie sich Wiedererkennen darin ausbreitete… und welche Fürsorge sich dabei im Blick seines Geliebten niedergeschlagen hatte angesichts der Sorge und Verzweiflung, die damals den Bären in ihrem unerbittlichen Besitz gehalten hatte.
Der junge Mann, der damals schwer verletzt an einem Baum gelehnt hatte um ihn zum Teufel zu jagen, war schon lange nicht mehr existent und was blieb war Matthew. Ein Mensch der ihn liebte, mehr noch als sein eigenes Leben und ein Mann den Clarence bedingungslos zu lieben in der Lage war, frei von Scham oder einem schlechten Gewissen. Alles was der Jäger heute war, war er nur dank Cassie – er hatte ihn zu einer besseren Version seiner selbst geformt, ein Meisterwerk zu dem kein anderer Mensch jemals fähig gewesen wäre, da war Claire sich sicher.
Ein weiches Lächeln legte sich über die von fremden Fingern sanft gestreichelten Lippen, eine Geste so fein und voller Liebe, dass man hätte meinen müssen, sie wäre dazu in der Lage den seichten Kummer der vertrauten braunen Augen endlich zu zerstreuen und Cassie wieder zu dem zu besinnen, was wirklich wichtig war: Das Hier und Jetzt, das zu genießen was sie hatten und nicht jenes zu fürchten, was eventuell vielleicht irgendwann mal sein würde. Hier, unter den schützenden Händen seines Mannes, war er heil und behütet; nichts konnte ihm auch nur ein einziges Haar krümmen und das einzige, was sie würde auseinander bringen können, waren sie selbst, wenn sie es doch zu ließen.
Die Zeit, die still stand und sogar die flimmernden Partikel der wärmenden Nachmittagssonne still in der Luft verharren ließ, tauchte das Haupt des Jüngeren in warmes Gold und verlieh ihm etwas Heiliges von dem Clarence sich sicher war, der freche Taugenichts würde darüber lachen und Skepsis ob seiner Frommheit bekunden, erzählte der Christ ihm davon. Er wollte diese friedlichen Sekunden am liebsten konservieren um sie für alle Ewigkeit in seinem Herzen zu bewahren; dass die Dinge im Leben aber immer einfacher gedacht als getan waren, bewies sein Mann ihm nur wenige Herzschläge später, als er die Trauer einlud sich zu ihnen in die heile Welt ihres Schlafgemachs zu gesellen und kein Kuss dieser Welt würde diesen Gast schweigen machen können, waren die Lippen seines Geliebten auch noch so warm und weich.
Jene Furcht, von der Matthew sprach, kannte der Blonde nur zu gut und das Vergangene lag auch nicht weit genug zurück um zu verkennen, woher die Verhaltenheit des Jüngeren plötzlich rührte. Es war kein Spinnengift und kein Stein gewesen, der ihre frohen Zukunftshoffnungen auf den Prüfstand gestellt hatte, nur um sich am Ende – zum Glück – doch als tiefes Tal zu erweisen, nach dem ein blühender Gipfel voller Glückseligkeit folgen würde. Matthew hatte dem Tod in die Augen geblickt, zwar im Nachhinein als verstörender Traum entlarvt, in seiner Gewalt aber dennoch brutal und erbarmungslos mit der Wucht. Er hatte den Jüngeren überrollt, ähnlich einem alles vernichtenden Stein, der seinen Ruhepunkt erst auf dem Herzen des jungen Mannes wiedergefunden hatte um dieses ausbluten zu lassen… und dagegen gab es kein Heilmittel der Welt, nicht mal im endlosen Kräutergarten des kundigen Schamanen.
Was Matthew erlebt hatte, war endgültig gewesen. Grausam und zerstörerisch, aber auch desillusionierend auf eine Weise, wie es nur bei Verliebten der Fall war, die bislang nicht in der Lage gewesen waren über den begrenzten Rand ihres eigenen kleinen Tellers hinaus zu blicken, in dem die Welt noch heil und in Ordnung war. Cassie kannte das Leid der Welt und er wusste wie es sich anfühlte wenn das eigene Herz brach, ganz ohne Frage; aber das Gefühl denjenigen zu verlieren, den man erstmalig mehr liebte als das eigene Leben, das war eine völlig neue Erfahrung für den Dunkelhaarigen von der Clarence sich nicht anmaßen durfte, ihn dafür zu verurteilen.
Noch während die Stirn seines Mannes an seiner lehnte, musterte Claire die vertrauten Augen und versuchte darin zu erkennen ob Cassie die Tragweite dessen verstand, was er von ihm forderte. Keiner von ihnen wollte alleine zurück bleiben, so viel stand fest; ihn niemals alleine zurück zu lassen hieße aber auch, dass Clarence schwören würde nicht vor dem Dunkelhaarigen abzutreten und seine Hand dafür ins Feuer zu legen, das Ende seines Partners miterleben zu müssen.
Sanft schoben sich seine starken Hände weiter unter dem Hemd des Jüngeren hinauf und zogen Matthew in eine innige Umarmung, unter der Claire seine Stirn hinab an die Halsbeuge Cassies sinken ließ um sich dort vor der Welt zu vergraben. Es hatte schon so viel Leid in seinem Leben gegeben; unzählige Bilder, die sich unwiderruflich in seine Erinnerung eingebrannt hatten und die er nie wieder los werden würde von den Menschen die er einst geliebt hatte und die ein furchtbares Ende gefunden hatten. Er erinnerte sich an den Anblick seiner Eltern, die geschändet und ausgeblutet den Boden der Stube geziert hatten, nachdem der kleine Bartholomy Jr. ihnen beim Sterben hatte zuhören müssen… und noch heute spürte er die Hitze des Feuers auf seiner Haut wallen, das nicht nur Benedict, sondern auch Ruby-Sue verzehrt hatte. Seine Kinder, unschuldige kleine Wesen, bildeten den Höhepunkt seiner Entbehrungen, die den einstmals starken Mann nachhaltig gebrochen hatten. Clarence würde alles für seinen Mann tun, jedes Risiko wagen – aber die Kraft und den Mut finden ihm zu schwören, sich freiwillig auch noch das Ableben Matthews anzutun?
Lautlos drängte Clarence das spitze Näschen gegen den Hals des Jüngeren, sog dessen vertrauten Duft ein und hauchte schließlich einen sachten, behutsamen Kuss auf die warme Haut seines Mannes, den er mehr liebte als alles was er besaß. Es hatte einen guten Grund, dass Cassie von ihm verlangte auf dessen Leben zu schwören statt auf das eigene, immerhin kannten sie sich bereits eine ganze Weile und so die Prioritäten des Blonden lagen, war somit offensichtlich.
„Am Anfang, da dachte ich immer… ‚Jetzt heiraten wir völlig blauäugig und in ein paar Tagen setzen wir das Boot in vollem Übermut noch vor Coral Valley vor die Klippen. Bestimmt sterben wir noch beim Aufprall oder ertrinken ganz elendig, aber immerhin werden wir das dann zusammen tun‘.
Und als wir aus dem Spinnenfeld draußen waren und es mir so schlecht ging, da dachte ich: ‚Was soll’s, Hauptsache Cassie geht’s gut, das ist das wichtigste‘.“
Ein kurzes Schweigen legte sich über das heimelige Schlafzimmer, während Clarence das Gesicht wieder aus der fremden Halsbeuge empor hob um erneut den Blick seines Mannes zu suchen. Nachdenklich blickte er zwischen den kandisfarbenen Augen hin und her, tauchte ein in das vertraute Braun, aber auch in den vorherrschenden Kummer den er noch aus alten Zeiten kannte.
„Dass es dir ganz und gar nicht gut gegangen sein kann… das hab ich erst dann begriffen, als du selbst im Krankenbett gelegen hast und nicht mehr zu dir gekommen bist. Da hab ich verstanden, dass es keinem von uns gut gehen kann, solange der andere nicht wohlauf ist… aber auch, dass wir planen und schwören können so viel wie wir wollen, ohne Erfolg“, gab der blonde Bär leise zu bedenken und schob seine Arme etwas weiter um den breiten Rücken seines Liebsten, ihm verbietend von ihm zu weichen.
„Am Ende reicht ein einziger Verrückter aus, um alle unsere Pläne unerwartet zu durchkreuzen und dagegen hilft kein Schwur der Welt.“
Er hatte keinen Einfluss auf eine Sally Mitchell, auf herabfallende Blumentöpfe in irgendwelchen Städten oder auf Konstruktionsfehler der Harper Cordelia, falls ihnen mal irgendwann mitten auf hoher See ihr kleiner Kahn in alle Einzelteile zerfiel.
Cassie war ihm nicht nur alles was wertvoll und bedeutsam war in dieser Welt – er war Clarence‘ Welt. Ohne ihn, da würde alles um ihn herum zusammenbrechen und nichts mehr bleiben von den Träumen, die er hegte und zusammen mit seinem Mann gesponnen hatte.
„Ich kann dir nicht schwören, dass ich nach dir gehen werde und ich will das auch gar nicht… denn es schwören zu wollen hieße, dir eines Tages beim Sterben zusehen zu wollen und… das will ich nicht, genauso wenig wie du es bei mir willst.
Aber wir werden sterben. Du wirst sterben, Matthew“, fasste er das Unausweichliche leise in Worte, so fest und gefasst dass klar war, wie bewusst sich Clarence dieser Tatsache schon seit längerem war. Er war kein naiver Jüngling mehr und würde den Teufel tun, das Offensichtliche zu verdrängen, auf dass es ihn eines hoffentlich fernen Tages überrumpelte.
„Und ich werde auch sterben. Kain und Abel werden sterben und das - so Gott will - hoffentlich noch lange vor uns…“, sanft zog er seine Hände unter Cassies Hemd hervor, um sie seinem Geliebten behütend über die Wangen zu legen und ihn eindringlich anzublicken.
„Auf manche Dinge werde ich nie Einfluss haben. Aber ich kann dir auf dein Leben schwören, Matthew Cassiel Sky… dass ich alles dafür tun werde, dass wir ein langes und glückliches Dasein miteinander haben können. Ich schwöre dir, sorgsam mit mir und meinem Leben umzugehen und mich nicht unnötig in Gefahr zu begeben, nur weil mich die Abenteuerlust packt. Ich schwöre dir, dass ich mit aller Kraft die ich habe gegen Krankheiten und Verletzungen ankämpfen werde, auch in den Fällen, wenn aufzugeben und zu sterben die einfachere Variante wäre. Und ich schwöre dir, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde… damit ich erst dann gehe, wenn meine Zeit auf dieser Erde auch wirklich abgelaufen ist. Alt und grau und nach einem langen und schönen Leben mit dir, den Hunden und den Kindern - die letzten zwei Jahrzehnte nur noch auf der Veranda sitzend, wie wir uns gegenseitig ins Ohr schreien weil wir kaum noch etwas hören.
Ich sage es, meine es und schwöre es dir, Matthew, dass ich mich immer für dich entscheiden werde, anstatt dich einfach ohne Kampf alleine zurück zu lassen. Weil ich dich liebe und du mir alles bist, das etwas zählt.“
Wann immer Matthew zurückdachte an das Leben welches er vor dem Kennenlernen von Clarence geführt hatte, dachte er an Furcht und Zwang, an Schmerzen, Verlust, Folter und Tod.
Wer glaubte sein Martyrium habe mit der Flucht aus dem Skull Forest und White Bone aufgehört, der hatte nicht aufgepasst.
Die Monate allein im Eis waren in all ihrer niederschmetternden Einsamkeit noch die Besten gewesen, verglichen mit dem was in Varlan seinen Anfang genommen hatte.
In all den Jahren in denen der Dunkelhaarige unter den Fittichen des legendären Le Rouge gestanden hatte, hatte es auch immer wieder Phasen gegeben in denen es ihm gut ging, in denen die Dinge die er wollte nicht im Konflikt mit dem stand, was sein Lehrmeister von ihm erwartete.
Aber von jenen Momenten abgesehen, hatte der junge Mann ein tristes und gewalttätiges Leben geführt.
Ihm zu sagen, dass sie beide sterben würden, in einem Moment in dem Matthew nur hören wollte, dass alles gut werden würde, war ehrlich - aber nicht einfühlsam. Ohne Frage konfrontierte Clarence ihn nicht mit jener unabwendbaren Tatsache um ihn zu verletzen oder den Ängsten noch mehr Daseinsberechtigung zu verschaffen, doch bewirkte er mit seinen Worten auch nicht, dass der Kleinere wieder zu jenem inneren Frieden fand, den er sonst in Momenten wie diesen in den Armen seines Mannes verspürte.
Matthew wusste sehr gut um die Endlichkeit allen Lebens, er wusste das alles einmal endete - das Gute, wie auch das Schlechte.
Und in der Sterblichkeit lag nicht nur Schrecken und Unheil, sondern auch eine Chance. Denn nur die Endlichkeit machte, dass Erinnerungen und Erlebnisse besonders wurden. Man konnte nicht beliebig oft wiederholen was schön war, perfekte Momente kamen nicht zurück. Die Dinge die geschahen, geschahen nur ein einziges Mal auf jene Weise - nichts ließ sich kopieren.
Und trotzdem: dachte er an Clarence, dann wollte er nicht an dessen Tod denken, er wollte sich nicht das Gefühl des unerträglichen Schmerzes entsinnen, als er begriffen hatte dass sein Mann tot war.
In Miami war es nicht darum gegangen ‚mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein‘. Matthew war das nämlich nicht. Clarence hatte sich erschossen und er hatte es gesehen. Es war Traum aber es war auch ein Stückchen Realität gewesen.
Für den Größeren mochte das Geschehene weniger dramatisch sein, er mochte in der Lage dazu sein den Vorfall abzuhaken - doch für Matthew war das nicht so leicht.
Alles was er wollte, war die Gewissheit Clarence nicht entbehren zu müssen - er wollte die Garantie dafür, dass ihnen beiden nie etwas schlimmes passierte, dass sie ein langes glückliches und vor allem gemeinsames Leben führen würden.
Naive und geradezu lächerliche Wünsche, die vermuten ließen er sei noch ein Kind statt ein erwachsener junger Mann.
Dabei war sich der Dunkelhaarige vollkommen darüber im Klaren, dass Clarence auf eine Vielzahl von Dingen keinen Einfluss nehmen konnte.
Aber es ging Matthew nicht um das was nicht ging, er wollte auch nicht erneut vom Unausweichlichen hören. Alles was er gewollt hatte war, dass Clarence seine naiven Wünsche anhörte und sie ihm allesamt zugestand. Er hatte ihm schwören sollen ihn nicht zu verlassen und es verstand sich von selbst, dass er dafür kämpfen würde jenes Versprechen einzuhalten.
Es ging nicht um fliegende Steine die von Irren geschmissen wurden, es ging auch nicht um Krankheiten oder um Unfälle auf die sie keinen Einfluss nehmen konnten.
Aber es ging um die Illusion von Geborgenheit - etwas dass man sich eigentlich nicht leisten konnte, noch nicht mal für ein paar Minuten. Und trotzdem hatte Matthew sich genau danach gesehnt und sei es nur um für den Moment nicht mehr an den Tod seines Mannes denken zu müssen.
Doch statt zu sagen was Cassiel sich so sehr wünschte, schmetterte Clarence ihm die Wahrheit entgegen - so unerbittlich direkt, dass Matthews ganze Haltung und sein Blick sich mit einem Mal völlig veränderten.
Abwehrend zogen sich seine Augenbrauen zusammen und er verspannte sich merklich. Würde Clarence ihn nicht an sich drücken, wäre der Dunkelhaarige nun wohl unmittelbar von dem Schoß des Größeren verschwunden.
Mit allem was Clarence ihm sagte hatte er zweifellos recht, er würde sterben, Matthew würde sterben, die Hunde würden sterben. Alles was lebte verging, so funktionierte die Welt und es gab keine glaubwürdige Basis die es rechtfertigte, dass Matthew sich etwas anderes vorstellte.
Das Versprechen welches der Hüne ihm schließlich gab, war nichts anderes als das was von dem naiven Wunsch Matthews übrig geblieben war, tauschte man alles unmögliche und träumerische gegen die Realität aus. Es war ein schöner Schwur, weitreichend und bedeutsam und doch hatte Clarence dieses Mal nicht verstanden worum es Matthew wirklich gegangen war. In der Realität flogen Steine, in der Realität konnte ihr Schiff zerschellen, in der Realität konnte ihr Lager in der Nacht überfallen und sie beide geschlachtet werden.
So war ihre Welt, aber es gab Bereiche in Cassiels Leben, da wollte er mit der Realität nichts zutun haben, sondern einfach so tun und sich einfach darauf verlassen, dass alles gut werden würde.
Ohne Zweifel meinte es der Blonde nur gut, dennoch erwiderte Matthew auf das gegebene Versprechen vorerst nichts.
Schweigend sah er Clarence an, blickte zwischen seinen Augen hin und her, in der irrigen Hoffnung es gäbe noch irgendwelche Worte, die machten dass der innige Moment von vorhin wieder zurückkehren würde. Aber da war nichts, was wahrscheinlich weniger an Clarence lag als an Matthew selbst. So war es eben - auch ein friedlicher Moment war vergänglich und sterblich. Schließlich nickte der Jüngere verstehend und nötigte sich selbst ein schmales Lächeln ab, dass versöhnlich aussehen sollte und es in gewisser Weise auch war, auch wenn eine Bitterkeit darin lag, die zu besagen schien, dass er es hätte kommen sehen müssen.
„Okay... okay, danke.“ - er zog die Hände von Clarence‘ Schultern und klopfte dem Größeren einmal auf den Oberschenkel ehe er sich von selbigen erhob und den Schoß verließ.
„Dass ist allerhand und... ich danke dir dafür.“ Was der Bär von Mann ihm versprochen hatte war bedeutsam und ohne Zweifel wusste Matthew auch um die Gewichtigkeit der Worte, sich also nicht zu bedanken erschien ihm unfair und unangemessen. Beiläufig zog er sein Hemd wieder nach unten und strich es vorn an der Brust wieder etwas glatt, der prickelnde Augenblick war verstrichen und das vorsichtige Aufglimmen von sexueller Lust und Neugierde wieder zur Gänze erstickt. Um der unangenehmen Situation nicht mehr Raum zu geben als ohnehin schon der Fall, griff Cassie nach dem Buch und blätterte wieder bis zur richtigen Seite.
Mit gespielter Konzentration studierte er ihr bisheriges Werk, dabei ging es ihm eigentlich nur darum, Clarence nicht ansehen zu müssen.
„Wir sollten weitermachen, es gibt noch eine ganze Reihe Buchstaben. Aber bevor wir die neuen dazu nehmen, fangen wir nochmal von vorne an - ich sag den Buchstaben und du tippst auf das Zeichen.“ - legte er die neuen Spielregeln fest und ließ dem Größeren auch keine Chance dagegen zu protestieren. Stattdessen nannte er als ersten Buchstaben das J und als zweiten C und als das gut funktionierte, fuhr er fort sich auch die anderen zeigen zu lassen. Die kleinen Schwächen die sich dabei ab und an offenbarten waren nicht schlimm, sie kamen trotzdem gut voran. Besser sogar als vorher, denn anders als bei ihrer ersten Übungseinheit, gab es dieses Mal keine Küsse und auch keine beiläufig zärtlichen Berührungen - zumindest gingen diese nicht von Matthew aus und er hatte auch nicht den Eindruck als würde der Jäger etwas in dieser Richtung versuchen. Der Ofen war aus - und auch wenn es auch dieses Mal keinen Streit und kein Zerwürfnis gegeben hatte, so hatte sich an der verhaltenen Grundstimmung zwischen ihnen nicht viel geändert.
So blieb es auch bis zum frühen Abend, als sie beide einvernehmlich beschlossen es mit den Leseübungen für heute gut sein zu lassen. Das Alphabet war komplett aufgeschrieben worden und ein paar Mal hatte Clarence selbiges mit der Hilfe des Jüngeren wiederholt.
Zumindest was dieses Vorhaben anging, waren sie beide also recht gut weitergekommen.
Der restliche noch junge Abend verlief ganz so, wie auch die letzten Abende verlaufen waren. Sie aßen gemeinsam, sie unterhielten sich über dies und das, versuchten miteinander umzugehen als wäre alles wie immer.
Doch weder Matthew noch Clarence waren besonders gut in dieser Art von Scharade. Die Zeiten an denen es für sie normal gewesen war größtenteils schweigend beieinander zu sitzen waren vorbei, mittlerweile waren sie anderes gewöhnt und ganz gleich wie man es nun drehte und wendete und sich unauffällig bemühte, die Situation mutete skurril an.
Ein kurzer abendlicher Spaziergang an Land sorgte zumindest für jene Dauer für ein wenig Zerstreuung und brachte so etwas ähnliches wie Normalität zurück. Doch die Hoffnung, dies würde sich auch im Innern der Harper Cordelia fortsetzen, war umsonst. Zeitiger als sonst suchte der Dunkelhaarige also das Badezimmer auf um sich für die Nachtruhe fertig zu machen. Seine Schweigsamkeit war ihm selbst nicht willkommen und hätte es eine Möglichkeit gegeben den Schalter umzulegen um wieder ganz normal mit Clarence umgehen zu können, die Gedanken abzustreifen und weiterzumachen wie vorher: Matthew hätte jenen Schalter umgelegt.
Doch so funktionierte die Sache nicht und weil er aus dem ohnehin befremdlichen Nachmittag und Abend nicht noch eine ebenso unbehagliche Nacht machen wollte, verabschiedete er sich schließlich von Clarence und wünschte ihm eine gute Nacht.
Der Schamane, der an Deck stand und in den Sternen am dunklen Himmel irgendetwas zu lesen schien dass Cassie nicht erkannte, kam ihm in diesem Augenblick schmerzlich fremd und zugleich vertraut vor. Es war, als wären sie beide wieder am Anfang ihrer Reise und als würde zwischen ihnen erneut eine jener Mauern stehen, die sie eigentlich schon eingerissen hatten. Nur dass die Mauer dieses Mal unsichtbar war.
Und während der Blonde an Deck blieb, blickte der Dunkelhaarige aus dem Bett hinauf in den selben Sternenhimmel, er fühlte sich schlecht, überfordert und irgendwie nicht mehr wie Zuhause. Clarence war nicht weit weg, aber irgendwie fühlte es sich an, als trennten sie Äonen. Ein Gefühl der Einsamkeit und zugleich der Wut auf sich selbst weil er nicht in der Lage einfach einen Haken an die letzten Tage zu machen, hielt ihn eine Zeit lang wach – auch wenn er wusste, dass Grübeln vollkommen sinnlos war. Es dauerte eine Weile, aber irgendwann schlief er sogar ein und fand im traumlosen Vergessen zumindest für eine kleine Weile Absolution.