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An Deck

12. Juni 2210


Clarence B. Sky

Wenngleich Cassie bis heute stur darin blieb ihren Unterbau zwar als gemeinsames Zuhause zu betrachten, aber ausschließlich als das Boot des Älteren und Letzterer sonst zumeist geneigt war seinen Liebsten zu korrigieren, tat Clarence ausgerechnet jenes heute nicht. Nicht etwa, weil er sich spontan dazu entschieden hatte dass die Harper Cordelia nun doch fortan sein Eigen war, sondern aus einem recht profanen Grund:

Neben all den Gegenargumenten, die eindeutig nicht dafür sprachen seine alte Heimat wieder aufzusuchen, gehörte die Unterbringung ihres Hab und Gut eindeutig mit zu den starken Kontra, gegen die sich Claire nicht verwehren konnte.

Er wusste wie das laufen würde. Sie suchten nach einem kleinen, scheinbar professionell wirkenden Hafen mit kompetenten Skippern, schlossen die Hütte ab und ließen Anzahlung für Anlegeplatz und Überwachung vor Ort, um den Rest bei Rückkehr zu begleichen. Aber funktionierte ihre Welt denn auch genauso, fernab von großen Metropolen in denen die Menschen nicht aufs Betrügen und auf Gaunereien angewiesen waren?

Das Boot an sich war schon mehr wert als jede Pauschale es nur würde sein können und wäre Clarence so ein seltsamer Typ vom Yachthafen, er würde herzlich wenig auf die Sicherheit seines Jobs geben, wenn er sich dafür nur so ein Schiffchen mit entsprechendem Wert würde in einer Nacht und Nebel Aktion unter den Nagel reißen können. Die Leute da hatten Erfahrung im Gegensatz zum ungebildeten Fußvolk, die kannten sicher alle Kniffe und Tricks um auch ein bis unter die Planken abgeriegeltes Boot irgendwie zu kapern – und während sein Göttergatte mit Clarence durch die halbe Weltgeschichte trabten, machte ihr mittlerweile doch recht gemütlich und liebevoll eingerichtetes Heim einen Segelturn in die ganz andere Richtung und wäre Verschollen auf Nimmerwiedersehen.

Es stimmte also, was die lockerflockige Idee seines Partners anging fühlte es sich doch wieder wie seins an, immerhin musste ja wenigstens irgendjemand auf „Haus und Hof“ achtgeben, wenn Cassie das schon nicht gebacken bekam.

Der Verbleib der Harper Cordelia war jedoch just in dieser Sekunde zu seinem geringsten Problem geworden wie der Jäger feststellen musste, als die zärtlichen Finger des Kleineren in seinem Nacken plötzlich ihren Dienst einstellten. Als habe er an Cassie einen unsichtbaren Knopf gedrückt, ging der junge Mann in eine Abwehrhaltung über in einer Vehemenz, die Clarence nicht erwartet hatte; Widerworte waren zu erwarten gewesen und der Anflug eines plötzlichen Verschließens ebenso, aber nicht diese unterschwellige… ja, beinahe schon Panik, obwohl ihr Gespräch bislang ja auf noch gar nichts anderem beruhte als Eventualitäten und potentiellen Hirngespinsten.

„Hey, hey… vergiss das Luftholen nicht, Kleiner“ – Der Blonde wusste gar nicht so recht ob er sich durch die prompte Abweisung nun auf den Schlips getreten oder ziemlich unterhalten fühlen sollte, wie das kurze Zucken seiner Mundwinkel bewies, die sich jedoch achtsam darum bemühten bloß nicht zu Grinsen – nicht, dass Cassie das am Ende noch in den falschen Hals bekam.

Irgendwie widerwillig, immerhin war das eine von seinen vielen Lieblingsplätzen an dem wohldefinierten Körper seines hübschen Herrn Gemahl, nahm Claire die Hände vom fremden Hintern um sie wieder zwischen Leibern hinauf tauchen zu lassen. Behütend legte er sie über Matthews Wangen, einem liebevollen Beruhigungsversuch gleich wie man ihn sich nur anschickte wenn man einander besser kannte als sonst einen Menschen auf der Welt, und musterte ruhig das Antlitz seines Liebsten. Es war noch ein recht junges Verhalten welches sie am heutigen Tage zeigten und das bewies, wie sehr sich ihre Bindung zueinander in den vergangenen Wochen verändert hatte; denn früher hätten sie als Ausweg aus einem unangenehm werdenden Gespräch den Streit oder die Trennung gesucht.

Nicht aber so mehr heute, wo sie sich umso mehr bewusst geworden waren, wie wertvoll die Verbundenheit war die sie miteinander teilten.

„Ich höre es und ich sage dir: Ich bin dein Ehemann und ich kann recht gut abwägen, was für mich nach Zeitverschwendung aussieht und was nicht“, entgegnete der Jäger in ruhigem Tonfall, noch immer mit Matthew verbunden und ihm behutsam mit dem Daumen über die kurzen dunklen Bartstoppeln streichend. Die Vergangenheit mochte seine Worte Lüge bezichtigen, immerhin konnte sich ein Clarence Sky ziemlich starrköpfig in Dinge verbeißen die ziemlich die perfekte Definition von Zeitverschwendung waren – aber letzten Endes hatten sie diese Eigenschaft zum Teil durchaus gemein, immerhin war der Jüngere in vielerlei Hinsicht nicht gerade besser als der Schamane.

„Du weißt, dass ich alles für dich tun würde. Oder?“, warf er eine relativ rhetorische Frage zwischen ihnen ein, auf die es nur eine offensichtliche Antwort gab. „Ich erwarte dort kein heimeliges Haus, dich in die Arme schließende Verwandte oder alte Nachbarn, die nur auf die Rückkehr des verschollenen Reed-Jungen gewartet haben. Ich will nicht durch irgendeine alte Hütte streifen und mir vorstellen, wie wohl deine Kindheit da drin gewesen sein mag. Aber ich erhoffe mir…“

Zögerlich befeuchtete der Bär seine Lippen, den Jüngeren abwägend musternd, ganz so als wisse er nicht genau wie seine folgenden Worte bei ihm ankommen mochten. Zärtlich streichelten seine Finger dabei noch immer über die Wangen seines Gefährten hinweg in einer alten Manier, die Claire nie wieder abgelegt hatte nachdem er sich schon vor vielen Monaten an jene Geste gewohnt hatte; nicht immer half sie Matthew dabei sich nicht ganz und gar von seinem eigenen Mann zu distanzieren, aber das war dem Blonden auch nicht das wichtigste an der Sache. Was von Bedeutung war, war dem Dunkelhaarigen auf unverkennbare Art zu zeigen, dass er nicht mehr Reißaus vor ihm nehmen würde wie früher.

„Ich würde gerne für dich herausfinden wo David ist, egal wo das auch immer sein mag“, fasste Clarence schließlich die Quintessenz seiner Absicht in Worte und ließ Cassie einen kurzen Moment Zeit, um die Tragweite des Gesagten zu begreifen.

Das ein oder andere Mal hatte der junge Söldner von seinem Bruder erzählt, lediglich immer mal stellenweise eingestreut in einem Nebensatz, so als wäre es die größte Verständlichkeit dass jener Junge einmal in seinem Leben existiert hatte, heute jedoch nicht mehr.

Aber das war es nicht. Es war nicht selbstverständlich und wenngleich sie beide schon Menschen verloren hatten die sie liebten, so hatten sie in dem Großteil der Fälle doch wenigstens die Gewissheit was mit ihnen geschehen war: Sie waren tot.

Unwiderruflich hatten sie diese Welt und auch sie selbst verlassen. Sie würden nicht zurück kommen, das war eine Tatsache mit der man sich abfinden musste, ob man wollte oder nicht.

Doch David Reed… dieser Fall lag völlig anders und es war seit ihrem Kennenlernen seitens Cassies niemals nötig gewesen das Offensichtliche in Worte zu kleiden, denn der Hüne hatte es vom ersten Moment an verstanden. Bis heute wusste Matthew nicht was aus seinem Bruder geworden war, ob er bei einem Jäger-Clan die Aufnahme bestanden oder versagt hatte – ob er überhaupt noch lebte und wenn, wo er dann heute war. David Reed konnte lebendig sein, genauso gut aber auch tot und dass Cassie genau das nicht wusste war schmerzhaft, wie Clarence schon vom ersten Moment an in den Worten und dem Blick des Jüngern hatte erspüren können.

Eines Tages, wenn sie sesshaft geworden waren oder den Kontinent völlig verlassen hatten, würde es kein Zurück mehr geben um jemals auf solche Fragen eine Antwort finden zu können. Bis zu ihrem letzten Tag würde Cassie sich doch in stiller Stunde immer wieder heimlich fragen was wohl aus dem jungen Burschen geworden war und die schmerzhafte Neugierde mit ins Grab nehmen, wenn sich niemand darum kümmerte das Seelenheil des Söldners wenigstens in diesem überschaubaren Aspekt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

„Ganz früher, da… hast du mir mal erzählt, dass dein Bruder damals fortgegangen ist weil er Jäger werden wollte und ich wüsste nicht wer sich besser dazu eignet so einen zu finden, als ein Jäger selbst. Ich würde gerne Stillwaters Reach sehen, Cassie, weil ich alles für dich tun und den Gedanken nicht verkraften würde, dass David vielleicht die ganze Zeit schon irgendwo da draußen ist und nach dir sucht. Und dann komme ich… und nehme dich einfach irgendwo mit hin übers Meer, nach Osten oder Westen – völlig egal – und nehme dir damit die Chance einen Teil deiner Familie wiederzusehen?“

Die Verrückte aus Coral Valley ließ er dabei gerade sehr bewusst unter den Tisch fallen, denn um die wahnsinnige Harriett ging es ihm auch gerade gar nicht. Aber David… das war etwas anders. Dieser Junge hatte seinem Mann nahe gestanden, da gab es noch Dinge zu klären bevor er mit Cassie die Welt bereisen konnte und ehe das nicht getan war, würde den Blonden vermutlich selbst noch bis auf die andere Seite der Welt ein schlechtes Gewissen verfolgen.

„So ein Arsch will ich nicht sein. Deshalb will ich da hin und wenn dir das noch immer nicht genug Grund ist“, ratlos zuckte er mit den Schultern, denn auch der zweite gute Grund, den es durchaus gab, erschien zumindest Clarence recht offensichtlich.

„Vielleicht lebt der beschissene Dreckssack noch, der deine Mutter auf dem Gewissen hat und dich…“ – gab es irgendeine Formulierung die Clarence nicht so schwer auf der Zunge lag wie verkauft, aber der Wahrheit noch immer gerecht wurde? Sicher nicht. „…weggegeben hat. Du kennst meine Einstellung zu solchen Themen und ich finde, auch da gibt es noch etwas für dich zu erledigen bevor ich uns auf dem Beringmeer zu Tode segele.“


Matthew C. Sky

Vor zweiundzwanzig Jahren hatte David Reed sich aufgemacht, sein Glück woanders zu suchen als in Stillwaters Reach. 

Er war fünfzehn gewesen und sein kleiner Bruder Matthew gerade einmal fünf. Der kleine Junge hatte bitterlich geweint als David vom Hof gegangen war und er war ihm auch noch ein Stück hinterhergelaufen, aber der Klepper den David sich von einem ihrer Nachbarn geborgt hatte um zumindest bis zum Wald zu gelangen, war schneller gewesen als der Fünfjährige. Ihre Mutter hatte sich zu jenem Anlass nicht die Mühe gemacht aus dem Haus zu kommen. Sie hatte kurz aus dem Fenster gesehen, David alles Gute gewünscht und war dann zur Tagesordnung übergegangen - so wie immer, wenn sie mit einer Situation nichts anzufangen wusste. 

Das letzte Bild das Cassie von seinem Bruder hatte, war das wie David auf dem dünnen Schecken davonritt, das blonde Haar zu einem kurzen Zopf geflochten und mit einem Lederbeutel über die Schulter, in dem all seine wenigen Sachen verstaut gewesen waren. 

Er hatte in der Mitte eines nahen Feldes  gehalten, das Pferd gewendet, eine Hand an den Mund gelegt und gerufen „Bis bald, Matti! Ich komme zurück sobald ich kann!“, dann hatte er ihm ein letztes Mal zugewinkt und war schließlich davongeritten. 

Matthew hatte ihn nie mehr gesehen.

Den Namen seines Bruders aus dem Mund eines anderen als sich selbst zu hören, zerrte einen Schmerz zurück in sein Herz, von dem er geglaubt hatte ihn ausreichend tief vergraben zu haben.

Ein Irrtum wie sich unmittelbar zeigte.

Kaum das Clarence ausgesprochen hatte warum er nach Stillwaters Reach wollte, wandte Cassiel seinen Blick zu Seite gen Meer. Er entwand nicht sein Gesicht der behütenden Hände die sich an seine Wangen gelegt hatte, doch wollte er nicht, dass Clarence sah wie sehr Davids Verlust ihm noch immer wehtat. 

Sein Bruder war der erste und lange Zeit auch der einzige Mensch gewesen dem Matthew bedingungslos vertraut hatte. 

Aus den Wochen nach dem Aufbruch des jungen Burschen waren Monate geworden und aus den Monaten Jahre. Doch egal wie lange David fortgeblieben war, Matt hatte nie aufgehört an seine Rückkehr zu glauben. Selbst als seine Mutter auf einem verwilderten Stück Acker ihres Hofes vergraben worden war, hatte Cassiel die Hoffnung nicht aufgegeben. Und als der gütige Mann ihn mitgenommen hatte und aus den Tagen auf der Schaffarm in White Bone Monate geworden waren, hatte der Junge mit den Kandisaugen immer noch auf David vertraut. Er würde kommen, er würde ihn retten - so wie er es damals versprochen hatte. David hatte ihn nicht vergessen, David war auf dem Weg. 

Erst im Laufe der Jahre und mit zunehmend traumatischen Erlebnissen, die den Jungen mehr und mehr abgestumpft und desillusioniert hatten, war in ihm der Gedanke aufgekeimt, dass nichts und niemand mehr kommen würde um ihn und seine Freunde zu befreien. 

Trotzdem hatte Matt ihn nie vergessen, den Jungen mit den weizenblonden Haaren, den blauen Augen und dem unermüdlich aufmerksamem Gemüt. David hatte auf ihn aufgepasst so lange er in Cassies Leben gewesen war und dieser hatte nie aufgehört ihn dafür zu lieben und zu vermissen. 

Tränen hatten sich in Matthews Augen geschlichen und verliehen ihnen einen verräterischen Glanz, auch wenn der junge Mann sie bisher mit Erfolg davon abhielt geweint zu werden. 

Niemandem hatte Cassie so viel bedeutet wie David und andersherum hatte niemand sich für David interessiert außer Matt. 

Stillwaters Reach war kein Ort gewesen in dem freundliche Nachbarn aufeinander achteten, viel mehr war es eine Siedlung in der jeder zusah selbst über die Runden zu kommen. 

Und Rosalie Reed wurde ohnehin stets gemieden. 

„Sie hat nie nach ihm gesucht. Sie hat auch nie mehr von ihm gesprochen. Er ist weggegangen und es war für sie als hätte es ihn nie gegeben.“, sagte er tonlos, was ihm durch den Kopf ging. Erinnerungen aus ferner Kindheit, aufbewahrt in seinem Herzen und noch immer schmerzhaft, obgleich man hätte meinen können es habe genug anderes und größeres Leid gegeben. 

„Das habe ich nie verstanden. Wie er...ihr so egal sein konnte.“ Als wäre Davids Leben nicht von Belang. 

„Er war der Einzige dem ich etwas bedeutet habe. Das hat mich gerettet. In...White Bone. Jeder dort hat mir zu verstehen gegeben nichts wert zu sein. Ich habe...lange darauf gehofft, David wiederzusehen. Dass er kommt und mich da raus holt. Die Jungs die keine Hoffnung hatten...einige von ihnen haben...“ - wie sagte man etwas sanft, das so hart war? Einen winzigen Moment überlegte er, schloss seine Augen und sagte es schließlich mit der grausamen Deutlichkeit der Wahrheit. „...sich umgebracht. Sie haben diesen Ort nie verlassen.“, ihre Gräber trugen keinen Stein, keine hölzernen Kreuze. 

„Du bist der erste der seinen Namen nennt, außer mir. Du bist der erste der ihn suchen will...“ Matthews Stimme schwankte. Schmerz lag in seinen Worten, Kummer ebenso und auch Wut. 

Als Fünfjähriger hatte er nichts tun können um David davon abzuhalten wegzugehen und er hatte ihn auch nicht begleiten können. Alles wozu er in der Lage gewesen war, war darauf zu warten das er sein Versprechen wahr machte und zurück zu ihm kam um ihn zu holen. 

Und als die Jahre vergingen und aus dem Kind ein junger Mann geworden war, da hatte er ihn gesucht. Er hatte Dörfer und Städte durchkämmt, hatte mit Jägerclans gesprochen, hatte versucht eine Spur zu finden die es nicht gab. Rouge hatte seine Bemühungen argwöhnisch beobachtet, hatte ihn machen lassen ohne ihm zu helfen und hatte ihn schließlich dazu gezwungen seine närrische Suche aufzugeben. 

Sinnlos hatte er es genannt, zeitraubend und illusorisch. Er solle sich nicht benehmen wie der verdammte Idiot der er offensichtlich war.

Die Widerworte die Matthew ihm gegeben hatte, waren mit Schlägen bestraft worden und selbst Matthew, dessen Schmerztoleranz durch Training und Lebensumstände höher lag als bei anderen, hatte nach dieser Züchtigung schließlich aufgegeben.

David blieb ein Gespenst und die Hoffnung ihn eines Tages wiederzusehen wurde schließlich von Cassiel begraben.

„Und...du bist der erste dem ich zutrauen würde ihn zu finden.“, der junge Mann leckte sich kurz über die Lippen, die Augen hatte er noch immer auf den Horizont gerichtet.

Seinen Bruder aufspüren, den Mörder seiner Mutter richten…das waren ehrenhafte Ziele eines ehrenhaften Mannes. Vor allem aber waren es die Beweggründe eines Menschen, der mehr mit ihm teilte als Lager und Bett. Clarence müsste sich für nichts von alledem interessieren und Matt würde ihn trotzdem lieben. Er hätte den Namen seines Bruders niemals zu nennen brauchen, dennoch würde Matt zu ihm aufsehen.

Es bedurfte keinem Liebesbeweis seitens des Schamanen, kein Signal das unterstrich was er vorab gesagt hatte – nämlich das er alles für Matt tun würde. Der Jüngere maß seinen Mann nicht an Gefälligkeiten, nicht an Versprechen oder an schönen Dingen die er ihm sagte oder schenkte.

Seit Clarence ihm im Blauer Hund verziehen hatte, war das Einzige woran Cassiel seinen Mann maß, die Liebe in tausend kleinen alltäglichen Gesten, die für alle Welt selbstverständlich waren - außer für ihn, weil er sie schlichtweg nicht kannte. Die augenscheinlich unsinnigsten Dinge waren für Cassie wichtig und an denen maß er ihr Verhältnis zueinander. 

An Clarence‘ Art ihn anzusehen, an seiner Art ihn zu berühren. Daran, wie er ihn nachts zudeckte wenn er vorher ins Bett gegangen war und sich aufgrund von Alpträumen oder sonstiger Unruhe die Decke nicht mehr dort befand wo sie hingehörte.

Clarence schätzte ihn. Für Clarence war er ein Jemand. Kein gewinnbringendes Schäfchen welches man zur Verfügung stellte, kein Werkzeug das man benutzte um sich selbst nicht die Hände schmutzig zu machen und auch kein Mittel zum Zweck.

„Ich weiß nicht ob ich… will das du das tust.“, kam es Matthew schließlich piepsig über die Lippen, gefolgt von gewichtigem Schweigen. Der junge Mann war unsicher und einmal mehr so verletzlich, wie er es im Alltag nie zu sein schien. Jung und verletzlich sah er aus... und endlos traurig.

Der Geschmack des Himbeerbonbons lag noch auf seiner Zunge. Süß und fruchtig, herrlich vollkommen – der Geschmack von heiler Welt. Wo dieses Teil herstammte gab es keine Armut, in den Vierteln lagen keine Sterbenden und Kranken, gab es keine Bettler.

Und es gab keine Farmen voller Schäfchen. Keine Wölfe, die die Schäfchen töteten

„Wenn ich an ihn denke…“, setzte Cassiel zögerlich wieder an, so als müsse er jedes einzelne Wort erst durchdenken. „…stelle ich mir immer vor, dass er sich irgendwo niedergelassen hat und ein… ein schönes Leben führt. Mit Frau und Kindern und so… Was man eben so hat.“, er zuckte verloren die Schultern, presste die Lippen aufeinander und schüttelte dann sanft seinen Kopf. Er wusste selbst, dass Davids Geschichte so wahrscheinlich nicht ausgegangen war, aber so lange er nicht sicher wusste das es nicht so war, konnte er an dieser Vorstellung festhalten.

Kurz sah Cassiel zu Clarence empor, mühte sich ein tapferes Lächeln ab und schaute schnell wieder weg. „Du b-bist…“, seine Stimme brach und er versuchte sich zu räuspern, was jedoch nur ein bisschen half. „..ein…außer- außergewöhnlicher Mensch, Clarence.“

Er hatte Glück gehabt ihn zu treffen, wahrlich. Und doch fehlten ihm gerade die passenden Worte um zu beschreiben was in ihm vorging und welche Ängste er hatte.


Clarence B. Sky

Matthew schien so zwiegespalten wie sein Mann ihn noch nie erlebt hatte, selbst in den dunkelsten Erinnerungen nicht, die er bislang mit ihm geteilt hatte. Viele unüberschaubare Gefühle mussten gerade im Herz seines Freundes und Geliebten schlagen, Ding die Cassie längst vergraben geglaubt und die der Blonde gerade ungewollt mit Gewalt wieder zurück ans Tageslicht gebracht hatte.

Nicht mal anblicken konnte der Jüngere ihn und dennoch ließ der Jäger die fremden Wangen nicht los, denn ihn zu hüten und zu beschützen hatte er bereits vor unzähligen Tagen unter der reichlich gezierten Kuppel einer Kapelle geschworen und dieses Versprechen plante er auch sicher am heutigen Tage nicht zu brechen.

Was war es, das Matthew durch seinen angeschlagenen aber noch immer schönen Kopf ging? Wie konnte er ihm helfen zu begreifen was er wollte und ihm Ängste nehmen, die ihn über Jahre hinweg geplagt haben mussten?

Clarence wusste es nicht, auch wenn er die Beklemmungen bis zu einem gewissen Grad verstehen konnte, die sich in Mimik und Körperhaltung des Kleineren widerspiegelten. Der Verbleib des großen Bruders war seit Beginn an ungewiss gewesen und sein Überleben nichts weiter als Fantasie, an der man sich krampfhaft festhielt um nicht am Leid eines relativ naheliegenden Endes zu Grunde zu gehen. Würden sie David suchen und ihn finden, nur damit sich heraus stellte, dass der verlorene Bruder schon seit Jahren unter der Erde lag…

Alleine schon bei dem Gedanken schüttelte Claire unmerklich seinen blonden Schopf als der andere ihm gestand nicht recht zu wissen, ob er eine Suche überhaupt bewilligen konnte. Über all die Jahre hinweg, selbst als David den Hof seiner Familie schon längt verlassen hatte, war er der Anker und das Zentrum gewesen welches es benötigt hatte, um Cassie selbst in den dunkelsten Stunden seines Daseins am Leben zu halten. David würde zurück kommen und ihn holen; selbst da er das nicht getan hatte war sich Clarence sicher, dass ein winzig kleiner naiver Teil in der Seele seines Mannes sich erhoffte, dieses noch immer ausstehende Treffen irgendwann zu erleben. Dass sein Bruder eines Tages am Pier stand, wie durch ein Wunder, nach all den Jahren die Freude des Wiedersehens zelebrierend… doch alles was Fortuna Matthew geschenkt hatte war stattdessen eine Verrückte gewesen, die ihn mit einer Waffe bedroht und ihm die wahnwitzigsten Fakten einer nicht nachweisbaren Abstammung vorgelegt hatte.

Wäre David stolz auf seinen kleinen Bruder, würde er ihn eines Tages wiedertreffen und erfahren, welch Mühsal er überstanden hatte, trotz allem noch hier war und stolz auf das sein was er sich aufgebaut hatte? Oder wäre er enttäusch von Matthew, weil er eben nicht das hatte, was man eben so hat – nämlich Haus und Hof, eine liebevolle Frau und spielende Kinder im Garten?

Der Blonde wusste auf all das keine Antworten und ebenso wenig konnte sein Mann sie wissen. Der einzige, der Licht ins Dunkel würde bringen können, war David Reed selbst, welcher noch immer verschollen blieb in den unergründlichen Weiten dieser Welt.

Das tapfere Lächeln auf den Lippen des Jüngeren als dieser ihn schließlich endlich wieder anblickte, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, brach dem Bären beinahe das Herz. Er hatte nicht ahnen können in welch klaffende Wunde er seinen Finger legte als Clarence den Wunsch geäußert hatte den jungen Mann suchen zu wollen und hätte er voraussehen können welche Verwirrung er damit beim Kleinerne stiftete, vielleicht hätte er es lieber ganz und gar für sich behalten. Doch diese Intention hegte der Jäger nicht etwa erst seit gestern.

„Ich will nur dass du weißt, wenn…“, kurz hielt er inne, doch noch immer stand der Jäger zu dem, was er gesagt hatte. „Solltest du es dir irgendwann anders überlegen und ihn finden wollen, dann helfe ich dir dabei. Wenn es sein muss, drehe ich jeden Stein auf diesem Kontinent um auf der Suche nach ihm, so lange bis wir am Ziel sind. Darauf hast du mein Wort, Matthew Cassiel Sky.“

So schmerzlich der Gedanke für Cassie auch sein mochte was wäre, sollten sie eines fernen Tages nichts anderes vorfinden können als ein altes verwittertes Holzkreuz auf einem längst vergessenen Grab, wollte Clarence dennoch, dass sein Partner wusste diese Option jederzeit zu besitzen.

„Komm her…“, forderte er schließlich leise auf, streichelte ein letztes Mal mit den Daumen über die stoppeligen Wangen seines Partners und schob die Arme über die fremden Schultern hinweg, um Matthew an sich zu ziehen.

Fest drängte er ihn an seine Brust, auch wenn eine einzelne Umarmung nicht vor den Grausamkeiten dieser Welt würde beschützen können, und hauchte einen lautlosen Kuss auf das vom Duschen noch immer leicht in Strähnen liegende Haar seines Gefährten. Die Melodie, welche Matthew ihnen zu Beginn gesummt hatte, war längst verstummt ebenso wie auch ihr Tanz irgendwann versiegt war; erst jetzt nahm der Blonde das sanfte Wiegen wieder auf, eine Geste die kaum zu unterscheiden war zwischen Tanz und beruhigender Bewegung.

„Ich war auch mal ein großer Bruder. Für ein paar wenige Stunden zwar nur, aber das zählt trotzem." - In zärtlicher Manier fuhr er mit der Nasenspitze durchs Haar des anderen, ein warmer Tonfall hatte sich dabei unter seine sonst nur allzu oft raue Stimme gemischt. "Nachdem er weg war... hat meine Mutter sich geräuspert, ihre Schultern gestrafft und ist aufgestanden um Essen zu kochen, obwohl es mitten in der Nacht war. Ich glaube, das war ihr Versuch um für den Rest von uns stark zu bleiben obwohl sie selbst gar nicht wusste, wie sie damit umgehen soll. Rosalie war sicher nicht die Erste die sich benimmt als wäre nichts geschehen, nachdem sie eines ihrer Kinder verloren hat. Sicher war es kein böser Wille von ihr..."

Clarence war es mit seinen beiden Mädchen ganz eindeutig anders ergangen, aber das hieß nicht, er würde dieses Verhalten nicht auch von sich selbst kennen - denn in den Jahren seiner ersten Ehe war es zu weit mehr als nur zwei Empfängnissen gekommen, auch wenn er seinem heutigen Gefährten davon noch nie erzählt hatte. War man verantwortlich für andere, dann blieb man mit aller Gewalt stark und ließ sich die Geschehnisse nicht näher kommen als nötig; auf der anderen Seite war der Schmerz so groß, dass man sich fühlte wie versteinert, unfähig auch nur einen einzigen Mucks von sich zu geben.

"Ich hatte den Kleinen nur ein paar Minuten auf dem Arm und muss trotzdem heute noch manchmal an ihn denken. Aber David... er hatte seinen kleinen Bruder über Jahre hinweg. Egal wo er ist… er denkt immer an dich und hat alles Menschenmögliche getan, um dich zu finden. Du hast es ihm nur sicher als Söldner nicht leicht gemacht, was zweifelsohne für dein herausragendes Talent steht.“ – Wie hätte der Junge auch ahnen können, an welch Scheusal Rosalie Reed eines Tages geraten würde. Es war für David nicht abzusehen gewesen, dass ihre Mutter eines Tages ermordet und sein kleiner Bruder an zwielichtige Gestalten mit schlimmen Absichten verkauft werden würde; vielleicht hatte er warten wollen bis Cassie alt genug war, hatte ihn holen kommen wollen um ihn in seinen Clan aufnehmen und auch zum Jäger ausbilden zu lassen. Doch der kleine Matthew war bereits fort gewesen, seine Spuren zu verwischt um sie bis ins Detail nachzuvollziehen – dass sein Bruder längst in die Lehre zum Söldner gegangen war und durch die Schatten wanderte, so weit hätte David die verbliebenen Hinweise gar nicht nachvollziehen können.

„Glaub mir, ich weiß wovon ich rede. Selbst in klapprigen kleinen Dörfern hab ich dich früher kaum wieder gefunden, nachdem du erstmal verschwunden warst. Du machst es Männern, die dich lieben, nicht gerade einfach dich wieder einzuholen…“

Ein warmes Lächeln legte sich dabei über die Lippen des Jägers, denn diese infame Behauptung stimmte auf so vielen Ebenen und Cassie musste sich dessen einfach bewusst sein. Er ließ sich gerne jagen, machte es anderen schwer ihn zu fangen und selbst wenn man ihn in die Finger bekam, da entwand er sich wieder voller Vergnügen, immer in der Absicht erobert zu werden und dem anderen die Mühe wert zu sein.

Es kam für Clarence gar nicht in Frage die These aufzustellen der unbekannte junge Mann könne bereits längst vom Erdboden verschwunden sein, denn so wie der Jäger den einzig ihm bislang bekannten Reed-Abkömmling kennengelernt hatte, unterschieden sich die beiden Brüder in ihrer dickköpfigen Art sicher kaum voneinander. Sie bissen sich schon irgendwie durchs Leben durch, David unter Garantie genauso wie sein kleiner Bruder, egal was für Steine das Leben ihnen vor die Füße warf.

„Verrätst du mir, warum dein Bruder damals unbedingt so eilig fort wollte oder warum… warum er dich nicht einfach mitgenommen hat?“, erhob Clarence nach kurzem Schweigen wieder leise seine Stimme, unsicher ob Cassie nicht schon genug hatte für diesen einen Morgen.

„Nach dem was du mir erzählt hast… kommt es mir so vor als hätte er gut auf dich aufpassen können und als wäre es überall besser gewesen als bei euch Zuhause.“

Das war das einzige, was sich Clarence selbst nach all den größeren und kleineren Gesprächsfetzen noch immer nicht erschloss und was ihm diesen Kerl – bei aller Liebe zu Matthew – doch noch immer ein Stück unsympathisch machte: Nämlich nicht zu verstehen, warum David seinen kleinen Bruder trotz all der Missstände einfach so alleine zurück gelassen und ihn seinem Unglück damit auf dem Präsentierteller serviert hatte.


Matthew C. Sky

„Solltest du es dir irgendwann anders überlegen und ihn finden wollen, dann helfe ich dir dabei. Wenn es sein muss, drehe ich jeden Stein auf diesem Kontinent um auf der Suche nach ihm, so lange bis wir am Ziel sind. Darauf hast du mein Wort, Matthew Cassiel Sky.“ - und wenn Cassie einem Menschen zutraute es vollkommen ernst zu meinen, dann seinem Freund, Liebsten und Ehemann. 

Der Größere war unermüdlich wenn er ein Ziel vor Augen hatte und duldete dann keine Verschiebung der gesteckten Priorität. Er war stur und unfähig aufzugeben, manchmal auch dann, wenn es entgegen jeder Vernunft war.  

Aber so sehr Clarence ihm auch helfen wollte, er verstand sich instinktiv darauf, Matthew zu nichts zu drängen. Letztlich nahm er dem Jüngeren die Entscheidung nicht ab, sondern machte auf leise Art und Weise deutlich, dass er jede Entscheidung respektierte. Am Ende, dass war die kostbare Quintessenz derer sich Matthew einmal mehr bewusst wurde, bestimmte Clarence nicht über ihn, zwang ihn zu nichts und versuchte nicht seine Sicht durchzusetzen. 

Für Cassiel war es das eine, sich vorzustellen alles sei gut und das David irgendwo lebte. In Frieden und Harmonie, mit den Menschen die er liebte. Etwas anderes war es, die Sache realistisch zu sehen. 

In der Welt in der sie lebten wurde viel gestorben. Irgendwo wurde immer jemand ermordet der den Tod nicht verdient hatte. Schlechte Menschen beuteten gute Menschen aus, schlugen Profit aus der Schwäche von jenen die am Boden lagen. 

David war nie diese Art Mensch gewesen, nicht so lange Cassie ihn gekannt hatte. Sein Bruder war nicht kriminell gewesen, nicht grausam oder brutal. Er war niemand der andere schlug nur um selbst nicht geschlagen zu werden. Und welche Chancen hatte man als Fünfzehnjähriger mit diesen Charaktereigenschaften, fernab der Heimat und ganz allein?

Cassie kannte die Antwort, ebenso wie Clarence und trotzdem verlor der Ältere keinen Ton über die wahrscheinlichste aller Optionen. Stattdessen hielt er die Hoffnung in Cassiel am Leben, füllte sie mit Vorstellungen und möglichen Erklärungen warum David ihn niemals gefunden hatte. Freilich, es waren ‚eventuells‘ und ‚vielleichts’ - aber das spielte keine Rolle. 

Matt wusste, dass ein früher Tod seines Bruders die realistischste Erklärung war und er wusste auch, dass Clarence es gleichfalls wusste. Doch ein ‚eventuell’ und ‚vielleicht’ aus dem Mund von Clarence bedeutete für Matthew irgendwie mehr. Clarence brauchte nicht viele Worte um Trost zu spenden für eine Sache für die es eigentlich gar keinen Trost gab. Er machte das Unmögliche möglich...und er tat es mit einer Selbstverständlichkeit die ihm gar nicht bewusst zu sein schien. 

Ohne irgendeinen Widerstand ließ sich der Dunkelhaarige in die starken Arme seines Liebsten ziehen, schmiegte sich an ihn und drängte das Gesicht gegen Clarence‘ Brust, die Tränen verdrängt haltend, die so darauf harrten vergossen zu werden. 

Der Größere war der einzige Grund warum Cassie nicht längst durchgedrehte war. Die Welt machte ihn kirre, all das Blut, all der Verrat, er hatte Dinge getan die entgegen seiner Natur waren, er hatte Dinge erlebt die niemand erleben sollte. 

Aber nicht nur er, nein. Es schien als habe jeder Mensch auf der ganzen Welt gelitten. 

Frieden und Wohlstand, Sicherheit und Glück...all das waren nur temporäre Zustände. Nichts war von Dauer und nichts war gewiss, bis auf die Wiederkehr von Leid und Schmerz. Wie sollte ein Mensch angesichts dieser Erkenntnis klaren Verstandes bleiben und sich bewahren worauf es ankam? 

Matthew wusste nicht wo er wäre, hätte er Clarence nicht kennengelernt - wahrscheinlich mausetot, doch auch wenn nicht, er wäre sicher nicht glücklich, sicher nicht zuhause, sicher nicht geborgen und ganz sicher nicht verliebt. 

Der Ältere war so viel mehr als einfach nur sein Partner. Er war sein Halt, er war sein Gewissen, seine Hoffnung. 

Clarence verkörperte für Matthew alles, was auf dieser Welt gut und richtig war. Und wenn der Blondschopf ihm sagte, er würde jeden Stein nach David umdrehen - dann wusste Cassie, dass das stimmte. Clarence mochte es nicht wissen, aber seine Umarmung beschützte den Jüngeren nämlich doch vor den Grausamkeiten der Welt. 

An den Hünen lehnend, lauschte Cassiel der vertrauten und sanften Stimme, deren Worte ihn überraschten und berührten. 

Ich war auch mal ein großer Bruder. Für ein paar wenige Stunden zwar nur, aber das zählt trotzdem." - hörte er ihn sagen und Matt nickte kaum merklich. 

„Natürlich zählt das...“, pflichtete er leise bei, ohne das er genaueres wusste. Es war das erste Mal das Clarence von seinem Brüderchen sprach und obwohl er es nur kurz erwähnte, lag in seiner Art von ihm zu sprechen ein gewisses Maß an...Demut und Bedauern. 

Es war leider nichts ungewöhnliches, dass Kinder nach der Geburt verstarben. Viele kamen missgebildet auf die Welt, andere überlebten die ersten Tage und Wochen nicht, aufgrund von mangelnden Ressourcen, schlechten hygienischen Bedingungen oder sie starben schlichtweg an unbehandelten Kinderkrankheiten. Selbst Babys sie gesund zur Welt kamen schafften es manchmal nicht - einfach weil sie zu zart waren. 

Trotzdem berührte ihn die Geschichte von Clarence’ kleinem Bruder tief, denn ob nun üblich oder nicht, der Tod eines Kleinkindes war nichts an das Cassiel sich je würde gewöhnen können. 

Eine kleine Weile schwieg der Jüngere sich aus, genoss ungewohnt still die leichten, wiegenden Bewegungen die Clarence wieder aufgenommen hatte und dachte über alles nach, was Clarence gesagt hatte. Vielleicht hatte der Größere recht und Rosalie hatte einfach nicht gewusst wie sie mit Davids Aufbruch hatte umgehen sollen. Vielleicht war der unmittelbare Übergang zur Tagesordnung ihre Art die Sache zu verarbeiten und ihr Versuch für Matthew stark zu sein. 

Durchaus hatte diese Vorstellung ihre Vorzüge, doch leider konnte Matthew es schlichtweg nicht glauben. Rosalie war ein infantiler Mensch gewesen, zu naiv für die Welt. Weitsicht, mentale Stärke oder Verantwortungsbewusstsein waren ihr fremd gewesen. 

Sie hatte ihre Schultern nach dem Verlust ihres ältesten Sohnes nicht straffen müssen, sie hatten nämlich gar nicht erst gehangen - eine Tatsache die offenbarte wie unterschiedlich ihre beiden Mütter gewesen waren. 

Die Frage danach warum David ihn nicht mitgenommen hatte, war seit einigen Sekunden schon gestellt und unbeantwortet und beide jungen Männer waren in Schweigsamkeit vereint. Cassie, weil er nachdachte und Clarence...wahrscheinlich weil auch er seinen Gedanken nachhing. 

Es dauerte einen Moment ehe der Kleinere die Stirn von Clarence‘ Brust nahm, das Gesicht zur Seite drehte und seine Wange auf des Anderen Schulter legte. 

„David wusste nicht wohin er gehen würde...“, antwortete er schließlich. „Er sagte, er wolle sich einem Jägerclan anschließen und sobald er das geschafft hat, zurückkommen und mich holen.“ - soweit der Plan des jungen Reed. 

„Stillwaters Reach liegt... sehr abgeschieden, eigentlich kam nie jemand von außerhalb und das nächste größere Dorf liegt hunderte Meilen weit weg. Es gab...keine greifbare Hilfe und kein sicheres Ziel. Er konnte mich nicht mitnehmen auf eine Reise von der er nicht wusste wann sie endet...“ mittlerweile begriff er das. Damals jedoch hatte er es nicht verstanden. Er hatte geweint und gebettelt das er ihn mitnehmen möge, aber David hatte sich aus guten Gründen nicht umstimmen lassen. 

„Seine Hoffnung war, so schnell wie möglich auf einen Clan zu stoßen, in der Hoffnung ebenso schnell wieder zurückkommen zu können.“

Stattdessen hatten sich beide Brüder nie mehr gesehen. 

„Rückblickend betrachtet kann ich ihn sogar verstehen...welcher Clan nimmt einen Jungen auf, der noch das Maul eines Fünfjährigen mitbringt, welches es zu stopfen gilt?“

Nachdenklich unterbrach er sich kurz, ehe er weitersprach. 

„Vielleicht hätte er warten sollen bis ich alt genug gewesen wäre, aber ich glaube er hatte Angst uns bliebe nicht mehr so viel Zeit. Er hatte...immer häufiger Ärger mit den Männern die Rosalie hatte, die Vorräte waren jeden Monat knapper...Die beste Möglichkeit die er hatte war zu gehen. Und ich hoffe er ist nie dorthin zurückgekehrt, ich hoffe er konnte Stillwaters Reach vergessen.“

Ein Dorf umgeben von Hügeln, mit guter Erde, mit vielen Seen und Flüssen und doch zugleich nichts anderes als ein Gefängnis. 

Ein leises Seufzen beschloss vorerst die Erzählung des Jüngeren und wieder entstand eine Art vertrautes Schweigen zwischen ihnen. 

Die Hand, die so abrupt aufgehört hatte Clarence im Nacken zu streicheln, nahm ganz langsam ihre Bewegung wieder auf. 

„Dein kleiner Bruder...würdest du mir ein bisschen von ihm erzählen?“, ergriff er schließlich nach einer Weile wieder das Wort und gab Clarence einen winzigen Kuss auf die Halsseite. Es war das erste Mal, dass Cassie sich überwand und eine Frage stellte von der er wusste, sie würde den Größeren an eine schmerzliche Erinnerung denken lassen. Doch er würde Clarence mit jener Erinnerung nicht alleine lassen, ebensowenig wie Clarence ihn mit den seinen allein ließ. 

„Wie hieß er, hm?“


Clarence B. Sky

Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre gemeinsame Zeit mit Liebkosungen und Gesprächen verbrachten. Nicht immer schliefen sie nach erschöpfendem Sex sofort ein, sondern blieben dicht beieinander und redeten währenddessen über Gott und die Welt. Aber eben auch nur das.

Sich bewusst außerhalb des Offensichtlichen Zeit füreinander zu nehmen, tiefgründige Gedanken miteinander zu teilen und sich nahe sein ganz ohne dass ein gewisser Anstand es nach verlebter Intimität so gebot, eben jene Kostbarkeit gönnten sie sich viel zu selten. Wie auch, ständig getrieben durch Wanderschaft, Segelstunden und Rekonvaleszenz?

Erst seit ihrem Aufbruch von der kleinen Insel Cascade Hill waren sie dem Gröbsten vorerst entgangen und – wenigstens für den Moment – frei von Lasten und weiteren Tagespunkten. Die Stunden, die zuvor gefüllt gewesen waren von dem Bedürfnis der Metropole zu entkommen oder sich gegenseitig Verbände zu wechseln, suchten sich nun andere Geschehnisse um darunter verlebt zu werden und dabei eröffneten sich den beiden jungen Männern Möglichkeiten, die in ihrem früheren Leben miteinander niemals Raum gefunden hätten.

Viel zu viel Grenzen und Regeln hatten sie damals beschränkt, hatten die Tage in unangenehmes Schweigen gehüllt und es ihnen unmöglich gemacht einander näher kennenzulernen als der andere es zuließ. Irgendwann war die Stille zur Gewohnheit geworden die über jeder eingenommenen Mahlzeit gelegen und ihren Alltag bestimmt hatte; die breite Kluft, welche seitdem zwischen ihnen lag, hatte erst durch Brücken und Leitern überwunden werden müssen und selbst heute noch war dieser Vorgang ein Prozess, in welchem sie jeden Tag dazu lernten um aneinander und miteinander zu wachsen.

Was Clarence recht früh gelernt hatte – nämlich Fragen zu stellen anstatt Gesprächsfetzen im Sande und damit in erneutem Schweigen verlaufen zu lassen – war für seinen Partner noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden oder aber rührte so tiefe Emotionen im Jüngeren herauf, dass der Blonde letztlich nicht anders konnte als seinen Mann dicht an sich zu ziehen und ihm darunter zu zeigen, dass er selbst in der aufgewühlten Gefühlswelt nicht alleine gelassen wurde. Weder dort, noch auf irgendeiner anderen Ebene ihres Seins würde Claire jemals von Cassies Seite weichen, jedenfalls nicht seitdem sie sich zueinander bekannt und sich geschworen hatten, einander in guten wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit wie auch in Krankheit zu gehören.

Zärtlich und ruhig kraulten die unvollständigen Finger des Jägers über die fremden Schultern hinweg wie auch die Kuppen des Kleineren zärtlich durch seinen Nacken streichelten und beschworen unter dem wieder aufgenommenen Tänzchen einen Frieden, wie sie ihn nur viel zu selten miteinander auskosteten. Clarence liebte das Gefühl der Nähe zu seinem Ehemann; all die kleinen Gesten, die Zuwendung und der Hautkontakt bargen eine Intimität wie er sie kaum zuvor jemals mit einem anderen Menschen geteilt hatte und wie er sie auch nie wieder mit jemand anderem außer Matthew erleben wollte.

Ein verstehendes Brummen drang tief aus der Brust des Bären hinauf als der Jüngere ihm endlich die Beweggründe des lange verschollenen Bruders offenbarte und machte es Claire damit einfacher zu verstehen, wie man nicht nur ein fünfjähriges kleines Kind, sondern auch so einen wundervollen Jungen wie Cassie hatte zurück lassen können. Es machte durchaus Sinn zu bezweifeln, dass eine Reise zu einem Jägerclan niemals ein Ziel finden würde mit einem nutzlosen Kind im Gepäck und selbst wenn der Hüne gedanklich weiter auf einem möglichen Warten herum reiten würde, so war doch der letzte der genannten Gründe der triftigste von allen, um den alleinigen Aufbruch Davids für einen Unwissenden nachvollziehbar zu machen. Er war in einem Alter gewesen, in dem er langsam aber sicher mehr Mann als Jüngling gewesen war. Alt genug um sich mit den Liebhabern seiner Mutter anzulegen und doch jung genug, um sich regelmäßig für seine Frechheiten eine einzufangen. Zunehmend groß und kräftig genug um sich seinen Unterhalt und damit auch die Nahrungsmittel selbst zu erwirtschaften – und ohne jegliche Möglichkeiten, um in einem winzigen Dorf ohne nennenswerten Anschluss anderweitig Fuß fassen zu können.

Was blieb, war nichts anderes als die große weite Welt und die Ungewissheit.

War das ein Leben für einen Fünfjährigen? Wandern, hungern, kein festes Dach über dem Kopf – wenn Matthew auf der anderen Seite aber sicher noch klein genug gewesen war, um den gröbsten Zorn der fremden Stiefväter von sich abzuhalten?

Versunken in Gedanken schloss Claire für einen Moment die Augen und genoss nichts anderes als das Haupt seines Partners an der Schulter, das Rauschen des Meeres und das sanfte Wiegen des Bootes am Pier. Früher mochte die Stille zwischen ihnen belastend gewesen sein, ein Umstand der sich schon längst von Grund auf geändert hatte, und nichts genoss der Jäger so sehr wie eine Verbundenheit, in der selbst das Schweigen von warmen Gefühlen durchzogen war wie mittlerweile bei ihnen beiden.

Erst als der Jüngere seine Stimme erhob um das Kreischen der Möwen zu durchbrechen öffnete der Blonde wieder seine Augen einen Spalt breit, unsicher ob er richtig gehört hatte oder ausversehen über der heimeligen Zweisamkeit weggenickt war. Es gestaltete sich äußerst unüblich seitens Matthews konkrete Fragen zu stellen ohne sie mit einem weitläufigen Spiel zu verbinden und die Unsicherheit, die mit dem vorsichtigen Herantasten des ehemaligen Söldners verbunden war, entging Clarence keinesfalls.

„Mhh… ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt schon einen Namen hatte“, überlegte der Bär leise und blinzelte dem verfallenen Horizont der untergegangenen Großstadt entgegen. „Ich weiß, dass meine Eltern in den Wochen davor viel darüber diskutiert haben, aber… das haben sie eigentlich jedes Mal, ohne auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.“

Gail und Sandfort Barthomoly Sky waren nie besonders sparsam gewesen wenn es um Wortgefechte und liebevolle Dispute gegangen war, noch weniger hatten sie hinterm Berg gehalten was ihre Zuneigung füreinander anging. Selbst ein Blinder hätte auf eine Meile Distanz erkennen müssen wie sehr sich dieser Mann und diese Frau geliebt hatten, allen etwaigen Unterschieden zum Trotz.

„Wir Sky-Männer sind ziemlich Zuverlässig was das Zeugen von Nachwuchs angeht, aber haben gleichzeitig ein Händchen dafür uns ausgerechnet die Frauen mit der höchsten Komplikationsrate auszusuchen“ – ein der Thematik beinahe schon ungemessenes Schmunzeln legte sich dabei über die Lippen des Blonden, einfach weil Mutter Natur ihren dunklen Humor nicht besser hätte ausleben können als in seinem Familienstammbaum.

„Ich hab nie so wirklich viel davon mitbekommen wenn meine Mutter ihre Kinder bekommen hat, mein Vater hat immer dafür gesorgt, dass ich in der Zeit möglichst beschäftigt oder bei meiner Tante war. Zwei Mädchen sind bei der Geburt gestorben, ich weiß nicht weshalb… und ein Junge kam mit Missbildungen auf die Welt, weshalb ich ihn gar nicht erst zu Gesicht bekommen hab. Meinen kleinen Bruder konnten wir auch nicht behalten, aber bis er begutachtet war…“

Ein helles Seufzen legte sich zwischen ihnen nieder, geprägt von Bedauern aber auch von spürbarem Stolz angesichts der Tatsache, dass dieses Baby das einzige gewesen war, welches er tatsächlich kennengelernt hatte.

„Mein Vater war noch unterwegs um meinen Großvater zu holen, deshalb war ich mit meiner Mutter alleine im Haus. Es ging alles furchtbar schnell, irgendwann sind da diese Schreie ertönt… und irgendwann später, ich hätte schwören können es ist eine Ewigkeit gewesen, hat meine Ma nach mir gerufen. Sie war ganz blass und ich glaube, sie hat versucht die gröbste Schweinerei mit der Tagesdecke zu kaschieren…“

Es war absolut unüblich dass Männer bei solchen Geschichten mit im Raum waren, zumeist bekam man den Stammhalter erst dann präsentiert, wenn alles wieder im Reinen und das Kind einigermaßen adrett zurecht gemacht war. Durch die späte Aufklärung war es dem jungen Barthy Junior sowieso nie ein Begriff gewesen wo dieses schreiende Bündel so plötzlich hergekommen war – immerhin, so hatte er gehofft, funktionierte das ja ganz sicher anders als bei den Kühen im Stall – und seine Mutter in diesem Zustand zu erleben ein Novum, welches nie ein zweites Mal vorgekommen war.

„Er war eingewickelt in einen Kopfkissenbezug und noch ganz verschmiert, aber er hatte eindeutig den Blondschopf unseres Vaters geerbt, genau wie ich. Sie hat mich aufs Bett zu sich gewunken, hat bis über beide Ohren gestrahlt… und dann hat sie ihn mir in die Arme gelegt. Er war ganz klein und pummelig und hat geschrien wie am Spieß… wie Babys eben so sind. Hat sich gewunden in seinem Bezug und gar nicht wirklich zurecht gefunden in der Welt, die für ihn ganz neu und anders war. Ich weiß nicht wer stolzer über dieses kleine Ding war, meine Mutter weil sie das ganz alleine hinbekommen hat oder ich, weil ich endlich ein Bruder geworden war“, erinnerte er sich leise an die kostbaren Stunden des ausklingenden Abends und die Vertrautheit, welche damit einher gegangen war. Genauso warm wie die Umarmung seiner Mutter fühlten sich heute die Arme seines Mannes um ihn an – geliebt, behütend und über die Zeit hinweg unverzichtbar geworden wenn es darum ging, sich alleine in der Gegenwart eines anderen Menschen Zuhause zu fühlen.

„Irgendwann hat sie ihn wieder zu sich genommen um ihn zu stillen… im einen Arm lag er, im anderen lag ich und hab ihm einfach nur beim Trinken zugesehen. Wenn ich daran zurück denke glaube ich nicht, dass meine Ma und ich jemals einen Moment zusammen verlebt haben der schöner war als dieser Nachmittag und das verdanken wir ganz alleine dem Kleinen.“

Sein Leben mochte kurz gewesen sein und dadurch kaum nennenswert, er hatte weniger in der Außenwelt geatmet als seine Mutter ihn unter dem Herzen getragen hatte. Trotzdem hatte er viel bewegt, hatte eine Menge an Emotionen ausgelöst wie manche sie in einem ganzen Leben nicht in anderen Menschen auszulösen vermochten und war bis heute nicht vergessen, eingewoben in die Erinnerungen seines großen Bruders.

„Was war mit Rosalie, war sie nie schwanger nachdem du auf der Welt warst?“, senkte Clarence raunend das Haupt etwas hinab und Cassie zu betrachten, noch immer eng an den Jüngeren geschmiegt. Vermutlich konnte er sich die Frage beinahe schon selbst beantworten, denn gewalttätige Liebhaber ließen nicht oft Spielraum für eine gesunde und bleibende Empfängnis; außerdem war es sicher besser so dass es nach Matthew keine weiteren Kinder mehr im Leben dieser Frau gegeben hatte, auch wenn er seinem Mann das Dasein als großer Bruder ebenso gewünscht hätte wie sich selbst.


Matthew C. Sky

Ein Sprichwort sagte, Namen seien nur Schall und Rauch. Unwichtig in Bezug auf so viele Dinge und doch...definierten sie einen Menschen oder ein Haustier. 

War ein Jemand ohne Namen denn richtig am Leben? Welche Inschrift trug das Kreuz oder der Stein unter dem man begraben war und spielte das eine Rolle? Ja und nein. Ein kleiner, toter Bruder ohne Namen, war für Matthew jedenfalls noch schlimmer als ein kleiner, toter Bruder ohnehin schon. 

Woher Clarence seine Gefasstheit nahm? Matt wusste es nicht zu sagen. Vielleicht war er selbst zu weich für die Welt, zu zart für den Tod, vielleicht maß er den falschen Dingen Bedeutung zu. 

Während Clarence von den Augenblicken sprach, in denen er seinen Baby-Bruder kennengelernt hatte, versuchte Matthew sich vorzustellen wie furchtbar es für die Eltern des Größeren gewesen sein musste, ein ums andere Mal Kinder zu verlieren. 

Sie stritten im Vorfeld um Namen, bereiteten alles für die Ankunft des neuen Familienmitglieds vor...und am Ende blieb ihnen nichts außer die Erinnerung an wenige gemeinsame Momente. 

Entstellte Babys, Kinder die noch bei der Geburt starben oder deren Herzen vielleicht schon im Mutterleib aufhörten zu schlagen... all das war grausam und ungerecht. 

Aber die Stimme des Blonden klang nicht belegt von unterdrückten Tränen, nicht schwer von Kummer - sondern war erfüllt von eigentümlichem Stolz. Egal wie lange er einen kleinen Bruder gehabt hatte, das Baby hatte sich in sein Herz geschlichen. Namenlos oder nicht, es war unvergessen. 

Ich weiß nicht wer stolzer über dieses kleine Ding war, meine Mutter weil sie das ganz alleine hinbekommen hat oder ich, weil ich endlich ein Bruder geworden war.“ 

Fragend sah Matthew zu seinem Mann empor, in seinem eigenen Blick lag Mitgefühl und Trauer über das tragische Schicksal jener zwei Geschwister und obwohl Clarence allen Grund dazu gehabt hätte traurig zu sein, so wirkte er nicht danach. 

Es war bewundernswert, wie Clarence es geschafft hatte die Dinge anzunehmen die geschehen waren. Er hatte sich ihnen nicht ergeben, er war nicht resigniert oder verloren. Er wirkte gerade einfach... mit sich und seinem Leben im Reinen - allen durchlittenen Tiefen zum Trotz. 

Matthews Gedanken kreisten noch um das Bild, dass er von jenem Ereignis vor Augen hatte, da erkundigte sich der Blondschopf bereits nach Rosalie. Aber die junge Frau passte nicht in die Geschichte und unwillkürlich spürte Matt eine altbekannte Wut in sich aufwallen. Man konnte nicht sagen er hasste Rosalie Reed - aber er liebte und verachtete sie zugleich. Seine ambivalenten Gefühle zu seiner Mutter konnte er kaum verhehlen, denn anders als bei Clarence der Fall, war sein Verhältnis zu Rosalie immer gespalten gewesen. Momente von Frieden und stiller Übereinkunft hatte es zwischen ihnen nie gegeben und auch nicht zwischen David und ihr, sofern er daran Erinnerungen trug. 

„Sie hat mir mal gesagt...einige Zeit nachdem David fort war, ich sei ein Wunder. Mich hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen, umso glücklicher war sie, als sie mich bekommen hat.“ - die Zweideutigkeit dieser Worte war ihm, nun da er es aussprach, nicht entgangen und sie hatten einen ganz besonderen Klang erhalten, seit jene Frau am Pier aufgekreuzt war um ihm zu sagen, Rosalie sei nicht seine echte Mutter. 

„Sie war....“, er schwieg wieder kurz, dieses Mal aber nicht um Tränen zu verdrängen - denn diesen Kampf hatte er gewonnen - sondern um die richtige Beschreibung für sie Rosalie Reed zu finden. Etwas, dass in wenigen Worten ihr Wesen und ihr Verhältnis zu ihren Söhnen vermittelte. 

„...völlig weltfremd. Verklärt, wenn man so will. Sie hatte völlig abwegige Wünsche, fernab aller Realität und sie hat jedem Dahergelaufenen geglaubt, wenn der ihr gesagt hat in ihr etwas besonderes zu sehen.“ - seine Mutter war nicht böse gewesen, nicht so wie Nagi Tanka oder der gütige Mann oder Le Rouge.

„Sie wäre gern...etwas besseres gewesen, glaube ich. Und sie hat sich und uns immer eingeredet eines Tages würde sich das Blatt wenden. Wir würden Stillwaters Reach verlassen, in der Welt ankommen, etwas bedeuten, große Dinge vollbringen.“, er zuckte die Schultern. Nichts war aus diesen Träumereien geworden, Rosalie Reed war nicht zu Höherem bestimmt gewesen und ihre Kinder ebenso wenig.

„Sie wollte mehr als das Leben ihr bieten konnte und...ich denke es ist gut, dass ich ihr letztes Kind war.“

Anders als Clarence, wollte er keine weiteren Geschwister haben als David. Die Vorstellung mit der Irren aus Coral Valley verwandt zu sein bereitete ihm Unbehagen und auch davon abgesehen war er nicht erpicht auf weitere Verwandtschaften zu irgendwem. 

Seine Familie war kümmerlich gewesen und so waren seine Vorstellungen von einer heilen Welt auch. 

Er wusste, dass die Umstände seines Aufwachsens nicht der Normalität entsprachen und er wusste in der Theorie auch wie es hätte sein sollen. Aber er wusste nicht wie sich Mutterliebe oder Vaterliebe anfühlten, er wusste nicht wie es war wenn ein Vater ihn etwas lehrte oder eine Mutter ihm aufgeschürfte Knie verarztete. Familienbande waren etwas Theoretisches und aus irgendeinem Grund wollte er sich mit seiner etwaigen Sippe nicht in Verbindung setzen. David mal ausgenommen. 

„Dein kleiner Bruder...“, schlug er den Bogen zurück zu dem namenlosen Bündel welches trotz seines kurzen Lebens einen bleibenden Eindruck in Clarence‘ Herz und Erinnerung hinterlassen hatte. „Weißt du...was mit ihm passiert ist? Du sagtest...er wurde begutachtet? Wer hat ihn sich angesehen und...hat dieser Jemand dann entschieden, dass...dass ihr ihn nicht behalten konntet?“

Die Formulierung die Clarence verwendet hatte, hatte einen komischen Beigeschmack für Matthews Empfinden, ebenso die Art wie der Größere sein Brüderchen beschrieben hatte. 

„Er war ganz klein und pummelig und hat geschrien wie am Spieß… wie Babys eben so sind...“ - hatte er gesagt, scheinbar ohne sich bewusst darüber zu sein, dass diese Worte so ziemlich das perfekte, gesunde Baby beschrieben. 

Wahrlich, Cassie war kein Fachmann für Neugeborene und Kleinkinder und wahrscheinlich gab es eine Million plausible Gründe warum das Baby es nicht geschafft hatte - aber die Fragen blieben einfach hängen. 

Gut möglich, dass der Dunkelhaarige Gespenster sah wo keine waren, ebenfalls denkbar, dass Clarence als Kind die Anzeichen einfach nicht entdeckt hatte die ihm etwas über den fragilen Zustand des Jungen hätten verraten können.

Aber wenn das so war...hätte seine Mutter in dann zu sich gerufen um den Neuankömmling zu begrüßen?

Nach allem was Clarence beiläufig über seine Mutter schon erzählt hatte, erschien es Matthew als merkwürdig, dass sie ihren Sohn zu sich rief, strahlte und das Baby voller Glück und Stolz dem Ältesten präsentierte. Und wenn sie, so wie Clarence es sagte, davor schon drei Kinder zur Welt gebracht hatte die es nicht geschafft hatten...hätte sie da nicht ein Gespür dafür haben sollen wie es um den Säugling stand?

Matt, der nicht verhindern konnte die Dinge die Clarence ihm sagte zu beurteilen und zu hinterfragen, hatte ein merkwürdiges Gefühl und wurde selbiges einfach nicht los. 

Wahrscheinlich übertrieb er maßlos und versuchte grundlos eine Verschwörung herbeizureden wo es keine gegeben hatte, einfach weil er überall Verrat und Fallen witterte. 

Er war auf das Leben auf gänzlich andere Weise geprägt worden als Clarence. Vertrauen, Liebe, Heimat, Familie - nichts davon hatte er kennengelernt. Sein Blick auf die Welt war hinterfragend und skeptisch, was es schwer machte ihn rückhaltlos für eine Sache zu gewinnen. Auf der anderen Seite jedoch, hatten ihn die Umstände seines Lebens zu einem Menschen mit feiner Intuition gemacht. Worte bedeuteten ihm wenig, es war sein Instinkt auf den er sich verließ wenn es hart auf hart kam. 

Und auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte warum zum Henker etwas an der Geschichte nicht stimmen sollte, die Clarence ihm erzählte, so blieb das Bauchgefühl erhalten, dass etwas nicht ganz richtig war. 

Mit der Tür ins Haus fallen konnte und wollte er dennoch nicht. Denn was auch immer nun der Wahrheit entsprechen mochte, Clarence hatte seinen Bruder verloren, seine Eltern, sein Heim und letztlich auch die selbst gegründete Familie. Zweifel in ihm zu säen wegen nichts weiter als einem komischen Gefühl... Das war nichts, was Matthew wollte, also blieb es vorerst bei eben jenen gestellten Fragen, in der Hoffnung die Antworten würden ihm schlüssig erscheinen. 


Clarence B. Sky

Clarence hatte Rosalie Reed nie kennengelernt und das würde er auch niemals können, denn noch lange bevor er Willow Creek verlassen hatte, hatte auch jene Frau ihrer Welt den Rücken zugekehrt. Unfreiwillig, ganz ohne Frage, aber wenn man Cassie so zuhörte, unterm Strich doch irgendwie selbstverschuldet.

Es entging ihm keinesfalls wie sein Mann über seine Mutter sprach. Die Formulierungen, alle seine Worte, sie waren die eines Erwachsenen der ernüchtert mit fortgeschrittenem Verstand und Erlebnissen auf eine Kindheit zurück blickte, die im Grunde keine war. Sehr genau und diplomatisch konnte Matthew die Frau beschrieben die ihn mehr in der Theorie als in der Praxis großgezogen hatte und wenn sie wirklich so gewesen war wie der Dunkelhaarige sie darstellte, hatte sie sich mit jedem Mann ein neues kleines Stückchen ihres eigenen Todes ins Haus geholt, bis er sie schließlich eingeholt hatte.

Doch so wenig Mutter und Vorbild sie ihren Söhnen auch gewesen sein mochte, am Ende hatten ihre zwiespältigen Prophezeiungen doch ein Fünkchen Wahrheit beinhaltet. Matthew war aus Stillwaters Reach hinaus gekommen, er bedeutete etwas, er hatte große Dinge vollbracht.

Für den Blonden wog der Wert Matthews mehr als Gold, Edelsteine oder sein Leben selbst; er hatte gemacht, dass Clarence wieder an Liebe und an Zukunft glaubte und hatte ihm letztlich sogar Freude und ein wenig Glück zurück gegeben. All das mochte gemessen an den Taten großer bekannter Abenteurer und Phantome nicht viel wiegen, doch in ihrem eigenen kleinen Kosmos…?

Was der Christ heute hatte, verdankte er alleine Cassie. Dieser Mann hatte das ganze Leben eines Menschen verändert, hatte das Blatt des bevorstehenden Hungertodes gewendet und würde mit ihm die Welt bereisen um mit eigenen Augen Dinge zu erblicken, von denen nur wenige Menschen überhaupt auf jene Weise gewahr waren. Was der kleine Matthew an Bedeutung und Größe eingebüßt hatte, machte der erwachsene Matthew hundertfach wieder wett und würde Rosalie Reed noch leben, wäre sie mehr als nur stolz auf ihren jüngsten Sohn – dessen war sich Clarence genauso unumstößlich gewiss wie der verfallenen Geisterstadt, die sich hinter dem Sandstrand vor ihnen in den Himmel erhob.

Doch so sehr er sich dessen sicher war, so sehr ließ sein Mann ihn auch zwischen den Zeilen wissen, dass es nicht länger seine verschiedene Mutter war über die der Jüngere reden wollte. Leise brummte der Bär sein sinnierendes Brummen, wiegte sich mit dem schönen jungen Mann zu ihrem tonlosen Lied und betrachtete Matthew nachdenklich, beinahe zögernd.

„Bei uns läuft es nicht völlig anders ab wie bei euch auch, nur eben aus… anderen Gründen“, begann er dem Kleineren vorsichtig eine Antwort auf dessen gestellten Fragen zu geben. Schon jetzt wusste er, dass dem pflichtbewussten Söldner nicht alles gefallen würde von dem was im Madman Forest vor sich ging, aber wem würde das schon?

Sie waren verschrien unter dem wenig angenehmen Begriff Fanatiker – verrückte Religiöse, die eigenen Regeln und Gesetzen folgten und die sich nur wenig ums Recht auf Selbstbestimmung und Unversehrtheit Fremder scherten. Wer durch dieses Fleckchen Land hindurch reiste, bekam das zu spüren ohne direkt auf jemanden von ihnen treffen zu müssen und die Sünder, die ihren Fängen trotz ausgesprochenem Urteil entkamen, hatten nicht gerade Friede, Freude und Eierkuchen über jene exotische Sippschaft zu berichten.

„Kommt ein Kind zur Welt, dann kommt auch der Arzt ins Haus. Er versorgt die Mutter und untersucht das Baby, schaut nach ob es gesund ist. Bis zu der Nacht wo er verschwunden ist, war das bis dahin immer mein Großvater gewesen und er hat damals auch meinen Bruder begutachtet. Der Arzt schaut nach ob alles dran ist was man braucht, dass nichts zu viel da ist und ob das Kind anderweitige… Auffälligkeiten aufweist. Ich hab ihn irgendwann mal gefragt was das heißt und er meinte, dass man viele Formen von Behinderungen an der Verteilung des Körperbaus ablesen kann. An der Form der Augen und der Finger, daran wie die Finger- und Zehennägel beschaffen sind, der Länge der Beinchen… solche Sachen halt.“

Für einen Moment schwieg der Blonde und schien in sich gekehrt; er hatte seinen Großvater nie gefragt was an seinem Brüderchen auffällig gewesen war, einerseits weil er die Antwort darauf nicht hatte wissen wollen, andererseits weil es wohl in der Natur des Menschen lag zu befürchten, auch mit einem selbst stimme vielleicht etwas nicht. Was war, wenn das Baby wegen etwas hatte abgegeben werden müssen und er stellte fest, dass er als großer Bruder genau das gleiche Problem hatte? Was war, wenn man bei seiner eigenen Geburt während der Begutachtung etwas übersehen hatte und man entschloss sich trotz seines fortgeschrittenen Alters dazu, dass auch Clarence Bartholomy Sky nicht länger in Fort Martyrdom würde leben dürfen?

Für jeden anderen Menschen mochten solche Gedanken eines Kindes nach nichts weiter klingen als sinnloser, typischer Panik – aber in der Kultur in derer er gelebt hatte war das eine durchaus ernstzunehmende Angst gewesen, die ihre Berechtigung hatte.

„In Runty Crowd mag man solche Kinder ja heranziehen und Erwachsene mit derartigen Problemen schätzen, aber nenn mir irgendein Dorf, das Jahrzehnte lang so ein Maul stopft, ohne dass es jemals etwas zur Gesellschaft wird beitragen oder sich selbst ernähren können. Das kann sich niemand leisten“, schüttelte Clarence unmerklich den Kopf, denn selbst wenn das nur ein beinahe schon unbedeutender Nebenaspekt war weshalb auch bei den Fanatikern Kinder einfach für unwert erklärt wurden, konnte er einen solchen Beweggrund durchaus nachvollziehen.

„Wir leben nach den Grundsätzen der Bibel und die sagt, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Weicht ein Kind davon ab, dann ist davon auszugehen, dass es nicht der Wille Gottes ist und dann bleibt nur, dass der Teufel seine Finger mit im Spiel hat. Das passiert“, erklärte er ruhig, denn für einen Menschen der aufgewachsen war mit den Werten und Grundsätzen wie er, für den waren solche Regeln und die daraus folgenden Konsequenzen alltägliche Normalität. „Aber wir erhalten kein Leben, das seinen Ursprung in der Hölle hat. Wird bei der Begutachtung klar, dass das Kind behindert ist, wird es als unwert gezeichnet. Der Arzt schneidet ihm ein Kreuz in den linken Handrücken und dann wird es in den Wäldern ausgesetzt. Auf diese Weise ziehen seine Schreie und das Blut Tiere und Mutanten an. Das Ritual stellt sicher, dass… dass das vom Teufel gezeugte Leben restlos vom Erdboden getilgt wird und das heilige Land nicht länger verdirbt.“

Das mochte grausam und abartig klingen, aber angesichts des Glaubens der in seiner Heimat praktiziert wurde, machte das durchaus Sinn. Clarence hatte das von klein auf niemals anders gekannt und damals festzustellen, dass hier draußen andere Regeln gelten, war ein mittelmäßig schwerer Kulturschock für ihn gewesen. Selbst heute tat er sich noch schwer im Umgang mit solchen Menschen und trat nur dann widerwillig mit ihnen in Kontakt, wenn es sich überhaupt nicht anders vermeiden ließ.

„Wenn das mit einem Neugeborenen passiert… ist es aus dem Stammbaum getilgt. Es wird nicht mehr über das Kind gesprochen, ganz so als wäre es nie da gewesen und deshalb habe ich in den Augen meiner Familie auch nie einen Bruder gehabt. Aber das hat mir trotzdem nicht die wenigen Stunden mit ihm und meiner Mutter genommen.“

Die Vorstellung daran, wie sein Großvater dem Brüderchen das Fleisch zerschnitten hatte und es im Wald ausgesetzt worden war um gefressen zu werden, war für Clarence heutzutage mehr als zwiegespalten. Auf der einen Seite war er selbst Vater gewesen, hatte mit seinem ersten Kind erst so wirklich verstanden was für ein Schmerz es sein musste den eigenen Nachwuchs auf diese Weise zu verlieren, aber auf der anderen Seite war er vom Glauben her noch immer einer jener Menschen, den andere Fanatiker nannten. Unterm Strich war es einfacher ein Kind zu herzugeben das vom Teufel besessen war, als ein eigentlich kerngesundes Kind sinnlos an Krankheit oder Gewalt zu verlieren.

„Das ist sicher nicht die Antwort, die du gerne von mir gehört hättest“, fasste Clarence schließlich sicher treffend zusammen was sein Mann gerade angesichts der neuesten Erkenntnisse empfand. Aber sie war die Wahrheit und weder fand er Sinn darin, noch hätte er Freude daran gehabt den Jüngeren anzulügen.


Matthew C. Sky

Matthew hatte in seinen siebenundzwanzig Lebensjahren schon eine Menge abartiges Zeug gehört, gesehen und am eigenen Leib erfahren- aber zu hören wie Clarence Bartholomy Sky beschrieb was mit seinem Brüderchen passiert war, reihte sich ohne Zweifel in jene Abartigkeiten ein. 

Der kleine Junge war vielleicht gar nicht behindert gewesen, stattdessen hatte man beurteilt ob er leben durfte oder sterben musste anhand etwas so Beliebigen wie der Form der Augen. 

Es entsetzte Matthew, dass Clarence auch nach Jahren in der Freiheit und Zivilisation diese Praktik nicht zu hinterfragen schien. 

Mit den Worten „Das passiert.“ ließ er Matt wissen, dass es zum Leben dazugehörte ein Kind zu zeugen und auf die Welt zu bringen bei dem der „Teufel seine Finger im Spiel gehabt hatte“.

Ganz so als sagte man ‚Du hast dich geschnitten? Das passiert.‘ oder ‚Es ist nicht schlimm dass dir die Tasse runtergefallen ist. Das passiert.‘ Achselzucken, Scherben beseitigen und weiter. 

Aber so war es in diesem Fall nicht. Es war kein abgerutschtes Messer mit dem man sich ungeschickt die Hand verletzte und es war auch kein Geschirr welches zu Bruch gegangen war. 

Ausgelöscht und von der Erde getilgt hatte man das Neugeborene - und gerechtfertigt hatte man diese abscheuliche Prozedur mit dem Willen Gottes. 

Dabei belegte doch das gesamte Tun eigentlich die vollkommene Abwesenheit eines Gottes. 

Cassie war ganz flau im Magen geworden und ließ sich von Clarence lediglich noch mitnehmen bei ihrem Tanz. Was der Größere ihm erzählte und vor allem wie er es tat, passte nicht zu dem wie Matthew ihn sah und sehen wollte. Clarence Sky war ein kluger Mann, seine abergläubischen Anwandlungen nichts weiter als harmlose Spinnereien. Clarence Sky hatte ein Empfinden für richtig oder falsch, er hatte Werte und Grundsätze nach denen er handelte und lebte. Clarence Sky war kein verrückter Fanatiker der es rechtfertigte ein Kind zum Sterben auszusetzen, nur weil die Fingernägel nicht so beschaffen waren wie es irgendein Quacksalber für richtig befand. Er tat so etwas nicht, ganz einfach weil Clarence Sky ehrenhaft und gütig war. 

Viele Dinge lagen dem jungen Mann auf der Zunge und noch mehr gingen ihm durch den Kopf. Ungeordnet und wild, einige unfair und verurteilend - die meisten aber schlichtweg entsetzt von so viel gebilligter Grausamkeit. Natürlich war Clarence damals noch ein Kind gewesen, natürlich hatte er hingenommen was die Erwachsenen bestimmt hatten und natürlich hatte er geglaubt - wie hätte es auch anders sein sollen?

Alles was in der Bibel gestanden hatte, alles was seine Gemeinde mit der Hilfe Gottes geschaffen und gerechtfertigt hatte, hatte der kleine Barthy Junior akzeptiert und hingenommen, weil ihm einfach nichts anderes vorgelebt worden war. 

Ein Kind, das wusste Cassiel selbst, passte sich an um nicht anzuecken. Und einem Kind konnte man keinen Vorwurf machen. 

Aber Clarence war längst kein Kind mehr und Matthew hatte grundsätzlich nichts übrig für Gewalt, wenn sie sich gegen die Schwächsten richtete. Matthews erste Worte nach dieser entsetzlichen Geschichte klangen vorsichtig und zu gleich mahnend und sollten eines ganz unmissverständlich tun: Clarence an etwas erinnern. 

„Ihr habt nach den Grundsätzen der Bibel gelebt.“ 

Vergangenheit.

Bei allen Äußerungen die der Blonde über diese Sache gemacht hatte, hatte er so davon gesprochen als gehöre er noch immer zu diesen Leuten, als würde er das was in diesem verdammten Buch stand noch immer als Rechtfertigung für alles nehmen. Und das, obwohl er nicht mal lesen konnte. Was das ganze noch zusätzlich skurril machte, denn vermutlich hatten auch seine Eltern nicht lesen können. Sie hatten also ihre Kinder hergegeben, ohne jemals selbst gelesen zu haben ob in ihrem Gottesbuch überhaupt etwas darüber stand. 

„Du lebst nicht mehr dort und nach den Grundsätzen der Bibel. Rede nicht so davon als sei... das hier nur ein Urlaub für dich, aus dem du irgendwann wieder heimkehrst, zurück in ein Leben wo du mit Anderen...“, der Satz blieb unvollständig, was aber nichts daran änderte das offensichtlich wurde wie Matthew das Erfahrene aufgefasst hatte. Er konnte und würde nicht gutheißen was in dieser Gemeinde vonstatten ging, völlig egal ob es in der Bibel stand oder nicht. Und Clarence gehörte nicht mehr zu diesen Leuten. Sein Clarence war anders, war klüger, war sanfter und voller Herz. Ihn so reden zu hören, zeigte dem Dunkelhaarigen eine Seite, mit der Cassie noch nicht umgehen konnte. 

„Das gefällt mir nicht.“

Matthew war klar, dass sein Mann unter Umständen aufgewachsen war die mit den seinen gar nichts zutun hatten - zum Glück. Aber die Menschen in der Gemeinde des „Madman Forest“ wurden nicht umsonst als verrückt abgestempelt und die Wälder trugen auch nicht einfach so jenen Namen. In gewisser Weise war dem Dunkelhaarigen auch bewusst, dass es Sachen gab die Clarence getan oder geduldet hatte, über die er besser nicht nachdachte. 

Aber das galt auch für ihn selbst. Sie alle hatten Dinge gemacht die man lieber ausblendete, weshalb Cassie versuchte Clarence auch nicht zu verurteilen. Was der Hüne beschrieben hatte war aus der Sicht eines Menschen der nicht dort aufgewachsen war, grausam und unkultiviert. 

Kinder, die behindert waren und denen man ansah oder anhörte das sie nicht gesund waren, wurden in den seltensten Fällen am Leben erhalten - in dieser Beziehung hatte Clarence recht. 

Aber so wie der Größere es beschrieben hatte, zweifelte Cassiel daran das mit dem kleinen Jungen etwas nicht gestimmt hatte. 

Für ihn klang es so, als habe er sein Leben nur deshalb lassen müssen, weil seine Eltern und Großeltern abergläubisch bis ins Mark gewesen waren. Und nur weil irgendwann irgendwer mal entschieden hatte, dass bestimmte Merkmale dazu führten ein Leben als unwert zu kennzeichnen. Genau dieser Punkt war es, der Matthew abstieß und für den er kein Verständnis haben könnte, selbst wenn er es denn wollen würde. 

Es war eine beschissene Welt in der sie alle lebten und die Konsequenzen hatten immer die Schwächsten zu tragen. Babys die sich nicht wehren konnten, Kinder denen alles genommen wurde, Alte und Kranke um die sich niemand scherte. 

„So wie du davon erzählst... klingt es, als seien eine Menge Kinder ausgesetzt worden, ohne das es dafür einen Grund gab.“ - sagte er, um nicht sagen zu müssen ‚So wie du davon erzählst klingt es, als wurden eine Menge Kinder von ungebildeten, abergläubischen Idioten zum Sterben ausgesetzt.‘

„Ich meine...“, er zögerte, blickte kurz nach unten auf Clarence‘ Brust und versuchte die richtigen Worte zu finden.

„Wenn es den Gott gibt, an den ihr Christen glaubt, wieso sollte er dann zulassen das eine Frau ein Kind empfängt das von Gott nicht gewollt ist? Warum lässt er sie neun Monate ein Leben austragen, nur damit man es ihr kurz nach der Geburt wegnimmt um es irgendwo auszusetzen?“ dabei sah er Clarence wieder ins Gesicht. Es war eigentlich nicht Matthews Art mit dem Größeren über seinen Glauben zu diskutieren oder ihn zu hinterfragen. 

Sollte der Schamane glauben woran auch immer er wollte wenn es ihm inneren Frieden verschaffte und er darin irgendetwas fand. 

Cassie war es einerlei, allerdings konnte er gerade nicht von dem Thema ablassen, dazu regte es ihn zu sehr auf. 

„Ein guter Gott würde das weder Mutter noch Vater zumuten und dem Kind schon gar nicht...“ - was im Umkehrschluss bedeutete, dass es entweder gar keinen Gott gab, was Matthew für wahrscheinlich hielt. Oder das Gott grausam und abartig war. Ein Geschöpf welches sich an Leid und Mühsal ergötzte. Und selbiges anzubeten wäre dann nicht nur sinnlos, sondern regelrecht grotesk. 


Clarence B. Sky

„Ihr habt nach den Grundsätzen der Bibel gelebt. Du lebst nicht mehr dort und nach den Grundsätzen der Bibel. Rede nicht so davon als sei... das hier nur ein Urlaub für dich, aus dem du irgendwann wieder heimkehrst, zurück in ein Leben wo du mit Anderen...

Matthew brauchte seine kurze Ansprache nicht zu vollenden damit der Blonde verstand, was sein Partner zwischen all den Worten in Wahrheit sagte. Benimm und denk nicht wie einer von diesen Irren dort, aber auch ganz deutlich Ich will keine Etappe für dich sein, die du  wieder für dein altes Leben eintauschen würdest, wenn du könntest.

In Cassies Stimme lag Furcht vor dieser bislang unbekannten Seite des Älteren, Wut darüber wie man nur so denken konnte, Unverständnis über so viel Einfältigkeit und Angst davor, was ansonsten noch so im Spatzenhirn seines christlichen Bären herumflattern konnte. Eifersucht, weil er gerade erkannte, dass Claires Leben nicht nur aus dem Hier und Jetzt bestand und es grundlegende Unterschiede in ihrer Art übers Leben zu denken gab, die ein Zusammenleben im schlimmsten auszumalenden Zukunftsszenario vielleicht eines fernen Tages unmöglich machen könnte. Cassie gefiel das nicht, wie er so unverblümt wissen ließ, und dazu hatte er allen Grund.

Tonlos brummte der Bär, schweigend auf den Mann in seinen Armen hinab blickend, der sich mittlerweile nur noch wiegen ließ anstatt aktiv an ihrem Tänzchen teilzunehmen.

Die Grundsatzdiskussion, welche sich hier gerade zwischen ihnen anschnitt, gefiel dem Christen ganz und gar nicht – denn es musste ihnen beiden recht klar sein, dass niemand den anderen würde überzeugen können. Matthew machte seinen fanatischen Mann nicht nach all den Jahren plötzlich zum Agnostiker oder gar Atheist, noch würde Clarence den Jüngeren dazu bekehren können an den Gott zu glauben, unter dessen Gewissheit er seit nunmehr etwas über drei Jahrzehnten lebte.

Worin dieses Gespräch enden würde, war also offensichtlich: Purem Chaos und mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem seit zwei Wochen nicht mehr da gewesenen Streit, weil sie einfach keinen gemeinsamen Nenner finden konnten.

„Du willst dieses Gespräch ernsthaft mit mir führen, mh?“, stellte er also zusammenfassend die rhetorischste aller Fragen und schnaufte leise. Es schien nahezu so, als wäre diese Tendenz einseitig und so wie Claire den Kleineren für eine viel zu lange Sekunde musterte, schien er auch wirklich nicht gewillt seinem Mann Auskunft auf seine Fragen zu geben.

Die Formulierung seines Geliebten hinsichtlich der ausgesetzten Kinder mochte vielleicht bereits möglichst höflich gewählt sein, der Vorwurf der Grundlosigkeit blieb dennoch bestehen. Und das, obwohl Cassie nicht die geringste Ahnung hatte wovon er da sprach.

„Wenn es Gott gibt, warum sollte er dann zulassen, dass Kinder verkauft und misshandelt werden? Ist Gott ‚gut‘ wenn er zulässt, dass so etwas mit seinen wehrlosesten aller Geschöpfen geschieht?“

Zaghaft streichelte er mit den Fingerspitzen über den nackten Rücken des Kleineren und betrachtete ihn wachsam, sehr bewusst die Fragen aller Fragen auf etwas münzend, was Cassie durch eigene Erfahrungswerte nachvollziehen konnte.

„Unser…“ – kurz zögerte er, schüttelte dann den Kopf und korrigierte seinen Ansatz um die Angelegenheit etwas einfacher für Matthew zu machen, auch wenn es nicht gerade angenehm war selbst seinem eigenen Mann gegenüber Äußerungen verschönern zu müssen, wie es auch der Rest der Welt hier draußen von ihm erwartete. Selbst auf diesem Boot hier bestätigte sich eben mal wieder, dass man sich der breiten Masse zu beugen und wie ein toter Fisch mit dem Strom zu schwimmen hatte, statt dagegen.

„Der Gott dieser Menschen ist grausam, ohne Frage“, versuchte er es erneut, in der Hoffnung dass selbst ein Heide wie Cassie verstand, warum die Leute im Madman Forest so lebten wie sie es taten.

„Er sieht ihnen immer auf die Finger, zu jeder Zeit. Er mag sie erschaffen haben und liebt seine Kinder, aber er ist wie ein strenger Vater der nicht davor zurück scheut sie zu züchtigen, wenn sie nicht handeln wie er es von ihnen erwartet. Will er ihnen das Schwimmen beibringen, stößt er sie ins Wasser und schaut ihnen dabei zu wie sie halb ertrinken und enttäuschen sie ihn, droht er damit sie von Zuhause zu verbannen. Es ist für sie nicht immer angenehm, so einen Vater zu haben“, gestand Clarence ruhig und dabei lag sein Blick abwägend auf dem Antlitz seines Partners, unsicher darüber ob dieser verstand was er meinte.

„Manchmal testet er ihre Liebe. Dann stellt er sie vor harte Prüfungen. Vor Hindernisse, die für einen Menschen kaum zu ertragen sind. Er blickt während einer Zeugung weg und lässt eine Frau ein Kind gebären, welches sie nicht wird behalten können… oder bringt unschuldige Kinder in die Lage, sich der Gewalt von Erwachsenen unterwerfen zu müssen. Nur ein äußerst abartiger Vater würde bei so etwas weg blicken und solche Dinge zulassen.“

Wäre Gott ein Mann aus irgendeinem der zerfallenen Dörfer, vermutlich hätte er ihn an einen Alkoholoker erinnert, der kein Maß für seine perversen Späße kannte und Maßstabe für Liebe setzte, die über jede Vernunft hinaus ging. Schon viel zu oft hatte Clarence angezweifelt, ob ihr Schöpfer jemals auch nur ein einziges Fünkchen Zuneigung für seine Kreaturen übrig hatte, doch darüber zu urteilen würde sich ein Mann wie er niemals erlauben.

„Aber letzten Endes, was auch immer er seinen Kindern antut, er ist und bleibt ihr Vater und zwar einer von der Sorte, von dem man sich nicht einfach lossagen kann. Das einzige, was ihnen bleibt, ist seinen Erwartungen zu entsprechen und dadurch seine Gunst und Liebe zu erwirken.“

Hier draußen mochte das funktionieren – sich frei zu entscheiden, welcher Religion man zugehörig sein mochte. War man konfessionslos, konnte man sich informieren und wählen zu welchem Glauben man sich eher hingezogen fühlte wenn man denn ein wenig Spiritualität in seinem Leben brauchte und beschloss man nicht an Gott oder einen übermächtigen Schöpfer zu glauben, dann gab es für einen eben keinen.

Doch im Madman Forest? Da liefen die Dinge anders.

Ein Gott. Eine Religion. Eine einzige Art und Weise, damit umzugehen.

Es stellte sich nicht die Frage danach ob man glaubte oder nicht, denn Glaube hatte auch immer ein bisschen von Einbildung und Vorstellungskraft. Für Fanatiker hingegen waren die Dinge gegeben, sie waren greifbar und unumstößliche Tatsachen. Nur weil Clarence heute nicht mehr dort lebte hieß das nicht, dass er aufhörte davon überzeugt zu sein, was man ihm schon mit der Muttermilch als unantastbar eingeimpft hatte.

„Ich kann dir nicht sagen, ob dich zu finden eine Prüfung für den Gott dieser Menschen dargestellt hätte oder nicht. Wäre es so, hätte ich in den Augen dieser Leute kläglich versagt angesichts dessen, wie wir heute hier stehen“, erhob der Blonde schließlich wieder die Stimme und blickte ungeahnt weich angesichts dieses Themas hinab auf den Mann, den er mehr liebte als alles andere auf der Welt. Es mochte mit Distanz zu seiner alten Heimat weniger verletzend klingen, aber die Quintessenz blieb dennoch die gleiche: Ihr Treiben war Sünde, durch und durch.

„Auf der anderen Seite aber… hätten wir beide genug angestellt, um unser Leben im Jenseits zu verwirken. Aus dem Blickwinkel dieser Menschen gäbe es kaum noch etwas zu verlieren und ich frage mich in letzter Zeit… wenn es sowieso nicht schlimmer kommen könnte, ob unser Aufeinandertreffen dann in meiner Heimat wohl Gottes Art wäre, seine Vergebung auszudrücken. Zu sagen, dass es kein Zurück mehr vor dem Unabwendbaren nach dem Tod geben mag, aber dass für die Zeit bis dorthin die Prüfungen ein Ende gefunden haben. Ich will mir vorstellen können, dass…“

Plötzlich in Stille verfallen biss er sich auf die Lippe, unfähig seinen Satz zu beenden. Er wusste um den Widerspruch an sich, dass sein Gott ihm ausgerechnet einen Mann geschickt haben sollte um damit auszudrücken, er verzieh ihm für seine ketzerischen Taten; aber wenn Cassie kein Geschenk Gottes sein sollte, dann wäre wohl wirklich der Punkt gekommen, an dem der Christ vom Glauben abfiel.

„Was ich damit sagen will, ist… wenn wir nicht verloren hätten was wir gehabt haben, stünden wir heute nicht hier. Das mag unfair und grausam sein und all die Verluste mögen keinen Sinn gehabt haben, aber nur dadurch dass wir all diese Hürden überstanden haben anstatt daran zugrunde zu gehen, haben wir uns gefunden. Weißt du, was ich meine?“

Gottes Prüfungen mochten für den einfachen Menschen nicht immer ersichtlich oder nachvollziehbar sein. Aber so wie auch die Fanatiker jeden Tag aufs Neue mit den Widrigkeiten ihrer eigenen Religion kämpften um ein Leben in Frieden zu führen, hatten auch sie beide wenigstens für den Moment dieses Tages ein wenig Glückseligkeit.


Matthew C. Sky

Was Clarence erzählte, mochte für Clarence auch logisch und nachvollziehbar sein. So wie für Matthew die Buchstaben des Alphabets oder Zahlen selbstverständlich waren, so waren die Gebote und die Regeln Gottes selbstverständlich für den Christen. Er hinterfragte sie nicht, er zweifelte nicht an ihnen und vor allem wagte er es nicht, sich von jenem Gott - der ihm schon so viel Leid angetan hatte - zu distanzieren. 

Der Vergleich zu einem strengen Vater war gut genug um Cassiel verstehen zu lassen wie sein Mann jene Gottheit wahrnahm - und es stimmte, von einem Vater sagte man sich nicht einfach los. 

Man blieb eine Familie, selbst wenn man im Streit lag, selbst wenn man einander nicht verstand oder gar mochte. 

Das leuchtete dem Kleineren durchaus ein, auch wenn es ihn selbst nicht zufrieden stimmte. 

Es entging ihm nicht, dass Clarence zuerst von ‚Uns‘ sprach, als er zu beschreiben versuchte was der Allmächtige für die Menschen im Madman Forest war. Ganz so, als sei er noch immer ein Mitglied jener Gemeinde. Doch so unüberlegt das Wörtchen über seine Lippen gekommen war, so schnell korrigierte er sich auch und sprach fortan in distanzierterem Tenor von den Gepflogenheiten und Glaubensfragen jener verschworenen Gemeinschaft. Argwöhnisch blickte Cassie zu seinem Mann empor, folgte seinen Ausführungen, achtete auf jedes einzelne Wort. 

Er hatte diese Diskussion eigentlich nicht führen wollen, doch der namenlose Bruder seines Mannes hatte ein Recht darauf, dass jemand Fragen stellte zu jenem grausamen Gott.

„Es ist nicht so als hätte ich nie geglaubt. Dort wo du herkommst hätte man uns sicherlich abgesprochen richtige Christen zu sein, aber Rosalie hat mit David und mir gebetet, jeden Abend - das heißt...wenn sie da war. 

War sie es nicht, hat David mit mir gebetet und als er weg war, hab ich es allein gemacht. Jeden Abend, vor dem zu Bett gehen.“

Er schwieg kurz, machte dann nachdenklich „Hmm“ und ließ seine Fingerspitzen wieder über Clarence‘ Nacken streichen. 

„Worauf ich hinaus will ist...ich verstehe den Vergleich mit einem Vater und ich verstehe auch...dass es ein schöner Gedanke ist, sich vorzustellen das über uns jemand ist und über uns wacht.“

Aber das war ja gerade eben nicht der Fall. Wenn es dort oben eine Macht gab, dann bewachte und beschützte sie nicht, sondern quälte und erschuf Leid. Wenn ein Vater derartiges tat, dann war es ein Vater der den Tod verdient hatte und keine Gebete. 

„Die ersten Tage und sogar Wochen habe ich trotz der Dinge die in White Bone passiert sind immer gebetet. Jede Nacht. Vor dem zu Bett gehen. Wie zuhause.“

In einem Raum voller Jungs, den der Mann der sie verschleppt hatte als Lämmerstall bezeichnet hatte. Fast immer hatte er Hunger gehabt, fast immer Schmerzen und ausnahmslos jede Nacht Angst. 

„Aber Gott ist nicht erschienen und er hat auch niemanden geschickt. Und als...Jamie getötet wurde, habe ich Gott verflucht und seither kein einziges Mal mehr gebetet.“

In den Augen seines Gegenübers mochte sich in allem Erlebten eine Prüfung Gottes finden, aber für Matthew hatte mit dem Tod seines besten Freundes aller Glaube an eine höhere Macht die ihnen gut gesinnt war aufgehört. Vielleicht gab es ihn ja wirklich, jene Übermacht die, einem strengen Vater gleich, auf sie hernieder blickte, ihnen Prüfungen stellte und sie bestrafte wenn man diese nicht bestand. 

Aber wenn das so war, dann war diese Allmacht kein Geschöpf dessen Gunst Matthew erringen wollte. Ihm waren die Menschen im Hier und Jetzt wichtiger als irgendwelche Prüfungen und er konnte Leute auch nicht verstehen die sich am Leid Schwächerer ergötzten oder wegschauten. Sollte der Gott der Christen dies tun, wegen nicht mehr als Prüfungen die er stellen wollte, dann war er ein Sadist und von denen gab es wahrlich schon genug. 

„Ich liebe dich, christlicher Junge. Und da ich das tue würde ich dir nie wehtun, dich nie...absichtlich leiden lassen. Hätte ich Kinder, würde ich sie nicht einfach ins Wasser werfen damit sie schwimmen lernen und ich würde sie auch nicht verstoßen, lernten sie es nicht oder bräuchten länger. 

Deine Mädchen...du hast sie geliebt. Ich weiß das. Hast du ihnen je wehgetan? Hättest du jemals weggeblickt wenn ihnen Unheil bevorsteht?“

Und damit meinte er keinen Klaps auf die Finger und kein strenges Wort, er meinte auch nicht das Einziehen von Spielzeug oder dergleichen. 

„Kein Vater, der seine Kinder wirklich liebt, würde ihnen Fallen stellen, um sie zu verleiten Fehler zu machen wegen denen er sie dann bestrafen kann.“

Prüfungen nannte Clarence es, Fallen nannte es Cassiel. 

„Und nicht nur kein Vater, Claire. Kein einziger Mensch, der einen anderen wirklich liebt, würde so etwas tun. Dass ist doch...das Wesen der Liebe oder nicht? Wen wir lieben, den beschützen wir und tut er uns weh, dann verzeihen wir. Man ist enttäuscht und verletzt, aber man sinnt nicht nach Rache und verstößt denjenigen auch nicht. 

Man schließt auch nicht die Tür zu, weil derjenige Fehler gemacht hat.“

Clarence hatte unmissverständlich klar gemacht, dass er glaubte ihre beiden Seelen seien ohnehin verloren in den Augen Gottes. 

Für ihn stand daher fest, dass es nach ihrem Tod kein Himmelreich geben würde, sondern nur die Flammen des ewigen Fegefeuers. Satan würde sie knechten und schinden, würde sie bis in alle Ewigkeit quälen für alle Prüfungen die sie nicht bestanden hatten. 

Matthew würde lügen, würde er behaupten es würde ihn nicht treffen das sein  Geliebter das glaubte, dies konnte man ihm auch ansehen. Dennoch versuchte er nicht dagegen zu argumentieren. Wenn Clarence der Überzeugung war, ihr Kennenlernen sei eine Prüfung gewesen die er nicht bestanden hatte, dann war das ernüchternd und traurig, aber Cassiel glaubte nicht, dass er daran etwas ändern konnte. 

„Der Gott den du beschreibst...der ist nicht gütig und nicht nachsichtig, er ist nicht wie ein strenger Vater. Weil streng nicht das selbe wie grausam ist. Ein Vater erzieht und bestraft wenn es von Nöten ist, aber er wartet nicht auf Fehler und er stellt ihnen auch kein Bein, damit sie hinfallen.“

Nicht das Matt viel davon verstand. Er war weder Vater, noch hatte er je einen gehabt. Aber er wusste wie es sein sollte und er wusste wie sich Liebe anfühlte. Da war es zweitrangig ob er etwas von Vatergefühlen verstand oder nicht. Unterm Strich ging es um Liebe. 

„Wenn Gott zulässt das Müttern die Kinder weggenommen werden um sie im Wald auszusetzen... dann ist das kein Gott der meine Liebe verdient. Er hat gar keine Liebe verdient, weil seine Prüfungen in Wahrheit Fallen sind.“

Und ob ihr Aufeinandertreffen eine Art Zeichen der Versöhnung darstellte, wagte Matthew zu bezweifeln. Wenn es Gott gab, dann hatte er sich entweder längst von der Welt abgewendet, enttäuscht von den Menschen die er erschaffen hatte, oder er war ein Sadist. Versöhnlich und milde gestimmt hatte Cassie ihn jedenfalls noch nie kennengelernt. 

„Ich habe beachtliche Zweifel das Gott sich für dich interessiert, Clarence. Oder für mich. Oder für das was wir im Bett so miteinander anstellen. 

Wäre es für ihn von Bedeutung, würden wir beide einander nicht lieben, du hättest nie ein Auge auf Benedikt geworfen und ich hätte dich nie begleitet.“

Wenn sie sich küssten, fühlte sich nichts daran falsch oder verwerflich an, wenn sie miteinander schliefen, hatte er nicht das Empfinden es sei von Gott verboten und unnatürlich was sie taten. 

„Wir sind ihm egal, Clarence Sky. Ihm und dem Rest der Welt. Aber für mich bist du alles.“

Niemandem sonst bedeuteten sie etwas, was sie machten, woran sie glaubten, wohin sie gingen und wen sie liebten. Sie brauchten sich nicht die Gunst einer allmächtigen Wesenheit erkämpfen. Entweder, weil keine mehr da war, nie eine existiert hatte oder weil jene Macht nichts für sie übrig hatte außer die nächste Bosheit. 


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