<- ZURÜCK          WEITER ->


An Deck

12. Juni 2210


Clarence B. Sky

Die Welt, in der Menschen wie sie aufwuchsen und lebten, war hart und um das zu kompensieren benötigte man eine Schale, die noch härter war.

Man kam nicht mit ihr auf die Welt, sondern zerbrechlich wie ein rohes Ei. Nicht jeder Kratzer ließ einen aufsprengen und daran zugrunde gehen, doch selbst kleine Unachtsamkeit und das in vermehrter Zahl konnten dazu führen, dass man erste Risse bekam – bis ein einziger letzter Tropfen das Fass zum Überlaufen und die Schutzschicht zum zersplittern brachte. Bei anderen reichte ein einziger Unwetterschauer bereits aus, um die Wasseroberfläche über den Rand hinüber treten und eine ganze Existenz im Nichts zerfließen zu lassen, ganz so als hätte es den heilen Spiegel niemals gegeben.

Jenen, die jedem Sturm und jedem kleineren und größeren Missgeschick getrotzt hatten, wuchs ein dickes Fell. Sie waren die Menschen die außerhalb der heilen Welt von Metropolen und blühenden Kleinstädten überlebten, ganz egal was die Zukunft für sie bereit hielt; sie trotzten Verlusten, körperlichen Übergriffen, unvorstellbaren Bildern… aber auch einfachen Krankheiten, Verletzungen und gar Hungersnöten, wenn der Sommer zu heiß oder der Winter zu lang war.

Nicht selten war es die Vorstellung vom Ende die als einziger Wunsch für die eigene Zukunft zurück blieb, getrieben von der Idee, dass mit dem letzten Atemzug auch alles Leid und aller Verzicht der verlebten Jahre einher gingen. Was man hatte mochte süß und erfüllend sein, aber bei allem was einem lieb war, nichts lockte so sehr wie die Erleichterung von abfallenden Lasten. Lockte wie das Verschwinden der maternden Bilder in Dunkelheit, vom Versiegen des Schmerzes alter Narben, vom Zusammensein mit denen die man liebte und geliebt hatte bis in alle Ewigkeit, auf einer Ebene der Existenz welche einem ewigen Segen jenseits von Gut und Böse versprach.

Clarence kannte diese Sehnsucht nur zu gut, die einen blind werden lassen konnte für das hier und jetzt und für die Bedürfnisse der Menschen, die trotz aller Verluste noch um einen herum verweilten. Zu oft schon hatte er den verständnislosen Blick des Jüngeren eingefangen, der einfach nicht begreifen konnte warum es erstrebenswert schien den einen Schmerz durch einen anderen abzulösen und warum jemand dachte er könne all die furchbaren Gefühle von sich selbst abspalten, wenn er es nur auch mit einem Teil seines eigenen Körpers tat. Matthew verstand manchmal so viel und manchmal doch so wenig… sie beide mochten sich in Empathie für den anderen um nichts in der Welt nachstehen, aber aus ihrem Talent füreinander hatten sie in den zurückliegenden Monaten und Jahren doch nichts anderes gemacht außer sich selbst ihre Gedanken, den anderen unverstanden und unbekannt zurücklassend in Einsamkeit.

Die Art wie Cassie ihn umarmte, aus dem Nichts heraus ihren kleinen Disput um das Handtuch ruhen lassend weil es Wichtigeres gab als das unbedeutende Stück Stoff, ließ Clarence unanfechtbar wissen, dass er nicht länger alleine war. Das Gewicht des Jüngeren und dessen Wärme um seine Schultern gelegt, konnte man darunter für einen Moment alle Erschwernisse des Lebens vergessen, ließ man sich nur darauf ein. Es war, als wäre die ewig davon laufende Zeit für jene Augenblicke konserviert; die sonst stetig rennenden Zeiger der Uhr standen still und alles was einem blieb, war das Hier und Jetzt und die unbezahlbare Vertrautheit zu dem Menschen, den man liebte.

Viel zu selten schenkten sie sich diese Geste, blickte man über ihre gemeinsame Zeit miteinander hinweg, und trotzdem hieß das nicht, sie wüssten sie nicht zu schätzen – denn gerade weil sie so rar war, war eine augenscheinlich einfache Umarmung umso kostbarer für den sonst so unnahbaren Jäger.

Mit warmem Brummen ließ schließlich sogar der raffgierige Barbarenbärenprinz vom Saum des fremdem Kleidungsstückes – insofern man das Fitzelchen Stoff wirklich so nennen konnte – ab, legte seine starken Arme stattdessen Wortlos um die schmale Taille seines Partners, ihn dichter an sich drückend, und vergrub sein spitzes Näschen tiefer im noch nassen dunklen Haar des Kleineren, als dieser sein leises Summen anstimmte.

Clarence kannte diese Melodie; er mochte sich nicht explizit entsinnen können woher und noch weniger fand er einen exakten zugehörigen Augenblick in welchem er sie gehört hatte, aber eines wusste der Schamane. Er kannte es von Matthew, seinem liebevollen Mann, einem Menschen der so umsichtig und fürsorglich sein konnte wie man es ihm kaum zutraute wenn es einem nicht am eigenen Leib widerfahren war – und aus irgendeinem Grund stimmte es ihn melancholisch und verliebt zugleich, auch wenn er nicht genau begreifen konnte warum dem so war.

„Du hast Recht. Wenn ich an meine Vorfahren denke, dann kann ich sie mir hier an diesem Stand vorstellen… oder da draußen in den Straßen, oder in diesen Gebäuden. Ich kannte sie nicht, aber sie sind mir keine Fremden“, entgegnete der Schamane schließlich leise und folgte sachte dem Takt, den der sich wiegende Zweite mit ihm anschlug. Aus irgendeinem Grund war ihm auch der Tanz an Deck nicht völlig fremd; doch wie immer, wenn ihm etwas zum greifen nah schien und doch nicht ganz von ihm erreicht werden konnte, schien die Szenerie im Delirium ihres zweifelhaften Spinnenabenteuers untergegangen zu sein.

Clarence verstand was sein Ehemann meinte, begriff die Krux welche hinter dem Gesagten steckte und woher der Stich im fremden Herzen kam, den man eben noch hatte heraus hören können bevor Cassie versucht hatte das Thema zu wechseln. Der Blonde war dankbar für seine Wurzeln und hätte er sie nicht, vermutlich ginge es ihm heute an jener Stelle nicht anders als dem schwierigen Prinzesschen. Die Vergangenheit des Christen lag nicht in Schatten, sie hatte Gesichter und Namen und Vergangene zu betrauern, die sicher behütet im schattigen Friedhof einer Kirche lagen; alles was Cassie geblieben war, war eine auf dem Feld verscharrte Mutter, die vermutlich nicht mal eben jene gewesen war.

„Mein Vater hat immer zu sagen gepflegt: ‚Junge, dein Nachbar wird immer schönere Früchte auf seinem Acker haben als du selbst. Das liegt in der Natur der Dinge und im Neid des Menschen immer genau das zu wollen, was er selbst nicht hat.‘“

Damals hatte er den Grundtenor jener Worte schon irgendwie begriffen, aber sich doch konkret nie etwas darunter vorstellen können. Doch heute wusste Barthy Jr es wesentlich besser, zu viele Dinge und zu viele jener Situationen hatte er bereits durchlebt, in denen man einen anderen für sein Leben beneidete. Es war verständlich, dass Cassie dachte und hoffte, die Gesichter der eigenen Familie zu kennen wäre ein Zugewinn für einen selbst; Clarence hingegen, den Weisheiten seines Vaters selbst bis heute verlässlich treu, wünschte sich an manchen Tagen, er wäre so unwissend und einsam an seinem Ast des Stammbaumes wie der Jüngere.

Kurz schwieg Claire, ähnlich wie sein Mann es zuvor für einen Augenblick getan hatte, und leckte sich dabei nachdenklich über die Lippen.

„Ich kann sie mir in den Straßen vorstellen… bis in alle Einzelteile zerstückelt wie meinen Vater… und ich kann sie auch in den Gebäuden hören, schreiend wie meine Mutter während sie vergewaltigt wurde. Und ich kann auch meine Vorfahren als Kinder am Stand sehen, so zugerichtet wie meine Kinder. Mit… gebrochenen Knochen wie Harper oder… dem mit einem Schürhaken zertrümmerten Gesicht von Cordy. Ich kann das und ich tue es auch, sobald ich durch solche Straßen gehe und dabei an meine Vorfahren denke…“

Matthew und er waren sich sehr ähnlich in solchen Dingen; wo dem Jüngeren etwas auf der Zunge lag und dann doch damit endete der Blonde solle es vergessen, so war es Letzterem in der Regel zu eigen, Aspekte aus seinem Leben oberflächlich anzuschneiden und doch nie wirklich ins Detail zu gehen. Der Höhepunkt seiner Erlebnisse blieb immer offen, man konnte es sich ausmalen oder auch nicht was in seinem Leben genau geschehen sein mochte und welch Gräueltaten die einst unschuldigen Kinder- und Jugendaugen schon erblick hatte, nur um die Bilder daraufhin in der dunkelsten Ecke seines Seins zu verschließen, damit sie nicht an die Oberfläche dringen mochten.

Es war einfach und es war bequem ihren Partner solche Gedanken und Gefühle nicht wissen zu lassen. Es bewahrte einen davor auf Unverständnis oder gar Ablehnung zu treffen, immer mit der großen Angst verbunden, das kostbarste Geschenk ihres Lebens doch wieder zu verlieren, nachdem sie es erst so frisch für sich gewonnen hatten.

Aber mittlerweile, viele kleine und auch große Gespräche später, nach Abenteuern durch die sie sich und ihr gemeinsames Glück beinahe verloren hätten… da erkannte Clarence die Wahl, welche offen vor ihnen lag. Sie konnten sich für dieses bequeme Leben entscheiden in dem sie kaum etwas vom anderen wussten, in welchem Vergangenheit keine Rolle spielte und unliebsame Gegenwart ebenso wenig, wenn sie ohne den anderen verlebt worden war. Sie konnten in dem oberflächlichen Miteinander aufblühen und nur die Vorzüge des anderen genießen – oder sie entschieden sich für alles, ohne wenn und ohne aber.

Doch Clarence wollte dieses wenn und aber.

Wenn er sich ihre Zukunft vorstellte, dann wollte er Cassie kennen wie keinen anderen Menschen sonst auf der Welt und wenn sie alt und grau geworden waren, wollte er aus Matthews faltig gewordenen Augen angeblickt werden, mit denen der trotz all der Jahrzehnte immer noch Jüngere das zunehmend gewordene, schweigsame Brummen seines grauen Bären zu interpretieren wusste wie kein Zweiter. Sie mochten die ersten knapp dreißig Jahre ihres Lebens verloren haben ohne einander zu kennen, aber wenn sie alt und vom Leben geschwächt auf ihrer Veranda saßen oder sich wegen ihrer schmerzenden Gelenke ins Bett verkrümelt hatten, dann sollte es ihnen nicht so vorkommen als würden ihnen diese dreißig Jahre fehlen oder noch länger eine Last für sich oder den anderen darstellen.

Er wollte Matthews sicherer Hafen sein – ein Ort, an dem man sich in einen starken Arm schmiegen und man selbst sein konnte, ohne Angst vor der Welt oder einem Ansehen, das man bewahren musste um sein Gesicht nicht zu verlieren.

Zweifel, Fehler, Widersprüche und Furcht, nichts sollte es geben das sie in der Gegenwart des anderen schämen mussten. Noch nicht mal dann, wenn sie anderer Meinung waren als der Mensch, den sie so sehr liebten.

„Ich will es nur nicht mehr, seitdem ich dich habe“, setzte der Jäger schließlich nach einem tiefen Atemzug fort und ließ sich weiter sachte vom Wiegen ihrer umarmten Körper leiten.

„Wir wären fast gestorben, du und ich. Wenn ich die Wahl habe daran zu glauben, dass uns das Unglück im Blut liegt oder dass über Generationen unserer Familien hinweg vielleicht noch ein kleines bisschen Glückseligkeit weiter vererbt wurde, dann entscheide ich mich für Letzteres. Dann will ich mir vorstellen, dass unsere Vorfahren keinen Schmerz und keine Trauer kannten und dass uns dieses Privileg ab hier nun auch widerfahren kann, jetzt wo wir uns gefunden haben.“

Die Züge welche sie beide ausmachten, nämlich Güte, Liebe, Vertrauen und Respekt, würden nicht mehr an andere Generationen weitergegeben werden.

Alles was ihnen blieb, war ihre mitgegebenen und selbst erworbenen Stärken für sich selbst zu nutzen und das Beste aus dieser Grundlage zu machen, wo immer sie das Leben auch hinführte.


Matthew C. Sky

Was genau an Clarence so besonders war, konnte Matthew nicht in Worte fassen. Es war die Art wie er an seinem verbeulten Kaffeebecher nippte, wie er konzentriert seine Waffen ölte, wie er brummte wenn er über etwas nachdachte oder einer Sache zustimmte. 

Der Blonde hatte etwas an sich, dass Matt sich nicht wirklich erklären konnte und was anderen fehlte.

Er hatte ihm lange nicht vertrauen wollen, diesem hageren Geist mit den unvollständigen Händen, der mehr schwieg als sprach und der sich durch keine Provokation der Welt dazu herabließ seine scheinbare Scharade aufzugeben. 

Es hatte eine Weile gedauert bis Matthew begriffen hatte, dass der Fremde kein Handlanger von Rouge war, auch kein Bandit oder Kopfgeldjäger. 

Clarence Sky war...einfach Clarence Sky. 

Und damit hatte er allen anderen etwas voraus. Er hatte sich nicht dem Gold verschrieben oder der fixen Sehnsucht nach Ruhm. Sein Tagwerk war hart und der einzige Reichtum bestand aus Schrammen, Prellungen und quasi ständigem Hunger. Es war ein karger Mann gewesen der ihn gerettet hatte und ein karges Leben geführt hatte und doch steckte soviel mehr hinter jener Fassade. 

Matthew lauschte auf die vertraute leise Stimme, deren Worte einmal mehr offenlegte, was im Inneren des Größeren vor sich ging. 

Gedanken und Gefühle miteinander zu teilen, gehörte noch nicht lange zu ihrem Umgang miteinander und war noch nicht selbstverständlich. 

In dieser Sache war Matthew weniger mutig als Clarence es war, denn wo Matt sich aus Sicherheit lieber in Schweigen hüllen wollte, legte Clarence offen was ihm durch den Kopf ging. 

Was Harper und Cordelia im Detail widerfahren war, was die Eltern des Blonden vor ihrem Tod hatten erdulden müssen... das war nicht Teil ihrer sonstigen Gespräche. Nicht weil Matt sich nicht dafür interessierte, sondern weil er nicht wusste ob er mit der Wahrheit umgehen konnte...und ob Clarence es ertrug über das Vergangene zu reden. 

Ob Clarence’ Vater mit seiner Aussage recht hatte? Matt wusste es nicht, aber es war nicht die zitierte Behauptung an sich, die auf den Jüngeren Eindruck machte, sondern die Selbstverständlichkeit mit der Clarence sie einleitete. 

„Mein Vater hat immer zu sagen gepflegt...“

Natürlich verstand Cassiel worauf Clarence hinauswollte, er verstand auch das es Fluch und Segen sein konnte Familie zu haben, die eigenen Wurzeln zu kennen. Nichts war so schmerzhaft wie der gewaltsame Verlust der eigenen Kinder und kein Kind sollte die eigenen Eltern bestialisch ermordet vorfinden, auf das sich das Gesehene auf ewig im Geiste einbrannte. 

Es war nicht schwer sich auszumalen, welche unsägliche Trauer in der Vergangenheit seines Mannes lag, begraben unter jahrelangem Schweigen. 

Und obgleich Matthew Mitgefühl für seinen Liebsten empfand, so konnte er nicht aus seiner Haut. Je mehr Menschen man liebte umso tiefer Schnitt das Messer des Verlusts in Seele und Geist, aber neben all den grausamen Bildern die Clarence hatte ertragen müssen...so hatte er doch auch andere Erinnerungen. 

Erinnerungen an eine schöne Kindheit, an Weisheiten die sein Vater ihm mitgegeben hatte, an die Lieder seiner Mutter. Er kannte seinen Vater heil und gesund, er kannte seine Mutter lachend und ihre Stimme sanft. 

Er erinnerte sich sicherlich an das erste Wort seiner Mädchen, ihre ersten Schritte. Er wusste wie sie sich anhörten wenn sich glucksten vor Lachen oder wenn sie sich zankten. 

Weder die Kinder seines Mannes, noch dessen Eltern waren noch und ihr Tod war ohne Zweifel entsetzlich gewesen und dennoch konnte Clarence sich glücklich schätzen all diese Menschen um sich gehabt zu haben. 

Zu wissen, was sein Vater immer zu sagen pflegte. 

„Das ist...eine schöne Vorstellung...“, räumte er schließlich ein, wobei man ihm anhörte das er nicht überzeugt war. Glaubte er, dass Unglück in seinem oder in Clarence‘ Blut lag? Nein... Aber er glaubte, dass das Gute wie auch das Schlechte vergänglich waren und das Clarence das Beste in seinem Leben war. 

Und wenn dieser Mann ihm eines Tages genommen werden würde, dem Naturgesetz folgend das Glück nicht ewig währte, dann würde Matthew diesen Verlust nicht ertragen können. 

An manchen Tagen fiel es ihm schwer sich an diejenigen zu erinnern die ihn ein Stück des Weges begleitet hatten und bereits gestorben waren. Dann waren Jamie, Cristopher, Brandon und viele andere nur Namen in seinem Gedächtnis. Meistens jedoch wenn er an sie zurückdachte, erinnerte er sich an so viele Momente und Details, als habe er sie erst vor wenigen Stunden das letzte Mal gesehen. Er erinnerte sich an ihre Schreie und an ihr Weinen, aber auch an die wenigen Momente in denen sie zusammen gelacht hatten. 

Clarence versuchte ihm zu sagen, dass der Mensch von Natur aus wollte was er nicht hatte. Matthew eine Familie an die er sich erinnern konnte und Wurzeln die ihm halfen sich selbst besser zu verstehen. Und Clarence, dass er frei von familiären Banden war, weil ausgerechnet jene Menschen ihn auf so schreckliche Weise verlassen hatten, dass er sich jene Bilder unauslöschlich eingeprägt hatte. 

Doch der Hüne irrte, wenn er annahm Matt würde ihm beipflichten. 

Denn auch wenn er nicht abstritt, dass der Verlust naher Menschen schlimmer war als der von Bekannten...so würde Cassiel sich niemals wünschen er habe Bran, Chris und Jamie nie gekannt. 

„Ich weiß nicht ob ich dich richtig verstehe, oder du mich...oder ob wir einfach unterschiedliche Ansichten haben.“, fasste Matthew seine Unschlüssigkeit zusammen. „Was dein Vater gesagt hat...vielleicht hat er damit sogar richtig gelegen, aber wenn du mir damit sagen möchtest...dass du dir wünscht nicht zu wissen woher du kommst, dann...“, er schüttelte sacht den Kopf, das Gesicht noch immer an den Hals seines Liebsten geschmiegt und sich sachte mit ihm wiegend. „Dann würde ich das nicht verstehen.“, beendete er den Satz ohne das es eine erneute Aufforderung brauchte. 

„Ich kann nicht sagen ich wüsste was du damals gefühlt hast als... als das mit deinen Eltern passiert ist und später... das mit deinen Mädchen.“ - weder das Eine noch das Andere hatte er je besessen. Der Mord an der Frau die ihn aufgezogen hatte und die er doch nie als Mutter wahrgenommen hatte, war zwar durchaus vergleichbar, aber eben nur auf den ersten Blick. Denn auch wenn Rosalie Reed im Streit um seine Zukunft den Tod gefunden hatte, so hatte sie sich in den Jahren davor doch nur wenig um die Belange ihrer Söhne gekümmert. Die Bindung ihrer Jungs zu ihr war vermutlich nicht annähernd so innig gewesen, wie jene zwischen Clarence und seiner Mutter. 

„Aber ich glaube...dass ich mir niemals wünschen würde all jene nicht gehabt zu haben, die ich geliebt habe und die nicht mehr sind.“

Denn auch wenn er es nie so gesagt hatte: auch Rosalie hatte er geliebt. 

Sie war eine naive junge Frau, sie war wie ein Blatt gewesen das auf einem schnell-fließenden Fluss trieb. Unfähig die Richtung zu bestimmen, unfähig den Stromschnellen zu entkommen. 

Sie hatte sich nicht wirklich um ihn oder David gekümmert, aber sie war nicht bösartig oder gewalttätig gewesen. Rosalie Reed hatte einfach in ihrer eigenen Welt gelebt und darüber die Realität oft vergessen. Bis die Realität sie eingeholt hatte. 

„Wenn ich vor dir sterbe...will ich nicht zu jemandem werden von dem du dir wünscht ihn nie gehabt zu haben, weil der Schmerz dann nicht existieren würde. Und wenn...irgendwann du... nicht mehr bist, werde ich nicht so über dich und über uns denken. Du bist...alles was ich will, du bist das Beste was mir in meinem ganzen Leben passiert ist und...selbst das Ende dessen wird mir diese Gewissheit nicht nehmen können.“ 

Nachdenklich hielt Cassiel kurz inne, küsste den Hals seines Geliebten und stimmte die leise Melodie wieder an. Rosalie, David, Jamie, Bran, Chris und alle die ihm wichtig gewesen waren, waren mittlerweile verschollen oder tot. Ihr Verlust schmerzte noch immer, aber wenn er an sie dachte gab es auch schöne Erinnerungen - und die waren es, die es galt im Herzen zu bewahren. 

Matthew löste schließlich eine Hand vom umarmten Rücken des Größeren und legte sie an dessen Brust, dorthin wo das Herz des Blonden schlug. 

„Du hast sie hier drin, Claire. Deine Mutter, deinen Vater...Cordi und Harper. Und wenn du willst...kannst du dich an ihre Stimmen erinnern wenn sie lachen und an ihre Gesichter dabei.“ Es war Glück seine Familie zu kennen, zu wissen wie es war behütet zu werden, zu wissen wie es war Vater zu sein. Glück, nicht Fluch. 

Es kam nur darauf an was man draus machte. 


Clarence B. Sky

Wenn man den beiden jungen Männern zuhörte, vertraut aneinander geschmiegt und doch oft so unbeschreiblich uneins in ihrem Fühlen und Denken, dann würde man sich sicher unweigerlich fragen müssen, was sie überhaupt aneinander schweißte. Nur selten, so kam es Clarence jedenfalls vor, schaffte er es den emotionalen Bedürfnissen seines Partners gerecht zu werden wenn ihre Themen ungewohnt ernster wurden und der Jäger zweifelte stark daran, dem Mann den er liebte jenen Trost spenden zu können, den Cassie so dringend benötigte.

Sicher war es einfacher für ‚normale‘ Paare, die ein ‚normales‘ Kennenlernen hinter sich gebracht und die ungeeigneten Angebote schon längst aussortiert hatten. Sie kannten einander Wochen, Monate, manchmal sogar Jahre bevor sie den Bund der Ehe eingingen. Sie hatten Zeit gehabt einander kennen und lieben zu lernen, aber hatten auch aus Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten gelernt, um sich die finale Frage stellen zu können, ob sie mit ausgerechnet jenem Menschen den Rest ihres Lebens verbringen wollten. Wurde ein Zwist zu groß, die Kluft zu unüberwindbar, dann trennten sie sich rechtzeitig voneinander und gingen erneut auf die Suche, bevor sie ihr eigenes Verderben in einer durch einen Schwur besiegelten Bindung fanden, mit der sie niemals glücklich wurden.

All das, dieses Aussortieren, Abwägen und Schlüsse für sich selbst ziehen, hatten Matthew und er nie durchlebt. Sie waren Hals über Kopf in diese Beziehung gesprungen und hatten sich keine Zeit gelassen die Bindung auf Herz und Nieren zu überprüfen, bevor sie sich dazu entschlossen hatten sich einander für die Ewigkeit zu versprechen. All die Differenzen, die andere Menschen vor diesem enormen Schritt durchlebten, mussten die beiden jungen Männer nun nach ihrem gewagten Sprung in die Ehe miteinander ausmachen, egal wie hart und unbefriedigend die Ergebnisse dabei auch ausfallen mochten. Nicht selten stellte man sich dabei unweigerlich die Frage, ob sich dieses Mühsal denn nun auch wirklich gelohnt hatte und noch während Cassie seine Worte ungewollt falsch zu interpretieren schien, wusste Clarence bereits die Antwort darauf:

Nichts auf der Welt würde er rückwirkend anders entschließen wollen, als er es bislang getan hatte.

Es spielte keine Rolle für ihn wie steinig die Straßen werden konnten wenn sie sich dazu entschlossen einen härteren Weg miteinander einzuschlagen, noch hatte es für ihn eine zukunftsträchtige Bedeutung stellten sie im Laufe der Jahre fest, zwei völlig unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben und ihre Wünsche zu besitzen. Es bedeutete lediglich, dass vermehrt Diskussionen nötig sein würden um einen geeigneten Kompromiss für sie beide zu finden – aber war das schlimm? Bedeuteten zwei unterschiedliche Blickwinkel nicht auch immer augenblicklich, den eigenen Horizont zu erweitern wenn man gewillt war, sich darauf einzulassen?

Clarence‘ Interpretation von Liebe mochte naiv und blauäugig erscheinen, aber es ging ihm bei seinen Gefühlen nicht darum einen anderen Menschen an seiner Seite zu haben, der exakt das gleiche dachte und fühlte wie er selbst. Mit dem er immerzu einer Meinung sein konnte und mit dem der Alltag reibungslos funktionierte, ohne sich ab und zu in die Wolle zu bekommen. Wenn es um Liebe ging, dann wollte sein Herz nun mal das, was es wollte – und sein oftmals starrsinniger Kopf würde diesem Sehnen unweigerlich folgen müssen, wenn am Ende der gemeinsamen Reise die sich Leben nannte ein Topf voller Glück auf ihn und seinen Partner warten sollte.

Zart schmiegte er seine bärtige Wange dichter gegen den dunklen Schopf seines Geliebten und drückte den Kleineren enger an sich, ohne die Verbindung zu lösen oder sich im Schweigen zu verlieren, wie es früher zwischen ihnen üblich gewesen wäre. Ein Ach, vergiss es wäre zu damaligen Zeiten an eben dieser Stelle angebracht gewesen. Aber Früher war es nicht mehr was Clarence wollte, ein gezurrt in seinem Kokon der Einsamkeit, sondern das Hier und Jetzt mit dem Mann den er mehr liebte als sein eigenes Leben.

„Ich wollte damit nicht sagen, dass ich mir wünsche sie nie gehabt zu haben, sondern…“

Claire holte tief Luft so als könne ihm das die perfekten Worte auf die Zunge legen um zu beschreiben wie er fühlte – so einfach war das Leben aber nicht und die Art, wie ihre Worte beim jeweils anderen in der Regel anzukommen pflegten, ebenso wenig.

Das war die Krux ihres Miteinanders, die der Jäger so gerne ausmerzen würde und der einzige Weg dorthin war es eben, einander an sich teilhaben zu lassen bis sie einander so gut kannten, dass derartige Missverständnisse gar nicht erst aufkommen konnten.

„Sondern dass das Leben eines anderen immer nur so lange besser erscheint als das eigene, bis man die Hintergründe kennt.“

Eifersucht und Neid waren nicht selten in der Welt in der sie lebten. Viel zu viele Menschen führten ein erbärmliches Leben und immer hatte der eigene Nachbar oder der nächstgelegene Ort mehr zu bieten als das, was einem selbst erreichbar war.

Aber wie viel Energie, wie viel Kraft und Schweiß hatten die anderen Menschen in ihr Tagewerk gesteckt, nur um diesen Zustand zu erreichen? Und was hatte man selbst, was die anderen vielleicht nicht hatten und das jenen ebenso erstrebenswert erschien?

Sicher, Clarence mochte seine Wurzeln kennen und sich in den Straßen der Geisterstadt seine Urururväter vorstellen können, eine Tatsache die Cassie nicht zu eigen war. Aber auf welche Weise er seine Ahnen sah wenn er ans Ufer hinüber blickte weil er schon vor langer Zeit einen Preis dafür bezahlt hatte Familie zu besitzen, das konnte der Kleinere nicht wissen. Auf der anderen Seite gab es sicher genug Neider die Reeds Errungenschaften nachahmen wollten, sowohl den Reichtum, als auch die wohl bekannten Bettgeschichten, die nicht jeder von sich behaupten konnte. Aber keiner von ihnen kannte das warum und wieso und welche Wege Cassie dorthin gebracht hatten. Es schien lohnenswert für einen Mann wie Clarence, in der Kindheit mit schlimmen Bildern konfrontiert, sich in den Straßen Miamis keine Familie vorstellen zu können – aber wusste man was der schöne Dunkelhaarige alles hatte mitmachen müssen in seinem Leben, dann waren die Früchte auf dessen Acker gar nicht mehr so erstrebenswert wie die eigenen, die man draußen vor seiner Tür hatte.

Ein warmes Brummen drang seine Kehle empor als sich die Hand des Jüngeren warm und schwer auf Clarence Brust legte, ein Laut der die Vibration seiner Lungen spürbar machte und sich leise unter das Summen des anderen mischte. Noch immer konnte sich der Bär von Mann nicht recht entsinnen wo oder zu welchem genauen Zeitpunkt sein Gatte ihm dieses Ständchen schon einmal gebracht hatte, aber er konnte spüren wie sich dabei eine seltsame Trauer über sein Herz legte, als das Thema seiner Erinnerung und ihres eigenen Endes zur Sprache kam. Ein Schmerz der gemildert wurde durch die bloße Anwesenheit Cassies, der trotzdem doch nie ganz im Sande versiegte.

„Wenn du denkst, dass ich dich vor mir sterben lasse… dann irrst du dich gewaltig“, warf er Matthew schließlich leise vor, seine Wange vom Schopf des Kleineren lösend um auf das Profil des Jüngeren hinab zu blicken, der noch immer an seinem Hals lehnte.

„Als du in diesem schrecklichen Bett gelegen hast, nachdem man dich zu Bennett gebracht hat…“ – verleugnend schüttelte er den Kopf, ähnlich einem Menschen der nicht daran glauben wollte, dass die Dinge tatsächlich so schlimm standen wie die Ärzte behaupteten. „Da war mein erster und einziger Gedanke, dass du es dich bloß nicht wagen sollst vor mir abzutreten. Ich wusste vom ersten Moment an, wo ich dich gesehen habe, dass… dass ich das nicht ertragen würde. Weder heute, noch irgendwann anders. Lieber lasse ich mich von dir anschreien und zum Teufel jagen, als dass ich es jemals so weit kommen lasse.“

Matthew war ein furchtbarer Patient gewesen und selbst das war noch untertrieben. Natürlich hatte er dazu immerhin auch alles Recht der Welt gehabt, aber das machte ihn nicht einfacher zu händeln in seiner Ungeduld und seiner Aggression sich selbst und der ganzen Welt gegenüber. Er konnte auf seinen Hünen einschlagen wenn er wollte, ihn anschreien und, wenn es nach Claire ging, ihm sogar bis ans Ende aller Tage die Schuld für all seine Entbehrungen zuschreiben, selbst wenn der Jäger in diesem Fall ausnahmsweise mal nicht seine abenteuerlustigen Hände im Spiel gehabt hatte. Doch vor Clarence sterben und ihn damit im Stich lassen, alleine zurück lassen in dieser furchtbaren Welt? Sich einreihen in die vielen Namen und Gesichter, die einst gewesen waren und doch nicht mehr an Claires Seite verweilten?

Der blonde Hüne hielt viel aus. Er war ein Fels in der Brandung wenn es denn sein musste – aber der Verlust seiner Geliebten war schon immer etwas gewesen, dem er nicht stand hielt. Durch seine Adern rauschte das Blut eines Familienmenschen, eines Mannes der nicht alleine sein konnte und der sich schon in jungen Jahren keine andere Zukunft hatte vorstellen können außer derer, einen anderen Menschen an seiner Seite zu haben und Familie zu gründen.

Seitdem war viel geschehen, seine Vorstellungen und tiefsten Sehnsüchte hatten sich den Begebenheiten angepasst und jene Facetten seines Seins die es nicht getan hatten, hatte er an einem dunklen Ort seiner Gedanken weg gesperrt, damit er nicht ganz und gar daran zu Grunde ging. Mit manchen Dingen war das auch gut gelungen, mit anderen eher weniger.

Cordelias Verletzungen waren jene solcher Dinge gewesen, doch bevor er sich völlig daran verloren hatte, war sein damaliger Lehrmeister ihm zuvor gekommen – wie so oft. Seit Jahren schon war durch die Behandlung des Schamanen Nagi Tanka die Erinnerung an das Gesicht seiner jüngsten Tochter aus seiner Erinnerung verschwunden, ganz und gar, sowohl in zertrümmertem Zustand wie auch freudvoll lachend und dabei ihre kleinen weißen Zähnchen zeigend.

Es war ein seltsames Gefühl, wenn er versuchte nach dem Bild zu greifen. Cordelia war für ihn wie eine entfernte Begegnung, die man mal bei der Durchreise in einem Dort widerfahren war; man wusste, man hatte sie erlebt. Man erinnerte sich in der Theorie genau daran dass dort etwas gewesen war, das man mit etwas Gutem oder etwas Schlechtem verband. Aber versuchte man mit den Händen nach dem Details des Bildes zu greifen, dann zerrann es einem wie Sand durch weit gespreizte Finger. Er wusste noch von ihren adretten kurzen Löckchen, von rotem Haar, ebenso wie er nicht vergessen konnte dass ihre eigene Mutter ihr das Gesicht eingeschlagen hatte. Clarence wusste, dass sie noch geatmet hatte und das in ihre Kehle strömende Blut ganz furchtbar geklungen haben musste – aber die direkte Erinnerung daran war so verschwommen, dass sie kaum noch jenen massiven Schmerz in ihm auslöste, der ihn damals fast wahnsinnig hatte werden lassen. Genauso wie Clarence noch wusste in Centenniel eine furchtbar stinkende alte Schabracke mit abgebrochenen braunen Stümpfen statt Zähnen getroffen zu haben – aber ihr Gesicht, ihre Kleidung, die genaue Intensität dieser übelerregenden Unterhaltung… all das hatten Zeit und neue Erlebnisse aus seinem Kopf verdrängt. Es war verschwommen und unbedeutend geworden, ebenso wie Nagi Tanka die Dinge verschwommen und unbedeutend gemacht hatte.

Doch heute gab es keinen großen Schamanen mehr, der ihn vor derartigem Unheil bewahren würde und schon in Cascade Hill City hatte der Bär seine Konsequenzen aus einer derartigen Möglichkeit gezogen, die für ihn untragbar geworden wäre, hätte er sie ein weiteres Mal durchleben müssen. Die Waffe hatte griffbereit verstaut im Nachtschrank des Krankenbettes gelegen und er würde es auch in Zukunft immer wieder derartig handhaben. Schon damals, in den Wäldern unter deren Schutz sie sich kennengelernt hatten, war der Hüne dem Tode näher gewesen als dem Leben – und das einzige was ihn zurückgeholt hatte und heute hier hielt, war Cassie. Er war die Lebensversicherung des Blonden, ohne die es keine Garantie mehr für ihn gab.

„Du bist meine Familie, Matthew. Versprich mir, dass wir eines Tages entweder zusammen sterben oder gar nicht“, bat Clarence leise und schob seine Arme enger um den Jüngeren, sich noch immer im Takt mit ihm wiegend.

„Versprich es mir einfach… auch wenn wir beide wissen, dass du nicht dafür garantieren kannst. Okay?“


Matthew C. Sky

Für kein Geld der Welt würde Matthew seinen Mann wieder hergeben, selbst dann nicht wenn sie in allen grundlegenden Bereichen unterschiedlicher Meinung wären. 

Ihn in Coral Valley geheiratet zu haben mochte überhastet gewesen zu sein, aber es war die richtige Entscheidung gewesen. 

Er brauchte keine Jahre um hinter die Fassade des Größeren zu blicken und er musste nicht jedes Detail von ihm wissen bevor ihm klar geworden war, dass dieser Mensch der erste und einzige war mit dem er sein Leben teilen wollte. 

Alle Eigenarten, alle Geheimnisse, alle Ansichten und verschiedenen Auffassungen konnten nicht die Liebe erschüttern, die er für Clarence empfand. 

Der Schamane mochte glauben, dass Matthew ihn missverstanden hatte - aber genau genommen hatte er das gar nicht.

Ihm war bewusst, dass Clarence einen hohen Preis bezahlt hatte und das es in seiner Vergangenheit genug dunkle Ecken gab, die mit dem zusammenhingen worum Matt ihn beneidete. 

Dabei hatte er gar nicht von den grausamen Details anfangen wollen. 

Aber an welcher Stelle auch immer das Missverständnis seinen Anfang genommen hatte, es spielte nur mehr eine untergeordnete Rolle. Denn vom Glück oder Unglück des Schicksals beider jungen Männer, waren sie abgeschweift zu einem noch heikleren Thema. 

Ssschht....“, machte Cassie leise, schon als er merkte worauf Clarence hinaus wollte. Aber der Blondschopf ließ sich nicht abhalten und endete den begonnenen Satz mit „...dann irrst du dich gewaltig.“ - aber darauf ließ er es nicht bewenden und Cassiel versuchte nicht erneut das Thema erzwungen zu beenden.

„Ich werde dich aber nicht anschreien und auch nicht zum Teufel jagen, hörst du?“, zugegeben manchmal stand ihm der Sinn danach, doch diese Momente waren in den letzten Monaten immer seltener geworden. 

Sie waren sich nicht immer einig, sie waren manchmal unterschiedlicher Meinung - aber irgendwie schafften sie es beide, dass ihre Differenzen nicht permanent Anlass für Streitigkeiten waren. 

Den letzten großen Zoff hatte es am Tag vor der Exekution von Sally Mitchell gegeben. Matt hatte sie verschonen wollen, aber Clarence war taub für alle Argumente gewesen. Er hatte die junge Frau mit einer präzise gesetzten Kugel  erschossen und ihr Leben damit beendet. Ob das richtig gewesen war? Nein, wenn man Matthew fragte nicht. Der Anschlag auf ihn war nicht ihrem eigenen Geist entsprungen und irgendwo da draußen wartete vielleicht schon das nächste menschliche Werkzeug darauf, den Machenschaften der Hydra dienlich zu sein. 

Doch obwohl Matthew es für falsch hielt, die junge Frau getötet zu haben, so konnte er sich trotzdem in Clarence hineinversetzen. 

Der Wildling war Zeuge eines Angriffes geworden der so brachial und unvermittelt gekommen war und ihn beinahe getötet hätte. Wie schmerzhaft und hilflos man sich in dieser Lage fühlte, wusste Matt. Und hatte nicht auch er an den Verursachern von Clarence’ Verletzungen bittere Rache genommen?

Jeden vermaledeiten Tag war er ausgezogen um die verbliebenen Spinnen zu jagen, hatte keine Gnade gekannt bis er keine mehr hatte finden können die am Leben war. 

Das war nicht rational gewesen, aber er hatte diese Rache gebraucht - und Clarence war es in Sachen Sally Mitchell nicht anders gegangen. 

„Du bist meine Familie, Matthew. Versprich mir, dass wir eines Tages entweder zusammen sterben oder gar nicht.“, kam es leise über die Lippen des Größeren und er versetzte Cassiel damit einen tiefen Stich ins Herz. 

Er wollte nicht darüber nachdenken wer von ihnen beiden mal zuerst starb, er wollte überhaupt nicht an den Tod denken wenn in dieser Gleichung Clarence vorkam. 

Schht jetzt...warum reden wir überhaupt davon?“, Matthew hob den Kopf und blickte zu seinem Geliebten empor.

„Weißt du eigentlich wie schön du bist, hm? Hast du eine Ahnung davon wie maßlos ich dich liebe? Du bist alles was mir etwas bedeutet.“, ein verliebtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen und in seine Augen und vertrieb den Kummer, der eben noch in seinem Gesicht gelegen hatte. 

„Und weißt du, was mir gerade klar wird?“, fragte er den Größeren in dem Wissen, dass dieser keinen Schimmer haben konnte. 

„Das ich nicht weiß wer meine Familie war, ist eigentlich gar nicht so wichtig... weil ich weiß wer meine Familie jetzt ist. Sie steht vor mir.“ - niemand würde ihm die vergangenen Jahre ersetzen können. Selbst wenn diese Harriet mit ihrer Behauptung richtig lag und die Frau auf dem Foto seine leibliche Mutter war, selbst wenn Rouge ihn gezeugt hatte...Es gab der Vergangenheit Gesichter, aber es schaffte keine Vertrautheit, es schaffte keine Wurzeln. Dass das so war, hatte Matthew geprägt, aber auch Clarence hatte das getan und tat es noch. 

Er konnte nicht ändern was passiert war, aber er schaffte eine Zukunft

„Was dir genommen wurde, kann ich nicht zurückbringen... Und was mir fehlte, kannst du rückwirkend nicht beschaffen. Aber wir...wir haben uns und das ist...das ist alles worauf es ankommt, oder?“

Noch immer hatte er dem Hünen nicht den Gefallen getan und das gewünschte Versprechen abgegeben und es dauerte noch einen Augenblick bis er den Bogen zurückschlug. Aber als er es tat, da tat er es mit einem Schwur.

„Ich, Matthew Cassiel Sky, verspreche dir, Clarence Bartholomy Sky, dass wir zusammenbleiben...alle Tage unseres Lebens. Und wenn unsere Zeit irgendwann aufgebraucht ist... dann gehen wir zusammen.“

Sie beide waren stur und eigensinnig und verbohrt und Matthew zweifelte nicht daran, dass sie sich nicht einmal dem Tod beugen würden. Er mochte sie eines fernen Tages erreichen, weil es unausweichlich war - aber trennen? 

Trennen würde sie nicht einmal der.

Oh my love for the first time in my life my eyes are wide open. Oh my lover for the first time in my life my eyes can see...“ - stimmte er nun an und gab der Melodie einige Worte. Dabei blickte er noch immer zu Clarence empor, sog jedes Detail des Anderen in sich auf und konnte nicht umhin verliebt zu schmunzeln. 

Es gab auf der Welt keinen größeren Schatz als ihn und daran würde sich nichts ändern, nicht heute und nicht morgen und auch nicht in zehn Jahren. 

Lautlos nahm er seine Hand von der Brust des Größeren, streichelte noch einmal kurz über den Stoff des dünnen Oberteils hinweg und hob sie schließlich höher. Schon unzählige Male hatte er den goldenen Flachs auf den fremden Wangen berührt und doch verursachte das Gefühl des weichen und doch pieksigen Bartes in seiner Handfläche noch immer ein angenehm prickelndes Gefühl. 

Vertraut und dennoch nicht selbstverständlich war ihr Umgang miteinander geworden seit sie sich getraut hatten ihre Gefühle füreinander auszusprechen. 

Sie liebten und schätzten sich in einem Maße wie es die wenigsten Paare taten - vielleicht gerade deshalb, weil sie mehr wussten als die meisten anderen Menschen. Ihnen war klar wie vergänglich dass Glück war, ihnen war klar das es für nichts eine Garantie gab. Wer glaubte man habe ewig Zeit um einander die Liebe zu gestehen, sich zu versöhnen, Dinge klarzustellen...der irrte. Mitunter blieb einem nämlich nicht mehr, als der nächste Herzschlag. 

Behutsam begann Cassiel damit, durch Clarence’ Bart zu kämmen, ihn dabei ansehend wie das größte Wunder das die Welt je erblickt hatte. 

„Ich verspreche es und meine es.“ - und mit diesen Worten verstärkte sich der Zug am blonden Bart, dem Hünen eindeutig signalisierend, dass er den Kopf nach unten senken sollte. Gleichzeitig kam der Jüngere seinem Liebsten entgegen indem er sich auf die Zehnspitzen stellte, den Kopf hob und auf diese Weise den Bruchteil einer Sekunde später seine Lippen auf die des Schamanen legte. 

Ganz unwillkürlich schloss Matthew die dunklen Augen, sperrte die Welt um sich herum aus um nur noch zu spüren worauf es ankam: 

Clarence Sky, die Liebe seines Lebens. 


Clarence B. Sky

Lange Zeit waren sie nichts anderes gewesen außer zwei Männer, die irgendwann stillschweigend einvernehmlich beschlossen hatten, zusammen den gleichen Weg zu gehen.

Später waren sie zwei Männer mit dem gleichen Weg gewesen, die einvernehmlich beschlossen hatten aneinander dann und wann ihre sexuellen Triebe abzubauen, wenn sie in freier Wildnis kaum noch zu ertragen waren.

In Coral Valley waren sie zwei Burschen mit dem gleichen Weg und einem Sexualleben gewesen, die sich eingestanden hatten einander zu lieben – und aus ihnen waren zwei Menschen geworden, die nach Evaluation dieser Situation blauäugig beschlossen hatten, sich einander das Ja-Wort zu geben.

Aber hatte sie das auch von Anfang an, mit dem Ablegen ihres Schwures, augenblicklich zu einer Familie gemacht?

Natürlich, würden viele sagen. Das Band, welches sich unsichtbar zwischen ihnen spannte, zog das eine unwiderruflich nach sich. Fragte man aber Clarence, so hatte sich das Gefühl von Familie und einem familiären Umgang erst nach und nach bei ihnen beiden eingeschlichen.

Jemanden zu lieben war das eine. Man hatte tiefgreifende Gefühle für eine andere Person, fühlte sich zu ihr hingezogen, begehrte sie körperlich aber auch auf anderen Ebenen ihres Daseins, die man mit Worten niemals würde treffend beschreiben können. Der Jäger könnte schienbar unbedeutende Aspekte an Cassies Art aufzählen, die ihn unfassbar entzückten und doch würden sie nie den Kern der Dinge wirklich treffen welche machten, dass sein Herz beim Anblick des Jüngeren schneller schlug oder seinen Puls sogar aussetzen machte, nur weil sein Geliebter an seiner Seite verweilte.

Trotzdem war Liebe etwas, das vergänglich sein konnte. Verlor man sie auf halbem Weg und wurden die Differenzen zu groß um die Kluft noch länger mit wackeligen Stegen überbrücken zu können, würde sich das unsichtbare Band zwischen ihnen unweigerlich lösen und dahin waren all die Wünsche und Träume, die sie miteinander gesponnen hatten. Die Zukunft, einst noch in den buntesten Farben ausgemalt, wäre dahin und selbst der eisernste Wille würde nicht dazu führen können, dass sie sich jemals erfüllten so wie gehofft.

Liebe und Familie waren für Clarence zwei so unterschiedliche Dinge wie Tag und Nacht, Sommer und Winter oder Sonne und Regen… und trotzdem gehörten sie zusammen, denn ohne das eine gab es das andere nicht. Man konnte lieben, ohne durch den betreffenden Menschen familiär verbunden zu sein – aber konnte man sich weiter Familie nennen, ganz ohne die Person, die man damit meinte, zu lieben?

Familie kannte keine Grenzen. Sie kannte keine Gräben, die zwei Menschen so sehr voneinander fort trieben dass nicht einmal mehr Gedanken an den anderen etwas in einem auslöste und egal was das Leben eines Tages auch mit sich brachte… die Familie war es, nach der man sich in eben jenen Augenblicken sehnte und die man so sehr brauchte wie niemand anderen sonst auf der Welt.

Immer dann, wenn Matthew den Blonden wissen ließ ihn zu lieben, brannte sein Herz in der starken Bärenbrust vor Wärme und eine Hingezogenheit zum Dunkelhaarigen entflammte in ihm, wie er sie schon seit viel zu vielen Jahren nicht mehr verspürt hatte. Doch die seltenen Momente, in denen Cassie ihn seine Familie nannte…?

Nichts war mit jenem Gefühl vergleichbar, welches ihn unabwendbar überkam.

Die einen mochten es Liebe nennen, was seine Gedanken und sein Herz in diesen Sekunden ergriff, andere eine triste Selbstverständlichkeit, gründend auf der Ehe die sie seit geraumen Monaten erfolgreich aufrecht erhielten. Es mochte Menschen geben, die mit diesem Gefühl ein gewisses Abenteuer des Neuanfangs in Verbindung brachten oder den Reiz des Unbekannten der darin ruhte, was aus ihrer Familie einst werden würde wenn man den Jahren die Möglichkeit ließ ins Land zu streichen.

Clarence hingegen wusste es besser, genau wie viele andere unzählige Menschen auch. Dieses Gefühl nannte sich Glück und es war so kostbar wie kaum ein anderes Gut auf dieser Welt.

Wenig verwunderlich war es dementsprechend, dass der stramme Jäger nur allzu bereitwillig dem Zug der fremden Finger in seinem Bart Folge leistete um sich zum Kleineren hinab zu beugen und den einladenden Lippen des anderen hinzugeben.

In Sekunden wie diesen, da hatte Cassie völlig Recht, spielte es selbst für den Schamanen kaum eine Rolle was einst gewesen und was unwiderruflich verloren gegangen war, solange sie nur hatten was sie heute besaßen. Sie waren nicht mehr einsam, weder der vorlaute Söldner noch er selbst, und das würden sie auch nie mehr sein bis zu dem Tag, an dem der Schöne sein Versprechen wahr machte und ihn nicht eines unglücklichen Endes alleine zurück ließ in dieser grausamen, kalten Welt.

Leise seufzend schloss Clarence seine Augen und gab sich den weichen Lippen hin, welche die seinen eroberten und aufspalteten, wie es nur zwei Liebende auf jene Weise zu tun pflegten. Cassies Haut war warm von der nicht mal mehr annähernd morgendlichen Dusche und den hellen Sonnenstrahlen die ihre Leiber an Deck kitzelten, seine Schulter nass von dem klaren Wasser, welches noch immer aus seinen dunklen Haarspitzen rann.

Egal welche Trauer über einem Thema liegen mochte das sie miteinander im Gespräch anschnitten, der Jüngere hatte die unbezahlbare Gabe selbst die dunkelsten Wolken im Kopf des Jägers aufbrechen zu lassen nur um die Sonne dahinter hervor zu locken. Nahm er sich vor auf den Taugenichts sauer zu sein, so konnte er es am Ende doch nicht länger als eine überschaubare Anzahl von Minuten und kam es Claire so vor als würden ihre Meinungen niemals mehr auf einen grünen Zweig zurück finden, so schaffte sein Mann in den zurückliegenden Wochen doch immer wieder einen annehmbaren Kompromiss aus dem Nichts heraus, als sei es niemals anders zwischen ihnen gewesen.

Für einen kurzen Moment schoben sich die starken Arme des Bären dichter um den feuchten Rücken seines Geliebten und drückten ihn im Kuss enger an sich, nur um sich schließlich doch wieder zu lösen und mit unschuldigen Händen tiefer an ihm hinab zu gleiten. In ganz und gar nach Nähe sehnender Manier und – ausnahmsweise tatsächlich – frei von jedweden eigennützigen Hintergedanken, stahlen sich seine Finger zaghaft über das vom Handtuch bedeckte Gesäß seines Lieblingsfamilienmitglieds und Clarence genoss dabei nichts mehr und auch nichts weniger als die seltene Idylle, welche sich dabei in ihren anbrechenden Tag eingeschlichen hatte.

„Mhhh…“, hob er seine Stimme und es brummte leise die stattliche Brust des Älteren empor kaum dass sie sich nach endlos scheinenden Sekunden wieder voneinander gelöst hatten, ganz so als läge ihm etwas auf der Zunge, was aber letztlich doch nicht den Weg über seine Lippen finden wollte. Um ehrlich zu sein hatte er bis vor wenigen Augenblicken wirklich noch einen expliziten Gedanken gehegt, aber angesichts der heimeligen Ruhe welche sich so unerwartet wieder über sie gelegt hatte… konnte man es ihm da verübeln, dass ihm der rote Faden seines eigenen Geistes gerade aus den Fingern glitt?

„Wie machst du das, mh? Dass egal wie es mir geht, ob ich aufgewühlt oder traurig bin, deine bloße Gesellschaft ausreicht um alles gleich ein wenig besser zu machen?“

Das war eine berechtigte Frage und angesichts seiner längst vergangenen Ehefrau, die ähnlich undurchschaubare Talente besessen hatte, wäre es Clarence nicht schwer gefallen seinem Partner fragwürdige Gaben zu unterstellen. Vielleicht ruhte ja sogar wirklich ein wenig Magie in Matthew – aber wenn dem so war, wollte Clarence sie nicht mehr in seinem Leben missen.

Noch immer lagen seine vorwitzigen Hände auf den einzig verhüllten Rundungen des Jüngeren und sanft wiegte er seinen Gegenpart im längst erstorben Takt, die eigene Stirn an Cassies legend und die blaugrauen Augen weiterhin geschlossen, ganz so als könne ein einziger Blick dafür sorgen dass die Zeiger der Uhren doch wieder voran schritten, anstatt innezuhalten wie sie es just in diesem Moment taten.

„Hätte mir damals jemand gesagt, dass in dem blutigen, durchlöcherten Kerlchen das du mal warst der Mann von heute steckt, der mich noch immer ganz verliebt macht… vermutlich hätte ich denjenigen ausgelacht und links liegen lassen.“ – Letzteres hatte er wenigstens mit Matthew damals in den Wäldern nicht getan und das war das größte Glück seit langem gewesen, wie ihm Prinzessin Immerschön jeden Tag aufs Neue bewies.

„Aber angesichts dessen, dass ich ihn ausgelacht hätte… vielleicht wäre ich da auch auf der Stelle umgedreht und in deine Arme gerannt, das kann ich nicht so genau sagen“, fügte Claire nach kurzem Zögern schließlich mit einer seichten Prise Selbstironie an, immerhin wäre jenes Geräusch ja im Umkehrschluss ein untrügliches Zeichen dafür gewesen, dass der fremde Lügenbold doch in gewissen Maße hätte Recht haben müssen. „Und du… du hättest mich gefragt ob ich nicht mehr alle Latten am Zaun hab und mir 'nen Vogel gezeigt. Kann mir das ziemlich gut vorstellen."

Selbst heute erklärte der Jüngere ihn noch dann und wann für verrückt. Aber war das tragisch? Beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit?

Wenn er verrückt war, war er das am liebsten gemeinsam mit Matthew und so oft sie die Dinge auch verschieden sehen mochten, wenigstens die Grundlagen des gepflegten Wahnsinns stimmten bei ihnen überein.


Matthew C. Sky

Besaß Matthew die Fähigkeit Sorgen wegzuzaubern und stattdessen durch positive Gedanken zu ersetzen? War ihm die Macht in die Wiege gelegt worden, fremde Flüche zu brechen, durch nichts weiter als seine bloße Anwesenheit?

So interessant es zweifellos wäre eine solche Macht zu besitzen, Cassiel konnte dergleichen nicht von sich behaupten, dazu kannte er zu viele Leute die in seiner Gegenwart nicht automatisch von frustriert zu heiter umgeschwenkt waren. Und auch Clarence sollte ein Lied davon singen können, hatte Matthew ihn doch die meiste Zeit ihres gemeinsamen Weges unendlich genervt.  

Es war der Streit und die tagelange Trennung in Coral Valley die den Jüngeren hatten erkennen lassen, dass er einwandfrei ohne den Hünen zurechtkam in einer Stadt wie Coral Valley...aber ebenso war ihm bewusst geworden wie wenig Vergnügen er an allen Vergnüglichkeiten gefunden hatte, war Clarence nicht bei ihm. Erst das Eingeständnis der tief empfundenen Liebe zu dem Christen hatte Matthew begreifen lassen, dass er zwar ohne Clarence leben konnte, es aber nicht wollte. Es war jene Erkenntnis gewesen die ihn den Mut hatte finden lassen die Karten offenzulegen. 

Er hatte sich verwundbar gemacht, in dem einfachen Zimmer des Blauer Hund. 

Clarence hätte ihn abweisen können, er hätte ihn in der Metropole zurücklassen können oder sich gegen ihn wenden. Aber all das hatte er nicht getan und Cassiel hatte in jenen Minuten nach seinem Geständnis nichts weiter gebraucht als zu erfahren, dass Clarence nicht ausflippte und ihn nicht sofort aus seinem Zimmer verwies. Was sich in den nachfolgenden Tagen und Wochen zwischen ihnen entwickelt hatte, war mehr als Cassie sich hatte erhoffen können. 

Denn statt Zurückweisung und Ablehnung, hatte Clarence ihm sich geschenkt, ihm seine Liebe gestanden, ihn zu seinem Mann gemacht. 

Unter der Liebe und Beständigkeit war der Jüngere mehr und mehr erblüht. Er war spürbar aufgetaut und hatte mehr und mehr die schützende Fassade abgelegt. Beide jungen Männer hatten durch die Liebe zueinander so viel mehr gewonnen als sie am Anfang erwartet hatten. 

Unter dem Alltag, den Clarence Matthew bot, durch seine tägliche Gegenwart, seine Zuwendung in jedem Blick, seine Aufmerksamkeit in jeder wachen Minute...damit hatte er in Matthew erst jenen Zauber erweckt, der dem Kleineren die Fähigkeit gab den Wildling zu heilen. 

Aus dem narzisstischer Söldner war ein fürsorglicher und aufmerksamer junger Mann geworden, der sich nicht mehr nur vorrangig für seine eigenen Belange interessierte, sondern dem der Blondschopf in jeder Hinsicht wichtiger war. 

Was ging vor hinter der Stirn des Größeren? Welche Sorgen hatte er, was beschäftigte ihn und womit konnte er ihm eine Freude machen?

Das waren die Dinge die Cassiel seither interessierten und von denen er sich nicht mehr scheute sie auch zu zeigen. Der Hüne war wichtiger als irgendeine Anerkennung von Menschen aus der gesellschaftlichen Oberschicht, wichtiger als lockende Geschäftspartner die Macht und Reichtum versprachen und auch wichtiger als Gold und Silber in Hülle und Fülle. 

Nichts von alledem würden ihnen gemeinsame Zeit verschaffen können, wenn eines Tages ein Auftraggeber hinter sein Geheimnis kam und ihn deswegen töten ließ oder wenn eine Zielperson der er wirklich nachstellte es schaffte ihn vorher umzulegen. Sein Talent für Mord lag ihm wahrscheinlich im Blut, doch den fragwürdigen Edelstein geschliffen, auf das er präzise und scharf wurde, das hatte Le Rouge. Ohne Frage war Matthew geschickt in seinem Metier, dennoch blieb stets ein Risiko und jenes einzugehen, für nichts weiter als Gold und Ansehen in den Augen Fremder, erschien Matthew nicht mehr länger lohnenswert. Nichts lockte ihn nämlich so sehr wie sein eigener Mann es tat. 

Die Ziele, die er lange gehegt und denen er nachgeeifert hatte, hatten sich verschoben und was ihm früher nicht erstrebenswert erschienen war, war mit Clarence zu etwas geworden das ihn glücklich machte. 

Einander treu sein, ein Heim haben das man sich teilte, Stetigkeit im gemeinsamen Leben, Verantwortung füreinander tragen und gemeinsam Pläne schmieden. Nichts davon hatte Matthew Reed je begeistern können. 

Sein Leben hatte sich um Goldmünzen gedreht, zu Anfang auch um Silber... 

Um Gefälligkeiten, die er wichtigen Menschen machte, auf das diese ihren Bekannten seinen Namen weitergaben wenn auch diese ein bestimmtes Problem hatten das beseitigt werden musste. Sein Leben hatte sich darum gedreht Reichtum anzuhäufen und es war gleichsam daran gescheitert, weil er seine verdienten Münzen meist verprasst hatte ohne etwas Sinnvolles mit ihnen anzufangen. 

Etwas zurücklegen für später, um eines fernen Tages einen Hof zu kaufen und den Grundstein für die Pferdezucht zu legen, dass hatte er immer vorgehabt aber nicht umgesetzt. Immerhin hätte jeder Tag sein letzter sein können und wozu etwas sparen, wenn sich nach dem eigenen Tod nur Fremde darüber hermachten?

Mit Clarence hatte er zum ersten Mal nicht das Gefühl, dass es sinnlos war Pläne zu machen und dafür zu arbeiten. Der Größere gab ihm das Gefühl, dass sie es schaffen würden zusammen alt und grau zu werden. Er beschützte ihn irgendwie, mit einem Zauber der ihm vielleicht selbst nicht bewusst war. 

Clarence das Boot zu kaufen war - neben diversen Spenden - die wohl beste und nachhaltigste Investition gewesen die er in seinem Leben getätigt hatte. 

Die Harper Cordelia war ihr Zuhause, ihr Ticket an jedes Ufer das sie anstrebten, ihre Zuflucht um sich ihre Wunden zu lecken und der Platz an dem sie zusammen herumalbern oder sich in der Wolle haben konnten. 

Auch jetzt, fernab jeder Metropole und jeder menschlichen Siedlung, schaffte es der Schamane, dass Cassiel sich heil und geborgen fühlte. 

Ihr Ausflug in das Feld voller Spinnen war noch nicht allzu lange her und der Augenblick in dem ihn ein Schieferstein getroffen hatte und er fast gestorben wäre, lag sogar noch näher in ihrer Vergangenheit - und doch hatte Matt keine Angst, wenn es darum ging in den Ruinen der Geisterstadt umherzustreifen. 

Und warum nicht? Weil er Clarence hatte. Und weil Clarence Bartholomy Sky, seines Zeichens Barbarenbärenprinz, alles von ihnen abhielt und bekämpfte was es wagte ihren gemeinsamen Plänen vom alt werden in den Weg zu kommen. 

Gefühlvoll spaltete er mit der Zunge die Lippen seines Liebsten auf, lehnte sich Clarence entgegen und schmiegte sich an ihn. Die Hände seines Liebsten wanderten von seinem Rücken hinunter... dorthin wo die die festen Rundungen seines Gesäß‘ nur noch von dem Badetuch bedeckt waren und durch nichts sonst. Ob nun unbescholten oder in sündiger Mission, Cassiel entlockte der Griff seines Mannes ein wohliges Seufzen. 

„Hmm ich weiß nicht wie ich das mache... möglicherweise liegt es ja an dir.“, an den Größeren geschmiegt zuckte er die Schultern, ehe er seine Arme hob und ausgestreckt auf Clarence‘ Schultern ablegte. Einer winkelte sich an, damit er mit dieser Hand durch das Haar am blonden Hinterkopf streicheln konnte. 

„Ich schlage vor...“, er zögerte kurz, schien abzuwägen ob er wirklich sagen wollte was ihm auf der Zunge lag. 

Auf der einen Seite gefiel ihm das Gefühl der fremden Hände an seinem Gesäß und er wusste, würde sein liebster Bär mit seinen Tatzen unter das Handtuch wandern...würde es ihm noch viel mehr gefallen. 

Aber andrerseits war der Morgen derart erschöpfend gewesen, dass er schlichtweg nicht wusste ob er nochmal in der Lage sein würde jene Art der Verausgabung zelebrieren zu können. Darüber hinaus wartete in ein paar hundert Metern eine Geisterstadt darauf erkundet zu werden. 

Und so sprach er schließlich schweren Herzens weiter. „...du nimmst deine Hände wieder zu dir und kümmerst dich ums Essen...während ich...hier oben warte und dabei unverschämt gut aussehe, hm? Klingt fair, find ich.“


Clarence B. Sky

Niemals in seinem ganzen Leben hätte Clarence sich vorstellen können, dass eines schönen Tages ein anderer Mann wohlig gegen seine Lippen seufzen würde. Sicher, er hatte es fantasiert, in manch einsamer Minute für die er später stundenlang in der kleinen Kapelle ihrer Gemeinde gesessen und um sein Seelenheil gebetet hatte. Doch diese sündhaften Träume im wahrsten Sinne greifbare Wahrheit werden lassen? – Das hatte er nie erwartet.

In der Kultur, unter derer Schirmherrschaft er aufgewachsen war, gab es solche Menschen wie ihn. Verwirrte Seelen, die nicht wussten was sie wollten und die in abscheulicher Manier verlangten, was die Bibel ausdrücklich verbot. Manche von ihnen kamen ihren Gelüsten nach und zahlten dafür den Preis, wurden nicht nur ausgeschlossen aus der Gemeinde, sondern für ihr frevelhaftes Treiben mit einem quälend langsamen Tode am Kreuze bestraft, jenseits der schützenden Straßen des heiligen Bodens, der ihnen eine sichere Heimat war gegen die Gewalten, die draußen im Höllenfeuer drohten. Wer hat an das gleiche Geschlecht anlegte, der war verdorben für das jeweils andere und um die Sünde nicht zu verbreiten wie eine ansteckende Krankheit, schützte man auf diese Weise die unschuldigen Töchter und Söhne vor dem gleichen Schicksal.

Wer schlau war, wer sich in früher Jugend beim experimentieren nicht hatte erwischen und nicht ans Kreuze nageln lassen, der hatte später zwei Optionen. Entweder man wählte ein Leben in Einsamkeit, setzte ein deutliches Zeichen gegen den Alltag mit einer Frau, einem Mann und Ehe und machte sich dadurch doch irgendwie zum Außenseiter weil jeder ahnte dass etwas nicht stimmte… oder man gestand sich ein, dass man die Abneigung gegen das andere Geschlecht irgendwie überwinden konnte, dem eigenen Wunsch zuliebe eine Familie zugründen und Nachwuchs zu zeugten.

Auch wenn er nicht besonders interessiert an Frauen gewesen war, hatte Clarence letzteres getan und sich damit kompromisslos dem lang gehegten Lebensziel hingegeben, eines Tages Kinder in die Welt zu setzen und seine eigene Blutslinie fortzuführen. Töchter hatte er behüten und schützen wollen, ihnen ein guter Vater sein und vorleben was es hieß später in der eigenen Ehe geliebt und wertgeschätzt zu werden auf dass sie diese Liebe an seine Enkel weiter gaben und Söhne hatte er großziehen wollen, auf dass sie später ehrenwerte Männer wurden mit wenig autoritären Erziehungsmethoden, wie er sie selbst als erster in seiner Familie angebracht hatte. Er hätte ihnen die Landwirtschaft beigebracht, ihnen gezeigt wie der Weizen vom Samenkorn bis zur goldenen Ähre ihren Lauf nahm, nur um später gedroschen und zum überlebensnotwendigen Mehl weiter verarbeitet zu werden; hätte sie gelehrt Kälber und Ferkel zu gewinnbringendem Vieh groß zu ziehen und später was es hieß, für die eigenen Sprösslinge Verantwortung zu tragen und ein guter Vater sowie Ehemann zu sein.

Während all der Zeit und selbst noch danach hatte er nie wieder darüber nachgedacht einen anderen Mann auf unzüchtige Art und Weise zu berühren oder wie es wohl sein mochte, wenn dieser wohlig gegen seine Lippen seufzte.

Und dann kam Matthew Reed.

Was weggesperrt gewesen war, all die Sünde und das Verlangen, war zurück an die Oberfläche gedrungen und hatte selbst Clarence‘ Ängste vor der Hölle und der ewigen Verderbnis gesprengt. All das war ihm lohnenswert erschienen wenn er dem jungen Söldner nur einen einzigen Kuss entlocken konnte, einen einzigen Ton, eine einzige leidenschaftliche Berührung die nicht überschattet wurde von der Zurückhaltung Cassies; doch alles Hoffen und Sehnen hatte zu nichts geführt und der Jüngere hatte ihn warten lassen. Monate und beinahe Jahre hinweg, bevor er ihn im Schein eines nächtlichen Lagerfeuers endlich hatte von seinen schön geschwungenen Lippen kosten lassen.

Eigentlich hätte Clarence es dabei belassen können. Hätte intensive Küsse und leidenschaftlichen Sex als den Gewinn einfahren können den er sich verdient hatte nach all der Geduld die er dem vorlauten Taugenichts gegenüber aufgebracht hatte, ganz ohne dem Jüngeren darüber hinaus noch mehr von sich zu versprechen und sich selbst dadurch noch tiefer ins Verderben zu treiben.

Aber was brachten ihm die Lippen und der Leib seines Partners ein, wenn es zu nichts führte? Was brachte ihn das einmalige Kosten von der verbotenen Frucht, durch das er sich genauso schuldig machen würde, wie wenn er den Rest seines Lebens bis zum letzten Atemzug den gleichen Fehler begehen konnte, ohne dass die damit einhergehende Strafe sich multiplizierte?

Clarence Bartholomy Skys Erziehung war geprägt worden durch Grundsätze und dazu gehörte auch jener, dass zwei Menschen, die sich gegenseitig liebten, den Bund der Ehe einzugehen hatten um ihre Gefühle füreinander legitim zu machen. Dass sie sich damit das Versprechen gaben aneinander und miteinander dafür zu arbeiten, dass jene Liebe niemals im Sande versiegte und dass keine Hürde in ferner Zukunft groß genug sein könnte, um sie auseinander zu treiben und gottverdammt, Claire wollte all das.

Es war in einer Welt wie der hiesigen viel zu einfach alte Bande abzubrechen, jemanden alleine zurück zu lassen und sich jemand neuen zu suchen nur weil es nicht so lief wie gedacht, aber das waren nicht die Werte, mit denen der Christ in seiner eigenen Welt aufgewachsen war. An manche Regeln und Gesetze hatte er sich angepasst seitdem er den Madman Forest verlassen hatte, an andere wiederum nicht und wenn es eines gab, an dem Clarence sich festhalten wollte, dann war es das Privileg der Liebe und das Sakrileg der Ehe, welches in seiner Anschauung daraufhin folgte.

Wahrlich, ihr Leben hätte rosarot und voll von Regenbögen sein können seitdem sie sich ihre Gefühle eingestanden hatten und waren sie zusammen, der Himmel hätte pausenlos voller Geigen hängen können. Dass dem nicht so war, hatten die beiden jungen Männer bereits allzu oft bewiesen und noch öfter hatte es nach sich gezogen, sich auch wieder zusammen raufen und beieinander entschuldigen zu müssen. Eben diese kleineren und auch größeren Diskrepanzen waren es, die der Blonde benötigte um nicht daran zu zweifeln dass ihre Verbindung zueinander mehr war als nur die eingeimpfte Utopie eines übersinnlichen Wesens, welches gedachte sich an dem kleinen bisschen Glück zu laben das Cassie in ihm beschwor oder dass er gar erneut an eine Person mit zweifelhaften Gaben geraten war; doch manchmal, an Tagen wie diesen, da schätzte er unheimlich dass sie auch das Talent für den stillen Frieden besaßen, wie es viel zu vielen blauäugigen Paaren oblag. Manchmal, da wollte auch ein Fels in der Brandung nichts anderes sein außer verliebt, da wollte auch ein unnahbarer Jäger das Recht dazu besitzen verletzlich zu sein und einen weichen Kern zu haben… und einen Partner, dem es nicht im Geringsten anders damit ging.

„Oder aber… ich lasse meine Hände einfach genau da wo sie sind und wir sehen noch ein bisschen gemeinsam unverschämt gut aus. Klingt auch nicht schlecht… oder?“ - Ein zartes Schmunzeln legte sich über die Lippen des Bären, während er seine Stirn an die des Jüngeren legte.

„Als ob es jemanden von uns interessiert ob das Essen wegen zehn Minuten länger nun etwas trocken ist oder nicht…“

Nichts auf der ganzen Welt, darauf würde er mit Freude alles wetten das er besaß, konnte sich besser anfühlen als die Arme seines Mannes auf den Schultern und die schlanken Finger Cassies, wie sie dabei zärtlich durch sein weizenblondes Haar kraulten. Einst derart verwoben bei einem Mann zu stehen… er mochte es früher nicht gedacht haben und fasste es selbst heute manchmal noch nicht genau, aber Clarence wusste, dass er es gegen nichts mehr eintauschen würde was man ihm bot. Nicht mal gegen perfekt gegartes Fleisch.

Sag mir, Süßer… wohin werden wir segeln, wenn wir mit Rio Nosalida abgeschlossen haben?“, erhob Clarence schließlich nach einem wohligen Brummen und sanften Zucken seiner vorwitzigen Finger im fremden Gesäß seine Stimme und schloss träumerisch die Augen. Miami, Rio Nosalida, dann die ganze Welt – so konnte zumindest theoretisch ihre Reiseroute aussehen, wenn sie es darauf anlegten.

„Wohin entführst du mich? Wir könnten noch weiter gen Süden und uns irgendwo im ewigen Sommer niederlassen oder… wir umrunden den Süden… und den Norden… und sehen uns an, was es jenseits des Winters zu entdecken gibt. Sag mir, worauf du Lust hast und ich sage dir… mhh… ich sage dir dann, zu welchen Reisen Captain Clarence mit dir bereit wäre, mh…?“


Matthew C. Sky

Oder aber… ich lasse meine Hände einfach genau da wo sie sind und wir sehen noch ein bisschen gemeinsam unverschämt gut aus. Klingt auch nicht schlecht… oder?“ - Ein helles Lachen kam Cassie über die Lippen. Der Mann der mit ihm an Deck stand war ein Mann der zu verzaubern und zu amüsieren wusste. 

Mit ihm konnte man Pferde stehlen, mit ihm konnte man spinnen und tagträumen. Aber er war auch ein Mann der Tat. Er packte an, wo anpacken von Nöten war, er war rau- immer dann wenn die Situation es erforderte. So viele Facetten an Clarence Sky waren nicht offensichtlich und doch wurde jede einzelne von Matthew abgöttisch geliebt.

„Nun...mich interessiert es schon, aber ich sehe ein, dass manche Dinge noch reizvoller sind als gutes Essen.“, räumte er ein und gab seinem Liebsten einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. 

So an Clarence geschmiegt zu sein, Stirn an Stirn und sich zu einer Melodie bewegend die seit Kurzem verstummt war, fühlte er sich seltsam heil und unversehrt. So als hätte es nie Schmerzen in seinem Leben gegeben, nie Angst, nie Trauer, nie Verzweiflung. 

Clarence war, vollkommen unstrittig, Matthews erste, einzige und größte Liebe. 

Von all den Dingen die Clarence dann und wann durch den hübschen Kopf gingen, konnte Matthew bestenfalls etwas ahnen. Ihm war bewusst, dass die Vergangenheit seines Geliebten diesen sehr geprägt hatte, dass seine Grundsätze vielfach durch das bestanden, was sein Glaube und seine Gemeinde ihn gelehrt hatten. Ab und zu fragte sich Cassie dennoch was im Oberstübchen  des Größeren vor sich ging, ob er bereute ihn kennengelernt zu haben und damit dem verfallen zu sein was sein Gott als Sünde bezeichnete. 

Aber meistens schaffte es der Blonde, dass Cassie sich derartige Fragen nicht stellte - so auch an diesem Morgen, als Clarence vollkommen mühelos jeden düsteren Gedanken im Keim erstickt hatte.

“Hmm wohin auch immer du willst, dorthin segeln wir.“ - versuchte Cassiel sich aus der Affäre zu ziehen. Die Möglichkeiten die sie hatten waren endlos. Rio Nosalida markierte das Ende aller Verpflichtungen. Dort würde Clarence tun was es brauchte um sich von seinem Clan loszusagen - und einmal so geschehen, würde es nichts und niemanden mehr geben für den sie Gefälligkeiten zu vollbringen hatten. Mit dem Ablegen aus Rio Nosalida stand ihnen alles offen, eine unerschöpfliche Anzahl an Möglichkeiten die ausgeschöpft werden wollten. „Ah Captain Clarence...“, wiederholte er lächelnd den selbstgewählten Titel seines Mannes, während er sich mit ihm wiegte und durch seinen Nacken streichelte. 

Einen Moment lang schwieg er, wog ab wohin er wollte. In Gedanken überblickte er Globus und Karten, durchdachte Routen, sinnierte über das was jenseits des Meeres lag. 

Europa kam ihm in den Sinn, Asien und Afrika. Die fremden Kontinente waren kaum erforscht, niemand wusste so wirklich was hinter dem Meer lag und...Cassie würde lügen wenn er die Abenteuerlust bei dem Gedanken verleugnen würde. 

Eines Tages wollte er sie sehen - die Länder die niemand kannte. 

„Ich würde gern...nach Osten reisen, über das Meer...sehen was auf der anderen Seite der Welt ist. Ob es so ist, wie es in den alten Büchern steht.“, unzählige Schriften und Karten hatte Cassiel schon gelesen und studiert. Rouge hatte ihn nicht nur gedrillt und ausgebildet was den Kampf anging, sondern er hatte auch dafür gesorgt das Matthew so belesen und gebildet war wie kaum ein Bürger aus der Oberschicht. Er sprach verschiedene Sprachen, konnte schreiben, verstand sich in Mathematik, kannte sich aus was Geographie und Geschichte anging. Rouge hatte dafür gesorgt das sein Verstand mindestens so scharf geworden war wie die Klingen seiner Waffen und so schnell wie die Pfeile die er verschießen konnte. Intelligenz und Bildung waren ihm stets wichtig gewesen - in dieser einen Hinsicht hatte er Matthew gut getan.  

„Es heißt, die Vorfahren der Alten haben Städte erschaffen...die so raffiniert aufgebaut waren...dass selbst die größten Wissenschaftler ihrer Zeit nicht in der Lage waren alle Rätsel zu entschlüsseln. Mitten im Wüstensand.“, wisperte er leise gegen die Lippen seines Geliebten, während seine Finger behutsam durch das weiche Haar des Größeren strichen. Einem Rhythmus folgend, den nur Cassiel wahrzunehmen schien, wickelte er sich immer wieder eine Strähne des blonden Schopfes um den Finger, ließ sie fallen und nahm sie langsam erneut auf. 

„Die Wunder der alten Welt...die würde ich gern mit eigenem Augen sehen.“, es gab viel zu erkunden und zu entdecken und bevor sie sich irgendwo niederließen um zusammen alt zu werden, wollte Matthew genau das. Abenteuer erleben, gemeinsame Erinnerungen schaffen, zusammen erleben was kaum ein anderes Paar erlebte. 

Aber das allein war es nicht, wie sich wenige Augenblicke später schon zeigte. Bevor sie all das erleben konnten, wollte Cassie etwas sehen, dass nicht fernab und jenseits des Meeres lag. 

„Aber vorher...“, von unten blickte er auf zu seinem Liebsten, löste eine Hand von Clarence‘ Rücken und streichelte kurz über die bärtige Wange des Hünen.

„Vorher würde ich gern...deine Heimat sehen.“

Pyramiden, Städte aus Metall und Glas, verfallene Ruinen und Bibliotheken...all das interessierte Matthew, aber nichts von alledem wollte er so unbedingt kennenlernen wie das Zuhause seines Mannes. Wer Clarence war, dass war er nicht nur weil Nagi ihn dazu gemacht hatte. Mehr als Nagi Tanka und sein Clan, war Clarence von seinen Eltern geprägt worden, von der Gemeinde, vom Glauben. Und auch wenn sein Leben früh eine blutige Wendung genommen hatte, so wollte Matthew ihn gern sehen: 

den Ort von Clarence‘ Kindheit und Jugend. 

„Meinst du...das geht?“ Wollte er wissen, den Blick der dunklen Augen noch immer auf das vertraute Gesicht des Größeren gerichtet. Frei sein, die Welt bereisen, ferne Länder erkunden... all das könnten sie tun sobald sie Rio Nosalida den Rücken gekehrt hatten. Doch wenn Matthew an die verblichenen Fotografien dachte, die in der abgegriffenen Bibel schlummerten, dann wusste er das die Vergangenheit niemals ruhen würde. 

Und wenn sie schon für alle Zeit Teil der Gegenwart blieb, so wollte er sie zumindest ein Stück weit kennenlernen und mit eigenen Augen erleben. 

Das Gebiet in dem Clarence aufgewachsen war, hatte auf den Karten einen wenig freundlichen Namen erhalten. Leute die sich über die Fanatiker unterhielten taten dies stets abfällig und so manch geschmackloser Witz hatte die Gemeinde des Madman Forest zum Inhalt. Aber darum ging es Matthew nicht, er gab einen Scheiß auf das Gerede anderer und es interessierte ihn auch herzlich wenig ob die Bewohner dieses Flecken Erde nun wahnsinnig waren oder von Gott auserwählt. Was für ihn zählte war die Tatsache, dass Clarence dort seine Wurzeln hatte und er sie gern kennenlernen wollte - mehr noch als er die Wunder der vergangenen Epochen kennenlernen wollte. 

Clarence war ein guter Mensch, der Beste - fragte man Cassiel - und es wäre ihm nicht weniger als eine Ehre, wenn Clarence ihn mit an jenen Ort nahm, der einst sein Zuhause gewesen war. 

„Was meinst du dazu, hm? Zeigst du mir...die Orte, die dir etwas bedeuten?“, drängte er den Blonden sanft zu einer Antwort, wissend das diese genauso gut negativ würde ausfallen könnte. 

Auf der einen Seite wollte er Clarence weder verletzten, noch wollte er ihm auf die Nerven gehen in dem er immer wieder von damals anfing. Andrerseits jedoch...war es ihm ein Bedürfnis den Älteren noch besser kennenzulernen, ihn zu verstehen, sich vorstellen zu können wie er aufgewachsen war, seine Heimat zu besuchen und ein Stück weit die selben Wege zu gehen wie Clarence sie einst gegangen war. War dieser Wunsch unangemessen? Ging er damit zu weit? Vielleicht...doch wenn es so war, so würde Matthew es nur sicher erfahren, wenn Clarence es ihm sagte. 

Ein letztes Mal kämmten Cassies Finger durch den Bart sein Liebsten, dann legte er Arm und Hand zurück über des Schamanen Schulter - ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass ihm nicht daran gelegen war ihn nun loszulassen oder sonst irgendeine Art der Distanz zwischen sie zu bringen. 

 


Clarence B. Sky

Wenn sie so miteinander an Deck standen, tanzend und der wohl schönste Mann der Welt lachend in seinen Armen, dann schien es kein Damals und kein Später zu geben. Während das helle Lachen des Dunkelhaarigen schallend über die seichten Wellen des Meeres hinweg wehte, dann war der Mensch in seiner Umarmung nicht länger der komische Typ, welcher blutend und feindselig an einen Baum gelehnt auf den Tod gewartet hatte – und der Hüne nicht die Person, in dessen Vergangenheit ein ausgemergeltes Gespenst von Mann existierte, das sich den Tod herbei sehnte wie nichts anderes. Es gab keinen Verwundeten, der auf einem fremden Dachboden nicht aus tiefstem Schlaf erwachte und keine Schmerzen ob eines Kiefers, der ein unbeschreiblich zerbrechendes Krachen hatte ertönen lassen beim Aufschlag auf Gesteinswände, noch gab es in naher oder ferner Zukunft Trauner und Angst, die sie durchleiden würden.

Alles was es gab und was Clarence spürte, war das Hier und Jetzt. Das Lachen, das langsame Wiegen, Cassies sich hebende und senkende Brust an der seinen und den warmen Atem, der dabei über des Bären Hals hinweg brandete. Selbst der salzige Geruch des Meeres verblasste im Angesicht des Duftes der von Matthews Haar zu ihm aufstieg und ließ den Christen dabei bezweifeln, ob er jemals so intensiv geliebt und gelebt hatte wie in jenen kurzen aber ebenso kostbareren Minuten.

„Nach Osten also, über den riesengroßen Ozean, mit tobenden Unwettern und keiner Chance irgendwo anzulegen, damit dein Magen sich beruhigen kann?“, fasste der Bär den Wunsch seines Mannes engelsgleich zusammen, ganz so als sei ihm der offensichtliche Fehler in diesem Vorschlag selbst nicht bewusst.

„Mhh… klingt logisch. Warum sollte so ein Ausflug auch Spaß machen, wenn man sich doch viel lieber wochenlang quälen und halb an Seekrankheit verenden kann.“

Neckend kniff er dem Schönling in sein einladendes Hinterteil, den unterhalb des Handtuches zu erkunden Claire sich wie ein Gentleman bislang versagt hatte.

Manchmal, wenn man Matthew so zuhörte, kam es einem vor als habe dieser Kerl Teddy in keiner einzigen Sekunde zugehört als er ihnen Lehrstunden über die Gewässer dieser Welt und die Kartographie der Meere erteilt hatte – aber auf der anderen Seite kannte Claire es auch nicht anders von seinem wenig aufmerksamen Geliebten, so viel stand fest.

Ein leises Brummen drang über die Lippen des Räubers, während der Jüngere noch immer behutsam durch seinen hellen Haaransatz kraulte und ihm dabei warm gegen die eigenen Lippen gewispert wurde. Clarence verstand durchaus was der andere meinte und woher diese Wünsche rührten, immerhin war er selbst nicht weniger abenteuerlustig geraten; aber noch weit vor den Wundern der alten Welt und steinernen Gebilden in denen ungelöste Geheimnisse lauerten, reizten den Blonden noch ganz andere Dinge.

Dinge, die so konträr zu dem standen was Matthew sich vor ihrem Weltenbummel zu sehen erhoffte, dass lediglich ein einziges perplexes Wort über seine Lippen kam: „Oh.

Wahrlich, Wort war vielleicht etwas zu hoch gegriffen um damit die Reaktion des Christen zu beschreiben und doch lag in jenem Geräusch so viel mehr als lediglich der pure Ausdruck von Sprachlosigkeit. Überraschung, Enttäuschung, Verwunderung und eine seltsam verquere Art von Freude gaben sich in jenem kurzen Laut die Hand und doch ließ sich nicht so recht greifen, welche dieser Facetten nun genau die Vorherrschaft in der Gemütslage des Bären ergreifen würde.

Schweigsam und nachdenklich musterte Clarence die kandisfarbenen Iriden seines Partners, unsicher ob er darin wirklich ernsthaftes Interesse finden würde oder hinter dem nächsten diebischen Funkeln nichts weiter als einen tristen Scherz, den aufzuklären Cassie alsbald bereit sein würde. Der einstige Söldner hatte nie einen großen Hehl daraus gemacht nicht viel auf die Idee von Gott und Religion per se zu geben und noch weniger hatten sich zwischen ihnen Gesprächsinhalte jemals darum gedreht, wie es wohl im Zentrum des Madman Forest aussehen und zugehen würde. Manch wissbegieriger Fremder hätte einen Mann wie Sky, würde er denn mit seinen Wurzeln hausieren gehen, sicher ausgefragt und ausgequetscht nur um zu erfahren was in dieser unbekannten Kultur vor sich ging, doch nicht so sein Mann. Cassie wirkte… manchmal regelrecht befangen was das Leben seines Barbarenbärenprinzen vor ihrem Kennenlernen anbelangte – er hörte ihm zu wenn Clarence etwas zu erzählen hatte, ganz ohne Zweifel, aber nur selten hinterfragte der Jüngere die Dinge oder blieb länger beim Thema als es nötig war. Die Prinzessin hatte ein zweifelhaftes Talent dafür den Jäger von seinen Sorgen und Erinnerungen durch ein einziges Schmunzeln abzulenken und jene Kursänderung in stillem Schweigen dankend anzunehmen, so war es Clarence jedenfalls oftmals im Nachhinein vorgekommen.

Dass er nun doch mit so etwas anfing, völlig unerwartet und für den Größeren schier aus dem Kontext gerissen, brachte Claire spürbar aus dem Konzept, auch wenn ihn das keinen Deut von seinem unkonventionellen Herrn Gemahl zurück weichen ließ.

„Ich hatte eher so… ans Beringmeer gedacht und an einen kleinen Umweg über die westlichen Kontinente. Erkunden, ob der Rest der Welt genauso zerfallen ist wie unserer… Ich weiß nicht, willst du… willst du dir das alte Mädchen hier auf den Rücken schnallen und damit durchs halbe Land wieder dem Winter entgegen marschieren oder wie… ähm…“

Man würde wohl kaum mitsamt Harper Cordelia quer übers Festland schippern können, noch glaubte Clarence, dass sein Freund und Geliebter gedachte damit bis zur Wiederkehr des Sommers zu warten, der im schlimmsten aller Fälle erst in ein paar Jahren wieder einbrechen würde. Mit so einer plötzlichen Kursänderung ginge nicht nur das Zurücklassen ihres erst frisch bezogenen Heims einher, sondern viele weitere Vorkehrungen und Anschaffungen, die zu tätigen ausstehen würden.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte Claire jenen Wunsch sicher direkt im Keim erstickt so wie es oft zwischen ihnen der Fall gewesen war, wenn der jeweils andere versuchte die imaginäre Mauer zwischen ihnen zu erklimmen und zu bezwingen. Es hatte Thematiken gegeben, die zwischen ihnen eine eben solche Distanz geschaffen hatten wie sie sie auch körperlich immer einzuhalten gepflegt hatten. Doch seitdem Letzteres aus ihrer Welt geschafft war, wie Cassie durch das sanfte Kämmen durch seinen Bart bewies und die Art und Weise wie er seinem Bären im Anschluss erneut die Arme um die Schultern legte… da bewies Matthew abermals sein recht fragwürdiges Talent, Sorgen und Bedenken mit nur wenigen Gesten aus der Gedankenwelt seines Mannes zu treiben.

Ein schweres Seufzen quälte sich aus dem Älteren hervor, eine Mischung aus Qual und Niederlage, während er es sich gestattete für einen kurzen Moment seine Augen zu schließen.

„Dir ist schon klar was so eine Reise bedeutet, oder? Ich meine… es ist das Eine mit etwas abschließen zu müssen weil es vorbei ist und was völlig anderes, abschließen müssen zu müssen.“

Das mochte im ersten Moment völlig wirr klingen, machte aber durchaus Sinn, wenn man kurz darüber nachdachte. Clarence hatte sich irgendwann mit dem Gedanken abfinden müssen, dass er aufgrund seines unerwarteten Aufbruchs aus seiner Heimat nie wieder die Gelegenheit dazu bekommen würde ein letztes Mal alte Wege zu begehen, Menschen wiederzusehen die ihm etwas bedeutet hatten, sich letzter Worte oder letzten Taten zu erinnern. Viel zu oft hatte er damals zu Beginn darüber nachgedacht, wann er das letzte Mal den einen oder andere lieb gewonnenen Mensch gesprochen oder Wohlfühlorte besucht hatte, ohne auch nur im Geringsten zu einem Ergebnis zu kommen. Es war wie der unerwartete Tod einer geliebten Person, von der man sich nicht mehr an das letzte Gespräch mit ihr erinnern konnte – aber man fand sich einfach irgendwann damit ab, weil es kein Zurück mehr gab. Nie wieder.

Auch hinsichtlich seiner Heimat hatte es das nie gegeben und irgendwann war das okay so geworden, selbst dann, als er gemeinsam mit Nagi Tanka für wenige Stunden einen Fuß zurück auf seinen alten Hof gesetzt hatte. Sein Meister hatte ihm keine Chance gelassen um über derlei Dinge nachzudenken, sie waren schnurstracks auf sein Grundstück zu marschiert und – den Umständen eines gewaltsamen Mordes entsprechend – war Claire schnurstracks wieder aus dem Heiligen Land ausgereist, einem winzigen unbedeutenden Dorf gleich, in dem es nichts zu holen gab und weshalb man dort auch gar nicht erst innehalten musste.

Zurückzukehren und Cassie seine Heimat zu zeigen war einer Abschiedstournee gleich, von der Clarence niemals gedacht noch geträumt hatte, er müsste sie eines Tages durchleben. Es wäre ein absolut und definitiv bewusstes letztes Sehen von bedeutenden Orten, vielleicht sogar von ihm bekannten Menschen, wenn sie ihnen wider erwarten in Distanz über den Weg liefen ohne dass sie entdeckt und daraufhin von seiner eigenen Sippschaft getötet wurden. Man würde ihnen dort keine Türen und Tore öffnen wenn sie auf die Bürger jenes Fleckchens Land trafen; nichts weiter als ein Wandern durch die Schatten wäre ihre Reise und Claire wusste nicht mit Sicherheit zu sagen, ob dieser Umstand seinem Mann auch völlig bewusst war.

„Ich hab noch immer Familie in dieser Gemeinde. - Ich weiß, dass du das nicht wissen kannst“, immerhin hatte Clarence sie niemals mit auch nur einem Wort erwähnt, es war bislang nie wirklich relevant gewesen. „Eine Tante und einen Onkel mit ihren Familien… Cousinen, einen Cousin… und deren Kinder. Sonntags, nach der Kirche, da gab es gemeinsames Festessen. Football draußen auf dem Acker und Schwimmen im Sommer oder Schneeballschlachten im Winter. Familienfeiern…“

Träge öffnete er wieder seine Augen und in der Erinnerung daran lag sowohl Wehmut wie auch das warme Gefühl von einer Heimat, aus der man nicht einfach nur aus Abenteuerlust aufbrach.

„Meine Kindheit und mein Leben waren nicht so wie bei dir. Bei mir Zuhause… herrscht noch heile Welt. Da leben Menschen unter Gottes Gnade die sich jeden Tag dessen bewusst sind, dass Gott ihre Familien gesegnet hat. Man mag uns für verrückte Spinner halten, aber untereinander sind wir das nicht…“

Natürlich gab es sie auch dort, die großen und kleinen Familiendramen und die Skandale, die eine ganze Gemeinde in Aufruhr versetzen konnten und sie zum Rathaus trieben, nur um dort die eigenen Nachbarn nach biblischer Vorgabe zu lynchen. Aber sonst?

Was Clarence damit sagen wollte:

Wenngleich ihm diese Abschiedstournee alles andere als angenehm sein würde, so dachte er im Augenblick doch vorrangig an Cassie dem mit aller Gewalt vor Augen gehalten werden würde, wie vollkommen unterschiedlich ihre Wurzeln und Kindheits- sowie Jugenderlebnisse in Wahrheit waren, wenn sie dorthin wanderten um weit mehr zu sehen als nur ein paar eingestaubte Gräber und einen zum Teil abgebrannten Hof.

Aber war es nicht auch irgendwie genau das, was sie anzustreben versuchten? Ein einigermaßen normales und friedvolles Leben, fernab der eintönigen Regelmäßigkeit zerfallender Dörfer, die sie schon Zuhauf durchreist und erlebt hatten?

Lernte man jemanden an Orten kennen, die nicht von Existenzangst geplagt waren, geschah genau das. Man lernte jemanden kennen, man nahm sie früher oder später mit nach Hause. Man zeigte ihnen die eigenen Wurzeln und stellte sie der Familie vor, damit der zukünftige Partner oder die Partnerin mehr von einem erfuhr als nur die oberflächlichen Aspekte, die man preiszugeben bereit war.

War es nicht genau das, was ihr eigentliches Ziel miteinander gewesen war – einander so nahe zu kommen, wie niemand anderem sonst auf der Welt?

„Wenn du wirklich dorthin willst, muss ich die Sache mit Rio Nosalida überdenken. Ich kann nicht für die Augen meines Clans untertauchen und dann mit dir zurück quer durchs Land pendeln, anstatt dass wir irgendwo gen Süden verschwinden“, erhob Clarence schließlich wieder nachdenklich die Stimme und machte damit noch etwas ganz anderes recht offensichtlich – nämlich, dass Teilerinnerungen seiner von Nuscheln geprägten Zeit in den vergangenen Wochen zunehmend wieder an die Oberfläche gedrungen waren.

„Außerdem fordere ich für deinen Wunsch quid pro quo. Wenn wir Fort Martyrdom besuchen, will ich auch Stillwaters Reach mit dir sehen – und versuch es gar nicht erst, das wäre nicht verhandelbar.“


Matthew C. Sky

Zuhause...wenn Matthew an dieses Wort dachte, dachte er unweigerlich an Clarence und das warme Gefühl von Liebe flutete sein Herz. 

Rosalie Reed war ihm keine besonders gute Mutter gewesen, aber sie hatte ihr Bestes gegeben. Sie war nicht mutwillig schlecht zu ihren Söhnen gewesen, jedoch nachlässig und allzu naiv, überfordert mit der Verantwortung und nicht in der Lage rationale Entscheidungen zu treffen. Selbst war sie mehr Kind als Mutter gewesen. 

Zuhause hatte Cassiel sich in ihrer bloßen Gegenwart deshalb nie gefühlt, dazu hatte er David gebraucht. 

Die Erinnerungen an seinen älteren Bruder waren größtenteils nur noch fadenscheinig, aber Matthew konnte sich noch genau an die Liebe und Fürsorge erinnern, die David ihm geschenkt hatte. 

Sein Bruder hatte aus dem Häuschen in Stillwaters Reach ein Zuhause gemacht. Er war der Fixpunkt im Leben des damals kleinen Matthews gewesen, die Konstante, derjenige auf den Matt sich immer hatte verlassen können und es mit kindlicher Naivität auch stets getan hatte. 

Die Lücke die der Fortgang des Älteren gerissen hatte, hatte lange Jahre nicht geschlossen werden können. 

Menschen kamen und gingen, brachen ihre Versprechen, Matthew wurde distanzierter, vorsichtiger. Die Ereignisse seiner Kindheit und die Umstände seines Aufwachsens hatten ihn erkennen lassen, dass niemand kommen würde um ihn und seine Leidensgenossen zu retten. David war weg und niemand schickte sich an, ihn zu vertreten. 

In den Jahren danach war Cassiel scheinbar unbehelligt von Selbstzweifeln, Sorgen oder Furcht gewesen. Narzisstisch, laut, immer lachend und stets mit großer Klappe, so war er erschienen, aber in Wirklichkeit hatte er nie aufgehört nach etwas zu suchen was einzig David in ihm beschworen hatte: das Gefühl, nicht allein zu sein. 

Mitnichten hätte er damals geglaubt einen solchen Menschen in dem schweigsamen und stumpfen Hünen gefunden zu haben. Der Klotz war ihm nicht empathischer erschienen als ein Klumpen Torf... Aber ebenso wie man sich in Matthew täuschte wenn man annahm seine Selbstverliebtheit sei bis in die letzte Faser echt, so erlag man leicht dem Irrglauben, man erkannte das Wesen von Clarence Sky auf den ersten oder zweiten Blick. In Wahrheit hatten sie beide weit mehr zu bieten als den offensichtlichen Schein. 

Der ungehobelte und wilde Barbar hatte sich als aufopferungsvoll, liebend, behütend und verletzlich erwiesen. Er war ein kluger Mann dem schreckliche Dinge widerfahren waren und der trotz alledem nie aufgegeben hatte. Niemand war so loyal und so ehrenhaft wie Clarence. Mit niemandem konnte Cassie so offen sein wie mit ihm, nirgends fühlte er sich wohler und so willkommen wie in den Armen seines Geliebten. 

Es war, als hätte die Welt ihm jenen Mann geschenkt, als Wiedergutmachung für all die Menschen die sie ihm genommen hatte. 

Mit einem verwunderten „Oh“ erkannte Clarence, dass auch in Cassiel noch immer mehr steckte als das was er ihm zutrauen mochte. Zwar hatte Matthew gerade in der Anfangszeit ihres Kennenlernens so getan als kümmere ihn tatsächlich gar nichts was Clarence interessieren könnte und als seien die fehlenden Finger, die unbeschuhten Füße und das grimmige Schweigen ihm vollkommen gleich, aber das bedeutete nicht, dass Matthew sich nicht schon früh für die Hintergründe von Clarence‘ Leben interessiert hatte. Doch in Matthews Brust schlugen mitunter zwei Herzen. Eins das fühlte und die Ansicht vertrat er habe genug eigene Probleme und ein weiteres das mitfühlte. 

Welches die Oberhand gewann und wonach sich der junge Mann letztlich richtete, entschied nicht zuletzt was ihm seine Intuition verriet. 

Es hatte sich vieles zwischen dem Dunkelhaarigen und dem Schamanen geändert, sie waren andere geworden in den letzten Monaten. Und deshalb war es auch nicht nötig, dass Cassie überraschend zur Religion und zu Gott gefunden hatte nur um sich für die Heimat seines Geliebten zu interessieren. 

Clarence war es, für den er sich interessierte - alles andere ergab sich. 

Was ihn im Detail in der Heimat des Blonden erwarten würde, konnte er freilich nicht wissen aber natürlich hatte er eine ungefähre Vorstellung. Die Gemeinde galt allgemein als fanatisch, vorsichtig Fremden gegenüber und verschworen. Man konnte zwar durch den Wald und ins Dorf spazieren, musste aber damit rechnen nur geduldet und nicht gerade willkommen zu sein. Und wenn man sich mit gotteslästerlichen Bemerkungen unbeliebt machte, konnte es sein man verließ die Gemeinde nie mehr. 

Aufmerksam blickte Matt zu seinem Mann hinauf, der nicht sicher zu sein schien ob er es ernst meinte. 

„Das Beringmeer und die westlichen Kontinente werden auch noch da sein, wenn du mir deine Heimat gezeigt hast...“, erwiderte er leise und mit Bedacht. Er wollte und würde Clarence nicht dazu zwingen, aber gleichzeitig würde er auch nicht einfach so nachgeben. Es war ihm ernst und das erkannte schließlich auch der Schamane. 

Cassie sah ihm an wie zwiegespalten er war, er wog ab und dachte nach, nicht sicher ob er wollte was Matthew ihm vorgeschlagen hatte. Statt ihn zu drängen, ließ der Jüngere seinem Liebsten Zeit, streichelte weiter zart durch das Haar im fremden Nacken und betrachtete ihn mit sanfter Nachsicht im Blick. Selbst als Clarence die Lider senkte und zu erzählen begann, sah Cassiel zu ihm empor. Er lauschte schweigend, jedoch nicht betreten oder angespannt. 

Die heile Welt die der Größere ihm beschrieb hörte sich schön aber auch surreal an. Matthew konnte sich nicht vorstellen das es einen Ort gab an dem die Menschen tagein tagaus in Frieden und Harmonie lebten. Kirche am Sonntag, Kinder die unbeschwert spielten, Zusammenhalt und Verbundenheit durch den Glauben... Wahrlich, für Matt hörte sich das nicht vertraut an. 

Was Clarence versuchte ihm zu sagen war für Matthew nicht schwer zu verstehen: kehrten sie gemeinsam in Clarence‘ Heimatdorf zurück, würden sie das nicht als Verheiratete tun dürfen, sondern bestenfalls als Bekannte. Und gleichfalls musste Cassiel sich darauf einstellen mit dem Kontrastprogramm zu seiner eigenen Kindheit konfrontiert zu werden.

„Hmmm...“, machte er leise, löste den Blick vom Gesicht des Blonden und gab ihm einen kleinen Kuss unterhalb seines Ohrläppchens. 

„Mir ist bewusst, dass die meisten zum Glück eine Kindheit hatten, die sich von meiner unterscheidet, dass ist mir nicht neu.“, wisperte er. 

Clarence musste keine Rücksicht auf ihn nehmen, denn wenn sie dorthin reisten, sollte es nicht um Matt gehen.

„Wir könnten dein Boot in einen kleinen Hafen bringen...uns zwei Pferde leihen und uns auf den Weg machen, hm?“ - zu Fuß würden sich die Meilen anfühlen wie ein Marsch in die Unendlichkeit, im Winter würde die Strecke vermutlich noch ungleich unangenehmer sein als im Sommer. Aber zu Pferd lag die Sache schon wieder anders, sie würden deutlich zügiger und kräfteschonender vorankommen, sodass ihre Reise nicht ewig lang andauern würde. 

Cassie durchdachte bereits welcher der ihm bekannten Häfen wohl dem Madman Forest am Nächsten lag und welche Routen am unkompliziertesten dorthin führten, da öffnete Clarence seinen Mund und warf mit einer einzigen Bemerkung alles durcheinander.

Außerdem fordere ich für deinen Wunsch quid pro quo. Wenn wir Fort Martyrdom besuchen, will ich auch Stillwaters Reach mit dir sehen...

Die streichelnde Hand im Nacken des Größeren ruhte sofort still und Matt hob den Kopf von Clarence’ warmer Halsbeuge.

„In Stillwaters Reach gibt es nichts.“ Die Antwort kam reflexartig, so als würde man ohne nachzudenken etwas abwehren bevor es einen treffen konnte. 

„Ich war Neun als ich von dort fortgegangen bin, meine Mutter war tot, mein Bruder weg. Ich hatte keine Freunde. Es gibt dort nichts was ich dir zeigen könnte.“ Obwohl Clarence ganz ruhig war und seine Forderung ebenso vorgetragen hatte, war Matthew ungewohnt defensiv geworden. Er redete zügig, sich unbewusst rechtfertigend. 

Es war keine trotzige Ablehnung die er zeigte, kein typisches sich-verschließen und doch wurde ganz deutlich, dass Matt an jenen Ort nicht zurück wollte. „Es ist nicht so wie bei dir, es gibt kein Zuhause das wir besuchen würden, außerdem ist es quasi am anderen Ende der Landkarte.“

Unbehaglich trat er von einem Bein auf das Andere. 

Sein Zuhause war dort wo Clarence war und Stillwaters Reach hielt nichts für sie bereit, nur Felder und Wiesen, vielleicht noch das Haus in dem sie gewohnt hatten, vielleicht lebte noch immer der Mörder seiner Mutter dort. Was auch immer, es zählte nicht. 

Als er noch ein Kind gewesen war, war ihm die beschauliche Siedlung freilich  nicht so erschienen wie sie es heute tat, im Gegenteil. Umgeben von Natur und abgeschieden von den Problemen der Welt, bot das Dorf eigentlich einen guten Platz zum Aufwachsen. Die Familien kannten sich untereinander, waren zumeist sogar auf die eine oder andere Art miteinander verwandt. Es war ein ruhiger Flecken Erde. Doch obwohl der Boden fruchtbar war, es in den Wäldern immer genug Wild gab und der See viele Fische zu bieten hatte, war den Bewohnern der Siedlung eine gewisse Distanziertheit zu eigen. 

Rosalie Reed  war bekannt gewesen, jeder wusste um ihre Probleme und jeder wusste um David und Matthew - dennoch hatte niemand sich eingemischt. Stillwaters Reach war kein düsterer Ort, kein Kabinett des Schreckens - aber es beherbergte Erinnerungen mit denen sich der junge Mann nicht konfrontieren wollte. 

Matthew zweifelte nicht daran, dass es Clarence mit Fort Martyrdom  - so wie er es nannte - nicht vollkommen anders erging, doch im Gegensatz zu ihm, war er an diesem Ort wirklich mal Zuhause gewesen. 

„Es macht keinen Sinn dorthin zu gehen, es wäre Zeitverschwendung, hörst du?“, tatsächlich war Clarence ja zum Zuhörer verdammt, weil Matthew sich um Kopf und Kragen redete, aufgewühlt durch die simple Forderung des Größeren. Was auch immer sich Clarence erhoffte dort zu sehen, er würde es nicht finden. Es gab kein Zuhause das Cassiel ihm würde zeigen können. Denn ein Zuhause hatte er erst seit er Clarence kannte. 


<- ZURÜCK          WEITER ->