An Deck
12. Juni 2210
Müde und erschöpft lag er auf der gepolsterten Bank im Essbereich ihres Wohnraumes, wechselnd zwischen leisem Schnarchen und unruhigem Gähnen, während er gegen den drohenden Schlaf ankämpfte. Der Vormittag war wahrlich nicht einfach gewesen für den Jungspund – und immer wieder huschte ein zartes Lächeln über Clarence‘ Lippen, als er Abel erneut beim Wegnicken zuschaute.
Sein Bruder Kain, einst kleiner und wesentlich schwächer als der helle der beiden Welpen gewesen, ließ sich weit weniger von einer knackigen Erkundungstour im unbekannten Gelände ermüden und schlug entgegen seinem träumenden Kumpanen munter mit der Rute auf den unaufgeräumten Dielenboden ihrer Küche. Natürlich war es nicht so, als hätte sein Herrchen den beiden nicht noch an Land ausreichend Futter zukommen lassen um den Tag ohne Magenknurren überstehen zu können. Aber was waren Innereien schon gegen ein scharf angebratenes Stück Fleisch, welches nun im eigenen Saft schwimmend im Ofen durchgarte?
Wirklich, man konnte nicht behaupten das Ehepaar Sky hätte seine beiden Zöglinge verhätschelt, aber irgendwie waren die zwei Raufbolde doch ziemlich verzogen. Nicht ganz so sehr wie ihr noch immer komatös im Bett liegender Vormund Matthew… aber beinahe schon annähernd, was einen gewissen Verwandtschaftsgrad durchaus offensichtlich werden ließ, nachdem der Taugenichts seinen Bären vor nicht allzu langer Zeit recht unpassend als ihren Dad betitelt hatte. Dass die Racker allerdings mehr nach dem verwöhnten Lebemann geraten waren als nach dem Jäger, schien Cassie dabei geflissentlich außen vor gelassen zu haben.
„Mach dich lieber nützlich und weck das Murmeltier im Schlafzimmer… dann überleg ich mir auch, ob ich dir was abgebe“, schlug Clarence der Fairness halber vor, denn für harte Arbeit stand einem – seiner Meinung nach – auch ein gerechter Lohn zu. Doch Kain schien alles andere als die ihm gestellte Aufgabe verstanden zu haben so wie er den Kopf auf die Seite legte und sein unverbesserliches Betteln ertönen ließ, welches vorerst aber nicht von Erfolg gekrönt werden sollte.
Der Lohn, den der Blonde heute Morgen für seine Mühen erhalten hatte, war im Vergleich jedenfalls alles andere als fair insofern man ihn fragte. Auf seine tapferen Bemühungen die Ausschweifungen des Tages zu ertragen, war später eine unglaublich unangenehme Stunde zu Fuß mit den beiden Hunden gefolgt und würde Claire es nicht besser wissen hätte er meinen können, sein eigener Mann habe ihn auf irgendeine absonderliche Art und Weise kaputt gemacht. War der derzeitige Ist-Zustand wirklich die Sache wert gewesen? Und wer war eigentlich so doof und kam auf die Idee einen dauerspitzen Kerl wie Matthew dazu anzustacheln einen derart zu besteigen, wenn einem doch von vornherein hätte klar sein müssen, dass einem danach Stellen weh taten, von denen man bislang überhaupt nicht gewusst hatte sie zu besitzen?!
Die Antwort auf jene Frage war alles andere als schwer und so seufzte Clarence betroffen, da er sich sowohl für diese Entscheidung selbst den imaginären Eselshut aufsetzen, als auch eigenständig das friedliche Dornröschen im Schlafgemacht wecken konnte. Kain war nämlich noch immer keine große Hilfe für sein angeschlagenes Herrchen. „Mach weiter so und künftige Deals werden direkt im Keim von mir erstickt, nur dass du darüber schon mal vorab informiert bist.“
Genauso rücksichtslos wie er schon seit geraumer Zeit in der Küche herum rumpelte, stieg er mit dem Kopf gegen die klimpernden Laternchen an der Decke stoßend über ihren Hund hinweg und kämpfte sich seinen Weg frei zurück ins Schlafzimmer, aus dem er schon kurz nach ihrem ausufernden Stelldichein frisch geduscht entwischt war. Clarence Bartholomy Sky mochte sich verändert haben in den letzten Monaten, doch gewisse Dinge wie das wesentlich frühere Aufstehen als sein Partner änderten sich am Ende doch nie.
Erst am Türrahmen angekommen hielt der Jäger kurz inne, holte tief Luft und reckte dann vorsichtig die spitze Nase um die Ecke um die Lage für sich zu sondieren.
Da lag er, der Traum seiner schlaflosen Vormittage.
Fühlten sich Frauen so, wenn sie Kinder bekamen? Kam sein Gefühl jenen Augenblicken gleich, wenn die Weiber ihre Männer während der Geburt erst noch voller Zorn für ihre Mitschuld anschrien, bevor jeglicher Schmerz durch einen einzigen Wimpernschlag vergessen gemacht wurde?
Vermutlich würde die keifende Zunft ihm für diesen Vergleich den Hals umdrehen, aber genauso fühlte sich Clarence gerade, als er den schlafenden jungen Mann in ihrem gemeinsamen Bett erblickte. Wie ein Engel lag er da, in - unter Garantie, dafür legte der Ältere seine Hand ins Feuer - sündige Träume versunken, noch so zerwühlt und erschöpft aussehend wie nur wenige Sonnenstände zuvor. Die pure Unschuld war Matthew ins Gesicht gemeißelt und alleine sein Anblick reichte schon aus, um Clarence die prickelnden Erinnerungen an den zurückliegenden Sonnenaufgang zurück in sein Gedächtnis zu rufen.
Niemals zuvor hatte ihn jemals jemand so erobert, so geliebt und ihn so befriedigt wie Cassie es getan hatte und alle Lust schien den Schmerz in eben jenem Moment aufzuwiegen, als die Nasenflügel des Jüngeren sanft aufzuckten unter seinem nächsten Atemzug. Wie konnte es nur sein, dass ein derart friedlicher junger Mann ihn derart um den Verstand gefickt hatte – und dass Clarence es selbst in der tiefsten Erschöpfung nach seinem zweiten Höhepunkt noch derart befriedigt hatte wie energisch und unnachgiebig dieser Mann seine harte Männlichkeit in ihn gezwängt hatte, über alle Grenzen der gesunden Vernunft hinaus?
Lautlos lehnte der Blonde seine Schläfe gegen das warme Holz des Rahmens und gestattete sich wenigstens für einen Wimpernschlag lang den Jüngeren zu betrachten und sich exakt den hiesigen Moment einzuprägen, denn Gott alleine wusste, wann er das nächste Mal zu dem Vergnügen kommen würde, dass Cassie ihn nicht gleich wieder sofort verließ nur um ins Bad zu entschwinden. Dass er stattdessen bei ihm liegen blieb, unfähig um Worte für das zu finden was zwischen ihnen geschehen war, die Hand seines Bären ergreifend… nur um ihm einen Blick zu schenken, der es selbst jetzt noch ganz warm werden ließ in Claires Magengrube.
Noch immer konnte er die Finger seines Geliebten zwischen den seinen spüren, fühlte die warme Schulter unter seine Wange auf welche er sich danach erschöpft gelegt hatte und roch den Duft des Jüngeren in seiner Nase, der so vertraut und sinnlich war. Er hatte nach Sex gerochen, nach feuchter Haut und zerküssten Lippen, nach Körperflüssigkeiten und über allem hinweg nach sich selbst, gepaart mit irgendeiner seiner seltsamen kleinen Seifenstücke; wahrlich, es gab keine Kombination die Clarence besser gefallen könnte und wenn sein Dornröschen nicht Acht gab, dann roch er vielleicht noch immer danach und würde eventuell auch gegen Mittag noch lange nicht sicher vor der erwachenden Neugier seines Lieblings sein.
Wären die Hunde nicht erwacht und hätten ihn durch ihren Radau nicht endgültig wieder zur Ruhe kommen lassen, Clarence könnte noch immer in den Armen seines wundervollen Geliebten liegen und nun genau dort aus einem tiefen Dämmerschlaf empor tauchen, den halben Tag verpasst und doch nicht vermisst. Aber vielleicht… ganz vielleicht… konnte er sich von Matthew ja noch ein paar wenige Minuten klauen, bevor das unschuldige Kerlchen sich aus den besudelten Laken schälte um sich selbst von den Zeichen zu befreien, die Claire schon lange zuvor in aller Heimlichkeit von sich geduscht hatte.
Ungewohnt zaghaft für sein rücksichtsloses Schlagen mit den Töpfen und Pfannen zuvor, kniete er sich auf die Matratze vor sich hernieder und überwand die vor ihm liegende Distanz krabbelnd, den Schönen leise musternd während er sich zögerlich auf die Lippen biss. Selbst halb mit den teuren Laken bedeckt, mit denen der Jäger seinen Mann vor seinem Aufbrechen zur Gassirunde zugedeckt hatte, sah Cassie noch aus als wäre er nicht von dieser Welt und würde der Blonde es nicht noch mehr lieben wenn sein Mann wach war und mit ihm am Leben teilnahm, womöglich hätte Clarence ihn dann wirklich bis in alle Ewigkeit seinen schmuddeligen Träumen überlassen. Aber weil sie ein ähnliches Szenario erst dank einer verdammten Fischerstochter hinter sich hatten… nein, der Bär würde es definitiv nicht darauf ankommen lassen, seinen Mann erneut an einen potentiell für immer andauernden Schlaf zu verlieren.
Sachte ließ er sich neben Cassie in die Kissen sinken, hauchte einen behütenden Kuss auf die fremde Stirn, dann auf die unschuldig zuckende Nasenspitze seines Geliebten und schließlich - weil er sich beim besten Willen nicht davon abhalten lassen konnte – klaubte er seinem süßen Dornröschen einen warmen Kuss direkt von seinen noch schlummernden Lippen; denn wenn diese gleich erst einmal anfangen würden munter vor sich hin zu plappern, rückten derartige Liebkosungen im schlimmsten Fall in undefinierbare Ferne.
„Hey, Prinzessin… warum muss man dich eigentlich immer erst locken, mh?“ – eine berechtigte Frage, immerhin könnte der verzogene Frechdachs ja auch eines schönen Tages mal von alleine wach werden und Essen für sie vorbereiten, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte Clarence seine Chancen für derartiges schon vor laaanger langer Zeit vertan.
„Ich will ja nicht habgierig klingen, aber… wenn du mir nicht bald wieder Gesellschaft leistest, werde ich dich zu deinem Glück nötigen müssen. Dann greife ich auf diesem Boot hier hart durch und ehe du dich versiehst, hab ich dich draußen als Weckruf über die Reling ins Meer geschmissen. Oder aber du wirst freiwillig wach und dann… werde ich mir vielleicht eine nette Belohnung für dich einfallen lassen. Was wäre dir da wohl lieber?“
Clarence jedenfalls wusste was ihm lieber wäre – aber damit er Matthew wiedebekam, wäre ihm am Ende sowieso jede Maßnahme dafür recht.
Hand in Hand und mit Clarence‘ Kopf auf der Brust, war Cassie vor einigen Stunden eingeschlafen und hatte nicht gemerkt, wie sich der Schamane irgendwann davongeschlichen und ihn verlassen hatte.
Ungewöhnlich für den jungen Mann, der eigentlich einen sehr leichten Schlaf hatte, auch wenn er Clarence gegenüber immer erfolgreich so getan hatte als sei das anders - vorrangig um der Nachtschicht zu entgegen.
Aber dieses Mal war er wirklich nicht wach geworden als der Wildling ihn - mit vermutlich staksigen Schritten - verlassen hatte.
Der Morgen hatte Matthew gefordert und an seine körperlichen Grenzen geführt und ohne Zweifel hätte der junge Mann auch noch weitere Stunden schlafen können, hätte Clarence sich nicht dazu entschlossen, ihn schließlich zurück ins Reich der Wachen zu holen.
Schon als sein Gefährte über ihr großes Bett gekrabbelt kam, dämmerte Cassiel langsam aus seinem traumlosen und umso friedlicheren Schlummer herauf.
Wie es jedoch so seine Art war wenn er sich sicher und wohl fühlte, öffnete er seine Augen nicht sofort, sondern gönnte sich weitere Momente der Dunkelheit hinter geschlossenen Lidern. Pendelnd zwischen Erwachen und Schlaf.
Leise näherte sich Clarence, Cassie spürte seine Nähe und auch seinen musternden Blick auf sich, machte jedoch noch immer keine Anstalten sich dem Schlummer zu entsagen, der ihn noch halb gefangen hielt.
Ein sanfter Kuss traf auf seine Stirn, die von den Sonnenstrahlen in sommerliches Licht getaucht und erwärmt worden war. Darauf folgte ein Kuss auf seine Nase und schlussendlich auch auf seine Lippen. So weich und zärtlich... dass der Jüngere eigentlich gar nicht erwachen wollte, denn nichts konnte schöner sein als diese Sekunden für immer zu konservieren. Wohlig atmete Cassiel tief durch, hielt die Augen noch immer geschlossen und rührte sich nicht.
Es war so schön, beim Einschlafen zu wissen geliebt zu werden und beim Aufwachen das selbe zu spüren. Clarence schenkte ihm in jeder gemeinsamen Minute das Gefühl, kostbar und wertvoll zu sein - selbst wenn er ihm zweifelhafte Kosenamen wie ‚Prinzessin‘ gab.
Der erste Satz von Seiten des Hünen verstrich noch ohne eine sichtbare Regung des Dunkelhaarigen, doch schon als er seinen Zweiten mit den Worte
„Ich will ja nicht habgierig klingen...“ einleitete, konnte Matthew sich ein Grinsen nicht mehr länger verkneifen. Vollkommen überflüssig, dass er die Augen trotzdem weiter geschlossen hielt, so als könne er den Schein noch immer irgendwie wahren.
Natürlich hatte Clarence ihn längst durchschaut, aber die Prinzessin war nicht so einfach zu haben - oder eben zu wecken. Die halbgare Drohung entlockte Cassie ein verschlafenes Kichern und endlich öffnete der junge Mann zumindest ein Auge um sich den vorlauten Prinzen mal anzusehen, der sich da zu ihm gelegt hatte. Und was sollte er sagen? Was er erblickte, gefiel ihm.
Clarence sah aus wie das blühende Leben. Die Haare ordentlich, die Augen blitzten wach und lebendig, auf den rosigen Lippen lag ein kleines verschmitztes Schmunzeln wie man es seit geraumer Zeit immer öfter sehen konnte und das Matt abgöttisch liebte.
Alles in allem, das musste die Prinzessin zugeben, war der unverschämte Thronerbe ziemlich schnuckelig.
„Mhhh in den ganzen Märchen die man so kennt...Droht der Prinz nicht gleich am Anfang damit die Prinzessin ins Meer zu werfen.“, stellte der Dunkelhaarige fest und hob einen Arm, nur um ihn kurz darauf in Clarence‘ Nacken zu legen.
So adrett wie der Größere aussah, sah Matthew ganz gewiss nicht aus, was der mittäglichen Szenerie einen eigentümlichen Charme verlieh. Sein Haar war zerwühlt und völlig wirr und er wirkte noch immer ziemlich erschöpft, obgleich der Schlaf ihm wirklich gut getan hatte.
„Aber bei dem Wort ‚Belohnung‘ werd ich zumindest lange genug wach um zu erfragen welcher Art sie sein soll...“, setzte Cassiel frech nach, während er mit den Fingern verliebt durch Clarence‘ Nacken kraulte. Hatte sein Mann überhaupt eine Vorstellung davon, wie himmlisch sich Cassie gerade fühlte?
Über ihnen lugte der blaue Himmel durch das Dachfenster herein, nur Wellenrauschen und Möwenkreischen war zu hören. Es war warm, es war friedlich, sie waren zusammen...was könnte es schöneres geben? Nichts, wenn man Matthew fragte. Der junge Mann war so glücklich und das alles nur weil der Ältere bei ihm war, ihn ansah und ihn auf typische Clarence-Art weckte und mit ihm stichelte. Der blonde Engel über den er vor ein paar Stunden hergefallen war, war wieder zu dem frechen und vorwitzigen jungen Kerl geworden, der um keinen Kommentar verlegen war und dem der Schalk ständig im Nacken saß.
„Hmmm...“, machte Matthew leise und streckte sich kurz, ehe er sich auf die Seite rollte, die Beine anzog und das Gesicht halb im Kopfkissen versteckte. Nur mit einem Auge spähte er zu Clarence, aber in jenem Auge lag so viel ungespielte Freude und Liebe, dass Clarence klar werden musste, was er dem Jüngeren bedeutete. Seine bloße Anwesenheit machte, dass Matthew glücklich war und das von dem ersten Moment an, da er seine Gegenwart gespürt hatte.
„Du hast dich einfach davongestohlen...Ich weiß nicht was ich davon halten soll...“, monierte er leise. Dabei war ihm völlig klar das der Andere nicht zum Typ Langschläfer zählte und das es ohnehin schon verwunderlich gewesen war, dass er nach ihrem morgendlichen Sportprogramm nochmal neben ihm geschlummert hatte. Auch die Hunde hatte Cassiel nicht vergessen, wenngleich man zugeben musste, dass die beiden am heutigen Tag bisher noch keine Priorität bei Matthew eingenommen hatten. Bei dem pflichtbewussten Schamanen war das anders, daran zweifelte Cassiel nicht. Clarence hatte sich nicht nur um sich selbst gekümmert, wie sein tadelloses Äußeres verriet, sondern sehr sicher auch um Kain und Abel, wäre dem anders, würden die Hunde sich längst lautstark bemerkbar machen. Aber das taten sie nicht, Clarence sei Dank.
Er war ein fleißiger und anständiger Kerl, sein Gatte - nicht so wie Matthew selbst, der gegen Mittag noch im Bett lag und keine Anstalten machte sich zu erheben und endlich in den Tag zu starten.
„Sag, Captain Ahab, hast du uns an einen schönen Ort gebracht? Durch das Fenster betrachtet könnte man glauben, du hast uns geradewegs ins Paradies manövriert.“ Nach alledem was hinter ihnen lag, Schnee, Kälte, eisiger Wind, scharfkantige Steine und verrückte Fischerstöchter...muteten eine laue Brise, warmes Licht und Zweisamkeit, für den Jüngeren wirklich paradiesisch an.
Brauchte es da noch eine Belohnung oder einen Anreiz um aufzustehen und in den Tag zu starten? Eigentlich nicht...wäre es doch nur nicht so behaglich neben Clarence und würde er doch nur nicht die Nähe zu ihm so sehr genießen.
Es war ein wirklich ganz und gar zweifelhaftes Dornröschen welches dort vor ihm lag, wohl wahr. So unschuldig und unverdorben schaute sein Antlitz drein, eine Miene als sei jenes Wesen noch nie von einem schmutzigen Wässerchen getrübt worden und doch war es hinterhältig und gemein, betrachtete man nur den Umstand unter welchem es seinen Prinzen zappeln ließ.
Das schelmische Grinsen auf den Lippen verriet überdeutlich dass die Prinzessin alles andere als in tiefen Träumen versunken war, aber sie öffnete ihre schönen rehbraunen Augen nicht, um den Thronerben mit warmem, verliebtem Blick zu bedenken. Oh wie grausam konnte ein Mensch nur sein, das sich sehnende Herz eines Mannes derartig mit Leid zu belegen? Wie durchtrieben war jene Prinzessin nur, dass sie es wagte ihren Mann derartig zu behandeln und kurz darauf mit derlei Worten zu bestrafen?
Bislang hatte Clarence immer gedacht, sie seien sowieso nicht wie andere Paare. Es gab kein Maß mit dem sie sich verglichen, keine vorgeschriebenen Strukturen die einzuhalten waren, nur um gesellschaftlichen Normen zu gefallen. Was sie lebten und schrieben, das war ihr eigenes kleines Märchen – und eben weil dem so war, konnte darin die Prinzessin auch ruhig zu Beginn über Bord gehen, um die Oberhand ihres strammen Ehemannes zu spüren zu bekommen.
„Ich bin eben nicht wie jeder andere daher gelaufene Prinz“, monierte der blonde beinahe Rangobere schließlich, sich seinem Stand durchaus bewusst, und wohl gewillt diesen nach außen zu kehren. „In meinen Adern fließt das blaue Blut von Bären und Barbaren zusammen… nichts würde meiner Natur eher entsprechen, als meine Geliebte über die Reling zu befördern, ganz so wie sie es verdient hat.“
Allerdings tat die Prinzessin alles dafür um ihre traurige Zukunft niemals bewahrheitet zu wissen und tatsächlich, die kosenden Finger im adrett zum Zopf gebundenen Nackenhaar stimmten den Adligen etwas milder was die bevorstehende Strafe des Dornröschens betraf. Vermutlich würde sie trotzdem kielgeholt werden, nur eben… etwas später halt. Er war immerhin nur ein Barbar, aber deshalb nicht gleich ein Monster.
Wo wären sie heute nur, wäre Matthew damals im Blauer Hund nicht zu ihm zurück gekehrt um die Wogen zu glätten, die zwischen ihnen entstanden waren?
Clarence wusste die Antwort und er war mehr als dankbar darum, dass sie sich heute nicht mit einem solchen Leben herumschlagen mussten. Sie hätten ihre beiden Quälgeister nicht, die ihnen mit jugendlichem Leichtsinn schon so manchen Moment versüßt hatten, sie würden heute nicht auf einem Boot leben und allem voran wären sie heute nicht unter hellen Sonnenstrahlen erwacht, deren Wärme einem bis hinab in die Knochen drang um den Winter zu vertreiben.
Nein, sie wären aus Coral Valley aufgebrochen, sicher weiterhin zu zweit als getrennte Wege zu bevorzugen, und hätten ihre traurige Wanderschaft durch Schnee und Eis fortgeführt. Wären des Nachts in einem zugigen Zelt gelegen, jeder für sich selbst frierend und nach jenem Kuss, der sie morgens am Lagerfeuer über Doras Gulasch entzweit hatte, unfähig sich gegenseitig die Wärme zu spenden, die man in jenen dunklen Jahren so dringend brauchte. Sie hätten kaum noch Wild angetroffen um zu jagen, würden schon längst mit Hunger kämpfen und womöglich – jedenfalls angesichts des schmalen Hemdchens das Cassie war – wäre Clarence schon längst eines furchtbaren Morgens erwacht, und hätte die Liebe seines Lebens erfroren neben sich aufgefunden. Einfach so wäre der vorlaute junge Mann dahingeschieden, hätte sein Leben ausgehaucht und ihnen damit genommen, wofür sie doch eigentlich geschaffen waren:
Ein Leben miteinander anstatt nebeneinander her.
Ein beinahe schon sentimentales Lächeln legte sich bei diesem potentiellen Was wäre wenn über die Lippen des Schamanen und mit verliebtem Blick bedachte er die müde Prinzessin vor sich, die sich unlängst auf die Seite gedreht hatte um ihn verstohlen aus den Tiefen ihres Kissens heraus zu betrachten. Cassie hatte wirklich nicht die geringste Ahnung wie bezaubernd er gerade war und wie viel er seinem eigenen Ehemann bedeutete – und dass Clarence alles dafür tun würde, selbst sein eigenes Leben opfern, damit es diesem Menschen an nichts mangelte und es ihm an seiner Seite so gut ging, wie es nur möglich war.
„Ach Süßer… ich hab dich an einen ganz und gar märchenhaften Ort gebracht“, entgegnete der Kapitän ihres Bootes leise, denn schön traf es nicht mal ansatzweise. Sachte beugte er sich zum Kleineren hinab und hauchte ihm einen warmen Kuss auf die Schläfe; doch weil es nicht in der Natur eines Prinzen lag, in dessen Adern das Blut von Bären und Barbaren floss, konnte er sich nicht dagegen verwehren seine Lippen etwas tiefer wandern zu lassen. Neckisch drückte er seine Nase in die Halsbeuge seines Geliebten, koste dort die warme weiche Haut und genoss den Geruch des zurückliegenden Morgens, der noch immer auf Cassies Leib klebte. Er duftete nach viel zu viel Schlaf, nach einem Bett dessen Laken danach schrien endlich gewechselt zu werden und nach Haut, die sich dringend nach einer ordentlichen Dusche sehnte – kurzum recht grenzwertig, wie Matthew es sicher weit weniger höflich beschreiben würde, hätte es sich dabei um sein Blondie gedreht. Doch hätten sie sich in Coral Valley emotional voneinander getrennt… Clarence wäre nie in den Genuss gekommen seinen Partner jemals so zu erleben, weshalb er sogar die manchmal weniger charmanten Aspekte im Dasein der Prinzessin umso mehr genoss.
„Hinter den Toren unseres Schlosses und noch weit hinter den blutrünstigen Bestien mit Mutter aus ewiges Eis, die dein Schlafgemach bewachen… da wartet das erste Abenteuer unseres fragwürdigen Märchens auf dich, nachdem du erst von mir ins Meer geworfen wurdest. Berge aus Stahl, entstellte Monster vor denen der Prinz dich erretten muss bevor er dich weiter gen Paradies eskortieren kann… und endlos blaues Wasser, über das er dich mit seinem hölzernen Pferd hinweg reiten wird. Es gibt… eine längst vergangene Zivilisation zu erkunden, düstere Höhlen zu erforschen und die stählernen Berge zu erklimmen. Nichts für so eine zimperliche kleine Prinzessin wie dich also, aber… ich kann mir vorstellen, es wird dir trotzdem gefallen.“
Mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen biss er zärtlich in den dargebotenen Hals seines Geliebten, der bis ans Ende seiner Tage den Kosenamen Prinzessin nicht mehr loswerden würde wenn es nach Clarence ging, und nestelte nach einem Zipfel des dünnen Deckenbezuges, der schon seit einigen Tagen die dicken Daunen abgelöst hatte um sich darunter aneinander zu kuscheln. Es hatte schon gewisse Vorteile, wenn der eigene Co-Pilot sich ständig wegen Übelkeit unter Deck zurück zog – das machte zwar das Anlegen und Segelsetzen für Kapitän Ahab deutlich schwerer, aber wenigstens konnte er seinen Liebsten am Ende wenigstens mit ihrem neuesten Zwischenstopp überraschen.
„Du wirst nie darauf kommen wo wir sind und ich werde es dir auch ganz sicher nicht verraten“, setzte Clarence selbstgefällig an und zog dabei sachte an seinem Zipfel der Bettdecke, um sie dem trägen Dornröschen langsam zu klauen. Vielleicht würde ja das Fehlen von Kuschelmöglichkeiten das faule Ding langsam aus dem Bett treiben – und falls nicht, dann doch wenigstens der Zwang sich frisch machen zu müssen, wenn Cassie seinen vom Morgen noch immer besudelten Leib nicht mehr länger vorm Bären verstecken konnte.
„Dir bleibt also nichts anderes übrig als aufzustehen und selbst nachzusehen und wenn dir das schon nicht als Ansporn ausreicht… dann denk an deine Belohnung die aussteht sobald du das Bett verlässt. Sie ist einer Prinzessin durchaus würdig und eine Ehre, die nicht jedem zuteilwird. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede.“
Das wusste er wirklich. Das, und dass man einen Matthew Cassiel mit unbekannten Trophäen für glorreiche Taten locken konnte, wenn schon nicht mit einem blonden Adonis selbst.
War er eine grausame Prinzessin? Wohl kaum, wenn man die eben Erwachte fragte. Sein Dornröschenschlaf war mehr als verdient gewesen und die Drohung dafür ins Meer geworfen zu werden alles andere als nobel.
Doch der Prinz der ihn geweckt hatte war nicht von der gewöhnlichen Sorte, wie jener Adelige nicht scheute zu betonen. Das Blut der Bären und Barbaren floss durch seine Adern und als Cassie das hörte, musste er amüsiert lachen.
Der Kerl mit dem er Coral Valley verlassen hatte, hatte jeden Tag weniger mit dem Mann zutun, mit dem er monatelang durch die Wildnis gestreift war. Jener Typ war nicht unterhaltsam, nicht albern, nicht schlagfertig und auch nicht herzlich gewesen. Aber seit ihrer Hochzeit...die Erinnerung an jenen Tag, zauberte der Prinzessin ein glückliches Lächeln ins Gesicht. Wann immer er Clarence auf jene Weise ansah, nahm man dem Dunkelhaarigen vollkommen ab, der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Dass er das war lag allein an dem Prinzen, der laut eigener Aussage dafür gesorgt hatte sie an einen märchenhaften Ort gebracht zu haben.
Matthew kannte die maßlosen Übertreibungen des Wildlings schon von früher, weshalb er seine natürliche Skepsis erstmal behielt
Höhlen zum Erkunden, Berge aus Stahl und blaues Meer mit weißem Strand... das klang nach einer typischen Beschreibung des Hünen für einen brackwassergefüllten Tümpel, der umgeben war von den Ruinen der Alten.
Aber da Matthew ziemlich sicher wusste, dass Clarence sie nicht zurückgesegelt hatte in ihr altes Leben, schätzte er die Chancen als gehoben ein, dass sein blaublütiger Erretter ihre Umgebung halbwegs richtig beschrieben hatte.
„Eure königliche Hoheit spinnt, wie mir scheint...“, setzte er Clarence von seiner Einschätzung in Kenntnis, während seine Fingerspitzen liebevoll durch Clarence‘ Nacken streichelten.
„Und die Sache mit den entstellten Monstern klingt nicht gerade verlockend...“, Matthew war nie ein Freund von Muties gewesen, wenngleich man auch nicht behaupten konnte er würde mit ihnen nicht fertig werden. Er war ein ausgezeichneter Schütze, aufmerksam was seine Gegner anging und mutig genug um Konfrontationen nicht zu scheuen, wenn sie sich ergaben. Seinen Ruf die „Prinzessin“ ihres Duos zu sein würde er dennoch nicht abstreiten, immerhin barg dieser Status auch große Vorteile.
Wer wollte bitte nicht eine Leibgarde wie den Blondschopf haben? Der auf einen aufpasste, ihn eskortierte, ihn aus endlosem Schlummer weckte und an einen märchenhaften Ort brachte? Matt war ein verdammter Glückspilz, da hegte er keine Zweifel und wenn ihn das zur Prinzessin machte...sei es drum. Es war ihm recht.
Der freche Mund des barbarischen Prinzen legte sich derweil auf seinen Hals und der Dunkelhaarige lachte neuerlich glücklich. Es war ein Privileg geliebt zu werden, eines jener Sorte wie er es sich nie hatte vorstellen können.
Konnte das Leben süßer und erfüllter sein als es das in diesem Moment war? Cassie wusste es nicht, konnte es sich eigentlich auch nicht vorstellen und hatte in den letzten Monaten doch die Erfahrung gemacht, dass Clarence sich darauf verstand jedes Gefühl der Freude von Tag zu Tag zu übertreffen.
„Soso...du wirst mir also nicht verraten wohin du uns gebracht hast...Wahrscheinlich liegt das daran, dass du selber nicht weißt wohin uns der Wind getrieben hat.“, unterstellte Cassiel dem Kapitän in gewohnt unverschämter Manier, wohl wissend das dies einem Stachel gleichkam den er in des Hünen Ehre jagte. Wenn Clarence eine Sache unumstritten sicher konnte, dann war es sie zu navigieren. Ob unter freiem Himmel auf See, oder in dichten Wäldern, ob der Himmel bewölkt oder sternenklar war. Irgendwie konnte der Größere immer die Himmelsrichtungen ablesen und er hatte bisher noch immer geschafft sie an ihr Ziel zu bringen. Die Behauptung, er könne beim Segeln die Orientierung verloren haben war deshalb nichts weiter als eine fiese Attacke auf des Prinzen Ego.
Allerdings kannte der barbarische Bärenprinz die Prinzessin recht gut, denn so wie man mit Speck Mäuse fing, fing man neugierige Dornröschen mit ominösen Belohnungen. Allmählich war der Dunkelhaarige wieder wach genug um zu verstehen das sein Angetrauter ihn zu ködern versuchte damit er endlich aufstand.
Vorbei waren die Zeiten in denen Clarence am Liebsten allein war und die Stille dazu nutzte um in Seelenruhe zu grübeln oder zu meditieren.
Heute - wie an vielen anderen Tagen der jüngeren Vergangenheit - vermisste er Matthews Gesellschaft irgendwann , sodass es nötig wurde ihn zu wecken.
Der junge Mann rutschte ein Stückchen dichter an den Blonden heran und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze.
„Wehe du hast mich angeflunkert und es gibt keine angemessene Belohnung...“, kommentierte er und befreite sich schließlich von der Bettdecke, die der Hüne ohnehin dabei war ihm abzuluchsen. Matthew setzte sich auf, streckte sich kurz und betrachtete dann das Chaos um sie herum. Die Kissen waren ebenso zerwühlte und knittrig wie die Laken es waren, die Bettdecke war verdreht. Ihre morgendliche Eskapade hatte Spuren auf den Stoffen und auch auf seinem Körper hinterlassen. Es war wirklich Zeit, dass er sich ins Badezimmer begab und sich wieder kultivierte, da brauchte es eigentlich keine weitere Belohnung.
„Großer Gott...hast du hier eine Orgie gefeiert während ich geschlafen hab? Eure königliche Hoheit scheint ein schlimmer Lustmolch zu sein.“, er zog das Kissen hinter sich hervor auf dem er eben noch gelegen hatte und schlug es auf Clarence‘ Gesicht um dem alten Schwerenöter für sein umtriebiges Verhalten zu tadeln.
„Ich geh mich waschen, dann bin ich für den Rest des Tages ganz dein.“, behände schwang er sich über den liegenden Prinzen hinweg und verließ das Bett. Kurz klaubte er noch seine Sachen vom Boden auf, die er gestern Nacht achtlos dorthin verbannt hatte, ehe er in Richtung Badezimmer verschwand.
Dort angekommen verbannte er seine Kleidung von gestern in den Korb für die Schmutzwäsche und ließ Wasser in den kleinen aber ausreichenden Messingzuber laufen um sich dort in aller Ruhe und mit der nötigen Genauigkeit zu reinigen. Reichlich vierzig Minuten brauchte der junge Mann bis er das Bad wieder verließ. Nackt, bis auf ein Handtuch das er sich um die Hüften geschlungen hatte und mit noch feuchten Haaren betrat er das Herzstück ihres Zuhauses, die offene Wohnküche in der es nach Kaffee, Essen und Meeresluft duftete.
Kain und Abel kamen die Treppe von oben hinab gerannt um ihn zu begrüßen, beide Hunde sprangen übermütig um ihn herum und Cassie versuchte sie mit Streicheleinheiten zu beruhigen. „Guten Morgen ihr wilden Bestien, habt ihr mich schon vermisst, hm?“ - offensichtlich hatten sie das, wobei sie damit nicht alleine waren. Der edle Prinz von vorhin wartete ebenfalls auf ihn.
Er saß in der lichtdurchfluteten Küche auf der Sitzbank und trank seinen Kaffee aus der selben alten verbeulten Blechtasse wie immer.
„Auch dir einen wunderschönen guten Morgen, Herr Gemahl.“, begrüßte der Jüngere mit einem Lächeln seinen Liebsten und zwinkerte ihm keck zu, während er weiterhin die zwei Junghunde kraulte.
Erst als die überschwängliche Freude von Kain und Abel allmählich nachgelassen hatte, löste sich Cassie von ihnen und ging in Richtung Treppe um hinauf zu spähen. Die zwei Hunde liefen freudig an ihm vorbei und hoch an Deck.
Im Gegensatz zu Matthew wussten die beiden schon wohin Clarence sie gebracht hatte, ein Umstand den der Jüngere nicht länger so hinnehmen wollte.
Er deutete mit dem Kopf in Richtung Treppe um dem Blondschopf zu bedeuten ihn nach oben zu begleiten. „Wartet da oben meine Überraschung?“, er neigte den Kopf, die Sonne ließ sein nasses Haar glänzen und die winzigen Rinnsale von Wasser auf seiner Haut glänzen. „Oder bist du meine Überraschung?“
Was hatte sich verändert, dass diese beinahe schon kitschige Idylle zwischen ihnen vorherrschte? War es der Sommer, der letztlich nicht nur in ihre Umgebung, sondern auch in ihre Herzen Einzug gehalten hatte – oder hatten sie sich selbst verändert?
Fragte man Clarence, dann war sicher Letzteres der Fall und das nicht nur einseitig. Matthew war… anders geworden. Was er seinem Bären entgegen säuselte weniger provokativ, sondern viel liebevoller geworden als noch Monate zuvor und damit gab er letztlich auch dem grummelnden alten Kauz die Chance, ganz anders auf ihn einzugehen und unter Cassies Gesellschaft aufzublühen.
Wahrlich, sie waren dünnhäutig gewesen, alle beide. Frierend ob des Frostes und des unaufhörlichen Schnees, hungrig aufgrund der immer mehr zurückgezogen lebenden Fauna, die den nicht enden wollenden Durst des Sommers abgelöst hatte, in dem es an manchen Tagen schwer bis gar unmöglich gewesen war, ausreichend trinkbares Wasser für sie beide zusammen zu bekommen. Seitdem sie sich kennengelernt hatten, hatte ihre lose Bindung nie unter einem guten Stern gestanden; es hatte immer äußere Einflüsse gegeben die ihre Laune in den Keller getrieben hielt und ihre Hochzeit schien anfänglich nichts weiter gewesen zu sein als ein kurzer Lichtblick im dunklen Tunnel einer schier endlos andauernden Reise. Der Hunger hatte den Durst abgelöst, die Unwetter auf dem Boot die vom Marschieren von Blasen gezierten Füße und ihre Unfälle die infizierten Kratzer und Wunden, welche sie sich in Gestrüpp und Dornenhecken zugezogen hatten.
Doch hier, in der Sonne, umgeben von aufbereitetem Wasser, von Fischen zu Meer und Tieren an Land von denen sie sich nähren konnten, geborgen in der Sicherheit ihres Heimes und fernab von Menschen die ihnen nach dem Leben trachten konnten - da schienen die Tage perfekt und die Liebe zu süß zu sein, als dass sie wirklich von dieser Welt sein konnte.
Lautlos nippte Clarence an seinem dampfenden Kaffeebecher in den er es sich gestattet hatte ein halbes Löffelchen ihres wertvollen Zuckervorrates einzurühren und blätterte dabei unaufmerksam in einem alten Notizbuch, während er seinen tiefgründigen Gedanken nachhing.
Rückblickend betrachtet… schien es recht offensichtlich zu sein, warum sie früher so oft aneinander geraten waren.
Ihr Miteinander war ein Teufelskreis gewesen aus stiller Zuneigung, unausgesprochener Wertschätzung und offen ausgelebter Distanz. Der Jäger, zu ein geigelt und zu gewohnt an die Einsamkeit in Zweisamkeit um seinem ungeplanten Begleiter die nötige Aufmerksamkeit zu schenken welche jener benötigte und Matthew, sich letztere dauerhaft einfordernd, wenn es sein musste auch mit Gewalt. Die ewigen Sticheleien, die auf stundenlange Versuche des Kontaktaufbaus gefolgt waren, erschienen dem Blonden plötzlich unerwartet triftig – denn selbst negative Aufmerksamkeit war besser als auf Dauer angeschwiegen zu werden, diesen einfachen Grundsatz konnte man sogar schon bei Kleinkindern beobachten. Und selbst wenn es Claire zu bunt geworden war und er früher oder später das Weite gesucht hatte, so war dem Dunkelhaarigen am Ende doch die Freude der Gewissheit geblieben, dass sein schweigsamer Klotz immer zu ihm zurückkehren würde, egal wie sauer er auf ihn gewesen sein mochte.
Doch Clarence lief nicht mehr weg. Er schwieg auch nicht mehr lange genug um seinem Partner einen Grund zu liefern an ihm herum zu sticheln bis er ihn endlich aus der Reserve gelockt hatte; und, allen Erwartungen zum Trotz, hatte es seit geraumer Zeit – dank einem unvorhersehbaren Zwischenfall an einer heißen Quelle - keinen Grund mehr gegeben ein Gespräch über einen etwaigen Fluch abzuwürgen und Matthew dadurch aus einem Teil seines Lebens auszuschließen, was nochmals ein beträchtliches Gewicht aus der sonstigen Schwere ihres Miteinanders nahm.
Sie waren anders geworden. Doch anstatt sich nebeneinander her zu verändern und den anderen auf halbem Weg aus den Augen zu verlieren, schienen sie Hand in Hand gemeinsam diesen Weg gegangen zu sein und darunter näher zueinander gefunden zu haben. Was einst zwischen ihnen gestanden hatte - nämlich Schweigen, Unwohlsein und Unzufriedenheit – war in den Hintergrund ihres Lebens getreten und hatte damit Raum geschaffen für die wirklich wichtigen Dinge.
Halbnackte nasse Männer nur mit Handtuch bekleidet, zum Beispiel.
Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass Clarence seinen Mann das letzte Mal in einem derartigen Aufzug zu Gesicht bekommen hatte. Viel zu kalt war es einem bis auf die Knochen trotz Ofen in ihrer Stube immer gewesen, um es länger als nötig derart unbekleidet auszuhalten und noch kaum dass man sich richtig abgetrocknet hatte, wollte man nach einer erfrischenden Wäsche nichts anderes lieber, als endlich wieder in lange Hosen und einen wärmenden Pullover zu kommen. Lediglich ihre amourösen Stelldicheins und eng aneinander geschmiegte Schlafeinlagen hatten dazu geführt dem anderen ein wenig nackte Haut zu gönnen, wenn auch versteckt unter der dicken Daunendecke; Clarence bezweifelte nach diesem Auftritt beim besten Willen nicht mehr länger, dass dieser Morgen tatsächlich so wunderschön werden könnte, wie sein werter Gatte es ihm gerade wünschte.
„Ist das die neueste Mode am Hof wenn es um Ball- und Festtagskleider geht?“, erkundigte sich der Jäger, scheinbar unwissend ob der hiesigen Gepflogenheiten, und nahm einen unschuldig anmutenden Schluck aus seinem verbeulten Blechbecher. Es viel ihm schwer den Dunkelhaarigen dabei aus den Augen zu lassen wenngleich er darunter eine Seite seines Buches umschlug, ganz so als läge all seine Aufmerksamkeit natürlich nur darauf und nicht etwa auf den filigranen Rinnsalen, die schimmernd über Cassies definierten Rücken und seine kräftigen Schultern hinweg tanzten.
Noch vor kurzer Zeit, kaum einen Steinwurf entfernt, da war er sich nie eins darüber gewesen, was der andere mit seinem seltsam nervösen Zucken im Auge nun genau von ihm wollte. Den trägen Klotz durch den Kakao ziehen war Claire dabei noch am meist naheliegenden erschienen, ihn feist herausfordernd mit scheinbarem Interesse und gespieltem Funkeln in den kandisfarbenen Iriden; manchmal war er sich über die Bedeutung dieser Geste sogar derart uneins gewesen, dass er sich darunter mehr unangenehm als geschmeichelt gefühlt und es letztlich einfach ignoriert hatte, so wie viele andere kleinere und auch größere Zeichen der fremden Zuneigung auch. In dunkelsten Stunden hatte Clarence sich gehässig gewünscht, diesem verfluchten Aas möge doch nur endlich ein Auge ausfallen, damit er ihn nicht mit diesem dämlichen Zwinkern derartig verunsichern konnte – doch seit seine Stoßgebete vor wenigen Wochen beinahe erhört geworden waren, schien es dem Blonden wie Schuppen von den Augen gefallen zu sein.
Das spitzbübische Grinsen, welches sich über seinen Lippen ausbreitete, hinter seinem Kaffee verbergend, ergab sich der Jäger theatralisch dem anstehenden Aufbruch an Deck und ließ resignierend sein Büchlein zu fallen.
„Wenn du glaubst, ich hätte deine Enttäuschung gerade überhört…“, tadelnd schüttelte Clarence sein Haupt und belehrte den Jüngeren dadurch eines Besseren. Natürlich wäre es ihm die größte Genugtuung seinem Mann als Überraschung völlig auszureichen, aber dafür kannte er Matthew nun mal zu gut – Mäuse fing man mit gutem Speck und nicht mit dem trockenen Brot aus dem Vorratsschrank, an dem sich die Kleine sowieso tagein, tagaus satt fressen konnten.
Kaum da er sich erhoben und an die Seite seines Partners zurück gesellt hatte wo er sich am wohlsten fühlte, kramte der Hüne umständlich in seiner Hosentasche und zauberte hervor, was sich wohl behütet schon seit geraumer Zeit irgendwo im Bauch des Bootes versteckte. Völlig ungeahnt vom habgierigen Taugenichts, bewahrte der Kronprinz einen Schatz vor dem raffgierigen Monster welches sich sein Ehemann schimpfte und lediglich die wohlbekannte ausgiebige Morgenprozedur hatte ihm ein überschaubares Zeitfenster verschafft, um für einen kurzen Augenblick ein wenig Tageslicht in das dunkle Versteck seiner wertvollsten Habe zu bringen.
„Das hier ist die Trophäe für herausragende Leistungen deinerseits - auch wenn du sie erst kurz vor Mittag zu erbringen in der Lage warst“, ließ er sich den kleinen Seitenhieb nicht nehmen und befreite den glitzernden Schatz aus seiner Hülle, wobei die unvollständigen Finger die Überraschung beinahe liebevoller liebkosten als eine Goldmünze oder gar den Söldner selbst:
Funkelnd und klebrig brachen sich die Sonnenstrahlen im trüben Pink eines Himbeerbonbons, dem wohl wertvollsten Schatz der Menschheit seit Clarencegedenken, ehrfürchtig ruhend in Claires Fingern die der Prinzessin das wertvolle Gut einfach ungefragt in den Mund schoben, auf dass es von der Schönheit verschlungen und genossen wurde.
„Gern geschehen. - Und jetzt mach die Augen zu. Wehe du schummelst, dann bist du deine Belohnung schneller wieder los als du das Teil runter schlucken kannst!“
Nicht, dass Clarence etwas dagegen hätte dem Jüngeren das Bonbon mit Hilfe seiner Zunge wieder zu entreißen – aber böse Menschen behaupteten ja, man könne einen angebrochenen Tag noch zu anderen Dingen nutzen außer Schweinkram, auch wenn ihnen beiden das bekanntermaßen immer schwerer zu fallen schien mit fortschreitendem Verheiratet-Sein.
Es dauerte nicht mal den Bruchteil einer Sekunde, da hatte sich der stramme Jäger unter dem aufgeregten Bellen ihrer Gefolgschaft seine Morgenbeute bereits über die Schulter geworfen und damit zur Treppe gewandt, den hölzernen Berg erklimmend damit die Prinzessin jene prophezeiten aus Stahl alsbald zu Gesicht bekam.
Blieb nur zu hoffen, dass sie auch wirklich ihre Augen artig geschlossen hielt – denn das endlos blaue Meer, die im Wind am Ufer rauschenden Palmen, das Strahlen der Mittagssonne und vor allem die von der Natur längst zurück eroberten Ruinen der Alten einer Millionenstadt wie ihre Generation sie schon lange nicht mehr kannte…
Kaum ein Mensch vom Land bekam jemals eine Metropole zu Gesicht, aber noch weniger einen Anblick wie diesen.
Sanft setzte er Cassie auf den erwärmten Dielen des Decks ab, wohl darauf bedacht weder die Blöße seines Mannes noch das Panorama ungewollt zu enthüllen noch bevor die richtige Zeit dazu gekommen war, und postierte sich hinter dem Jüngeren um ihm eine Hand über die oftmals schummelnden Lider zu legen.
„Ich weiß, die Spinnen waren nicht wirklich nach deinem Geschmack. Aber glaub mir, Süßer… das hier wirst du lieben.“

Je länger der Morgen beziehungsweise der Vormittag andauerte, umso deutlicher wurde wie grundsätzlich sich ihr Umgang miteinander geändert hatte.
Wo einst Gereiztheit und unterschwellige Aggression zwischen ihnen gelegen hatte, stand unlängst nichts mehr zwischen ihnen was sie einander nicht näher brachte.
All die Macken und vermeintlichen Unzulänglichkeiten waren nicht länger lästiges Anhängsel des jeweils Anderen, sondern geliebte und geschätzte Charaktereigenschaften.
Die Art wie Clarence in dem Notizbuch blätterte, obwohl er darin sowieso nichts lesen konnte, empfand Matthew als hinreißend schnuckelig und was die bemüht unauffälligen Blicke des Hünen anging, so sah er sich diesen mit Vergnügen ausgesetzt. Alles was sich hatte ändern können, hatte sich zwischen ihnen geändert. Aller falsche Stolz und alle heimlich oder offen gehegten Vorurteile waren abgelegt worden. Gefunden hatten sie unter dem Ballast der Zeit sich selbst und das war vielleicht der größte Gewinn ihres Lebens.
Die dunklen Gestalten aus ihrer Vergangenheit hatten nicht gewonnen, die namenlosen Männer die Matthew Gewalt angetan und ihn seiner Kindheit beraubt hatten ebensowenig wie die Mörder von Clarence’ Eltern oder Ruby-Sue. Clarence‘ Kinder und Familien kamen nicht zurück, Matthews Freunde taten es auch nicht, doch unterm Strich hatten sie nicht nur verloren was ihnen lieb und teuer war, sondern auch etwas gewonnen.
Und eine Sache war gewiss: Matt würde keinen Moment seines Martyriums ungeschehen machen, wenn er dadurch auf die Bekanntschaft und Liebe seines blaublütigen Barbarenbärenprinzen verzichten müsste.
Der Blondschopf entschädigte ihn für allen Schmerz, für jeden Zweifel, für jeden Tropfen seines vergossenen Blutes und für jede Träne des Kummers.
„Bei Hofe lässt man das Handtuch noch weg, aber ich dachte bis wir uns näher kennengelernt haben, bedecke ich mich noch, man weiß ja nie heutzutage.“, gab Cassiel heiteren Gemüts zurück und beobachtete wie sich Clarence schließlich erhob und zu ihm kam. Das Humpeln auf dem Bein wo ihn die Spinne erwischt hatte, fiel nur noch dann unterschwellig auf wenn man wusste, dass die Wunde mal existiert hatte. Für ungeübte Augen war es unsichtbar, für Cassiel allerdings nicht.
„Wie schlecht du von mir denkst, bricht mir mein Herz...“, erwiderte der Jüngere auf die bodenlose Unterstellung hin, er hätte enttäuscht geklungen bei der Frage ob seine Überraschung Clarence persönlich sei.
Doch wie sich zeigte, war nicht der edle Prinz seine wohlverdiente Trophäe, sondern ein...Bonbon. Im ersten Moment konnte Cassie das kleine Ding gar nicht richtig einordnen. Einmal von dem unscheinbaren Papier befreit, in das die Leckerei eingepackt gewesen war, sah es aus wie ein Stück rötlicher Bernstein.
„Wo hast du....“- setzte der Dunkelhaarige an, wurde allerdings unterbrochen. Ungefragt schoben sich die Finger des Hünen an seine Lippen und dann in seinen Mund, wo sich der süße Geschmack von Zucker und Himbeersirup ausbreitete.
Wo zum Henker hatte der Kerl ein Bonbon her? Dass es diese Dinger im letzten Dorf gegeben hatte wagte er zu bezweifeln und das sein Gatte in der Lage war selbst diese Art von Bonbons herzustellen war sogar noch weiter hergeholt.
Der intensiv-fruchtige Geschmack war so selten, dass Cassie automatisch das Wasser im Munde zusammenlief.
„Wo hast du das Teil her? Es war wohl nicht in deiner Hosentasche seit wir uns kennengelernt haben?“- der Hungerhaken der Clarence damals gewesen war hatte vermutlich keine Himbeerbonbons dabei gehabt, aber sicher war sicher.
Statt eine Antwort auf seine berechtigte Frage zu bekommen, erpresste Clarence ihn mit dem Verlust der süßen Köstlichkeit und dies konnte Matthew nicht riskieren. Also schloss er artig seine Augen und erwartete von Clarence nun nach oben geführt zu werden. Doch nicht Schritt für Schritt an Clarence’ Hand nahm er den Weg, sondern über dessen Schultern gelegt wie ein nasser Sack.
Kaum den Boden unter den Füßen verloren, lachte der junge Mann auf und strampelte kurz mit den Beinen. „Lass mich runter!“ forderte er lachend und befürchtete fast schon sein heimtückischer Ehemann würde ihn nun wirklich über die Reling werfen wollen. Ungeachtet seines halbherzigen Rettungsversuchs trug der blonde Bär ihn die Stufen hinauf und auch mit geschlossenen Augen wusste Matt, dass sich ihre Umgebung grundsätzlich zu der von vor wenigen Wochen geändert hatte. Statt feuchter und kalter Nebelluft, traf milde Wärme auf seine Haut sodass es ihn noch nicht mal ansatzweise fröstelte.
Die Sonne wärmte seine noch feuchte Haut und ließ die Andeutung von Wasserspuren auf seinem Körper schimmern und glänzen.
Das Himbeerbonbon im Mund, die Sonne im Rücken und auf den Schultern seines Liebsten, wusste Cassiel schon jetzt, dass dies einer der schönsten Tage seines Lebens werden würde. Er spekulierte nicht auf große Ereignisse oder irgendwelche bahnbrechenden Erlebnisse die vor der Tür standen, sondern es würde ihm ganz und gar reichen, wenn der Tag einfach so weiterging wie er begonnen hatte.
Mit Clarence. Mit Frieden. Mit beschaulichem Glück im Augenblick.
Mit einer Umsicht, die man Clarence gar nicht zutrauen mochte, wurde Matt schließlich abgesetzt. Nackte Füße trafen auf warme Planken und der Jüngere öffnete blinzelnd ein Auge - zumindest halb, dann unterband der Schamane seinen Versuch zu schummeln, in dem er ihm die Augen kurzerhand zuhielt.
„Du machst es spannend...“, kommentierte der Dunkelhaarige das Offensichtliche und trat abwechselnd von einem Bein auf das Andere. Wohin auch immer sein Mann sie gebracht hatte, es musste ein außergewöhnlicher Ort sein, wenn er diese Art des Spannungsaufbaus verdiente.
Wie außergewöhnlich der erreichte Ort tatsächlich war, offenbarte sich dem jungen Mann nur wenige Momente später, als der Größere seine Hand sinken ließ und Matt die Augen öffnen durfte.
Was sich ihm zeigte war eine Kulisse wie er sie nur selten je zu Gesicht bekommen hatte und wie sie viele Menschen niemals sahen:
die Umrisse einer längst verfallenen Stadt der Alten.
Der blaue Ozean und der nicht minder blaue Himmel grenzten sich stark von der unterbrochenen weißen Linie ab, die der Sandstrand an der Küste bildete.
Dahinter lag dichtes Grün, hohe Bäume die zwischen Gebäuden aufragten die aus Stein und Glas waren. Manche von ihnen waren so verfallen, dass ihre Metallkonstruktionen sichtbar waren und aus den Trümmern hervorstachen wie die Rippen aus einem Kadaver. In den intakten Fenstern spiegelte sich gleißend das Sonnenlicht und gab einem einen Hauch von Ahnung, wie es damals gewesen sein musste als die Gebäude alle noch heil gewesen waren.
Schweigend stand Matthew an Deck der Harper Cordelia und sah auf den Ort welcher märchenhaft und bedrohlich zu gleich wirkte.
Es war ein direkter, unverhüllter Blick auf die Vergangenheit der sich ihnen bot und gleichzeitig eine Warnung, nicht die selben Fehler von einst zu wiederholen. Wie möchten Sie gelebt haben, die Erbauer all dieser Wunder? Das herauszufinden war vermutlich unmöglich, aber das änderte nichts daran, dass der junge Mann gedanklich schon den unzähligen Straßen dieser ausgestorbenen Stadt folgte.
„Das ist...unglaublich schön...oder?“, fasziniert ließ Matthew den Blick schweifen und malte sich aus wie es wäre jenen Ort zu erkunden.
Die Ruinen der Alten standen in dem Ruf verflucht zu sein, viele waren nicht nur verfallen sondern wurden auch von gefährlichen Mutanten bewohnt. Außerdem, so der Aberglaube, lebten an jenen Orten die Geister der vergangenen Epoche.
Wer eine solche Stadt der Geister betrat kehrte selten unversehrt zurück und dennoch übten die Hinterlassenschaften der Alten eine ungeheure Faszination auf Matthew aus, die sein Lehrmeister Le Rouge stets befeuert hatte.
Die Gefahren waren das Eine, die unglaublichen Schätze an Wissen und Kunst das Andere. Matt und Rouge hatten ein paar der Ruinen erkundet und mit jedem Besuch war Cassiel interessierter und neugieriger geworden, weshalb ihn auch jener Ort nun anzog, wie das Licht die Motte.
„Wir sollten uns ansehen was es dort gibt, meinst du nicht auch?“
Endlich wandte er den Blick von der Skyline ab und sich dafür seinem Liebsten zu.
Aufregung und Neugier lagen in seinen braunen Augen, ein Ausdruck der nur auf Bestätigung zu warten schien.
Gefahren hin oder her: er wollte sie unbedingt sehen, die Welt jener Menschen die vor ihnen gelebt hatten. Die so viele Dinge hinterlassen hatten und über die man doch so wenig nur wusste.
Noch nie hatte die vehemente Aufforderung etwas sein zu lassen den Jäger auch wirklich dazu gebracht, in seinen unüberlegt überlegten Handlungen inne zu halten. Schroffe Felsen zu erklimmen oder riesige Mutanten zu jagen gehörte zu dieser Liste genauso verlässlich dazu wie Cassie herunter zu lassen nur weil der kleine Zwerg das so verlangte und eben genau weil Clarence ein Mann war, der seiner Natur grundsätzlich auch in den unpassendsten Momenten treu blieb, sollten die frisch gewaschenen Füße des Schönlings den Boden auch nicht mehr wieder berühren bevor er an seinem Zielort angekommen war.
Die Enthüllung ihrer Anlegestelle derart zu zelebrieren hatte durchaus ihren Grund, wie auch Matthew spätestens dann bewusst wurde, als es ihm endlich gestattet war einen Blick auf ihre neue Umgebung zu werfen. Abel und Kain, ihres Zeichens unerfahrene kleine Dinger, mochten den ersten Ausflug an Deck nicht mal halb so sehr wertgeschätzt haben wie ihr dunkelhaariges Herrchen, aber das war okay – die beiden wussten es nicht besser, ganz im Gegensatz zu ihren beiden Vormündern.
Behutsam legte er seinen Arm auf der Schulter des Vorderen ab kaum da er ihm unverhüllte Sicht auf den Horizont eingestanden hatte und löste den Blick vom noch nassen Schopf seines werten Herrn Göttergatten, die wachen Augen stattdessen auf jene Szenerie richtend, welche er schon die zurückliegenden Stunden über auf sich hatte wirken lassen.
Schweigend hatte er an der Reling gelehnt, die Hunde mal an Deck, mal auf dem verfallenen Pier tobend an dem er ihr Zuhause angelegt hatte; das hier ist es also, war es ihm dabei durch den Kopf gegangen. Das große Miami, um das sich Lieder und Lobgesänge rankten und von dem doch heutzutage niemand mehr etwas wusste – manche nicht einmal, wo es sich überhaupt auf den Flächen der heutigen Welt befand.
Ausschraffierte Areale verunzierten heute ihre Landkarten an jenen Stellen die man besser nicht auf seinen Reisen betreten sollte und graue Schandflecken signalisierten die toten Städte der Alten, in denen man genauso wenig sein Glück finden würde wie irgendwo sonst auf der Welt. Was jenen Orten und ihren Vorfahren zugestoßen sein mochte, darum rankten sich Mythen und Legenden; ein großer Krieg hatte ihr Leben zu dem gemacht was es heute war, unvergleichlich mit dem Dasein von früher, und doch konnte niemand mehr so recht von sich behaupten mit Gewissheit sagen zu können, worum es damals gegangen war. Geld? Macht? Territorium?
Ihr ganzer Kontinent war bis ins Mark verdorben worden und hatte es beinahe unmöglich gemacht, von der Wiege bis zur Bahre ein glückliches Leben ohne Leid zu führen. Beben rissen den Jahrtausende alten Boden unter ihren Städten auf und ließen sogar ganze Metropolen wie Prism Shore in sich versinken, Wirbelstürme hinterließen nichts als Tod und Verwüstung und selbst an den Küsten war man nicht sicher, so war etwa schon die ein oder andere Siedlung unter der unbeschreiblichen Gewalt einer riesigen Flutwelle versunken. Wer der Natur nicht zum Opfer fiel, der wurde am Waldesrand das Frühstück von Muties, verfiel dem Irrsinn durch Geister die ihn verfolgten oder wurde in der eigenen Haut auf nimmer wiedersehen verschlungen von Dämonen, die Besitz von einem ergriffen… und war es nichts von alledem, dann war es die eigene Rasse selbst, die einem das Leben auf Gedeih und Verderb zunichtemachte.
Ihr Land war zur Hölle geworden, schon vor viel zu langer Zeit, lange bevor die Schicksalslinie die beiden jungen Männer an Deck der Harper Cordelia überhaupt ausgedacht hatte. Ihre Generation und jene Blutslinien davor kannten es gar nicht mehr anders, man hatte sich damit arrangiert und es war auf verdrehte Weise Normalität geworden auch wenn jedes Kind wusste, dass das Leben nicht immer so gewesen war.
Doch die Vorstellung, dass hier draußen, dort in jenen erstaunlich intakten Ungetümen von Gebäuden einst das Leben geherrscht hatte… das war eine Vorstellung von jener Sorte, die selbst einem gestandenen Mann wie Clarence Bartholomy Sky das gewisse Fünkchen Respekt abverlangte.
„Du willst an Land gehen? Das machen wir natürlich nicht. Ich hab uns nur hierher gebracht um dich kurz ins Wasser zu werfen und dann wieder mit meinem randalierenden Mann das Weite zu suchen“, entgegnete der Schamane ironisch und zwickte besagte Nörgentrulla neckend in die Schulter, kaum dass jene sich zu ihm umgedreht hatte.
Es war schon spannend mit diesem Kerl. Imposante Berge, abenteuerliche Jahreszeiten in einem windschiefen Zelt und einzigartige Spinnenkreationen ließen Matthew zurück weichen wie Letztere vorm Feuer, aber wenn einsturzgefährdete und von weiß Gott was bewohnte Ruinen nach ihnen riefen, dann war sein Taugenichts der allererste, der hibbelnd und aufgeregt ganz vorne in der Reihe stand.
Kein Verständnis habend für so viel Widerspruch, kompakt vereint in nur einem einzigen Persönchen, schüttelte Clarence mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf den Lippen das blonde Haupt und löste sich von den nassen Schultern seines Liebsten, um die unvollständigen Finger stattdessen im losen Handtuch der fremden Hüften zu verhaken.
Mit sanftem Nachdruck zog er den Schönling etwas dichter an sich heran und klaubte ihm einen kurzen Kuss, in dem alle Verliebtheit ruhte die Claire in jenem Moment für diesen unsinnigen kleinen Kerl empfand.
„Weißt du woran ich unweigerlich denken muss, seitdem ich heute das erste Mal im Tageslicht diesen Anblick genießen durfte…?“
Er war ganz schön verweichlicht, seitdem er mit Matthew zusammen gekommen war. Es gab viele Dinge, die ihm früher als allererstes durch den Kopf geschossen wären, hätte er sich auch nur annähernd einen Steinwurf entfernt von Sperrgebiet befunden: Auf den Gebeinen der zerfallenen Riesenhäuser hinauf klettern zum Beispiel, seltene Mutanten erlegen und dabei selbst halb von diesen auseinander genommen werden oder sich ohne Aussicht auf Errettung in tiefen Erdrissen verlaufen, welche die Kriege auf Straßen und unter Gebäuden hinterlassen hatten. Ein einziges Leben reichte nicht mal im Ansatz aus um einen solchen Ort zu erkunden und doch hätte Clarence es versucht, aus Abenteuerlust, Hochmut und Todeswunsch heraus, ganz so wie es ihm im Blut lag.
Doch seit heute Morgen, immer wenn er an diesen längst verlassenen Strand hinüber blickte, wurde es ihm ganz sentimental ums Herz. Dann wanderten dort Menschen in der Sonne, spielten Kinder im seichten Wasser und arbeiteten Menschen fleißig in den Gebäuden an… was auch immer man früher wohl so gearbeitet hatte, um damit sein Gold, Silber und Kupfer für die Familie zu verdienen.
„Irgendeiner unserer Vorfahren ist irgendwann mal über diesen Sand gelaufen und hat in irgendeiner der Gaststätten gegessen, die am Pier waren. Vielleicht hat unser Ururururur…urgroßvater seine Kleine für die Flitterwochen mit hierher mitgenommen, genauso wie wir beide heute hier stehen.“ – Die Wahrscheinlichkeit war in all den winzig kleinen, halb ausgestorbenen Dörfern und Siedlungen gering, dass unmittelbare Verwandtschaft vorm Untergang der Zivilisation auf dem gleichen Fleck Erde gewandert war, durch das auch sie auf ihrer Reise gekommen waren. Doch hier, in einer solch berühmten Stadt der man sogar Lieder widmete, zu einer Zeit die mehr zu bieten gehabt hatte als Kutschen, überteuerte Zeppeline und kaum erschwingliche Boote…
„Irgendjemand aus unserer Familie hat vielleicht mit seinem Kind da unten am Strand gespielt und später, als die Welt in Flammen stand, hat er sich durchgebissen und dadurch dafür gesorgt, dass wir heute hier stehen und durch seine Fußstapfen laufen können.“
Was da vor ihnen lag war mehr als ein paar pyramidenförmig aufeinander gestapelte Steine am Rande der Welt, mit denen niemand etwas anfangen konnte und die nach nicht mehr klangen als etwas, das ein besoffener Märchenschreiber sich ausgedacht hatte. Was vor ihnen aus dem Ufer ragte war greifbar – und das machte es für Clarence auf eine Art und Weise magisch, wie weit über die Allgemeinheit einer seit über einhundert dreißig Jahren vergangenen Zivilisation hinaus ging.
„Ich plädiere schwer dafür, dass wir uns gleich das Essen an Deck holen und ich hier oben einen Schlachtplan zur Eroberung ausarbeite, während Prinzessin Immerschön ihr Handtuch ablegt um währenddessen gut auszusehen. Das lässt mich nämlich für gewöhnlich besonders konzentriert arbeiten, musst du wissen“, versicherte Clarence seinem Geliebten scheinheilig und natürlich absolut uneigennützig, immerhin ging es bei diesem Plan ja hauptsächlich darum, ihr eigenes Wohl trotz Abenteuer zu Land nicht zu gefährden – und eben weil dem so war, begannen seine Finger schon jetzt voller Tatendrang an der knappen Bekleidung seines Gegenübers herum zu nesteln um der Schönen aus dem Festtagskleid zu helfen.
Aaabsolut uneigennützig, wie gesagt.
Prinzessin Immerschön war weder das Eine noch das Andere. Ersteres von Geburt an nicht und Letzteres spätestens seit dem Steinwurf einer gewissen Fischertochter nicht mehr. Doch präzise Treffer hatte mehr getan als ihm nur einen weiteren optischen Makel am Kopf verpasst. Viel hatte nicht gefehlt und er wäre in jenem vermaledeiten Dorf gestorben und was die Sehkraft seines in Mitleidenschaft gezogenen Auges anging, so waren die Auswirkungen für ihn noch immer gegenwärtig. Was passiert war hätte den jungen Mann leicht in eine Sinnkrise stürzen können und hatte es zum Teil sicher auch getan.
Aber sein Mann hatte in den zurückliegenden Wochen viel dafür gegeben, dass Cassiel über seine in den letzten Monaten inflationär gesammelten Narben nicht zu sehr verzweifelte.
Auf seinem gesamten Körper konnte man Narben finden, seinen Rücken zierten helle Linien die von Hieben und Schnitten herrührten. An seinen bunten Schultern und Armen konnte man die Narben kaum merklich sehen, dafür aber fühlen. Egal ob am Nacken, Rücken, Rippenbögen und sogar Fußsohlen – Narben hatte der junge Mann genug am drahtigen Leib. Sein Gesicht hingegen war beim Ablegen aus Coral Valley nahezu unversehrt und frei von Malen gewesen, bis auf eine kleine Schmarre an der Augenbraue und der fehlenden Ohrspitze.
Es hatte nur zwei Inseln gebraucht um aus dem auf den ersten Blick makellosen Schnösel einen Burschen zu machen, dem man schon von Weiten ansah das er sich von Ärger nicht unbedingt fern hielt – denn Narben wie die Seinen bekam man nicht wenn man in der Kirche mal hinfiel.
Für Clarence hatte sich jedoch nichts geändert. Er liebte und begehrte ihn nicht weniger als vor den Ereignissen der jüngeren Vergangenheit und im Laufe der zurückliegenden Tage und Wochen hatte Matthew sich mit seinem neuen Spiegelbild soweit arrangiert, dass er Clarence nicht vorwarf ihn zu verarschen, wenn er ihm absurde Komplimente machte.
Als sein unkonventioneller Prinz mit seinen Gedanken bezüglich des Anblicks der Geisterstadt rausrückte, fing er sich von Immerschön einen musternden Blick ein. Prüfend schaute der Dunkelhaarige in das markante Gesicht des Hünen hinauf und suchte in dem vertrauten Antlitz ein albernes Funkeln oder ein dummdreistes Grinsen das zu verbergen versucht wurde. Aber trotz intensiver Prüfung, konnte Matthew kein verräterisches Zeichen feststellen, dass der Blonde ihn gerade auf den Arm wollte.
Die sentimentalen und ungewohnt tiefgründigen Gedanken von denen Clarence vorgab sie gehegt zu haben, schienen ihm wirklich durch den Kopf gegangen zu sein, woraufhin Matthew sich auch wieder dem Anblick der Stadt zuwandte. Begleitet wurde dies mit einem nachdenklichen „Hm“.
Ob nun ihre Vorfahren mal hier gewesen waren, ob sie vielleicht sogar hier gelebt und gearbeitet hatten, konnte natürlich niemand mehr wissen und auch nicht herausfinden. Denn was auch immer die Zivilisation von damals ausradiert hatte, es war gründlich gewesen. Die Vorstellung das es so gewesen war, war bedrückend, weil es die namenlosen und fremden Toten irgendwie realer machte und sie dem Jüngeren ungewollt näherbrachte.
Vielleicht lag Clarence richtig – und irgendwann war jemand aus ihrer Blutlinie hier gewesen, hatte auf den weißen Strand geschaut so wie sie es jetzt taten. Und vielleicht hatte sich dieser jemand gefragt, ob irgendwann auf der Welt ein anderer Mensch auch an jener Stelle stehen würde um den gleichen Vorstellungen nachzuhängen.
Bei dem Gedanken an jene Menschen und Schicksale wurde Matthew schwer ums Herz. Nicht weil es eine Rolle spielte ob jemand aus seinem Stammbaum mal hier gewesen war oder nicht, sondern weil all die Menschen die einst hier gelebt, gelacht und geschwärmt hatten, untergegangen waren in Asche und Feuer. Ihr aller Lachen war verstummt und zurückgeblieben waren die Ruinen ihres Schaffens.
Schuldige und Unschuldige, Männer und Frauen, Greise und Säuglinge. Fort. Ihre Spuren verwischt von eben jener Katastrophe die alles geändert hatte.
Aus Büchern wusste Matthew, dass die Menschen von damals keine Angst vor Dämonen und Geistern gehabt hatten. In ihrem Alltag waren die Sorgen vor Wetterkapriolen wenig vorhanden gewesen, rachlustige Seelen, mutierte Kreaturen, Flüche... wenn es sie gegeben hatte, so hatten die Alten einen Weg gefunden ihre Gefahren zu bannen.
Vielleicht waren die Gefahren von heute, aber damals auch einfach nicht existent gewesen. Vielleicht waren die Nöte, welche die Menschen heute heimsuchten, die Konsequenz der Lebensweise von früher.
Nachdenklich betrachtete Matthew den Sandstrand. Er war weiß und makellos, bis auf einen rostigen Zaun, der an einer Seite verlief und in Richtung Festland ging.
Teilweise war er umgekippt und mit Sand überlagert, doch größtenteils trotzte er bockig seinem Untergang. Ob er es noch ein weiteres Jahr schaffte war fraglich.
„Hoffen wir, dass dieser Irgendjemand mit seinem Kind weit genug weg war als die Stadt gefallen ist.“, murmelte Cassiel, während er versuchte sich vorzustellen was für eine Gewalt es wohl gebraucht hatte, um diesen Ort nahezu auszuradieren.
„Ich weiß nicht ob mir diese Vorstellung gefällt.“, sagte er unvermittelt und drehte sich wieder zu Clarence um. „Dass jemand von mir hier war, meine ich. Ich bevorzuge...“, ein nachdenkliches Zögern ließ ihn innehalten, bevor er den Kopf schüttelte und die Schultern zuckte „Ach, vergiss es.“ - und damit das Thema abschloss.
Es brachte nichts darüber nachzudenken ob ihr Hiersein eine Art schicksalshafter Wiederholung glich, ob sie in die Fußstapfen von ihren Ahnen traten, ob sie am selben Ort standen wie sie und die selben Umrisse der Stadt betrachteten.
Was passiert war, war im Grunde ebenso unwichtig – denn ganz gleich was es war, es ließ sich nicht rückgängig machen und es brachte sie in ihrer eigenen Zukunft auch nicht voran. Trotzdem übten jene verlassenen Schauplätze der Alten eine ungebrochene Faszination auf Matthew aus.
All das Wissen das in den Ruinen zu finden war, all die fremdartigen Dinge die darauf warteten entdeckt und erkundet zu werden, all die Geschichten denen man nachgehen konnte .
Vor ihnen lag ein Abendteuerspielplatz der zugleich ein Grab war. Sie beide wussten das und es war ihnen beiden auch klar, dass dieser Ort auch schnell zu ihrem Grab werden konnte, passten sie nicht auf. Die Welt hatte Zähne und Klauen und sie war jederzeit bereit einen zu packen und zu zerfleischen.
Aber hatten sie deshalb Angst?
Ein Blick zu dem Schamanen neben sich ließ Cassiel lächeln. Clarence scheute kein Abendteuer, er scheute überhaupt nichts so wie Matthew ihn einschätzte und darin lag auch die Krux des Ganzen. Sie brauchten einander. Nicht weil sie nicht zum nächsten Atemzug fähig wären ohne den Anderen, sondern weil sie sich gegenseitig den Rücken freihielten - und zwar in jeder Hinsicht.
„Soso – du plädierst also für einen Plan, statt eine deiner berühmten Selbstmordaktionen zu starten..?“ – das war wirklich neu und zeigte dem Dunkelhaarigen einmal mehr, dass Clarence nicht mehr bereit war sein Leben sinnlos wegzuschmeißen.
Früher hatte jener Mann sein Ende bei jeder sich bietenden Gelegenheit herausgefordert. Er hatte immer gekämpft, hatte sich immer durchgebissen – aber so manches Mal hatte er auf Matthew am Ende enttäuscht gewirkt, wenn er es geschafft hatte und noch immer lebendig war. Und ausnahmslos immer, hatte jene Enttäuschung Matt einen Stich versetzt.
„Sollte ich dir diesbezüglich wirklich vertrauen können?“ – seine Stimme war gespielt abwägend und skeptisch, während in seinen Augen Lebensfreude funkelte.
„Hey man, nimm deine Finger da weg!“, zwang Clarence Matthew dazu sich gleich darauf zu echauffieren, denn der Jüngere wollte sein lose umgebundenes Handtuch nicht einfach hergeben. Also versuchte er es festzuhalten, klapste erst auf die unlauteren Hände des Blonden und entfachte damit doch nur einen albernen Zweikampf um das Stück Stoff.
„Du bist unmöglich! Jetzt reiß dich zusammen und hör auf mich zu drangsalieren!“ – kam es ihm entrüstet über die Lippen, wobei er wirklich dreinschaute wie ein zeterndes Prinzesschen. So dreist und unverschämt wollte er sich seinem Barbarenbärenprinzen nicht ergeben, schon gar nicht wenn dieser einen derart leicht zu durchschauenden Vorwand ins Spiel brachte. Die erwähnte 'besondere Konzentration' von der der Wildling sprach und die er behauptete zu haben, war nämlich das größte Märchen an diesem Morgen.
Clarence machte keinen Hehl daraus, dass ihm oftmals die Beweggründe und Reaktionen seines eigenen Ehemannes nicht besonders nachvollziehbar waren und noch weniger logisch.
Da stand er vor ihm, dieser sau dreiste Kerl der sich des Nachts für gefühlte Stunden darüber mokieren konnte, wenn der brave christliche Junge – der der Blonde ganz zweifelsohne war – nach einem maßlosen Akt der Begierde dazu überging zumindest seine Scham wieder durch zünftiges Beinkleid zu bedecken… und wurde plötzlich zimperlich wie eine Nonne, wenn man ihn dazu anspornte bei dem schönen Wetter doch mal ein ganz klitzekleines bisschen mehr Haut zu zeigen.
Der wiederholte Klaps auf seine dreisten Hände war beinahe schon ein Armutszeugnis welches einen zum Weinen bringen konnte, wenn es nicht eine so hinreißende Reaktion der sensiblen Prinzessin gewesen wäre. Wie ein kleines Mädchen stand dieser gestandene Mann vor ihm, schlug mit ausgestreckten Fingerspitzen auf ihn ein und bewirkte damit am Ende doch nur eines: Nämlich, dass sich Clarence‘ Finger noch fester in dem unbedeutenden Stück Stoff vergruben, von dem sein Mann befürchtete es alsbald an ihn zu verlieren.
„Ich mach doch gar nichts?!“, verteidigte der Thronerbe seine wenig royale Vorgehensweise und hätte die Prinzessin ihre Achtsamkeit auf mehr als nur ihre eigene Ehre gerichtet, wäre ihr das vielleicht sogar aufgefallen. Denn alles was der räuberische Prinz tat, war, in langfingriger Manier am Saum des fremden Tuches herum zu nesteln – den lockeren Einschlag hatte er darunter eigentlich noch in überhaupt keinster Weise gelöst. „Schaffst es nicht mal dich gegen jemanden zu wehren, der nur noch sieben von zehn Fingern besitzt. Sollte ich mir langsam Sorgen um dich machen oder es direkt bleiben lassen und lieber auf ein neues Pferd setzen?“
In selbstgefälliger Manier, die sich in letzter Zeit immer öfter auf dem Antlitz des Jägers zeigte, hatte sich ein triumphierendes Grinsen hinter dem flachsblonden Bart ausgebreitet und herausfordernd blickte er auf das zimperliche Ding vor sich hinab, welches sich durch die eigene Unruhe am Ende selbst aus dem Festtagskleid befreien würde, noch bevor Claire ernsthaft etwas dazu beigetragen hätte.
Es war schon seltsam mit ihnen beiden, denn genauso wie sie sich meisterlich Zoffen konnten wenn ihnen die Laune danach stand, so ernste Entscheidungen sie auch wie zwei völlig Erwachsene treffen konnten wenn es um den andere ging, genauso waren sie im Herzen doch noch immer zwei spitzbübische Jungs geblieben. Wie zwei Kinder scheuten sie keine Rangelei miteinander um völlig unbedeutende Dinge, kabbelten sich um etwas Sinnfreies wie ein Handtuch oder darum, wer von ihnen die Hand oben haben würde, wenn sie gemeinsam ihre Hochzeitstorte anschnitten. Der entrüstete Blick, der sich damals über Cassies Augen gelegt hatte kaum da er erfahren hatte welche Bedeutung hinter jener Zeremonie stand, würde der Jäger niemals für den Rest seines Lebens vergessen; die Bange um Ruhm und Ehre war einer der süßesten Ausdrücke den die Rehbraunen Augen zu bieten hatten und auch jetzt lag dieser Schimmer wieder in den vertrauten Iriden, auch wenn sein Mann ihm darunter absonderliches vorwarf.
Drangsalieren war wirklich eines der letzten Dinge die Clarence jemals mit dem Jüngeren tun würde und auch wenn die Szenerie sicher nach etwas völlig anderem aussah als die reine Unschuld, so gab es verlässlich zwei Dinge, die der Größere niemals seiner Prinzessin antun würde: Ihr Gewalt zufügen und sie zu Dingen nötigen, die überhaupt nicht in die Situation passten.
Matthew mochte anderes von ihm erwarten oder auch nicht, aber dachte der Typ wirklich, sein Bär machte ihn einfach so mir nichts, dir nichts nackig, nur weil ihm gerade danach war? Nicht nur in solchen Aspekten konnte man dem Hünen vertrauen, sondern auch in seiner neu gewonnenen Sicht auf die Dinge, die sie im täglichen miteinander umgaben.
Mit bestimmendem Zug auf dem Saum des Handtuches zog er seinen Liebsten einen Schritt näher zu sich heran, Unwillens den hauenden Patschhändchen auf seinen Fingern nachzugeben, und schmunzelte verschmitzt hinter seinem wieder sorgsam in Reih und Glied zu Recht gekämmten Bart.
„Weiß du, ich bin übrigens noch immer für ordentlich undurchdachte Selbstmordaktionen zu haben, so ist es nicht“, nahm Clarence dem Kleineren die Hoffnung aus den Segeln und schnappte spielerisch mit den Zähnen nach der frechen Nasenspitze des anderen, sie gewollt um wenige bedrohliche Millimeter verfehlend und das Tagesthema Nummer Eins damit wieder aufgreifend.
„Aber eben auch nur für das. Erweiterter Suizid liegt mir nicht besonders, das ist mir während unseres letzten Ausflugs klar geworden. Wenn du also gerne auf dem Boot bleiben willst, damit ich mich alleine um Kopf und Kragen abenteuern kann…“
Vielsagend zuckte er mit den Schultern, ganz so als sei ihm das durchaus mehr als nur recht. Wenn er schon nicht den Devils Teeth barfuß und mit nichts anderem ausgestattet als seinen Messern, ein paar Schusswaffen und wenig hilfreichen Kräutern besteigen durfte, dann ja vielleicht wenigstens einen der stählernen Berge dort draußen, wo hinter jedem zerfallenen Fenster eine riesige Mutantenbestie nur darauf wartete, ihm den Kopf von den Schultern abzutrennen. Es lagerte noch immer die ein oder andere mit Steinsalz gefüllte Hülse unter Deck und wartete darauf, endlich den halb transparenten Bauch eines Geistes zu durchlöchern wie einen Schweizer Käse; niemand von ihnen beiden konnte mit absoluter Gewissheit sagen was da draußen lauerte, aber bei Gott, der Jäger würde es herausfinden und mit Freude im Anschluss halb zerfleddert von all den Schrecken berichten, die ihm da draußen widerfahren waren.
Cassie hier in ihrem behütenden Heim zu wissen, heil und in Sicherheit, war unterm Strich aber leider kein Luxus, den sich der Blonde würde leisten können – dafür kannte er den Söldner einfach zu gut. Selbst wenn Wissen und Kunst ihn nicht gelockt hätten, so wäre es spätestens die Sorge um seinen Klotz gewesen die Matthew hinaus in die unendlichen Weiten dieser riesigen Ruinen getrieben hätten und bevor das geschah, bevor der Kerl ganz alleine dort draußen herum irrte, da nahm der Fels in der Brandung ihn doch lieber gleich von Anfang an unter seine Fittiche.
Vergnügt ob der ungewohnten Leichtigkeit mit derer der heutige Tag begonnen hatte, gab er seinem besten Freund und Geliebten einen warmen Kuss auf die zeternde Stirn, hinter welcher es im fremden Oberstübchen sicher noch immer randalierte.
Ach… es war wirklich nicht so als hätte Clarence bereits vergessen, wie ihre letzten Ausflüge ins Unbekannte geendet waren. Man mochte es ihm im Umgang mit seinem Mann weder anmerken, noch ritt er täglich durch Worte oder Fragen darauf herum, aber der Ältere wusste durchaus welchen Schaden sein wertvollster Besitz seitdem genommen hatte. Ein einziger Blick in das einst gewohnte Antlitz reichte Claire aus um ihm in Erinnerung zu rufen was in den zurückliegenden Wochen alles geschehen war und bis an ihr Lebensende würden die Male im Gesicht seines Mannes dafür sorgen ihn wissen zu lassen, dass er selbst versagt hatte. Er hatte es nicht geschafft Matthew heil durch das Feld voller Spinnen zu bringen, noch war er Manns genug gewesen ihn vor einem tollwütigen Weib mit einem Stein zu schützen, obwohl sie ihm von Anfang an nicht ganz koscher erschienen war.
Es war seine alleinige Schuld dass der Mensch den er am meisten liebte fortan gezeichnet sein würde, bei jedem Blick in den Spiegel gebrandmarkt von der Unfähigkeit des Schamanen – und trotzdem war Matthew noch bei ihm, liebte ihn, anstatt dass er ihn zum Teufel gejagt und aus seinem Leben verbannt hatte.
Wusste Cassie, wie unbezahlbar ihn das für Clarence machte? Hatte dieser Mann auch nur die geringste Ahnung, wie sehr er vom Größeren geliebt und vergöttert wurde?
Mit leisem Brummen lehnte Claire seine Nase in den noch immer nassen Schopf des Dunkelhaarigen, spähte mit ruhigem Blick über den Horizont des fremden Kindskopfes hinweg und dem endlosen Sandstrand vor ihnen entgegen. Wenngleich ihre Welt auf dem Boot auch unglaublich klein erschien, so wussten die beiden jungen Männer es doch viel, viel besser. Das Geschenk, welches Matthew ihm zur Hochzeit gemacht hatte, war ihre Fahrkarte in endlose Weiten. In Abenteuer wie sie kaum ein anderer Mensch zu Gesicht bekam, es war ihr Eintritt in ferne Länder und fremde Kulturen, sollten sie nur den Entschluss fassen über bekannte Grenzen hinweg zu reisen und das Leben, wie sie es kannten, bewusst hinter sich zu lassen; doch je ruhiger die Tage zwischen ihnen waren, umso bewusster wurde Clarence darunter auch, dass es nur eine einzige Welt gab die er noch immer nicht vollends kannte und von der es sich als einzige lohnte, sie noch vor allen anderen zu erkunden wie der erste Mensch, der jemals einen Fuß dorthin gesetzt hatte.
„Sag mir, was du bevorzugst…“ – Noch immer hielten sich seine vorlauten Finger eisern am Saum des fremden Handtuchs fest; vermutlich würde nur ein glühend heißes Schürhaken es jemals schaffen, die arme Prinzessin ernsthaft vorm drangsalierenden Barbarenbärenprinzen zu erretten.
„Statt dir vorzustellen, dass jemand von dir schon mal hier war, meine ich. Immer wenn du sagst Ach, vergiss es“ – seine Imitation von Matthew war mittlerweile ziemlich gelungen, so oft hatte der Taugenichts ihn den Satz bereits schon hören lassen, seitdem sie sich kannten. „Immer wenn du das sagst gibst du mir das Gefühl, mich von dir ausschließen zu wollen. Dabei will ich das gar nicht… nicht mehr, jedenfalls.“
Es waren noch einfache Zeiten gewesen in denen sie ihre unangenehmen Aspekte voreinander verborgen hatten, aber eben keine schönen. Liebe war einfach wenn es nur um das Hier und Jetzt und um den Schein ging. Für ‚einfach‘ war der Jäger jedoch noch nie bekannt gewesen und für schönen Schein wollte er auch nicht bekannt werden, wenn es dabei um ihn und seinen Mann ging.
„Lass mich ein bisschen an dir teilhaben, mh? An dem was du denkst und nicht nur an deinen mädchenhaften Schlägen, mit denen du nicht mal einem Baby den Lutscher klauen könntest.“
Drangsalieren war ein gewichtiges Wort, dass den Kern der Sache dessen was der Wildling veranstaltete zu etwas aufbauschte, dass es schlichtweg nicht war. Cassie war das auch sehr wohl bewusst. Clarence würde sich vermutlich eher noch selbst die restlichen Finger abtrennen, bevor er Hand an ihn legen würde. Aber Prinzessin Immerschön war ein wechselhaftes Ding und hatte das Talent zu über- oder zu untertreiben wie es ihr gefiel.
Die freche Neckerei und das Gerangel um das Handtuch fand ihren vorläufigen Höhepunkt als der Größere Matthew am eingeschlagenen Bund des Selbigen dichter an sich zog. So unmittelbar vor ihm stehend wurde ihr Größenunterschied richtig auffällig und Cassie musste sichtlich nach oben blicken um Clarence in sein markantes Gesicht sehen zu können. Auf Außenstehende mochte dies sicher bedrohlich wirken, aber Matt sah keine Gefahr wenn er Clarence betrachtete, sondern einen verdammt schönen Kerl. So unverschämt der Barbarenbärprinz nämlich auch war, so attraktiv war er gleichzeitig und das war unzweifelhaft sein Ass im Ärmel.
Die direkte Nähe zu dem vornehmen Typ machte es dem Dunkelhaarigen nicht gerade leicht, denn völlig egal wie ausufernd ihr Morgen schon begonnen hatte, der junge Mann kam auch jetzt nicht umhin sich zu dem Hünen hingezogen zu fühlen. Dass dies so war konnte man ihm allenfalls ein bisschen ansehen, aber keinesfalls anhören als er sagte:
„Auf welches Pferd du auch immer setzt… mit mir kannst du nur gewinnen, auch wenn die Quoten vielleicht was anderes sagen.“ – so selbstbewusst wie er sich gab war er gerade auch, neue Narben hin und oder her.
Clarence sah ihn nicht an als sei er ein Mängelexemplar, er machte auch keine Bemerkungen in diese Richtung oder behandelte ihn seit den Vorkommnissen als sei er ein rohes Ei.
Was passiert war, war kaum Thema zwischen ihnen gewesen. Ihr Exkurs in das Feld der Spinnen hätte sie beide beinahe umgebracht, aber sie hatten es beide vermieden explizit darüber zu sprechen.
Matthew hatte das Thema ruhen lassen, weil Clarence in den Tagen und Wochen nach seinem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit viel zu schwach und aufgewühlt gewesen war und irgendwann war der Moment einfach verstrichen. Sie hatten sich mehr oder weniger ausgeschwiegen wie es zu diesem Ereignis gekommen war, welche Konsequenzen beinahe eingetreten waren und wer an welcher Stelle vielleicht mehr Schuld trug.
Würde Clarence dem Kleineren gegenüber erwähnen, dass er sich noch immer verantwortlich fühlte und das die erlittenen Wunden die sie davongetragen hatten wegen ihm entstanden waren, so hätte Matthew ihm nicht widersprochen. Er sah es genauso, was an seiner Zuneigung, Liebe und an seinem Vertrauen allerdings gar nichts geändert hatte.
„Vergiss mal gleich wieder das du mich hier zurücklassen könntest um alleine loszuziehen. Du hast schon genug von dir eingebüßt, auf den Rest von dir muss ich aufpassen.“, sonst verlor der Kerl am Ende noch eine Hand, ein Bein oder noch schlimmer seinen Kopf. Mit einem warnenden Klacken trafen die Zähne des Größeren aufeinander, kurz vor Cassies Nasenspitze – was den Jüngeren schmunzeln ließ. „Die Sonne hat dir dein Spatzenhirn weggebrutzelt wie mir scheint.“, mokierte er sich weiter über Clarence der es wirklich wagte auch nur im Spaß auszusprechen Matthew könne ja auf dem Boot bleiben.
Der Wildling nahm diese Worte allerdings nicht persönlich und statt zu kontern, schloss er Frieden mit dem mosernden Burschen der Matthew von Zeit zu Zeit war.
Weiche Lippen, umringt von einem kratzigen blonden Bart, trafen auf Matthews Stirn und stimmten ihn augenblicklich wieder milde. So lange Cassiel in der Lage dazu war, würde er Clarence begleiten. In jedes Abendteuer das er aus Unvernunft heraus suchte, in jede Schlacht die unvermeidbar oder unnötig war und auch in den Tod wenn es denn sein musste.
Alle Liebe die Matthew empfand, empfand er für seinen besten Freund und Ehemann, eine Zuneigung so tief und allumfassend, dass der bloße Gedanke daran Clarence könne etwas zustoßen, ihn melancholisch stimmte.
„Sag mir, was du bevorzugst…“, kam es dem Blonden über die Lippen, womit er das Thema neuerlich wechselte. Den Kampf um das Badehandtuch hatte Matthew derweil eingestellt. Er duldete die eingehakten Finger nun widerstandslos, schmiegte das Gesicht gegen die Halsbeuge des Größeren und hob die Arme um Clarence zu umarmen.
Der ‚Vorwurf‘ er würde Clarence ausschließen wenn er Dinge anschnitt und dann mit einem „vergiss es“ abwürgte, war berechtigt und kam Matthew schändlich bekannt vor. Früher war er es gewesen der sich oft darüber geärgert hatte von dem Älteren ausgeschlossen zu werden. Unzählige Male hatte er ihm das vorgeworfen, hatte sich lautstark darüber ausgelassen das Clarence alles mit sich alleine ausmachte.
Jetzt hörte er den gleichen Tenor wie damals, nur das der Vorwurf dieses Mal ihm galt – und er sich das leider gefallen lassen musste.
Die Worte des Größeren waren schon ein paar gewichtige Sekunden lang ohne Erwiderung geblieben, da fing Matthew leise an zu summen. Das Lied hatte er bereits einmal für Clarence angestimmt, heute blieb es jedoch vorerst lediglich beim Summen der Melodie. Dabei begann er sich mit seinem Liebsten sanft hin und her zu wiegen, die Nähe genießend in dem Wissen, dass sie nicht selbstverständlich war.
Clarence Haut war warm, sein Geruch vertraut und geliebt, die Art wie sich seine Bewegungen anfühlten bekannt und versetzten den Jüngeren trotzdem noch immer in Schwärmerei.
„Ich will dich nicht ausschließen…“, sagte er schließlich leise gegen den Hals seines Mannes, ehe er weiter die angestimmte Melodie summte, als sei damit nun schon alles gesagt. Dass das nicht stimmte wussten sie sicherlich beide und nach einer kleinen Weile, in der er nichts getan hatte als sich mit Clarence zu dem leisen Summen zu wiegen, antwortete er schließlich.
„Es gibt nicht viel worum ich dich beneide…aber dass du deine Wurzeln kennst…ist so eine Sache. Du weißt wer deine Mutter war, du weißt wer dein Vater war, du weißt wo du geboren wurdest…wo deine Heimat ist.“ - man mochte es für übertrieben halten, doch für Matthew waren diese Dinge ungewollt wichtig. Wo seine Wurzeln lagen, wer er war und wieso er tickte wie er es tat...er wusste es nicht. Statt Erinnerungen zu haben an liebende wenn auch strenge Eltern, hatte er Erinnerungen an eine Frau die öfter mal ihn und seinen Bruder vergessen hatte zu versorgen. Dabei war sein Bruder vielleicht noch nicht einmal sein Bruder gewesen - was erklärte warum er so zeitig fortgegangen war.
Die Männer die er kennengelernt hatte waren allesamt gewalttätig gewesen. Nicht ein einziger hatte dieses Muster gesprengt und keiner von ihnen war sein Vater. Sicher gab es auf der Welt größte Probleme und schlimmere Dramen, doch das Thema ‚Familie’ war für Cassiel im Laufe der Zeit immer schwieriger geworden. Was für den überwiegenden Teil der Menschen selbstverständlich war, nämlich zu wissen woher sie kamen, fehlte Matthew. Seine Kinder- und Jugendzeit war geprägt von Gewalt, niemand hatte sich für ihn verantwortlich gefühlt, niemand hatte ihm etwas mitgegeben. Keine Familientraditionen, keine Weisheiten. Niemand hatte je zu ihm gesagt er habe die Augen seines Vaters oder das sonnige Gemüt seiner Mutter. Wer er war, konnte er nicht über seine Familie definieren und damit fehlte ihm ein wesentlicher Teil seiner selbst.
„Wenn du dich fragst…ob deine Vorfahren vielleicht mal hier gewesen sind, dann kannst du sie dir vorstellen. Sie sind längst tot und ihr habt euch nie gesehen, aber du kannst dir ausmalen wie sie gewesen sind.“ – Clarence war seinen verstorbenen Ahnen näher als Matthew seinen Eltern, das war die ernüchternde Quintessenz.
„Wenn ich an die Menschen denke die mich geprägt haben…“, er verzog angewidert und mit schmerzlichem Ausdruck in den Augen das Gesicht. „Dann würde ich mir wünschen ihre Vorfahren wären damals allesamt verreckt.“
Wer immer ihm etwas beigebracht hatte, hatte es nie im Guten getan. Lernen war in seinem Leben immer untrennbar mit Schmerz verbunden gewesen, Autorität mit Gewalt und Menschen vor denen er Respekt haben sollte und die ihn gleichsam hätten beschützen sollen, hatten ihm Angst eingeimpft und die Gewissheit allein und nichts wert zu sein.
„Ich weiß nichts über meine Eltern, geschweige denn über meine Ahnen… und ich will mir sie auch nicht vorstellen, weil ich es einfach nicht kann. Sie sind…weniger als ein Schatten für mich.“
Und nach all dem Leid das hinter ihm lag, weil er weder eine Mutter noch einen Vater gehabt hatte der auf ihn aufgepasst hatte, wusste Cassiel auch nicht mehr ob er überhaupt wollte, dass jene Schatten Namen und Gesichter bekamen. Erst recht nicht wenn eines das Gesicht seines Lehrmeisters war.
Aber es war nicht nur Rouge an den er mit Beklemmung dachte, sondern auch jene unbekannte junge Frau auf dem Foto, deren Augen so dunkel waren wie seine eigenen. Auch sie war ein Geist. Mit hübschem Gesicht zwar, aber trotzdem unbekannt und fremd.