Hafen

11. Mai 2210


Matthew C. Sky

Die Morgenluft war kalt und scharf wie ein Messer weshalb Matthew seinen Schal höher schlug. Bis über die Nase vergrub er sich in dem wärmenden Stück Stoff, sodass fast nur noch seine Augen zu sehen waren, während die obere Hälfte seines Kopfes durch die Kapuze seines Mantels bedeckt war.
Müde blickte der junge Mann über die spiegelglatte Wasseroberfläche, die nun so friedlich dalag, dass es schwer war sich vorzustellen wie aufgewühlt und tosend das Meer noch Stunden zuvor gewesen war. Scheinbar begierig darauf sie zu verschlucken. Clarence hatte sie direkt durch einen Sturm gesegelt, von dem er anfänglich der Meinung gewesen war, er würde sich bei Zeiten wieder legen - eine krasse Fehleinschätzung, denn die ganze Nacht hindurch hatte der Kampf mit Wind und Wellen gedauert, bis sie das Gröbste hinter sich gehabt hatten. Danach hatte Matthew sich hingelegt und war trotz des Wellengangs ziemlich schnell eingeschlafen.
Seither waren nur etwa zwei Stunden vergangen, dementsprechend abgekämpft blickte der Dunkelhaarige über das Wasser. Clarence hatte vermutlich überhaupt nicht geschlafen, aber seit sie von der Spinneninsel abgelegt hatten, hatte sich der Hüne auch immer weniger einschränken lassen.
Aus kleines Ausflügen und Segelpassagen waren schnell wieder weite Turns geworden und Clarence hatte allmählich wieder zurück zur alten Form gefunden. Der Genesungsprozess war zwar noch nicht abgeschlossen, aber der Schamane war definitiv wieder zu sehr er selbst, als das Matthew ihn unter einer Gäseglogge beherbergen und pflegen konnte.
Was ihn selbst anging, so war auch er fast wieder ganz der Alte. Die Wunden in Flanke und Schenkel waren weitestgehend verheilt und bereiteten ihm kaum noch Schmerzen, ganz anders als die Verätzung in seinem Gesicht - wobei auch dort eher der Anblick es war, der am meisten wehtat; denn wo einst makellose Haut gewesen war, verschandelte ihn mittlerweile eine weithin sichtbare Narbe, von der er nicht mehr glaubte sie würde verschwinden.
Die Turbulenzen der letzten Nacht steckten Cassiel noch in den Knochen als Kain und Abel über die Planken des Bootes zu ihm geliefen kamen und ihn fröhlich begrüßten, so als sei er Tage- statt Stunden - unter Deck gewesen. Im Gegensatz zu ihm, waren beide Tiere wetter- und sturmfest. Das Geschaukel der Wellen hatte ihnen nichts ausgemacht und nun, seit von dem Sturm nur noch der eisige Wind geblieben war, störten sie sich an der Kälte auch nicht.
Gähnend ging der Dunkelhaarige vor seinen Hunden in die Knie und drückte seine mit dem Schal verdeckte Nase in das warme, weiche Nackenfell von Abel, während seine mit fingerlosen Handschuhen ausgestatteten Finger durch den Pelz von Kain kraulten. „Hey ihr beiden…“, murmelte er verschlafen und spähte über Abels Rücken hinweg zu Clarence.
Der Blonde wirkte in sein Tun vertieft und dabei wieder so, wie vor dem unsäglichen Marsch in das Feld der Arachniden. Lediglich ein leichtes Hinken war ihm noch anzusehen, allerdings auch nur dann, wenn man einen Blick für dererlei Unzulänglichkeiten hatte. Davon einmal abgesehen saß jeder Handgriff wie er sitzen sollte und die Akribie mit der der Schamane das Boot lenkte, hätte Teddy sicher mit Stolz erfüllt. Während der letzten Nacht hatte der Blonde sich mehr als wacker geschlagen, hatte dem Sturm getrotzt und sie auf Kurs gehalten.
Matthew hatte getan was er konnte um seinen Teil beizutragen, aber seine Seekrankheit hatte sich auch in den letzten Wochen nicht verflüchtigt, sodass der Sturm ihn ziemlich mitgenommen hatte.
Entsprechend blass war Cassiel deshalb noch immer und auch nach zweimaligem Zähneputzen und einem Pfefferminz-Bonbon, hatte er das Gefühl das er noch immer den widerlichen Geschmack von Erbrochenem im Mund hatte. Wenn Clarence nicht noch wach gewesen wäre, bei Gott er hätte noch Stunden weitergeschlafen, aber die Vorstellung davon wie der Blonde weiter auf Achse war ohne auch nur daran zu denken mal eine Pause zu machen, hatte Matthew nach nicht einmal zwei Stunden Schlaf wieder wach werden lassen.
Dieser sture Esel von einem Mann würde eines schönen Tages noch vor Erschöpfung über die Brüstung der Harper Cordelia kippen. Ein dumpfes Platschen würde folgen…und dann Stille. Die Vorstellung, dass das oder dergleichen passieren würde, während er in Ruhe unten schlief, war einfach zu verstörend gewesen als das Matthew hatte liegenbleiben können.
Und nun hockte er auf dem Deck und musterte den Wildling, der ihn noch nicht wieder bemerkt zu haben schien und hinaus sah auf das Meer, so als wolle er es zu einem erneuten Kampf herausfordern. Und wie so oft wenn Matthew seinen Mann stillschweigend und ohne dessen Kenntnis musterte, fragte er sich wie es sein konnte das ein Mann wie Clarence, einen Mann wie ihn lieben konnte. Wo er laut war, war Clarence leise, wo er ängstlich war, war Clarence mutig. Es gab nichts, dass der Blonde scheute - weder Tod noch Teufel. Wenn er Alpträume hatte, dann nur wegen seiner Vergangenheit aber nicht etwa weil er etwas in seiner Zukunft fürchtete.
Das faszinierte Matthew, denn es führte ihm vor Augen wie anders sie waren.
In den zurückliegenden Wochen und Tagen war der Blondschopf zusehends schneller auf dem Wege der Genesung unterwegs, so hatte sich sein nuschelnder Sprachfehler wieder eingestellt, sein Hinken war fast völlig verschwunden, er konnte wieder feste Nahrung zu sich nehmen und auch sein Gedächtnis machte Fortschritte.
Noch immer erinnerte er sich nicht daran was im Spinnenfeld passiert war, aber immer öfter blieben Erkenntnisse und Gespräche vom Vortag nun auch wieder über Nacht hängen. Doch die Geheimnisse, die sie sich eines Nachmittags anvertraut hatten, die waren nicht Teil davon.
Rouge, Harriet, eine etwaige Familie Matthews…all diese Themen waren seit jenem Tag nicht wieder angesprochen worden und sie waren nicht mehr existent im Kosmos des Clarence Sky. Verschüttet und begraben, wie Gras unter frischgefallenem Schnee. Vielleicht würden sie irgendwann wieder freigelegt werden, sollte der Schnee eines Tages schmelzen. Aber im Moment sah es nicht danach aus und Cassiel hatte auch keine Versuche gestartet die Erinnerungen an besagten Nachmittag wieder zu wecken. In gewisser Weise stimmte ihn das Vergessen des Größeren traurig, denn so wusste er nicht, wie nah sie einander eigentlich schon waren. Auf der anderen Seite war er froh das Clarence seine Erinnerungen nicht teilte. Er hatte ihn mit nach White Bone genommen, hatte ihm erzählt vom Tod seiner Freunde und von den Wendigo – beunruhigende, grausame Geschichten die Matthews Gedanken umwölken würden bis er irgendwann keine Gedanken mehr hegen konnte. Aber Clarence war frei von den Geistern aus Matthews Vergangenheit – und das war eine gute Sache.
Schweigend erhob sich der Dunkelhaarige schließlich und löste sich damit notgedrungen von den beiden felligen Wärmflaschen, die er hier draußen gut hätte gebrauchen können. Im Bauch des Bootes herrschten heimelige Temperaturen, dafür jedoch kam es Matthew draußen jetzt umso kälter vor – ganz davon abgesehen das ihn die letzten Nacht komplett durchgefroren hatte.
Die Hände zum Schutz vor dem beißenden Wind in seinen Manteltaschen vergraben, machte er sich auf den Weg über Deck und bis zur Reling, wo der Blonde stand und über das Wasser blickte. Nebel kroch über die nur leicht gekräuselte Oberfläche und tauchte den Morgen in eine gespenstische Szenerie. Der Himmel war fleckig und wies eine kuriose Mischung diverser Farben auf. Hellblau, rosa und gelb – an den Stellen wo die Wolkendecke aufgebrochen war und die Morgensonne streifig ihre Strahlen aussendete, nur damit diese dann vom Nebel verschluckt wurden.
Die Wolken selbst waren dunkelblau, grau und violett und schienen noch immer schwer von Schnee und Regen.
In die Stille des Morgens, die bisher vollkommen gewesen war, mischte sich vereinzelt ein lang vermisstes Geräusch: das Kreischen von Möwen.
„Sag bloß du gibst deinen Versuch, uns alle im Meer zu versenken, für heute auf.“ – begrüßte er seinen Mann mit einem Seitenhieb, wobei seine Stimme gedämpft von dem Schal war, der sein halbes Gesicht einnahm.
Sie hatten schon vor einigen Tagen beschlossen wieder Land anzusteuern um ihre Vorräte an Medikamenten und frischen Nahrungsmitteln aufzustocken, aber um ehrlich zu sein hatte Matthew nicht damit gerechnet, dass sie trotz Sturm auf Kurs geblieben waren. Doch die Möwen bewiesen, dass ein Hafen in relativer Nähe sein musste.


Clarence B. Sky

Man konnte Clarence Bartholomy Sky viel nachsagen. Dass er ein sturer Esel war zum Beispiel, oder aber, dass er auf Abenteuer und Gefahr weit mehr Wert legte als auf seine eigene Unversehrtheit.
Doch was man dem blonden Mann, der dem Sprichwort über stille Wasser alle Ehre machte, auch nicht absprechen konnte, das war seine einzigartige Fähigkeit sich den aktuellsten Begebenheiten anzupassen.
So schnell wie er im gemütlichen und behüteten Coral Valley der Völlerei anheimgefallen und im warmen Käseglocken-Bauch der Harper Cordelia zu einem wahren Faultier mutiert war, das am liebsten den halben Tag verstreichen ließ ohne effektiv etwas zu tun, so schnell fand er auch zu altem Elan zurück, kaum dass die Zeit dafür gekommen war.
Vieles mochte seit seinem unbekannten Unfall im Dunkeln liegen was seine Erinnerung anging und auch seine zittrigen Hände mochten ihm dann und wann die angestrebten filigranen Tätigkeiten verwehren. Doch Clarence, schon immer mehr ein Mann der Tat anstatt vieler großer Worte, schien niemals jene Dinge zu verlernen, die ihm jemand geduldig und aufopfernd eingebrannt hatte.
Der erste offizielle Tag zurück an Deck ihrer kleinen Segelyacht und durch die Erlaubnis seines Mannes die imaginäre Kapitänskappe wieder auf dem blonden Schopf, war einem Befreiungsschlag geglichen nach all den unzähligen düsteren Tagen, die er in seinem Patientenbett hatte verbringen müssen. Segel hissen, Vertäuen, über den Seekarten gebeugt am Esstisch sitzen und ihre Route berechnen – genauso wie Teddy es einst schon prophezeit hatte, wirkte Captain Clarence nicht, als wäre er jemals einem anderen Beruf nachgegangen. Sein Dasein als Jäger oder Schamane schien einem wilden Gerücht zu gleichen welches nichts anderes war als eben das; ein Leben zu Wasser stand dem jungen Mann ausgesprochen gut, der sich nie etwas anderes gewünscht hatte als ein Mal in seinem Leben das Meer mit eigenen Augen zu erblicken.
Ganz anders sah das bei seinem angetrauten Ehegatten aus, der zwar wacker die stürmische Nacht durchgestanden, sich aber alsbald hinunter ins gemeinsame Bett verkrochen hatte, kaum da er die nun wesentlich ruhigere Arbeit gewissenhaft dem Älteren hatte übertragen können.
Natürlich war es keine böse Absicht seitens des Blonden gewesen sie mitten durch einen Sturm hindurch zu leiten anstatt rechtzeitig sicheres Ufer anzusteuern – das war es weder heute, noch vor wenigen Wochen gewesen, als sie aus Coral Valley abgelegt hatten. Aber… so wie Clarence dazu neigte die Gefahr zu suchen, so sehr suchte die Gefahr auch den jungen Mann, das war kaum zu bestreiten.
Scharfkantige Felsenklippen, giftige Arachniden, potentiell tödliche Stürme auf hoher See; es gab für den gläubigen Christen wahrlich nichts Aufregenderes als Situationen die einem das Adrenalin in die Blutlaufbahn schießen ließen und eben jener zweifelhafte Charakterzug war es auch, der ihn des Öfteren blind werden ließ für die Gefahren die vor ihm lagen und die Unpässlichkeit, die dadurch bei seinem eigenen Mann einher ging.
Selbst nun, den vergangenen Tag und die zurückliegende Nacht ohne Pause durchgesegelt, die Finger bereits so eisig kalt dass er kaum mehr die rauen Seile in seinen Händen spürte und helle glitzernde Eiskristalle aus rauschender Gischt in seinem zerzausten Bart, fiel es Clarence nicht mal im Traum ein, irgendeine aufkeimende Müdigkeit zu verspüren. Die hohen Wellen, welche die beiden jungen Männer über Stunden hinweg in Schach gehalten hatten, waren unlängst glatter Oberfläche gewichen und doch hatte die Ruhe des Meeres nicht etwa auch auf den Jäger abgefärbt… zum Leidwesen seines Mannes, ganz gewiss.
Längst war sein Kännchen mit einstmals heißem Tee geleert und das Hauptsegel auf Wunsch des Dunkelhaarigen eingeholt worden kaum da jener das Deck verlassen hatte um sich zu ruhen, was die Harper Cordelia ebenmäßig und träge über die dunkle Oberfläche des Wassers gleiten ließ, anstatt sich weiterhin über offene Weiten zu hetzen. Wenn man nicht gerade an Seekrankheit litt, ein wohl harmonischer Anblick für jedermann der ein Auge für die Schönheit der Natur besaß und ob man es dem verwilderten Barbaren zutrauen mochte oder nicht: Das hatte er.
Schweigend stand der Hüne an der Reling des Bugs, das Steuerrad blockiert damit die langsame Fahrt einigermaßen geregelte Bahnen zog, und ließ das Tau welches sie zum Anlegen benutzten Schlaufe für Schlaufe durch seine unvollständigen Finger gleiten, um langsam aber sicher wieder Ordnung auf ihr Deck zu bekommen. Manche der in wilder Hektik nur unsicher in den dafür vorgesehenen Aufhängungen verwobenen Seile hatten sich im Sturm gelöst und hätte Teddy ihnen bei der Konstruktion des Hochzeitsgeschenks im Boden nicht diverse Klappen eingebaut unter denen sich Stauraum befand, bei Gott, sicher hätten sie die Hälfte ihres Materials schon längst verloren so wagemutig wie Captain Clarence sich in die tosenden Weiten zu stürzen pflegte. Aber wie so oft sollte auch dieses Abenteuer weitestgehend ohne Verluste bestritten worden sein, zumindest wenn man von Matthews Mageninhalt absah, der sich nicht nur einmal über die Brüstung ihres Zuhauses verabschiedet hatte.
Trotz Kälte und unterschwellig noch immer anherrschendem Wind beklagte sich Claire nicht wirklich über sein trauriges Los als angehende Eisskulptur, denn die Arbeit an Deck hatte ihn einigermaßen auf Trab und somit warm gehalten und auch der Ausblick auf baldiges Ufer ließ ihn sich mit seinen Gedanken noch immer ganz woanders befinden als bei seinen eigenen Bedürfnissen.
Möwen, echte Möwen machten sich bereits hinter den wabernden Wänden aus tanzenden Nebelschwaden bemerkbar und nur wer viel zu lange vor einer Insel des Todes angelegt hatte würde wohl wissen können wie wertvoll die leisen Schreie aus der Ferne waren. Genüsslich legte der Blonde dabei seinen Kopf ein wenig in den Nacken und schloss die Augen, während er die grobe Strickmütze ein Stück weit von den Ohren zog um besser Lauschen zu können; die Ränder seiner aufmerksamen Lauscher waren dabei nicht weniger gerötet als seine spitze Bärennase, die beinahe so aussah als hätte er sein Gesicht zu tief in den Honigtopf gesteckt und dafür vom Imker eine Tracht Prügel kassiert.
Sag bloß du gibst deinen Versuch, uns alle im Meer zu versenken, für heute auf“, mischte sich wie bestellt eine wohlbekannte Stimme unter die Rufe der Möwenschar und sorgte dafür, dass sich ein spitzbübisches Lächeln über die zersprungenen Lippen des Jägers legte. Was seine Käseglocke an dem immer vorlauter werdenden Mundwerk des Blonden geheilt hatte, hatte der unbarmherzig reißende Wind an Deck spätestens in dieser Nacht neu aufgerissen und auch wenn es schlauer gewesen wäre sich für einen solch doch recht absehbaren Fall etwas Fettcreme mit an Deck zu nehmen, so war der Schamane in vielen Fällen doch gerne etwas schwer von Begriff. Ehrenhafte Kriegsverletzung nannte man das in seinem Vokabular, was man zwar auch auf Cassies zerschundenes Gesicht übertragen konnte – es aber besser nicht tun sollte, wenn man am eigenen Leib und Leben hing.
Was aber hingegen noch immer erlaubt war und wohl auch immer sein würde, waren anderweitige schwere Seitenhiebe zwischen ihnen, die wohl nie völlig an Tradition verlieren würden: „…und wovon träumst du nachts, Weichei? Von festem Land unter den Füßen und unnachgiebigem Erdreich?“
Sachte schüttelte Clarence den Kopf über jenen Mann dem man augenscheinlich mehr zutrauen mochte, doch der den meisten bevorstehenden Ereignissen weit skeptischer gegenüber stand als beispielsweise sein älterer Gefährte es tat.
„Es ist früh am Morgen, ich hab Hunger. Und danach, wenn ich gestärkt bin und du wieder genug Munition hast um deiner neuen Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, bleiben noch genug Stunden um uns irgendwo gegen ein schönes Kliff zu manövrieren. Wirst schon sehen.“
Ob Drohung oder Prophezeiung war kaum abzuschätzen, denn so wie Claire ein Talent für das Unmögliche hatte, hielten sich beide Möglichkeiten für Hiobsbotschaften eher die Waage als alles andere.
Trotz Morddrohung spähte der Jäger nun aus einem Auge zu seinem eigentlich doch recht geliebten Mann hinüber und würde er über das andere eine Augenklappe tragen, vielleicht wäre dann das Bild vom verwegenen Geisterkapitän sogar nahezu perfekt gewesen. Gespenstisch zerteilte ihr Hauptmast den Nebel während der gruselige fingerlose Anführer alleine an Deck stand, der den Rest seiner Crew komplett auf dem Gewissen hatte; lediglich seine beiden Hunde mit Mutter aus das ewige Eis hatte er zur Gesellschaft behalten, denn diese diskutierten im Gegensatz zum Menschen nicht und würden ihm als einzige auf ewig die Treue halten. Fehlte nur noch ein unsanfter Schubs für Cassie, damit die Gerüchte der ermordeten Crew auch wirklich einen Hauch Wahrheit bekamen. Ja, das war Stoff, aus dem Geschichten gemacht wurden.
Doch wenigstens an diesem Morgen konnte Clarence sich zusammenreißen und behielt seine Hände bei sich und dem Tau welches er zusammengelegt hatte und noch immer festhielt.
„Wenn ich richtig liege und in den letzten zwei Stunden nicht spontan vergessen habe wie man Knoten berechnet, sollten wir kurz vor Cascade Hill City liegen“, erhob der Captain schließlich nach kurzem Schweigen um das Rauschen des Meeres und das Schreien der Möwen zu genießen wieder die Stimme, um seinen Mann auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. „Ich weiß, ich weiß… ich hab’s wieder hoffnungslos übertrieben. Ich schäm mich furchtbar.“
In zwei Tagen hatten sie eigentlich das kleine verschlafene Städtchen erst erreichen wollen, das seinen Namen durch den gleichnamigen Berg erhalten hatte. Im Sommer kämpften sich zierliche Rinnsäle die Bergspitze hinab und sammelten sich schließlich im Tal zu einem breiteren Fluss; unzählige Verwirbelungen dank Gestein ließen vom Boden aus das Spektakel wie wilde Wasserfälle aussehen, die in Wahrheit völlig ungefährlich waren. Ob sich im Winter das gleiche Bild bot oder die Flussbetten nahezu ausgetrocknet wirkten durch vereiste Quellen würde abzuwarten bleiben, genau wie der nächste unberechenbare Sturm, auf den Clarence bei günstiger Windrichtung einfach aufsprang um sich schneller vom Fleck fort zu bewegen.
„Ich sehe mich schon im Gasthaus sitzen, vor einem halben Schwein auf Brot mit ordentlich Butter, frischem Gemüse und Kartoffelsuppe die nur so trieft vor einer dicken Scheibe Bauchspeck… und dazu ein schöner großer Humpen heiße Milch mit Zimt und einem kräftigen Schuss Whisky. Was macht eigentlich dein Magen, Schatz?“ – war das zu viel Neckerei nach mehreren Stunden Kotzerei? Vielleicht, aber dafür machte es einfach zu viel Spaß.


Matthew C. Sky

Clarence sah nicht wärmer aus als ein Eiszapfen im Schnee, aber das schränkte ihn keineswegs darin ein an Deck zu bleiben und spitzfindige Kommentare abzugeben.
Jeder andere, der Matthew so gekommen wäre wie der Hüne es tat, hätte die unverhohlene Ablehnung des jungen Mannes geerntet und hätte sich glücklich schätzen können, wenn der Dunkelhaarige nur mit spitzer Zunge kontern würde.
Bei Clarence lag die Sache etwas anders. Er genoss das Privileg uneingeschränkter Zuneigung und Liebe und obendrein – weil er nicht nur Ehemann und Geliebter war, sondern auch Freund und Vertrauter, Matthews Nachsicht.
In den letzten zwei Wochen waren sie beide immer mehr wieder zu den Menschen geworden, die sie vor Erreichen von Coral Valley gewesen waren. Der Biss, der ihnen in der Metropole abhanden gekommen war, war zurückgekehrt und verlieh ihrer Beziehung eine eigenwillige Harschheit, mit der andere wahrscheinlich nicht zurechtkommen würden.
Ihre Sprüche gingen nicht selten unter die Gürtellinie, trieften vor Sarkasmus oder Schadensfreude.
Wo ein anderer sich beleidigt oder vorgeführt fühlen mochte, schenkten sich beide nichts und waren sich auch nicht zu fein mit unfairen Bandagen zu kämpfen.
So schlug Clarence mit beinah abartiger Boshaftigkeit in die Kerbe von Matthews Seekrankheit, was der junge Mann mit einem galanten Schulterzucken abtat. Der Blonde erging sich in seinen Fantasien über das Essen das er zu verspeisen gedachte, wobei die Auswahl und Beschreibung der Speisen bei Cassiel schon wieder für Übelkeit sorgte. Er hatte sich eigentlich in der letzten Nacht passabel geschlagen - zumindest wenn man davon absah das er sich zweimal hatte übergeben müssen und auch ansonsten permanent blass und kränklich ausgesehen hatte. Aber trotz alledem hatte er seine Aufgaben ausgeführt und hatte Clarence unterstützt so gut es ging. Vor diesem Hintergrund war es schon reichlich unverschämt von Clarence nun neue Übelkeit heraufzubeschwören, aber nichts anderes erwartete der Dunkelhaarige von seinem ungehobelten Klotz. Die scheinheilige Frage danach wie es seinem Magen eigentlich ging, war blanker Hohn und nicht schwer als solcher zu enttarnen.
„Mein Magen ist so leer wie dein Oberstübchen, Blondie.“ – die Beiläufigkeit seiner Antwort war typisch für Matthew und besaß einen gewinnenden Unterton wie er meist den Adeligen vorbehalten war, die der festen Überzeugung waren anderen überlegen zu sein. Diese hauseigene Arroganz des Matthew Cassiel war etwas, dass noch nicht einmal ein nächtlicher Sturm auf See vertreiben konnte – und erst recht nicht der unsägliche Kapitän der Harper Cordelia. „Und wie geht es dir damit?“ Eigentlich wollte er das gar nicht wissen. Gerade interessierte sich Matthew mehr für das Gekreische der Möwen, als für das Geplapper des Älteren.
Was einst stundenlange Gewaltmärsche durch unwirkliches Gelände gewesen waren, waren mittlerweile die Segelturns. Clarence war in seinem Element und so richtig schien er erst mit sich und seinem Dasein zufrieden, wenn der Kampf wild und gefährlich gewesen war. Je stärker der Wind peitschte und je mehr er an seiner Kleidung und dem Bart zerrte, umso besser gefiel es ihm. Bei Cassiel lagen diese Dinge freilich anders, aber wie schon damals zu Fuß, fügte er sich auch auf dem Boot den Kenntnissen des Größeren.
„Wer weiß ob es wirklich Cascade ist, wo du uns hingebracht hast.“, zweifelte Matthew offen die Segelkünste des Blonden an, wohlwissend, dass er damit gegen Clarence‘ Ehre stichelte – und das hatte der Hüne noch nie gemocht.
Den Kopf etwas in den Nacken gelegt sah er nach oben in den Himmel und würdigte seinen Partner keines weiteren Blickes – still war er deshalb aber noch lange nicht. „Vielleicht ist es auch eine Insel auf der riesige Krabben leben, oder Kannibalen…oder beides.“ – das letzte Fleckchen Land das Clarence angesteuert hatte, hatte ihnen jedenfalls kein Glück gebracht und Matthew war sich nicht zu fein, diese Tatsache bei jeder sich bietenden Gelegenheit kundzutun.
„Wir werden sehen wohin du uns gebracht hast, mein kleiner blonder Freund. Aber freu dich nicht zu früh, noch sind wir nicht da – vielleicht gelingt es dir auch vorher noch, uns und das Boot zu versenken. Hast ja die ganze letzte Nacht schon hart daran gearbeitet.“
Dass das nicht stimmte wussten sie beide, aber darum ging es nicht. Um gegeneinander zu sticheln brauchten sie beide keinen besonderen Anlass.
Matthew streckte sich ausgiebig, wobei er sich auf die Zehenspitzen stellte und einmal lang hinter seinem Schal gähnte. Es war ihm ein Rätsel wieso Clarence noch so fit und ausgeruht anmutete, obwohl er die ganze Nacht hindurch auf den Beinen gewesen war.
Nun da der Hafen mit jeder Minute näher rückte und sie damit in absehbarer Zeit wieder in die Zivilisation einkehren würden, täte der Hüne vielleicht gut darin sich zumindest etwas gesellschaftstauglich zu machen, denn so wie er gerade an Deck stand sah er wahrlich aus wie aus einer Piratengeschichte entsprungen.
"Du hast Eis im Bart und in den Brauen.", stellte Cassiel schließlich fest und wandte sich dem Größeren zu. Noch immer trug er seine Kapuze und den Schal, was ihn wahrscheinlich aussehen ließ wie einen albernen Ninja - aber das war ihm herzlich egal, denn auf diese Weise war ihm zumindest nicht ganz so kalt und seine Narbe war so gut wie vollständig verdeckt, ein angenehmer Nebeneffekt.
Ungebeten hob er seine Hände aus den Manteltaschen und fing an, die Eiskristalle aus Clarence' Bart zu zupfen. Die Selbstverständlichkeit mit der er dabei zu Werke ging war das erste Indiz dafür, dass sie einander wirklich nahe standen, denn wären sie lediglich Bekannte oder lose Freunde, wäre Cassiel nie auf die Idee gekommen sich einfach dieser Sache anzunehmen.
An dem wilden Aussehen des Größeren änderte sich dadurch allerdings nicht viel. Dazu hatte der eisige Wind zu deutliche Spuren hinterlassen. Mit roten Wangen und roter Nasenspitze, zerzaustem Haar sah er nicht weniger wie der Seebär aus der er war. Das der Hüne erst seit Monaten überhaupt segelte schien schwer vorstellbar, denn erstaunlicherweise stand ihm kaum etwas so gut wie das Boot. Sobald er an Deck war, oder sich im Licht der Lampen über die Seekarte auf dem Tisch beugte, wusste Matthew, dass der Ältere für das Leben wie sie es nun führten geschaffen war. Wie viele Jahre das noch so sein würde stand freilich in den Sternen, doch sesshaft zu werden und sich einen Hof aufzubauen, dafür waren sie beide noch nicht bereit.
Im Augenblick war alles gut so wie es war und für Casssiel war die Vorstellung irgendwo anzukommen ohnehin befremdlich. Fürs Erste reichte es ihm, wenn sie in Cascade Hill City ankamen und er das Boot verlassen konnte um endlich mal wieder Schritte auf einem nicht schwankenden Boden zu setzen.
Aus dem Nebel vor ihnen schälten sich derweil allmählich die Konturen eines Hafens und auch ein anderes Boot wurde sichtbar, dass über die ruhige Wasseroberfläche trieb. Ein Fischer warf gerade sein Netz aus als die Harper Cordelia beinahe lautlos in ein paar Metern Entfernung daran vorbei glitt. Matthew hob schweigend eine Hand zum Gruß als der alte Mann Notiz von ihnen nahm. Statt ebenfalls die Hand zu heben nickte er ihnen knapp zu, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete.
Die kleine Stadt war nicht besonders bekannt, aber wenn es etwas gab wofür man Cascade Hill City kennen könnte, dann für die silbernen Wasserpfade die von der Bergspitze hinab rannen. Von denen war aktuell leider nichts zu sehen, wodurch sich der kleine Hafen und die einfachen Häuser die sich wenig später zeigten, wenig beeindruckend präsentierten.
Aber ganz gleich wie glamourös oder bescheiden sich das Städtchen auch auf den ersten Blick zeigen mochte, allein der Klang fremder Stimmen und dass geschäftige Treiben der Menschen am Hafen und auf ihren Booten, war schon Musik für die Ohren Matthews. "Passabel gesegelt, Blondie." - räumte er ein, ein vages Lob, wenn man es denn so interpretieren wollte. "Versuch ausnahmsweise den Leuten keine Angst zu machen mit deiner grimmigen Visage." - tada! Der nächste Tiefschlag, wenngleich die Quintessenz der Aussage durchaus mehr als nur ein Quäntchen Wahrheit beinhaltete, denn wann immer sie irgendwo neu hinkamen, brachte man ihnen erstmal Misstrauen entgegen - und Matthew behauptete stets stur, dass Clarence dafür verantwortlich war.


Clarence B. Sky

Obwohl die Kommentare des Blonden eindeutig unter die Gürtellinie gingen und angesichts der zurückliegenden Nacht mehr als unangebracht waren, so hieß das nicht automatisch auch, der Bär wäre nicht stolz auf sein tapferes kleines Böckchen.
Durch Böen und Wellen hatte sich der Jüngere mit ihm gekämpft, hatte Schaukeln und das Zerren des Windes ertragen wie kein zweiter – und das, obwohl ihm sein Magen kontinuierlich aufs übelste mitgespielt hatte, wie kaum zu übersehen gewesen war.
Nicht oft mochte Clarence es in den vergangenen unzähligen Monaten formuliert haben, immerhin gab es keinen Grund dazu einen Weggefährten dafür zu loben den Weg hinter sich zu bringen der so oder so zurück gelegt werden musste, aber er wusste es unumwunden zu schätzen, auf welch mutige Art und Weise der Dunkelhaarige sich den vorgeschriebenen Herausforderungen stellte. Egel wie unzulänglich die eingeschlagene Route auch war, Matthew mochte sich darüber beklagen und ihm daraufhin tagelang in den Ohren liegen, dennoch nahm er die Beine in die Hand und marschierte… beziehungsweise segelte, wie es seit wenigen Wochen treffender der Fall war. Anstatt sich zurück fallen zu lassen oder quer zu stellen, bewies er Größe und Mut und das waren zwei unübersehbare Charakterzüge, welche der Jäger ganz besonders an seinem Freund und Ehemann zu schätzen wusste.
Natürlich hätte er nun die angestrebte Beleidigung seitens des Jüngeren zu seinen eigenen Gunsten nutzen können, immerhin half ein leeres Oberstübchen recht gut dabei die ebenso leeren Worte des Taugenichts‘ zum einen Ohr rein und zum anderen gleich wieder heraus wehen zu lassen. Heute Morgen allerdings, in früher Morgenstunde, war Claire nicht danach jeder einzelnen Phrase Paroli zu bieten; dazu war er nicht nur zu abgeschlagen nach unzähligen Stunden auf offener See, sondern insgeheim auch etwas zu nachsichtig seinem geschundenen Partner gegenüber.
Müdigkeit war nicht im Geringsten sein Problem und dennoch zerrte eine generelle Kraftlosigkeit gerade dermaßen an seinen Knochen, dass vermutlich nur ein ausgiebiges Frühstück den verloren gegangenen Elan wieder herauf beschwören würde. Seitdem seine Nahrung wieder aus mehr bestand als durch den Fleischwolf gejagte Speisen, hatte Clarence auch zu seinem Appetit zurück gefunden und da beim einstmals unterernährten Schamanen das eine exponentiell zum anderen wuchs, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er es sich nicht mehr nehmen lassen würde sein Leben wieder weitestgehend selbst zu bestreiten.
Dass Matthew allerdings an dieser Art und Weise weniger zu meckern hätte als an ihrer Segelroute am frühen Morgen, war zur Zeit der jägerlichen Genesung kaum absehbar gewesen.
„Hey!“, empörte sich der ehemalige Patient und heutige Reiseführer dementsprechend, wie nicht anders zu erwarten, über die Bemängelung seiner Fähigkeiten. Mit zaghaft zusammengezogenen Brauen bedachte er seinen Nebenmann eines äußerst skeptischen Blickes und schüttelte daraufhin ungläubig den Kopf, denn aus Cassies Mund klang es beinahe so, als hätte er vor wenigen Wochen mit voller Absicht eine Insel voller potentiell tödlichen Spinnen angesteuert.
Wäre er auf Abenteuer hinaus gewesen und hätte in jenem Moment den Drang verspürt unbezahlter Arbeit nachzugehen, vermutlich hätte Clarence tatsächlich sehr bewusst an jenem verfluchten Steg angelegt, der sie mitten hinein in ihr persönliches Unheil geführt hatte. Doch so, Stunden von Unwetter hinter sich und das meiste davon ganz alleine weil sein Göttergatte es vorgezogen hatte unter Deck seine lachhafte Kränkelei auszuschlafen, konnte Cassie ihm eigentlich dafür die Füße küssen, dass sie überhaupt lebendig Land erreicht hatten. Auf der anderen Seite aber konnte man deutliche Parallelen erkennen, welche die Wahrscheinlichkeit von Mutanten am heutigen Morgen dann doch nicht gegen Null fuhren, weshalb man schlussendlich von Clarence‘ Seite aus ein schweres Seufzen vernehmen konnte. „Riesenkrabben und Kannibalen, mh? Dann lass uns besser mal gut auf die Hunde achtgeben…“
Wären die zwei Schlawiner damals nichts in aller Dunkelheit ausgebüchst, spätestens am frühen Vormittag hätten ihre Herrchen schon noch erkannt wo sie gelandet waren und hätten schnell wieder das Weite gesucht. So aber war auf das eine das andere gefolgt und nun standen sie hier, Cassie den Schal bis fast hoch zu den Augen gezogen, aus sicher weit mehr als nur dem Grund der eisigen Kälte, die bereits ebenso ihre Spuren an dem Älteren hinterlassen hatte.
Wo ihm genau Eis in den Haaren hing und wie er aussah, bei Gott, das war für Claire beinahe so interessant wie ein fallender Sack alte Rüben auf dem Markt von Cascade. Seit bald zehn Jahren kannten ihn die Leute nicht anders als er auch heute aussah und nur weil sein Göttergatte einen Faible für sein Äußeres besaß, würde sich das mit ihrer geschlossenen Ehe nicht ändern; dennoch, oder vielleicht gerade weil er wusste dass es Cassie wichtig war, hielt der Bär von Mann artig still als der Kleinere damit begann an seinem Bart herum zu zupfen.
So wie sie wieder pflegten miteinander umzugehen, mit all ihren kleinen Sticheleien und dem Necken des anderen, wäre es für Fremde wohl ein Ding der Unmöglichkeit gewesen sich vorzustellen, jene beiden Verrückten könnten zueinander gehören. Nur wer über längere Zeit hinweg wachsam blieb, würde dann und wann die kleinen Zärtlichkeiten entdecken, die nichtsdestotrotz zwischen ihnen Raum fanden um gelebt zu werden. Selbst jetzt – nach Monaten der Ehe und Wochen der gemeinsamen Einsamkeit - wusste Claire noch nicht zu sagen wie er mit ihrem neuen Status quo zurück in der Zivilisation umgehen würde; eine Frage die sich wohl oder übel spontan klären musste und welche nicht mal durch das aus dem Nebel erscheinende Fischerboot beantwortet werden konnte.
„Schleimer…“ - In alter Manier verzichtete der als eisig und grimmig bekannte Jäger darauf, den alten Fischermann durch irgendeine Geste mehr als einen bloßen Blick zur Kenntnis zu nehmen und überließ das Knüpfen unscheinbarer Sozialkontakte daher mit Vorliebe seinem Mann. Das kleine Kerlchen wurde in der Regel sowieso als wesentlich sympathischer bewertet als der Berg von Mann der an ihm dran hing und meistens nur dann den Vorzug fand, wenn Frauen mit deutlichem Hang zu Abenteuer und Gefahr zugegen waren. „Mach dir hier bloß keine Freunde, sonst hängen wir hier wieder ewig und drei Tage fest wie in Coral Valley.“
Ein schmales Lächeln konnte sich der Bär beim nächsten Tiefschlag seines Liebsten dann aber doch nicht verkneifen, denn alleine diese wenigen Worte machten deutlich, wie überaus gut Matthew ihn mittlerweile schon kannte: „Versuch ausnahmsweise den Leuten keine Angst zu machen mit deiner grimmigen Visage."
„Ich geb mein Bestes, auch wenn das nicht viel ist“, konterte der Angeklagte beiläufig und ließ es sich schließlich trotz aller Abneigung seines Partners nicht nehmen, nach dessen Schal zu greifen.
Vorsichtig zog er das Stück Stoff ein Stück hinab und noch bevor der Jüngere sich dagegen wehren konnte und klaute Cassie einen kurzen Kuss; ganz gleich wie wenig der Dunkelhaarige derartige Nähe leiden konnte nach reichlich flauem Magen auf See, so hatte Clarence als Ehemann doch immer noch gewisse Rechte und Ansprüche auf seinen Mann, die ihm eine mickrige Seekrankheit sicher nicht nehmen würde.
„Bist du wieder fit genug um mir beim Anlegen zu helfen? Ich könnte ein Paar starke Hände mehr gebrauchen.“ – Der Hafen einer Stadt war gleich ein ganz anderes Kaliber als ein alleinstehender kleiner Steg an einer verlassenen Insel; so plötzlich wie sich das Fischerboot aus dem Nebel erhoben hatte, wäre es reichlich klug sich langsam aber sicher zurück ans Steuerrad zu begeben.
Sorgsam zog Clarence seinem Geliebten den Schal zurück über die Nase und bedachte ihn eines weiteren kurzen Kusses, dieses Mal mit dem Schutz des Kleidungsstücks zwischen ihnen.
„Lass uns das Segel einholen, die Strömung steht gut. Vielleicht können wir uns einfach rein treiben lassen… das minimiert bei dem Nebel die Gefahr, dass ich uns doch noch alle umbringe. Wär schade um ein schönes Kerlchen wie dich.“ Gerade die neugierigen Welpen an Deck wären vermutlich die ersten die mir nichts, dir nichts über die Reling purzelten bei einer potentiellen Kollision, denn ihre Neugier war nach den einsamen, stürmischen Stunden unten in den Wohnräumen ordentlich geschürt worden wie es schien; zumindest hatten sie ordentlich aufgedreht, seitdem Matthew sie zum Wohle seiner Ruhe hinauf zum blonden Herrchen gescheucht hatte. Wenn die Hunde weiter solchen Spaß an den Seilen fanden, würden sie sich bald neue zulegen können.


Matthew C. Sky

Wie in einer überaus spannenden Partie Ping-Pong flogen die Bemerkungen zwischen ihnen hin und her, boten dem Anderen jedes Mal eine Möglichkeit zu kontern - und selbst wenn es nicht danach klang, so machte Cassiel diese Art des Schlagabtausch’ Spaß. Das war nicht neu, schon bei Zeiten hatte ihm das gefallen, aber seit Coral Valley war es kein Problem mehr sich das einzugestehen. Ihre Wortgefechte verliefen wie gewohnt und hätte Matthew es nicht besser gewusst, so käme es ihm bisweilen vor, als sei zwischen ihnen alles noch immer beim Alten. In gewisser Weise war es das vielleicht auch. Es hatte sich vielleicht gar nichts grundlegend zwischen ihnen geändert, sondern ihrer eigenwilligen Beziehung war einfach noch etwas hinzugefügt worden, etwas das andere nicht als Bereicherung empfunden hätten das für sie beide jedoch ganz wunderbar funktionierte.
Ein Etwas, dass ihn veranlasste ungefragt Eiskristalle aus des Blonden Bart zu zupfen und das den Hünen wiederum den anmaßenden Schritt gehen ließ, ihm einfach ohne Erlaubnis den Schal unter das Kinn zu schieben und ihm einen Kuss abzunötigen. Er nahm sich dieses ihm unbestrittene Recht mit vollkommener Selbstverständlichkeit heraus, ebenso beiläufig wie der Dunkelhaarige an Clarence’ Bart herum genestelt hatte. Und an eben diesen Kleinigkeiten konnte man ablesen wie nah sie sich wirklich standen.
Matthew ließ die Untat des Kusses über sich ergehen, allerdings warf er Clarence dabei einen überaus widerwilligen Blick zu, der ganz eindeutig seine Ablehnung zum Ausdruck brachte.
Ihm war arschkalt und der fehlende Stoff vor seinem Gesicht lud den eisigen Wind förmlich dazu ein ihn zu treffen. Mürrisch zog er seine Augenbrauen zusammen und drückte den unverbesserlichen Captain der Harper Cordelia von sich. Und als wäre der unverfrorene Kuss nicht schon genug, so hatte Clarence die Nerven ihn zu fragen ob er ihm helfen könne. Ehe er ihn sogar ein zweites Mal küsste.
Auch dieses Mal nahm der Jüngere hin, gleichwohl er die Nähebedürftigkeit am heutigen Morgen nicht teilen konnte.
„Wenn du ein weiteres Paar starker Hände brauchst, dann solltest du dir in Cascade jemanden suchen der welche hat. Ich bin dafür der Falsche.“ - so bockig wie er das sagte war nicht sicher ob Cassiel das ernst meinte oder zu Späßen aufgelegt war. Im Endeffekt tat es aber auch nichts zur Sache, denn natürlich würde er trotzdem mit anpacken.
Seine Hände muteten im Vergleich zu denen des Älteren tatsächlich nicht besonders stark an, aber das hatte ihn noch nie daran gehindert sie schmutzig zu machen.
“Die Strömung steht gut…“ echote Matthew leise, während er sich bereits den Tauen zuwandte und Clarence weiter erzählen ließ. Trotz gegenteiliger Vorwürfe und Unterstellungen glaubte Matthew nicht das der Blonde sie versenken würde, nicht jetzt beim bereitmachen zum Anlegen und auch nicht wenn er ihr Boot mal wieder durch einen Sturm trieb. Wie schon vor Monaten, als sie noch zu Fuß unterwegs gewesen waren, genoss der Wildling Matthews uneingeschränktes Vertrauen was Routen und dergleichen anging. Trotz seiner oft waghalsigen Aktionen - die nicht selten unvorsichtig und lebensmüde zu sein schienen - war der junge Mann in den allermeisten Fällen dazu bereit dem Schamanen zu folgen. “Wär schade um ein schönes Kerlchen wie dich…“ - kam es dem Blonden derweil über die Lippen und Cassiel konnte nicht umhin ihm gedanklich den Mittelfinger zu zeigen.
Vor ein paar Wochen noch hätte er mit irgendeinem Kommentar gekontert, der Clarence’ Worte unterstrich, in dem er sich selbst als wirklich wahnsinnig schönes Kerlchen bezeichnet hätte. Aber seit er Clarence’ Gesicht gesehen hatte - als dieser zum ersten Mal einen Blick auf die Verätzung seiner Wange geworfen hatte - war sein Ruf als Schönling dahin.
Der Ältere hatte zwar mit keiner Silbe gesagt, dass er ihn weniger attraktiv fand als noch vor der Begegnung mit der Riesenspinne, aber das musste er auch nicht. Dank der guten Pflege, die Clarence der Wunde seit seiner ersten Begutachtung hatte zukommen lassen, war diese recht passabel geheilt - trotzdem hatte Clarence ihm keine großen Hoffnungen bezüglich eines kompletten Verschwindens des narbigen Gewebes gemacht. Die Schmerzen welche mit der Pflege jener nach wie vor sehr empfindlichen Hautpartien einhergingen, waren für Matt nicht so schlimm wie die Ahnung, dass er sich mit der auffälligen Verätzung abfinden musste, weil sie nicht die Absicht hatte wieder zu verschwinden.
Die Narbe würde bleiben, für immer und ewig - auch das hatte Clarence zwar so nicht formuliert, jedoch wusste Matthew durchaus wie er zwischen den Zeilen lesen musste - und er kannte Clarence’ zwischen den Zeilen Handschrift sehr genau. Die Folgen dieser - wie Matthew fand - furchtbaren Entstellung, waren erstmal nicht gravierend, denn Matt hatte es unterlassen sich in Selbstmitleid zu ergehen oder seinen Partner dazu zu nötigen ihm zu sagen, dass er ihn trotz der Narbe noch immer attraktiv fand.
Offiziell tat Cassiel so, als ginge ihm das alles vollkommen am Allerwertesten vorbei und als gäbe es nicht den geringsten Anlass warum er nun an sich zweifeln sollte.
Die Wahrheit sah ein bisschen anders aus und zeigte sich dann und wann in kleinen Facetten. So vermied er es seither wann immer es ging, Clarence die narbige Gesichtsseite zuzuwenden, oder zog seinen Schal schon mal unüblich weit über das Gesicht. Kleinigkeiten die auf ihren Alltag wahrlich keinen Einfluss nahmen und die dennoch Aufschluss darüber gaben, dass Matthew sich mit seiner optischen Veränderung noch nicht angefreundet hatte. „Natürlich wäre es schade um mich, die Welt wäre wieder ein bisschen dunkler ohne mich…“, griff er das Gesagte des Blonden schließlich doch noch auf, wobei er sich gewohnt theatralisch anhörte, so als sei das ganze Leben nur ein einziger kosmischer Witz auf seine Kosten - über den er aber trotzdem aus Prinzip lachen konnte.
Nun da anhand diverser Silhouetten immer deutlicher wurde, dass Clarence sie nicht zu einer Insel gesegelt hatte, auf der Kannibalen und Riesenkrabben hausten, hellte sich die Stimmung des jungen Mannes spürbar wieder auf. Wahrlich, er liebte Clarence und die Hunde, aber wochenlang nur mit diesen drei Lebewesen auf engstem Raum verharren zu müssen, dass war etwas das Matthew einfach nicht lag.
Vielleicht änderte sich das, wenn das Segeln aufgrund von milderem Wetter und ruhiger See weniger Arbeit und mehr Vergnügen versprach, aber gegenwärtig sehnte sich der Dunkelhaarige danach endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Cascade Hill City schälte sich nach einigen Minuten schließlich vollends aus dem Nebel und die Geräusche einer belebten Kleinstadt machten das Kreischen der Möwen zu einem Hintergrundgeräusch. Matthew vertäute gerade das letzte Seil und zog es fest, da sprangen die Hunde schon von Bord und liefen aufgeregt ein paar Meter über den glitschigen Bootssteg - weiter jedoch nicht, dann warteten sie und bellten auffordernd in die Richtung von Clarence und Matt. In der Luft hing der Geruch von Algen und Meersalz und Fisch, alles in allem ein strenger aber nicht abstoßender Geruch - zumindest nicht wenn man nicht gerade einen ohnehin strapazierten Magen hatte. „Lass uns vom Wasser weg…irgendwohin wo es nicht so riecht…“, nicht das es noch etwas gab das er erbrechen könnte, aber es wäre wahrscheinlich kein sehr schöner Start in dieser Kleinstadt, wenn er erst einmal würgend und Galle spuckend über den Steg wanken würde. Clarence würde das vermutlich nichts ausmachen, denn der scherte sich für gewöhnlich um die Gedanken anderer Leute keinen Deut, aber da Matthew war immerhin der Kultivierte in ihrem kleinen Duo.


Clarence B. Sky

Am heutigen Morgen würde jeder Außenstehende ohne Frage definitiv bezweifeln, dass diese beiden eigenwilligen Männer auch eine andere Seite hatten. Eine die warm war und zärtlich, die sich nichts anderes als die Nähe des anderen wünschte und die eine fragwürdige Todessehnsucht nach sich zog, sollte einem von ihnen jemals etwas passieren.
Der rauere Part ihrer Beziehung war eigenwillig wie Clarence fand, aber für seinen Geschmack nicht negativ; mit Reibungspunkten und groben Worten hatten sie sich kennengelernt und ebenso hatten sie sich unter derartigen Floskeln ineinander verliebt. Wie etwas Vertrautes bildete es die Basis ihrer unerschütterlichen Bindung zueinander und sollten sie ihre spitzen Zungen jemals verlieren, wohl wahr, es würde definitiv etwas in ihrem Miteinander fehlen.
Mit einem gewinnenden Schmunzeln ließ der Jäger schließlich zu, dass sein Mann ihn auf dreiste Weise von sich drückte so als wäre ihm der Kuss ganz und gar zuwider – wissend, dass es zu großen Teilen lediglich an der vergangenen Nacht lag und nicht an ihm selbst. Allerdings war nicht abzusprechen, dass sich in den zurückliegenden drei Wochen eine unangenehm anmutende Komponente heimlich mit in ihren Alltag geschlichen hatte.
Seitdem Clarence zum ersten Mal die Wunde im Gesicht des Jüngeren erblickt und dabei erkannt hatte, dass die Nachlässigkeit auf Dauer ihren Tribut fordern würde, bestimmte die langsam vernarbende Wange einen nicht unermesslichen Teil ihres Umgangs miteinander; das hatte sogar Clarence gemerkt, der sonst oftmals für die Allüren seines Partners schon beinahe blind geworden war.
Nur ungern wandte sein Gefährte ihm die linke Gesichtshälfte zu, versuchte sich in Gesprächen mehr von seiner nun neuen Schokoladenseite zu zeigen und auch wenn sie miteinander intim wurden war es auffällig, dass gewisse Liebkosungen derzeit nicht mehr voll im Trend lagen.
Gerade für Claire, der mit zunehmender Selbstständigkeit auch zunehmend wieder mehr Interesse an Zweisamkeit mit seinem Geliebten fand, war es insgeheim schwierig mit dieser unterschwelligen Abweisung umzugehen. Auf der anderen Seite aber war es verständlich dass man ihn auf Distanz hielt, immerhin war Matthews Antlitz schon immer sein Aushängeschild gewesen und nun ausgerechnet an dieser wertvollen Partie seines Körpers eine Verunzierung dazugewonnen zu haben ein Manko, mit dem man erst lernen hatte umzugehen.
Wie sehr die beiden jungen Männer selbst heute noch – Monate nach ihrer Hochzeit – dazu neigten ihre Probleme mit sich selbst auszumachen, wurde anhand jener Problematik deutlich. Sie neigten dazu gewisse Dinge und Sorgen niemals laut auszusprechen und stattdessen in ihren eigenen Gedanken darüber zu versinken. Wäre dem nicht so, Cassie hätte schnell erkannt dass sein neues Äußeres keinesfalls ein Grund für den blonden Berg war um seinen Angetrauten weniger anziehend zu finden und andersherum wäre es für Claire vielleicht ein leichtes gewesen, seinem Liebsten jene Sorgen zu nehmen.
Doch stattdessen hing der dunkle grobe Schal auch heute wieder wie eine Verschleierung zwischen ihnen und sagte auch ohne viele Worte, dass es noch einige Zeit dauern würde bis die unliebsame Narbe zu einem hingenommenen Teil ihrer sonst so nahen Beziehung sein würde. Trotzdem war die derzeitige Durststrecke kein ausschlaggebender Grund für Clarence, um sich gleich ein neues Paar starke Hände in Cascade Hill City zu suchen.
Immer mal wieder unverständlich den Kopf über seinen geliebten Herrn Gemahl schüttelnd, ging auch der Jäger dem ihm zugetragenen Part ihrer Arbeitsaufteilung an Deck nach und half dabei, ihr wertvolles Heim sicher an Land anlegen zu lassen. Seile, Karabiner, Segel, Steuerrad – all das forderte ihre konzentrierte Aufmerksamkeit, nicht nur um dem teuren Boot keinen Schaden zuzufügen sondern vor allem auch um ihre teure Fracht nicht jedem Banditen zugänglich zu machen.
Teddy und sein Team leisteten eine unvergleichliche Arbeit wenn es darum ging, ein Seegelboot auch für mehr als nur den heimischen Hafen einer Metropole tauglich zu machen. Für Unwissende völlig unsichtbare Klappen verteilten sich über dem Deck der Harper Cordelia um darin zu verstauen, was man zum loslegen eigentlich dringend benötigte und selbst das unverzichtbare Steuerrad ließ sich abnehmen, um es sicher in der Schleuse zwischen Außenwelt und Wohnraum zu verstauen. Mit richtigen Schlössern war ihre Eingangstür versehen worden damit weder das ganze Segelboot, noch ihre Vorratskammer heimlich gekapert werden konnte und hätte Matthew nicht eine derart ausgeprägte Sehnsucht nach dem Festland, sicher wäre es ihm zu diesem Zeitpunkt ebenso wichtig gewesen wie dem Blonden, ihr Zuhause vor dem Verlassen des Schiffs ordentlich abzuriegeln.
Wo es nicht so riecht?“, echote der Jäger nach sicherem Vertäuen der Harper Cordelia ungläubig und verkniff es sich seine Gedanken laut auszusprechen, da sein Mann ihm nur wieder einen Strick daraus gedreht hätte. Wüsste er es nicht eindeutig besser und wäre Matthew nicht mit gewissen Dingen ausgestattet und mit anderen nicht, hätte der Schamane wohl gerade am liebsten eine mögliche Schwangerschaft in den Raum geworfen – mit den damit einhergehenden Nebenwirkungen, die er eigentlich gehofft hatte unter der Beziehung zu einem anderen Mann nicht noch einmal mit erleiden zu müssen.
„Na das kann ja was werden…“, murmelte Clarence dementsprechend verdrossen in seinen wirren Bart, während er wenigstens die nötigsten Handgriffe leistete, damit ihnen das Boot – im wahrsten Sinne – nicht in einer Nacht- und Nebelaktion geklaut wurde.
Erst als das erledigt war, tat auch der Jäger seinen ersten Schritt zum scheinschwangeren Heimchen und ihre pelzige Begleitung auf den Steg, wobei er sich im Gegensatz zu seinem Partner nur wenig über den sich kaum bewegenden Boden freute. Clarence hatte überdeutliche Freude an ihrem Boot und dem Leben auf offener See, das schwanken seines Untergrunds machte ihm nur wenig aus; doch wie die Liebe nun mal so war: Man beugte sich ihr und den Wünschen der zweiten Hälfte, auch wenn derzeit völlig ausstand, ob Cassie in diesem Szenario auch die bessere war.
„Dieses Mal werden die uns wahrscheinlich wegen dir überall rauswerfen. Danke schon mal dafür.“ – Mit erhobenen Brauen ließ der Bär seine Fingerspitzen kosend durch die Rückenbehaarung von Kain und Abel gleiten, die beinahe so taten, als wäre ihr älteres Herrchen nicht nur fünf Minuten mit dem Abbau beschäftigt gewesen, sondern gleich fünf volle Tage. „Mit dem Schal im Gesicht siehst du aus wie ein Bandit der gekommen ist, um den Männern die Frauen und Töchter zu rauben. Immerhin hab ich dann heute nichts zu befürchten.“
Nicht selten begleiteten den Berg von einem Mann düstere Blicke, abschätzig und beobachtend – denn vor diesen abgeschlagenen Wilden mit Bewaffnung, die sich Jäger schimpften, musste man sich ja immerhin in Acht nehmen. So dachte man zumindest in einigen abgelegenen Regionen ihres Kontinents, zu denen sich nur der Abschaum seiner Zunft verirrte, wenn überhaupt.
„Tu mir in diesem Fall wenigstens den Gefallen und klau dir und deiner Beute eine Kutsche und lass mir das Boot da, damit die Hunde und ich noch ein schönes Leben haben, während du dich in den Wäldern vergnügst.“ Vermutlich mit reichlich Whiskey, geräuchertem Schinken und frisch gebackenem Brot im Gepäck, sobald es dem Magen seines Geliebten besser ging.
Aber bei Gott, Clarence würde den Teufel tun und Matthew zu etwas Anstand drängen, immerhin besaß er selbst keinen und Cassie musste selbst entscheiden, wann er damit aufhörte sein Gesicht derart auffällig unauffällig hinter Kleidung zu verbergen.
Seinem dunkelhaarigen Freund einen liebevoll gemeinten Schubs in die richtige Richtung gebend, drängte Clarence seinen Vordermann den Steg entlang vor sich her, damit sie endlich vom Wasser herunter und damit auch aus den peitschenden Böen des Morgenwindes heraus kamen.
Nur wenige Menschen waren bereits wach so früh am Morgen; jenseits des hohen Nebelschleiers konnte man emsige Schatten und dumpfe laute Rufe erahnen, die nach langer Zeit das erste Anzeichen echter Zivilisation darstellten. Hafenarbeiter verluden ihre Ladung, vermutlich um alsbald in einen fangreichen Tag auf ihrem Fischerboot in See zu stechen oder anderweitige Ware in die nächste Stadt oder gar Metropole zu verschiffen. Wenige Frauen nur waren dazwischen auszumachen, vielleicht Gattinnen die ihrem Männern noch etwas mit auf den Weg gaben oder fleißige Geschäftsfrauen, welche die hungrige Meute mit Essbaren zu verpflegen suchte.
„Lass uns jemanden finden der uns sagt, ob das Boot erst mal da hinten liegen bleiben kann oder nicht“, schlug Clarence vor als sich das Ende des Steges näherte, von dem aus ihre Schritte hölzern bis zum Nebelrand schallte. Nicht wirklich hatte er Lust auf eine unliebsame Überraschung, nur weil sie einem alteingesessenen Einheimischen den Ankerplatz gestohlen hatten und dieser die gehörnte Ehefrau in sich aus dem Käfig ließ. „Danach gehen wir uns irgendwo aufwärmen und hören uns ein bisschen um, wo es hier was zu holen gibt. Ein heißer Tee für deinen Magen wäre jetzt sicher nicht schlecht und dein Captain braucht wirklich was zu essen, das war kein Scherz eben. Was sagt meine kleine Landratte zu diesem Plan?“


Matthew C. Sky

Clarence tat gut daran, seine wirren Assoziationen bezüglich einer etwaigen Schwangerschaft nicht mit Matthew zu teilen, denn der junge Mann war nach der letzten Nacht nicht zu derartigen Scherzen aufgelegt. Es war nervig genug, wenn selbst der Geruch von Algen und Fisch schon ausreichte um neue Übelkeit heraufzubeschwören, da brauchte der Dunkelhaarige nicht noch aberwitzige Vergleiche zwischen ihm und einem schwangeren Heimchen. Ob es nun Intuition, Selbstschutz oder pures Glück war, welches Clarence davon abhielt seine diesbezüglichen Gedanken zu äußern, würde auf ewig ein Geheimnis bleiben - doch Fakt war, es ersparte dem Hünen allzu leidliche Diskussionen über das Thema.
„Dieses Mal werden die uns wahrscheinlich wegen dir überall rauswerfen. Danke schon mal dafür.“ jammerte der Wildling der sich so gern Captain nannte, derweil hinter Matt herum, als würden sie nicht beide wissen, dass dem Jäger sein Beliebtheitsgrad drei Meter am Arsch vorbeiging. In Wahrheit war diese Bemerkung nur ein Versuch, geschickt ein Statement zu seinem Schal abzugeben, der weit über Matthews Nase gezogen war. Bisher hatte es der Ältere unterlassen, ihn direkt auf seine neue Vorliebe fürs Verhüllen, anzusprechen, aber das bedeutete freilich nicht, dass er nicht ab und zu eine kleine Spitze in die entsprechende Richtung machte. Aber niemals direkt…sondern immer subtil, immer so als störe es ihn ja eigentlich gar nicht.
„Falls du es dir nicht vorstellen kannst, aber der gottverdammte Wind tut weh im Gesicht und das verfluchte Salzwasser brennt.“, bot Matthew seinem Partner giftig Paroli, wobei seine Stimme durch den Stoff des Schals ziemlich gedämpft wurde und daher weit weniger schneidend klang als normalerweise der Fall. Trotzdem dürften Clarence wohl kaum die Flüche entgehen, von denen der Dunkelhaarige wusste, dass er sie nicht gern hörte. Aber weder Wind noch Salzwasser waren die Hauptgründe für seinen hochgezogenen Schal, wenngleich sie durchaus eine Rolle spielten.
„Tu du mir einen Gefallen und hör auf solchen Stuss zu labern, wir wissen beide, dass ich mir keine Kutsche klauen werde um auf dieser öden Insel zu versauern. Hier gibt es wahrscheinlich nichts und niemanden der nicht nach Fisch stinkt.“ – während er das sagte drängte sich ein pfeiferauchender Kerl an ihnen vorbei, der ein feuchtes Netz über den Steg schleifte. Der Mann warf ihnen einen abweisenden Blick zu, vielleicht weil er von Hause aus ein abweisender Mann war – vielleicht aber auch weil er Matthews wenig höfliche Worte vernommen hatte.
„Du passt schon eher hierher. Könntest den ganzen Tag auf dem Wasser spielen und so tun als verstündest du was von dem was du tust. ‘Die Strömung steht günstig‘ hier. ‘Lass uns die Segel einholen‘ da. Und natürlich mein all-time-favorite ‘das Wetter wird durchhhalten‘…“ In der Tat waren Clarence‘ Wettervorhersagen nicht mehr das, was sie vor Einbruch des Winters mal gewesen waren, was natürlich daran lag, dass das Wetter machte was es wollte.
Der keinesfalls böse gemeinte Schubs des Blonden veranlasste Matthew dazu schneller zu gehen, verfolgt von den Hunden und seinem infantilen Gatten. Die wenigen Männer und Frauen die bereits auf den Beinen waren, machten keinen Hehl daraus, dass sie ihre Ankunft bemerkt hatten. Man folgte ihnen mit den Augen, aufmerksam und skeptisch – so wie sie es nicht anders kannten. Ob es nun an Clarence finsterer Ausstrahlung der Mordlust lag, oder doch an Matthews Schal war in den Augen des Jüngeren absolut klar. „Du willst jemanden fragen ob das Boot dort bleiben darf? Gute Idee, Clarence. Gute Idee. Und was machst du, wenn jemand sagt, dass das nicht geht? Nimmst du es dann und bindest es dir für die Dauer unseres Aufenthalts auf den Buckel?“
Für Matthew war der Anlegeplatz den sie hatten, der einzige den sie brauchten – und es war ihm herzlich egal, ob irgendein Fischer dadurch seinen angestammten Platz für ein paar Stunden oder Tage einbüßte. „Oder ist das dein Versuch höflich zu sein und dir ein paar Freunde zu machen?“, stichelte er und drehte sich zu Clarence um, ein amüsiertes Funkeln in den Augen, während rückwärts weiterging.
„Bist schon verliebt in die Schönheit der Landschaft, hm?“ – zog er Clarence weiter auf, ehe er sich wieder umdrehte, gerade rechtzeitig genug um einen galanten Bogen um ein Fass zu schlagen, dass am Rande des huckelig-gepflasterten Weges stand. Von der Schönheit der Landschaft ließ sich herzlich wenig erkennen, dazu war der Nebel zu dicht und das Licht noch zu spärlich. Aber selbst unter diesen Umständen wusste Matt schon jetzt, dass die Siedlung ihn nicht umhauen würde. Musste sie aber auch nicht, besser als noch weitere Stunden auf ihrem Boot war sie allemal – zumindest vorerst. Immerhin mit einer Sache hatte der Hüne jedoch Recht: sie sollten die Augen nach einem warmen Plätzchen offenhalten, wo sie die Folgen der stürmischen Nacht etwas auskurieren konnten. Clarence brauchte was zu Essen und eigentlich auch eine Mütze Schlaf und Matt brauchte etwas Abstand zum schaukelnden Boot und vielleicht wirklich einen Tee.
„Pass auf wen du hier eine kleine Landratte nennst…“- warnte der Dunkelhaarige, ehe ihm eine fremde Stimme das Wort abschnitt und sich ungebeten einmischte.

Sally Mitchell

„Landratte oder nich‘ is‘ mir egal, euer Boot blockiert meinen Platz.“ – die Person zu der Stimme machte einen Satz über das Geländer einer schäbigen kleinen Terrasse und funkelte beide Männer an. Die fleckigen Hosenbeine steckten in ebenso fleckigen Stiefeln und Matthew war sicher, dass der Geruch von Whiskey zu ihm herüberwehte – gepaart mit dem Gestank von Fisch und Algen - als sich die Gestalt näherte. Ein von Salzflecken übersätes Hemd war mehr schlecht als Recht in den Hosenbund gesteckt worden und flatterte an einer Seite unten schon wieder heraus. Über dem Hemd wallte eine leichte Jacke die so abgetragen aussah wie der Rest der Kleidung.
Von Matthews Mimik war nicht viel zu erkennen, was an der Kapuze und seinem Schal lag, aber wäre zumindest Letzterer nicht, so hätte man sehr deutlich sein Angewidertheit sehen können, die sich mit fortschreitender Musterung der Fremden in ihm breit machte. Bei der Person handelte es sich um eine schlanke Frau mit mittellangem Haar, das ihr in feuchten Strähnen über die Schulter fiel. Es sah spröde und trocken aus. Ihr Gesicht war rundlich, sie hatte rote Wangen und eine rote Nasenspitze, abgesehen davon war sie blass und ihre Haut schuppte sich leicht an Stirn und Kinn.
„Mein Vadder is draußen auf’m Wasser und fängt Krabben, wenn der nich’ anlegen kann wo er immer anlegt, gibt’s Ärger.“ - die Fremde sah von Matthew zu Clarence und von Clarence nach unten zu den beiden Hunden. Wenn sie beeindruckt oder ängstlich war, dann ließ sie sich das nicht anmerken. Schließlich richtete sich ihr Blick wieder in das Gesicht des Dunkelhaarigen, da dieser ihr am Nächsten stand.
Sie spuckte einmal zur Seite aus, wischte sich dann über den Mund und zog deutlich vernehmbar Rotz hoch. „Scheiß Winter, wenn man nich’ aufpasst gefriert eim’ die Pisse wenn man auf’m Bottich sitzt…“, ein krächzender Laut entrang sich ihrer Kehle der wahrscheinlich ein Lachen sein sollte, während Matthew sie entgeistert anblickte.
Die Frau wischte sich nach ersterben ihres skurrilen Gelächters mit dem Handrücken über die Nase, wobei sie den Rest des Nasensekrets als schimmernde Linie über ihre Fingerknöchel verschmierte - dann streckte sie selbige Hand Matthew in freundlicher Manier entgegen, ganz so, wie es unter zivilisierten Leuten üblich war. Und Matthew? Dem drehte sich der Magen binnen weniger Stunden zum dritten Mal um und er erbrach die letzten Reste seines Mageninhalts samt Galle auf den schmutzigen Boden direkt neben sich.


Clarence B. Sky

Clarence konnte sich eben nicht vorstellen dass der gottverdammte Wind im Gesicht schmerzte und das Salzwasser brannte. Denn entweder sie befanden sich gerade beide auf verschiedenen Flecken der Landkarte oder der verwöhnte Mister Matthew Mimose Sky war mittlerweile derart überempfindlich geworden, dass seine eigene Wahrnehmung fernab jeder anderen war.
Schweigend verdrehte der blonde Berg von einem Mann die Augen und ergab sich derweil seinem traurigen Schicksal, welches er mehr oder weniger alleine sich selbst zu verdanken hatte.
Gäbe es irgendeine Möglichkeit in die eigene Vergangenheit zu reisen und schlechte Entscheidungen zu ändern, womöglich hätte Claire an diesem Morgen erstmals jene Option genutzt. Hätte sich von hinten an den vermaledeiten Zuber im Blauer Hund geschlichen, sich beschwichtigend die Hände auf die feuchten Schultern gelegt und seinem Alter Ego hektisch zugeflüstert: Lass es. Sprich nicht aus was du denkst. Du öffnest die Büchse der Pandora.
Wahrlich, eigentlich gab sich Cassies schnippische Art nicht viel im direkten Vergleich zum damaligen Miteinander, als sie nichts anderes als Weggefährten gewesen waren um sich gegenseitig die Reise zu erleichtern. Nicht selten hatte Clarence Reißaus vor seinem jüngeren Partner genommen weil dieser Dreckssack zu viel von den falschen Dingen vor sich hin schimpfte oder einem einfach generell zu sehr auf die Eier ging.
Erst Coral Valley war es gewesen, eine der schönsten Metropolen ihres Landes, welche ihnen gleichermaßen eine rosarote Brille auf die Nase gesetzt hatte um für wenige Monate zu verschleiern, wie nervtötend sie zumeist doch auf den anderen einzuwirken vermochten.
Heute aber, etliche Kilometer entfernt von jenem Ort und reichliche Schrammen, Narben und Erinnerungslücken später, schien sich – trotz vorgenommener Flitterwochen – bereits der erste rosarote Nebel wieder zu lüften, auch wenn man das vom Wetter in Cascade Hill nicht gerade behaupten konnte.
„Anstatt mir das Boot auf den Buckel zu binden, ramme ich es lieber in deine dämliche Visage und lass dich damit herum rennen“, konterte der Jäger, langsam aber sicher hörbar genervt von den Allüren seines vermummten Göttergatten. Selbst mit dem Bug eines Bootes in der zertrümmerten Nase würde Matthew besser aussehen als mit seinem seltendämlichen Schal im Gesicht, den Claire bald den Wellen übergeben würde, wenn sich sein Mann nicht bald von dieser neuen Angewohnheit distanzierte. Doch nicht nur das dunkle Kleidungsstück würde ihrer Diskussion zum Opfer fallen: „Ernsthaft. Wenn du nicht bald damit aufhörst hier herum zu menstruieren, küsst du gleich die Wasseroberfläche. Und glaub nicht, dass dich auch nur irgendeiner von uns Dreien retten wird.“
Würde Holz nicht schwimmen und seinem Geliebten damit als Rettungsboot dienlich sein, Clarence wäre nicht mal abgeneigt dem Dunkelhaarigen das ganze Fass hinterher und an die Stirn zu schmeißen, um das jener gerade noch so halbwegs galant herum gerudert war.
Seekrankheit, Erbrechen, fehlender Schlaf, Kälte – all das hin oder her, gerade war es dem Schamanen völlig egal welches Zimperchen seinem Mann gerade wieder mal auf einen seiner zahlreichen empfindlichen Nerven drückte. Immerhin bekam auch Claire die Kälte und den Hunger zu spüren, ganz zu schweigen von der Müdigkeit einer durchsegelten Nacht und auch wenn Cassie es mittlerweile vergessen haben sollte angesichts der zurückliegenden Monate, so war sein sonst eher schweigsamer Begleiter in Momenten wie diesen doch am leichtesten reizbar.
Noch weniger als Matthews chronische Logorrhoe, konnte der Jäger allerdings das gebrauchen, was er eben noch als Furcht geäußert hatte – nämlich irgendjemand Einheimischen, der in eben jenem Moment tatsächlich ihren auserkorenen Anlegeplatz für sich zu beanspruchen versuchte.
Ob es ihnen gefiel oder nicht, so versperrte die Unbekannt den beiden jungen Männern mitsamt Anhang ungefragt den Weg und machte augenblicklich ihren Standpunkt auf eine solche Weise klar, wie Cassie sie nicht mal in seinen schlimmsten Albträumen seinem wilden Barbaren zu unterstellen wagen würde.
Ausdruckslos, beinahe so als könne die junge Frau nichts anderes sein als eine wirre Fantasie seines übernächtigten Hirns, blickte der Hüne auf das Weib hinab, welches musternd die wachen Augen über die fremde Truppe gleiten ließ um schließlich doch nur wieder bei Matthew hängen zu bleiben.
Wer macht sich hier jetzt Freunde, mh?“, murmelte der Blonde stichelnd unter dem umgangssprachlichen Gebrabbel der… Dame… seinem Mann entgegen, welcher sich von exakt dieser Sekunde an besser nie mehr über die Ausdrucksweise des Clarence Bartholomy Sky beschweren sollte. Vermutlich hatte Cassie in seinem Leben nie schneller Kontakte geknüpft als an jenem Morgen und nie so sehr ein Kennenlernen bereut, zumindest dann nicht, wenn man von seiner wenig galanten Reaktion ausging.
Bei Gott, stünden die Sterne seines Lebens anders, Clarence hätte seinen Nebenmann nun wahrlich lauthals schallend ausgelacht und vermutlich am Boden gelegen mit schmerzendem Bauch. Von Glück konnte Matthew reden, dass er sich eine solche Schmach ersparte und trotzdem: Bekanntlich kam alles Schlechte was man in die Welt hinaus entsandte irgendwann wieder zu einem zurück und der dunkelhaarige Taugenichts erfuhr diese Regel genau jetzt.
Kopfschüttelnd, so als könne er sein Glück überhaupt nicht fassen, ergriff er Jäger umgehend die von Schleim gezierte Hand der Fremden und schüttelte sie dankbar, als hinge sein restliches Leben davon ab: „Bin hocherfreut die Bekanntschaft von ‘nem so schnittigen Mädel wie dir zu machen!“
Wie hieß es doch so schön? Der Feind des Feindes ist der beste Freund und wenn dem so war, dann hatte Clarence gerade den Verbündeten seines Lebens gefunden. Rotze und Fischgeruch waren ihm völlig egal angesichts seines würgenden und gequälten Mannes, dem sein sich umkehrender Magen just in diesem Moment so recht geschah wie schon lange nichts mehr.
„Musst den Trottel hier entschuldigen, hat vor drei Jahren ein Schothorn an‘n Dickschädel bekommen und tickt seitdem nich‘ mehr ganz sauber“, versuchte Clarence noch ein bisschen mehr Salz in die Wunde zu streuen, auch wenn Cassie sicher mit anderen Dingen beschäftigt war als den unaufhörlichen Seitenhieben seines Gatten zu lauschen. „Hat ihm einige Schrauben im Oberstübchen gelockert, is‘ ‘ne ziemliche Evolutionsbremse seitdem - aber hängt einem dann doch zu sehr am Herz, als dass ich ihn im Wald aussetzen könnt‘. Nimm‘ einfach nich‘ ernst wenn der was Seltsames sagt, Feivel is‘ nich‘ voll zurechnungsfähig.“
Eigentlich hatte sich der blonde Bär nicht vorgenommen hier mit irgendeiner Menschenseele ein Wort zu wechseln - außer einer Bardame verstand sich, damit er endlich zu einem ansehnlichen Frühstück kam. Doch der Tag versprach gerade richtig unterhaltsam zu werden, zumindest für den Jäger, dessen Maßstäbe für Spaß sicher völlig andere waren als jene seines Partners.
„Quentin, Quentin Blair. Krabben, hm? Wir wollten deinem Vadder seinen Platz sicher nich‘ wegnehmen, bin nur mit Feivel auf der Durchreise. Kurz was essen, kurz auf den Markt, was für die Weiterfahrt besorgen un‘ sowas. Geht das klar?“ - Sanfter als es aussah stieß er seinem noch immer vornüber gebeugten Nachbar den Ellenbogen in die Seite, mahnte ihn damit zu mehr Aufmerksamkeit. „Mensch Feivel, du Aas… reiß dich ma‘ zusammen jetz‘ un‘ kotz nich‘ immer gleich rum, nur weil du ma‘ ‘ne Frau zu Gesicht bekommst.“
Unmöglich war dieser hirngeschädigte Kamerad, jawohl!
„So’n hübsches Ding wie du“, wandte sich Quentin nun wieder an die Fremde die einigermaßen ortskundig zu sein schien, „weiß doch sicher, wo man sich hier ordentlich den Wanst voll schlagen un‘ den Trottel ein bisschen frisch machen kann, oder?“
So wie Cassie nun aussah, würde er sich kaum drei Schritte weiter bewegen als nötig. Doch um ihn trotzdem einigermaßen in Gang zu bringen und nicht vollends den Zorn der Eingeborenen auf sich zu ziehen – wer wusste wie viele Leute dann mit brennenden Fackeln und Mistgabeln um die Ecke marschiert kamen – klopfte er dem ungehobelten Wicht aufbauend auf die Schulter, in der vagen Hoffnung es brachte Cassie wenigstens einigermaßen zurück in die Senkrechte.


Matthew C. Sky

Hatte Clarence vorhin noch einen recht vernünftigen Eindruck gemacht und die Nörgeleien und das Gestichel seines Mannes mit Würde ertragen, war die Stimmung des Blonden schließlich doch noch umgeschlagen und hatte eine beachtliche Wendung hingelegt. Ganz wie es sonst Matthews Art war, gab er Contra und zielte dabei nicht weniger weit unter die Gürtellinie, als es in diesem Kaff wahrscheinlich Usus war. Das war natürlich sein gutes Recht, aber auf der anderen Seite brachte es sie beide nicht weiter. Nun waren da auf einmal zwei junge Männer, die sich gegenseitig beleidigten - und um zu ahnen wohin das führen würde, musste man nicht besonders viel Fantasie haben. Es war unbestrittene Tatsache, dass sie als Freunde und Gefährten und demnach auch als Liebespaar, nur existierten, weil sie einander ergänzten und nicht etwa weil sie auf die gleichen Befindlichkeiten, auf gleiche Weise reagierten.
Aber hier und jetzt ergänzten sie einander nicht, sondern provozierten sich gegenseitig.
Während Matthew - für seine Verhältnisse geduldig - einen großen Teil der unmöglichen Kommentare seitens des Älteren hingenommen hatte - was bei ihm nicht hieß das er sie später nicht doch nochmal aufgreifen und Clarence einen Strick aus ihnen drehen würde - ging der Blonde mit seiner Vorstellung der Fremden gegenüber eindeutig zu weit.
Selbst während Matthew noch würgte und sich vornübergebeugt den Bauch hielt, gingen die fortwährenden Beleidigungen weiter und auch wenn Clarence das Ganze wahrscheinlich gerade absolut witzig fand und sich ohne Fluch wahrscheinlich vor Lachen eingepinkelt hätte, so fand Matthew die Situation alles andere als erheiternd.
Sein Magen krampfte sich verzweifelt nochmal zusammen, nachdem er einen tiefen Atemzug gemacht hatte, bei dem ihm erneut der ekelerregende Geruch in die Nase gefahren war. Aber dieses Mal blieb es bei einem trockenen Würgen.
"Mensch Feivel, du Aas… reiß dich ma‘ zusammen jetz‘ un‘ kotz nich‘ immer gleich rum, nur weil du ma‘ ‘ne Frau zu Gesicht bekommst.“ verkündete Clarence und Matthew hätte ihm am Liebsten eine gescheuert.
Ihre letzte Prügelei lag Ewigkeiten zurück und hatte sicher irgendwo in der Wildnis stattgefunden, aus vermutlich absolut dämlichen Gründen. Seit ihrer Aussöhnung und Verlobung in Coral Valley war ihre Beziehung fast durchweg voller Harmonie gewesen, beinahe so als hätten alte Befindlichkeiten und Charaktereigenschaften innerhalb ihrer Ehe keine Berechtigung. Aber jetzt wollte Matthew gerade nichts anderes, als auf den Blonden losgehen.
Nicht nur weil der ihn vor dieser Fremden noch dümmer dastehen ließ als er das schon selbst geschafft hatte, sondern vor allem wegen der offensichtlichen Genugtuung die Clarence dabei zu empfinden schien. Diese Kombination war etwas, die Matthew auf eine Weise reizte, die früher oder später dazu führen würde, dass sie beide ein echtes Problem miteinander bekamen. Es war die eine Sache sich gegenseitig die eigene Blödheit unter die Nase zu halten, aber es war etwas vollkommen anderes, wenn man den Gefährten vor anderen lächerlich machte. Genau das machte Clarence allerdings und er tat es mit einer Vehemenz, die tief blicken ließ. Dabei wäre das nicht nötig gewesen, denn selbst wenn die ganze Farce dazu beitragen sollte, sich mit der Frau gut zu stellen, so war das ein Punkt der gar nicht wichtig war, denn sie brauchten die Sympathie der Fremden nicht.
Der als Feivel vorgestellte junge Mann wischte sich schließlich über die Lippen und richtete sich zögerlich wieder auf, wobei ihm das Haar verwegen ins Gesicht fiel. Sein Schal war von seinem Gesicht gerutscht und war wie durch ein Wunder sauber geblieben.
Die Fremde gab erneut ein trockenes Lachen von sich, als sie von Matthew zu Clarence sah, ganz so als würde der Blonde etwas unheimlich komisches erzählt haben. Und wenn man so wollte, hatte er das ja auch getan, immerhin gab er gerade die Geschichte zum Besten, wieso Feivel sie nicht mehr alle hatte.
Haha - wie war das alles witzig.
"Bist 'n bisschen langsam im Kopp? Mach dir nichs draus Feivel, ich hab 'n Cousin dem hat'n Maultier eins vorn Schädel geknallt und seither isser nich' mehr der selbe."
Ihr Mitgefühl für besagten Cousin hielt sich allerdings in Grenzen, dass sah man der jungen Frau an. "Brabbelt gern ma' wirres Zeug vor sich her und sabbert. Seine Ma' tupft ihm ständig den Sabber ab." - weitere Einblicke in das Familienleben der jungen Frau wollte Matthew nicht, weshalb sein Blick mit jedem ihrer Worte zunehmend genervter zu werden schien.
Statt darauf einzugehen was sie erzählte, hielt Feivel seinen Mund und starrte stattdessen finsteren Blickes über ihre Schulter hinweg. Der Geschmack von Erbrochenem und Galle in seinem Mund trug nicht gerade dazu bei, dass sich seine Stimmung aufhellte und das selbe galt für das Gerede von Quentin. Binnen weniger Sekunden hatte der Jäger den Slang der jungen Frau adaptiert und klang deshalb schon wie ein Einheimischer. Ein fragwürdiges Talent, aber aus irgendeinem Grund schien es dem Blonden wichtig zu sein, die Sympathie der Anderen zu gewinnen, dabei könnte sie ihm eigentlich vollkommen egal sein.

Sally Mitchell

"Weiß nich' wann mein Vadder wieder reinkommt aber sicher nich' vor heute Middag. Länger würd' ich da nich' ankern an eurer Stelle, Vadder versteht kein' Spaß wenns darum geht." - bis Mittag also durften sie dieses Kaff erkunden, wobei Matthew nicht ausschließen konnte, dass Clarence vielleicht einen neuen Anlegeplatz suchen würde nur um noch länger hier bleiben zu können.
"Klar weiß ich wo's hier was zu fuddern gibt. Bin hier geborn und aufgewachsn." - ihr Lächeln offenbarte windschiefe und gelbliche Zähne, die - und das musste man ihr wohl zu Gute halten - aber noch vollzählig zu sein schienen.
"In Eddys Bar gibt's immer was Warmes aufn Teller oder in' Becher, ist da hinten die Straße lang, kannste nicht verfehlen.", das noch namenlose Mädel redete nur noch mit Clarence, was verständlich war, wenn sich sein Kamerad ja so offensichtlich nicht ganz auf der Höhe befand. "Aber dein Freund kotzt dort besser nich' aufn Boden." - nun sah sie doch wieder zu Matthew und schenkte ihm ein tumbes Grinsen.
"Musst nich' schüchtern sein Feivel, mach dir nichts draus, ich nehm's dir nich' übel. Bist 'n armes Kerlchen, hast die Narbe von dem Vorfall mit dem Schothorn? Heiliger Bimmbamm das Ding muss dich ja echt erwischt haben! " - sie deutete vage mit dem Zeigefinger zu Matthews Gesicht und der junge Mann zuckte lapidar mit den Schultern. "Kann ich mich nicht dran erinnern...", erwiderte er schließlich lustlos, was die junge Frau dazu veranlasste bedauernd den Kopf zu schütteln.
"Haste Glück das de Quentin hast, scheint mir so!" - Matthews Blick gen Clarence sagte etwas anderes als Dankbarkeit, aber statt zu widersprechen sagte er lieber gar nichts mehr. Die ungewöhnliche Schweigsamkeit des sonst so redseligen jungen Mannes, war im Grunde die deutlichste aller Warnungen, aber das konnte die Fremde ja nicht wissen. Für sie war er einfach ein Bekloppter, nicht mehr und nicht weniger. Doch bei Quentin lag die Sache anders, weshalb sie sich nun auch wieder dem Größeren des Duos zuwandte. "Soll ich euch hinbringen? Muss eh in die Richtung zum Markt, da kann ich euch auch gleich bei Eddy absetzen, dann gibt's n' Frühstück zum halben Preis." - nach wie vor hatte sich die Frau nicht namentlich vorgestellt, aber das hinderte sie nicht daran, Anschluss zu suchen.
Möglicherweise irrte Matthew sich auch, aber für ihn wirkte es so als wolle sie sich noch ein bisschen an Quentin hängen. Wenn das so war, dann konnte sie ihn ruhig haben.


Clarence B. Sky

Unbestritten waren die beiden jungen Männer mittlerweile in ihrem eigenen kleinen Kosmos derartig gefangen, dass sie überhaupt nicht mehr empfänglich für die Befindlichkeiten ihres Partners zu sein schienen. Auf der einen Seite Clarence, dessen Laune mittlerweile in derart tiefe Abgründe versackt war dass er zum richtigen Charakterarsch mutierte, und auf der anderen Seite Cassie, der nicht zu verstehen schien, dass das letzte Körnchen Salz eines zu viel in den Wunden des Jägers gewesen war.
Selbst Tag und Nacht hätten unterschiedlicher nicht sein können als das ungleiche Paar es war, welches an diesem Morgen einen absoluten Tiefpunkt miteinander erreicht hatte. Die Harmonie, die bis vor kurzem noch ihren Alltag miteinander dominiert hatte, schien wie weggeblasen; geblieben waren zwei Individuen, die sich nach außen hin noch weniger auszustehen schienen als zu ihren schlimmsten Tagen am Beginn ihrer gemeinsamen Reise.
Bist 'n bisschen langsam im Kopp? Mach dir nichs draus Feivel, ich hab 'n Cousin dem hat'n Maultier eins vorn Schädel geknallt und seither isser nich' mehr der selbe", gab die Fremde derweil ihre ganz eigenen Erfahrungen mit solch einem Thema zum Besten, ohne dabei auch nur im Geringsten zu erahnen, dass auch die beiden Männer ihr gegenüber bis vor zwei Sekunden ganz andere gewesen waren.
Vielleicht hätte auch Matthew mal von einem Maultier eins vor den Schädel geknallt bekommen sollen, damit sich die Bauklötze in seinem Mimosen-Hirn mal wieder ordentlich in die richtige Reihenfolge katapultiert wurden. Auch ein kräftiger Schlag seines eigenen Mannes hätte dazu sicher ausgereicht, doch für eine handfeste Schlägerei wie sie es noch vor Coral Valley zelebriert hatten, reichte die Lage – noch – nicht aus.
Mit für den geübten Blick sichtbar zusammengekniffenen Augen blickte Quentin zu seinem Nebenmann hinüber und würde er nicht innerlich kochen wie es sonst zumeist nur das Meerwasser auf ihren Ofen in der Küchenzeile tat, sein sonstiger Liebster hätte ihm leid getan wie noch nie in ihrem gemeinsamen Leben.
Da stand der junge Mann nun, geplagt von seinem noch immer nervösen Magen, feuchte Flecken auf Lippen und der einen Hand und wirkte wie alles andere als das blühende Leben. Eben noch voller Vorfreude endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, hätte der Blonde schwören können seinen Herrn Gemahl sogar kurz ins Wanken kommen zu sehen, aber da konnte er sich genauso gut auch täuschen.
Vor wenigen Wochen noch, in den behütenden Armen der Metropole und eingetütet in eine pompöse Villa die ihnen sämtliche Sorgen dieser Welt von den Schultern genommen hatte, schien alles so völlig anders gewesen zu sein. Unbeschwerter, verliebter, weniger nachtragend. Aber natürlich, wie sonst in der Biologie auch, hatten ihre Hormone einen Großteil der sonstigen Streitigkeiten im Keim erstickt und mit hoher Wahrscheinlichkeit die größten Donnerwetter von vornherein gar nicht erst zugelassen.
Zwischen damals und heute, so kurz einem die Zeit rückblickend auch vorkommen mochte, lagen jedoch in Wahrheit viele viele Tage.
Tage, an denen die Realität Raum gefunden hatte um wieder auf sie beide einzuströmen und Tage, in denen sie beide auf engstem Raum in dem Bauch ihres Schiffes aufeinander gehockt und damit viel der vorherigen Illusion verloren hatten.
Heute, mehr als vier Monate nach ihrer überstürzten Hochzeit, unterband sein Mann dem blonden Bären Blicke auf sein vertrautes Antlitz, drückte ihn weg wenn Clarence Anstalten machte ihn zu küssen und stellte seine Freude sowie sein Interesse an der gemeinsam geführten Segelyacht lautstark im Hafen vor erfahrenen Seeleuten bloß, nur um auch noch seine Sorge um das gemeinsame Heim ins Lächerliche zu ziehen.
Cassie mochte das nicht sehen und natürlich bereitete es nach wie vor eine eigentümliche Freude sich gegenseitig über die weniger bedeutsamen Themen des gemeinsamen Lebens zu necken; doch in solchen Momenten, wo der Jüngere gar kein anderes Wort mehr für ihn übrig hatte außer Hohn und Spott, traf Matthew seit geraumer Zeit einen Fleck in Claires Herzen, von dessen Existenz dieser früher gar nicht gewusst hatte.
Die zurückliegenden Tage hatte sich immer mehr heraus kristallisiert wie sehr sich Cassie auf die Aussicht anderer Menschen freute und wie wenig er es nur noch genießen konnte, gemeinsam mit seinem Mann und den Hunden auf der Harper Cordelia eingesperrt zu sein. Gemeinsam mit der Tatsache – völlig außer Frage stehend – unüberlegt und völlig übereilt geheiratet zu haben: Was glaubte Matthew eigentlich, was für ein Gesamtbild sich aus all den kleinen und größeren Aspekten die letzten Tage über bei Clarence zusammengesetzt hatte?
Der Cousin der jungen Frau blieb derweil namenlos, lediglich die neue Unart grenzdebil vor sich hin zu speicheln schien ein wenig Aufmerksamkeit würdig, ähnlich wie auch Quentin noch immer auf den feuchten Fleck von Feivels Hand hinab blickte, während er aus seiner Manteltasche ein sauberes Stofftuch hervor zog und dem Kleineren entgegen hielt. Seitdem sie auf dem Meer waren und sich herausgestellt hatte wie empfindlich Cassie auf das Schaukeln bei Sturm und Wind reagierte, war es zu einer unausgesprochenen Angewohnheit geworden irgendetwas Frisches für seinen Mann am Leib zu tragen – nicht zu allen Teilen aus eigener Idee heraus, sondern vor allem weil Matthew ihm die bereits durch den Älteren vorbenutzten Stofftaschentücher schon allzu oft um die Ohren geschmissen hatte.
„Kann dir nich‘ meine Hand dafür ins Feuer legen, dass dem Eddy sein Boden besenrein bleibt. Aber wir bemüh’n uns“, tat Quentin das nötigste an Anstand kund, während das fleckige Gelb des fremden Gebisses seine Augen blendete und dadurch seine Zuwendung forderte. Wie Feivel allerdings aus der Wäsche blickte, konnte man für die Unversehrtheit des dortigen Interieurs auch nicht vollends garantieren. So würde Claire mit etwas Pech schneller einen Stuhl im Kreuz haben, als ihm jemand Vorsicht! zurufen konnte.
Der Dunkelhaarige mit dem Dachschaden zeigte sich heute tatsächlich ganz besonders schüchtern, doch von den beiden anderen konnte nur der Jäger wissen, dass dieses Verhalten von allem anderen als einer Nervosität gegenüber dem weiblichen Geschlecht her rührte. Beinahe schon gespenstisch legte sich die Stille um den Kleineren ihres Duos, ein Zustand in dem Clarence seinen Partner selten, wenn nicht sogar überhaupt noch nie kennengelernt hatte. Erfahrungsgemäß brauchte es einiges um Cassie so weit aus der Haut fahren zu lassen dass er völlig ausrastete oder sie beide sich gegenseitig an die Gurgel gingen; ob sie an einem seltenen Phänomen der Vorstufe hängen geblieben oder den Weltuntergang bereits schon überschritten hatten, war für den Hünen im Moment überhaupt nicht zu erkennen. Alles was er wusste, war, dass er an diesem Morgen zu müde war für einen lautstarken Streit und trotzdem selbst das düstere Schweigen einem Segen glich, wenn man es der Möglichkeit weiteren Spottes gegen seine Person gegenüber stellte.
„Glaub nich‘, dass dem Feivel sein Magen dem Eddy seinen Laden jetz‘ schon mitmacht. Aber so wie’de klingst, kann man den ja nich‘ verfehl’n. Nehm an, der Markt is‘ in ‘ne ähnliche Richtung, wenn das eine auf dem Weg vom and’ren liegen tut?“
Mit einer Hand gestikulierte Quentin die Straße hinab, zu der die Fremde eben noch gedeutet hatte.
„Woll’n hier ja nich‘ länger als nötig deinem Alten den Platz belegen, weißte. Bisschen was an Schotter hier lassen, Happen essen. Dann sin’wa weit vor Mittag wieder wech. – Was sagste, Feivie?“
Clarence mochte aufgedreht von Übermüdung ein absoluter Arsch sein, aber er war nicht blöd; länger als nötig mit dem wenig galanten Pack an seiner einen Seite, würde sein eigener Mann auch nicht mehr länger auf der anderen gehen. Warum sollte er auch, wenn die Gefahr des wankelmütigen Magens noch lange nicht gebannt und sein blonder Brummbär an diesem Tag äußerst miserabler Laune war.
Ob es wirklich Glück für Feivel war in dieser Phase seines Lebens Quentin an seiner Seite zu wissen, war noch immer völlig dahin gestellt, aber wenn man den vorherigen Blick des Verschmierten zu interpretieren wusste, schien dem eher nicht so. Lediglich Clarence, sich seiner überschaubaren Leistung von Beistand durchaus bewusst und wenig schambelastet, würde selbst just in diesem Moment den dreisten vorlauten Trottel neben sich gegen nichts auf der Welt eintauschen – das war so sicher wie man dem Cousin der Krabbenfischerstochter den Sabber vom Mund wischen musste.


Matthew C. Sky

Mochte ja sein, dass Matthew mit seinen permanenten Nörgeleien und dem allgemein recht abweisenden Verhalten Clarence gegenüber, diesem Unrecht tat, doch wie sollte der Dunkelhaarige wissen,wie tief er den Älteren verletzte, wenn selbiger das nicht mit ihm besprach?
Seit Wochen waren sie die einzigen zwei Menschen in ihrer kleinen Welt, sie waren abgeschottet vom Rest der Gesellschaft, frei zu tun was immer sie wollten. Doch statt gemeinsam ihre Tage mit Leben zu füllen und zusammen Routen auszusuchen, war der Alltag auf der Harper Cordelia zunehmend zu etwas geworden das sie miteinander bestritten - aber nicht miteinander teilten.
Sie hätten stundenlang miteinander reden können, aber aus irgendeinem Grund taten sie das nicht. Vielleicht weil Cassiel es im Laufe der letzten Wochen doch irgendwie Leid geworden war, Dinge anzusprechen und zu diskutieren, die am nächsten Tag doch wieder von Clarence vergessen worden waren. Selbst wenn sie sich meistens gut verstanden, so waren sie doch auf bestem Wege, ihre Gedanken wieder nur noch mit sich auszumachen.
Das wäre fatal und doch schien sich diese Entwicklung nicht mehr abwenden zu lassen, erst recht nicht wenn man sich beide jungen Männer gerade ansah.
Clarence war nicht gewillt einzulenken und Matt einfach bei Seite zu nehmen, mit seinem Slang aufzuhören und sich wieder dem zu widmen weshalb sie hergekommen waren - sich zu zweit umsehen, Kräfte tanken, es sich ein wenig nett machen.
Und Matthew war auch nicht besser. Der junge Mann hätte ebenso gut aufhören können vor sich hinzuschmollen, aber das war leider so unwahrscheinlich wie ein plötzliches Ende des Winters. In mancherlei Hinsicht waren beide Männer wie Hund und Katze und vermutlich kam die Fischerstochter gerade nicht auf die Idee, dass beide etwas anderes waren als Kumpels.
Der clevere Quentin und der dumme Feivel. Das Letzterer seinem blonden Retter Blicke zuwarf, die nicht tumb sondern böse waren, fiel ihr nicht auf oder war ihr egal. Auf jeden Fall war es ihr keinen Kommentar wert, was vielleicht aber auch daran lag, dass sie dem Größeren regelrecht an den Lippen hing und für den Kleineren daher keine Aufmerksamkeit übrig hatte.
Das Quentin das Angebot mit ihr zusammen in Eddys Bar einzukehren, ausschlug, missfiel der Dorfschönheit mit den gelben Zähnen sichtlich. Sie verzog das Gesicht und ließ die Mundwinkel hängen.
Matthew war es mittlerweile schon fast egal ob sie sich einklinkte und eine Stadtführung mit ihnen - oder besser mit Clarence - machte. Der junge Mann nahm das entgegengehaltene Taschentuch des Größeren schweigend an und wischte sich damit über die Lippen und Bart, bevor er auch seinen Handrücken reinigte. Die Situation in der er sich befand war mehr als erniedrigend und am liebsten hätte er sich nun einfach abgeseilt und sich den Rest des noch jungen Tages irgendwo allein um die Ohren geschlagen.
Dem Dialog zwischen Quentin und der jungen Frau, folgte Matthew nur noch mit einem Ohr, er stand neben den beiden wie bestellt und nicht abgeholt, oder wie ein dritter Hund - ähnlich viel Beachtung schenkte man ihm auch...Jedenfalls bis zu dem Moment als er plötzlich etwas gefragt wurde. "Was sagste, Feivie?"
Was auch immer er wozu sagen sollte, Matthew sagte gar nichts - was in gewisser Weise auch ein Statement war.
"Biste jetzt schüchtern, Feivel? Brauchste nicht sein, echt nicht. Bist nicht der Erste der mal gekotzt hat nach ner unruhigen Nacht auf See." - sie lachte wieder, dann fügte sie an "Die meisten Männer kotzen auch ohne Wellengang! Besaufen sich einfach lange genug und schon sieht man ihr Anverdautes wieder..."
Himmelherrgott, dieses Thema sorgte nicht dafür, dass Matthew sich besser fühlte, aber zum Glück gab es nichts mehr, dass er hätte erbrechen können.
"Ich bin nicht schüchtern.", erwiderte der Dunkelhaarige schließlich und klang dabei sogar einigermaßen neutral und nicht übermäßig angefressen.
Die junge Frau mochte nach Fisch und Alkohol stinken, ihr Gebiss mochte gelblich leuchten und sie war äußerst einfacher Natur, aber sie konnte wahrlich nichts dafür das seine Laune im Keller war. Sie war es nicht gewesen, die ihn angemotzt hatte und die ihn lächerlich gemacht hatte vor den Augen anderer, dass hatte sein geliebter Ehemann getan - und ja, dass nahm Cassiel ihm übel.
"Wir machen es so, wie Quentin es schon gesagt hat, immerhin ist Quentin meine Lebensversicherung hier draußen. Ich kann alleine nicht mehr so gut zurechtkommen, seit mich das Schothorn getroffen hat."
Nachdenklich nickte die unbekannte Frau, ganz so als verstünde sie vollkommen, wie es dem minderbemittelten Feivel ging. Vielleicht dachte sie an ihren Cousin, vielleicht daran wie es wäre mit Quentin eine Nummer zu schieben - was auch immer es war, was ihr durch den Kopf ging, Matthew interessierte es eigentlich nicht.

Sally Mitchell

"Aye...dann zum Markt! Is' auch kein Ding, der is' noch leichter zu finden als Eddys Laden. Einfach die Hauptstraße runter und dann links weg, könnt' dem Blöken der Schafe folgen, dann findet ihr's auch ganz schnell. Heut is' nämlich Viehmarkt! Oder ihr folgt mir, ich muss eh runter." - diese Variante schien ihr zu gefallen und hoffnungsfroh blickte sie gen Quentin.
"Oh Viehmarkt, gibt's da auch Maultiere? Nicht das mich da auch noch eins trifft wie deinen Cousin, dann ist von meinem Verstand gar nichts mehr übrig..." - die Fremde lachte auf, als hätte Matthew gerade einen überraschend guten Witz gerissen. Dass der Dunkelhaarige in Wahrheit noch immer giftig war - und Clarence das auch wissen lassen wollte - verstand sie nicht, doch das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen.
"Hast dein' Humor noch behalten, was Feivel? Brauchst kein' Schiss haben, gibt vielleicht Maultiere, aber wenn dann sin' die ja weggesperrt."
Matthew nickte und zeigte ein schmales Lächeln, was angesichts der Tatsache das er noch immer reichlich blass um die Nase war putzig und kläglich zu gleichen Teilen anmutete. "Dann ist ja gut... Dann wäre das also geklärt.", entgegnete er, doch da war die junge Frau mit ihrem Blick schon wieder bei dem Hünen hängengeblieben.
"Mein Name is' übrigens Sally, Sally Mitchell. Aber hier nennen mich alle nur Sal'."
Zack! Und schon war Matthew wieder unsichtbar, aber nun gut.
Der unsichtbare Dritte setzte sich nach einem kurzen Moment in Bewegung und folgte dem Straßenverlauf schon mal langsam, wobei die Hunde vorerst noch bei Clarence blieben, auch wenn sie unschlüssig zwischen beiden Männern hin und her blickten.
"Wo kommstn' her und kennst' den Feivi schon lang?", fragte Sally interessiert und fing an, sich eine aschblonde Haarsträhne um den Finger zu wickeln.
Ein Blick zurück über seine Schulter offenbarte Matthew, was dieser ohnehin schon befürchtet hatte: die Fischerstochter flirtete mit dem Größeren, weil sie entweder seinen Ring nicht gesehen hatte oder diesen nicht für voll nahm.
Trotz der Tatsache, dass Sally Mitchell nicht attraktiv war und Clarence überdies nicht sonderlich interessiert an Frauen, missfiel Matthew was er da sah. Wäre er nicht so absurd wütend und so lächerlich übermüdet, vielleicht hätte der Anblick der beiden sogar ausgereicht, damit er kehrt machte und wieder zu Clarence ging um die ganze Scharade zu beenden und mal die Besitzansprüche klarzustellen.
"Oh ich seh' dein Kumpi haut schon ab, unruhiger kleiner Kerl, wa'? Is' bestimmt auf Dauer nich' so leicht auf den aufzupassen, oder?" - besagter kleiner Kumpi war auf der Straße stehengeblieben und besah sich ein verstaubtes Schaufenster hinter dessen Scheibe verschiedene Waffen präsentiert lagen. Flinten, Gewehre, Wildtierfallen und sogar eine Armbrust.
Da sie im Spinnenfeld ein Gewehr verloren hatten, könnte es sich vielleicht anbieten hier für Ersatz zu sorgen, aber er hatte keine Münzen dabei - und da schloss sich der Kreis wieder, denn immerhin war das nur logisch, war er doch als minderbemittelter Feivel gar nicht in der Lage dazu mit Finanzmitteln umzugehen.


Clarence B. Sky

Natürlich bemerkte Quentin die Missgunst der jungen Dame deutlich als man nicht mit ihr Eddys Bar aufsuchen wollte, immerhin hatte der Blonde niemals zuvor einen Menschen kennengelernt, der dazu in der Lage gewesen war seine Mundwinkel tiefer hinab zu ziehen als die Unbekannte. Alleine schon der Gedanke daran diese Haut zu berühren, erschien dem Jäger unheimlich – so weich und elastisch konnte wirklich nur eine Frau sein und alles was zu diesen Wesen gehörte, war ihm sowieso nicht ganz koscher.
Trotzdem konnte er ihre Enttäuschung nachvollziehen, denn in dem kleinen Städtchen war das einzige, was Abwechslung und Ausweg aus der Tristesse versprach, sicherlich die Ankunft von Fremden. Wie oft in Hafenstädten der Fall, legte hier Publikum aus aller Welt an; einerseits um Umzuladen, aber auch um Vorräte aufzustocken wie die beiden ortsfremden jungen Männer es im Sinn hatten.
Zwei schnittige junge Kerle, im Vollbesitz ihrer Zahnreihen und einigermaßen geistigen Kräfte, waren sicher ein gefundener Leckerbissen für eine Frau wie Sally, die ansonsten schon jeden Dorftrottel aus der näheren Umgebung kannte - wenn nicht sogar schon ausprobiert hatte. Ein kleines Leckerchen für zwischendurch am frühen Morgen war ihr daher sicher nur ganz recht, auch wenn es nur zum Austausch der neuesten Neuigkeiten diente oder um einfach eine nette Bekanntschaft verlebt zu haben.
Feivel gab sich derweil eher zurückhaltend, ein Charakterzug den man nun entweder auf seine Schüchternheit, seinen vom Schothorn zerschlagenen Intelligenzquotienten oder aber auf seine Wut gegenüber dem Älteren schieben konnte. Wie man es aber drehte und wendete, letzten Endes blieb der armen Sally nichts anderes übrig, als sich an den Letzteren des illustren Duos zu halten.
„Viehmarkt, wa? Trifft sich. Feivi is‘ eh so einer, der kauft gern ma‘ spontan was dazu, was einem hinterher die Haare vom Kopf frisst. Die zwei hier war’n auch nich‘ geplant“, deutete Quentin zu den beiden Welpen hinab, die das stete Festland nicht weniger zu schätzen wussten als ihr dunkelhaariges Herrchen. Vergnügt reckten sie ihre feuchten Schnauzen in die Luft, endlich wieder etwas anders erschnüffelnd als die bereits bekannte Seeluft und das Innenleben der Harper Cordelia – und auch wenn sie ihre ersten Lebenstage selbst auf einem Markt verbracht hatten, so war sich Claire jetzt schon sicher, dass es für die beiden Quälgeister heute nichts besseres geben würde als die Gesellschaft anderer Tiere. „Is‘ nur gut, dass de ihm Angst gemacht hast vor den Maultieren. Am Ende stellt der uns noch ein Pferd an Deck, fehlt grad noch!“
Vielsagend warf er einen Blick nach vorne zu seinem Gefährten, von dessen Seite aus es die letzten Wochen erstaunlich still geworden war, was dieses Thema anging. Natürlich musste Matthew bewusst geworden sein, dass das Boot ein Pferd derzeit absolut unmöglich machte, aber bei dem Kerl wusste man nie. Hinterher kam er noch auf die Idee, man könne ein bisschen Gras vom Festland aushebeln, auf ihr Deck verpflanzen und darauf wiederum ein Fohlen großziehen.
Artig trabten Kain und Abel an seiner Seite her, scheinbar folgsam geworden seitdem sie ihre Herrchen für mehrere Tage verloren hatten beim letzten Reißaus, und folgten nicht mal dem Jüngeren ohne direkte Aufforderung. Hoffentlich hatten die vergangenen Erlebnisse diese Teufelchen auf Dauer einigermaßen artig gemacht, das würde sie zumindest davon abhalten noch einmal einen Alleingang in gefährliches Terrain zu wagen; in gemütlichem Schritttempo folgte die Karawane also dem kleinen Kumpi gen Promenade, wo Matthew stehen geblieben war wie ein kleines Kind, das sich staunend an Schaufensterauslagen labte.
Lautlos hoben sich derweil auf die gestellten Fragen Quentins Schultern unter dem wärmenden Mantel, ganz so als sei man(n) völlig machtlos was den Bewegungsdrang des Gefährten anging: „Is’n ziemlich wuschiges Ding, der Feivi. Wenn de nich‘ aufpasst, haut der dir einfach ab. Besonders wenn er angefressen is‘, is‘ ‘s schlimm – dann nimmt der glatt die Beine inne Hand un‘ lässt sich für Tage nich‘ mehr bei dir blicken. Kannste suchen geh’n, findeste nich‘ wieder.“
Hätte Sally sie besser gekannt, natürlich wäre ihr sofort aufgefallen, dass ihr Angebeteter seine eigenen negativen Eigenschaften gerade ohne Schamgefühl auf den Jüngeren abwälzte – aber wenn schon.
„Is‘ nich‘ leicht mit dem, aber was willste machen wenn de schon so lang mit wem unterwegs bist.“
Hilflos seufzte Quentin und blickte wieder von Matthew zu Sally hinüber, welche sich auf der hundefreien Seite neben ihm eingefunden hatte.
Das stürmische Wetter des Morgens schien ihre blonde Haarpracht durcheinander gebracht zu haben, jedenfalls war sie emsig dabei, ihre nicht vorhandenen Locken mit den Fingern neu zu drapieren. Erschien Clarence logisch, immerhin zeigten sich Frauen in der Regel generell nicht gerne zerzaust. Dass ihr Verhalten einen anderen Grund als diesen haben könnte – nämlich einen koketten – kam ihm gar nicht erst in den Sinn; nicht er war es, der sich in Frauen verstand, sondern sein kleiner Kumpi.
Eben jener war überdies hinaus auch der einzige, für den Clarence dahingehend überhaupt empfänglich war und so widmete er seine Aufmerksamkeit auch wieder Cassie, dem sie langsam näher kamen. Schon seit Wochen waren sie nun als Liebespaar statt Weggefährten unterwegs, eine Form der Bindung, die sie jenseits von Teddy und seiner Werft niemals breitgetreten hatten. Warum auch? In der Anonymität einer Metropole interessierte man sich keinen Deut für die Leute die neben einem durch die Straßen gingen und dem gebürtigen Fanatisten hatte das nur recht sein können. Hatte.
Seit ihrem unliebsamen Abenteuer im Spinnenfeld hatte sich einiges zwischen ihnen geändert, auch wenn man das am heutigen Tag – verfallen in alte Gepflogenheiten – nicht wirklich von den beiden erwarten würde. Doch Fakt war, dass sie seitdem noch wesentlich mehr als vorher vor Augen gehalten bekommen hatten, was sie am anderen besaßen und wie katastrophal es für sie enden würde, könnten sie den anderen jemals verlieren.
„Hat mich auf’m Meer aus’m Wasser gefischt, als ich mit meinem alten Kahn gekentert bin bei Unwetter. Da haben wa uns kennengelernt. Feiner Kerl, der Feivi“, beantwortete er Sallys Frage im Rahmen des gerade zu erschaffenden Paralleluniversums wahrheitsgetreu. „Bin von dem zusammengeflickt worden un‘ weil wa uns so gut ab konnt’n, haben wa dann gesagt wir heiraten jetz‘.“
Kaum ausgesprochen, kamen die vier beim Dunkelhaarigen zum Stehen… oder zumindest die beiden Menschen. Abel und Kain hingegen nutzten ihre Chance sich an der Backsteinmauer des Geschäfts zu erleichtern, während Matthew sich einen vielsagenden Blick von seinem Gatten einfing.
„So isses doch gewesen, Feivi, oder war’s nich‘ so? – Un‘ dann hat er das Schothorn annen Kopp bekommen. War nich‘ einfach, vor allem weil er jetz‘ ständig so viel vergisst un‘ sich nix mehr behalten kann. Is‘ mehr Klotz am Bein als alles and’re, aber genauso wenig wie der ohne mich klar kommt, komm ich auch ohne den nich‘ klar. Man liebt den Trottel halt trotzdem irgendwie.“
Noch immer blickte er vielsagend hinüber zu seinem Mann, ohne dabei zu registrieren, dass Sally sich eine völlig andere Behandlung seitens Quentin erhofft hatte. Aber um ehrlich zu sein, war ihm die junge Frau gerade völlig egal – ebenso wie ihm all die anderen Bewohner des kleinen Städtchens egal waren. Niemand konnte Matthew und ihm vorab sagen, ob Akzeptanz und Toleranz ihren Weg bis auf die kleine Insel gefunden hatten oder ob man gleich Hammer und Nägel herbei holte um sie zu kreuzigen, wie es in Willow Creek nun sicher der Fall gewesen wäre.
Aber wenn Clarence schon aus irgendeinem Nest verjagt wurde, bei Gott, dann doch lieber Hand in Hand gemeinsam mit Cassie als sich bis an sein Lebensende von dem Kerl vorwerfen zu lassen, er hätte ihn nur geliebt solange es bequem für den Christen war.


Matthew C. Sky

Die Geschichte vom Kennenlernen der beiden jungen Männer fing gut an für Sally und sie schlenderte - mit den Wimpern klimpernd - neben Quentin her.
Der Wind wehte ihr das aschblonde Haar um die Schultern und Wangen und beinah fühlte sie sich wie eine Lady. Aber nur beinahe.
"Kauft der Kleine also gerne Viecher? Dann wird Feivi auf dem Markt sein' Spaß ham'.", sie lächelte ihr gelbliches Lächeln, so als würde sie beide junge Männer schon ewig kennen. Darüber hinaus sprach sie über Matthew als sei dieser ein kleines Kind und nicht ein Mann in etwa ihrem Alter.
"Denke nich' das Pferde angeboten werd'n. Aber wissen tu ich's nich'." - sie konnte es sich nicht vorstellen das jemand so minderbemittelt war und versuchte ein Pferd auf einem Boot zu halten, aber vielleicht war bei Feivel ja mehr Matsch im Kopf als es den Anschein hatte. Sally machte sich allerdings weniger Gedanken um den Dunkelhaarigen, als das sie versuchte bei Quentin auf sich aufmerksam zu machen. "Du siehst aus, als wenn de viel rumkommst wenn ich das ma' so sagen darf. Hast bestimmt in jedm' Dorf 'n Liebchen sitzen das auf dich wartet. 'n hübscher Kerl wie du..." So wie sie das sagte, klang es nicht im Ansatz wie etwas das moralisch verwerflich sein könnte, sondern wie etwas das vollkommen normal war. Sally wäre sich nicht zu schade dafür, in dieser Reihe von Damen auch noch einen Platz zu finden, doch Quentin ließ - ungeachtet ihrer Avancen - plötzlich und beiläufig eine Bemerkung fallen, die Sallys Gesicht dazu brachte jäh zu entgleisen.
"...un‘ weil wa uns so gut ab konnt’n, haben wa dann gesagt wir heiraten jetz‘.“
Erschrocken - so als wäre sie nach einer Sekunde Ohnmacht plötzlich auf den Schienen vor einer Dampflok erwacht - blickte sie drein und heftete ihren Blick nun wieder auf Feivel. Der Dunkelhaarige hatte ihnen den Rücken zugewandt und sah sich die Auslage eines Schaufensters an, drehte sich aber halb zu ihnen um als sie sich näherten.
Der Wind spielte auch mit seinem Haar und umwehte die markanten Züge seines Gesichts, seine Augen blickten wach und klar und trotz seiner Blässe erschien Feivel ihr gerade gar nicht mehr wie jemand der ein bisschen langsam im Kopf war. "So isses doch gewesen, Feivi, oder war's nich' so?", fragte der Blonde, redete aber weiter noch bevor der eigentlich langsame Feivel antworten konnte.
Und falls sie bisher noch gedacht hatte, dass Quentin sie vielleicht verarscht hatte, so räumte dieser nun auch den letzten Zweifel aus, in dem er klarstellte, dass er den Trottel trotzdem irgendwie liebte.
"Ach? Ist dir das jetzt wieder eingefallen?" - konterte der Kleinere des Duos spürbar angefressen und warf dem Blonden einen musternden Blick zu. Vom Scheitel bis zur Sohle huschten seine braunen Augen über ihn, als müsse er sich erst vergewissern, dass er ihm die Frage auch mit Zustimmung beantworten konnte.
"Ja, so isses gewesen. Quentin isn Trottel aber schätze ich lieb den und er mich."
"Ihr zwei nehmt mich doch auf'n Arm. Verarscht die arme alte Sal."
Die junge Frau sah zwischen ihnen hin und her, aber weder der tumbe Feivi, noch der ansehnliche Quentin, brachen in Gelächter aus. "Ihr zwei seid keine Sodomisten, im Leben nich', nein glaub ich nich'.", abwehrend hob sie ihre Hände, so als könne diese Geste das nun mehr Offensichtliche abwenden.
"Keine Sodomisten, Quatsch...", lenkte Feivi ein und Sally sah ihn nur noch verwirrter an. "Aber so nennt man das, Tucken, Schwule, Homos...Ich mein' ich hab schon ma gehört das Männer, die lange auf See sin' schon mal ein' wegstecken, aber..." - unbehaglich sah sie zu Quentin und verzog neuerlich das Gesicht. Es war für sie eine herbe Enttäuschung und nicht nur das - sie schien weit weniger tolerant zu sein als Teddy oder Jeyne. Was in einer Metropole so gewöhnlich war wie der Anbruch eines neuen Tages, dass war in Siedlungen nicht selten verpönt.
"Weiß nicht wie du das siehst, Sal, aber ich sage: wenn zwei sich lieben sollte keiner danach fragen wer wo was hinsteckt. Ist unhöflich, da wo ich herkomme zumindest."
Das waren nicht die Worte eines Mannes der sie nicht mehr alle beieinander hatte, aber Sally war zu perplex und überfordert um das zu registrieren.
"Is' unhöflich findste? Muss ich mir von ner Tucke die nich' helle is' nich' sagen lassen, echt nicht, Feivi.", ihr Tonfall - der zu Beginn ihrer Begegnung sehr rau gewesen war und sich zwischendurch deutlich gemäßigt hatte, kippte nun wieder um, hinzu hatte sich ein zorniges Funkeln in ihre Augen geschlichen, so als hätte Quentin sie verraten und als würden beide Männer gerade ein Attentat ausgeübt haben.
Matthew, den derartige Kommentare nicht trafen und der jedoch wusste das für Clarence die Sache vermutlich anders lag, warf diesem einen Blick zu.

Sally Mitchell

"Is' nich' richtig, is' abartig wenn ihr's zusamm' treibt!" Setzte sie nach und Matthew verdrehte die Augen. Es war schon merkwürdig, wie schnell manche Leute ihre Kleingeistigkeit offenbarten, sobald sie sich mit etwas konfrontiert sahen, dass nicht in ihr Weltbild passte. Sally spuckte vor Matt auf den Boden, dann sah sie zu Clarence und tat das gleiche noch einmal.
Der Dunkelhaarige hätte ihr gern gesagt was er von Leuten wie ihr hielt, aber würde er das tun, dann würde er wahrscheinlich binnen Sekunden die Hälfte aller Anwesenden des Hafens gegen sich und Clarence aufbringen.
"Lass uns gehen, hm?", wandte sich Cassiel ruhigen Tonfalls an Clarence und ignorierte die wütende Fischerstochter nun mehr. Ihr Gerede und die Ablehnung die sie offen kommunizierte war Matthew reichlich egal, er wusste das die vorherrschende Meinung zum Thema Liebe und Familie die war, die die Frau vertrat. Zumindest in kleinen Kuhkäffern wie dieser Siedlung. Es ging um alte Rollenbilder, um Traditionen, um Nachwuchs um das Dorf zu erhalten und den Familiennamen zu wahren.
Diese Dinge waren in Metropolen und manchen Städten nicht mehr von Bedeutung und dort hatte sich meist die Meinung verbreitet, dass Gefühle Privatsache waren und außerdem jeder lieben sollte wen er wollte. Eine liberale Sicht, die in Cascade Hill City offenbar noch nicht Einzug gehalten hatte.
Aber auch wenn es manchen sicher zur Weißglut getrieben und die Laune noch weiter verschlechtert hätte nun derart beschimpft zu werden, so war genau das Gegenteil der Fall. Matthews Blick, vorhin noch wütend, war sanft und nachsichtig geworden und seine Stimme hatte den schneidenden Unterton von vorhin ebenso verloren.
Das Clarence dieses Thema vor der Fremden angeschnitten hatte, bedeutete ihm viel und das Sally nun derart missbilligend reagierte tat Matthew leid für den Hünen, dem es ohnehin schwer fiel in der Öffentlichkeit Flagge zu zeigen.
"Scheiße, dass du nich' ganz sauber tickst hab ich gleich gewusst, Feivel aber du Quentin..." Wütend funkelte sie den Blonden an und schüttelte den Kopf. Sie sah aus, als wäre sie gerade mit dem Kopf voran in Fischabfälle getaucht worden: angeekelt und zornig. "Hätte nich' gedacht, dass du 'n Abartiger sein tust, widerlich...", dass ging Matthew dann doch zu weit und er machte einen Schritt vom Schaufenster weg, um sich zwischen Sally und Clarence zu stellen - der ihn zwar um einige Zentimeter überragte, den Matt dennoch gerade vollkommen selbstverständlich in Schutz nahm. "Pass gut auf, Sal': so redest du von mir aus mit deinem Alten oder mit deinem Cousin, von mir aus sogar mit mir - aber nicht mit ihm, alles klar?"
Matthews Tonfall war bissig und man hörte die unterschwellige Drohung sehr gut heraus. "Ich schlage vor du nimmst deine Beine jetzt in die Hand und verschwindest, andernfalls kann der verrückte Feivi für nichts garantieren."
Sally fing an, auf ihrer Unterlippe zum kauen, so als müsse sie abwägen ob sie sich weiter mit den beiden anlegen wollte. Ihr Blick huschte von Matthew zu Clarence und sie rümpfte abermals ihre Nase.
"s is' schade um dich Quenti, hät' dich gern bisschen näher kennengelernt...Kannst ja vorbeikomm' wenn du kein' Bock mehr auf deine bekloppte Schwuchtel hast.", sie lachte wieder ihr krächzendes Lachen - nur das es dieses Mal ihre Augen nicht erreichte. Noch immer schien sie nicht zu begreifen, dass beide Männer sich tatsächlich liebten und Quentin nicht nur aus Mangel an Gelegenheiten mit dem Dunkelhaarigen zusammen war.


Clarence B. Sky

Eventuell hätte man schon vorab erahnen können worin Sallys Hoffnungen endeten wenn er ihr einfach so vor den Kopf stieß, vielleicht hätte man dadurch abwenden können, was in einem abgeschnittenen kleinen Städtchen wie diesem so offensichtlich bevor stand.
Doch weder Clarence, noch Quentin besaßen ein geschultes Auge für die unterschwelligen Andeutungen der Damenwelt, nicht mal für die ganz offensichtlichen. Während die Krabbenfischerstochter mit den Wimpern klimperte als ginge es um ihr Leben und dadurch ihr persönliches Interesse bekundete, kamen ihre Worte beim Angebeteten auf eine Art und Weise an, die mitnichten über die Sachebene hinaus gingen.
Natürlich sah er so aus als käme er viel herum, immerhin war er ein Mann mit Boot. Natürlich wirkte er wie ein Mann, der sich in jedem Hafen eine Braut hielt – denn abgesehen davon, dass sein nur wenig vorherrschendes Interesse an Frauen nicht durch einen femininen Touch zur Schau getragen wurde, besaß er auch noch alle Zähne und war ansonsten ebenso noch weit ansehnlicher als manch anderer dahergelaufener Trottel.
Wie sehr es eine Frau in Rage versetzen konnte wenn man(n) sie derartig abblitzen ließ, wurde Clarence erst heute so richtig klar, wo er sich seine sieben Sinne nicht vorab in einer Gaststätte mit Bier und Schnaps benebelt hatte. Zumeist war es eine einfache Angewohnheit gewesen, die Aufmerksamkeit der weiblichen Zunft einfach auf Matthew umzulenken, der jenes Geschenk oft dankbar entgegen genommen und sich damit vergnügt hatte.
Heute aber, begleitet vom minderbemittelten Feivel und damit der einzige Hengst im Stall der für eine potentielle Besteigung in Frage kam, hatte sich Quentin quasi ein Eigentor geschossen, aus dem er nicht mehr heraus kommen würde.
Sallys schockierten Blick bemerkte der Schamane unterdessen gar nicht, viel zu sehr war er irritiert von der auffälligen Musterung seines Partners. Ganz so als müsse er sich seine Antwort gut überlegen oder zumindest erst mal prüfen ob der blonde Trottel vor seiner Nase überhaupt der richtige Mann war, glitten die bekannten kandisfarbenen Iriden über seinen winterlich eingehüllten Leib und führten dadurch dazu, dass sich Quentins Brauen zweifelnd zusammenzogen.
„Na dann is‘ ja gut. Dacht‘ schon du tust dir das jetz‘ anders überleg-…“, entgegnete er brummend auf das wenig emotionale Liebesgeständnis des Jüngeren, bevor ihre Begleitung ihn uncharmant unterbrach und es dem Jäger unangenehm kalt den Rücken hinunter lief.
Sodomisten, Tucken, Schwule, Homos – all das waren Begriffe, die Clarence – wie wenigstens sein Mann wusste – absolut gegen den Strich gingen. Nicht etwa weil er sie als beleidigend empfand wie etwa der Söldner, sondern aus dem ganz einfachen Grund, dass er sich mit dem Kern jener Aussagen bis heute noch nicht hatte abfinden können.
Als hätte man ihm gerade einen Kübel Eiszapfen hinten in den Mantel geworfen und dennoch versuchte der Geschädigte seinen Stolz zu wahren indem er nicht schrie, konnte der geübte Blick deutlich erkennen wie sehr sich Clarence‘ komplette Schulterpartie verkrampft hatte. Mit geschlossenen Augen und einem äußerst pathologisches Zucken im Mundwinkel ertrug er die Schmach jener Begriffe, während sein Mann ausbaden musste, was Quentin losgetreten hatte.
Is' unhöflich findste? Muss ich mir von ner Tucke die nich' helle is' nich' sagen lassen, echt nicht, Feivi."
Wäre die Situation nicht derart vertrackt, Himmelherrgott, vielleicht wäre genau das der Moment gewesen, in dem Clarence das erste Mal seit langen Jahren in lautstarkes Gelächter ausbrach. Wie da diese seltsame Dorfunschönheit stand und Cassie unter falschem Namen an den Kopf warf er wäre derjenige, der von ihnen beiden den niedrigeren Intelligenzquotienten hatte, hatte etwas wirklich unfassbar Unterhaltsames an sich – besonders wenn man wusste, dass Claire von den beiden jungen Männern weit mehr Tucke war als der kleine Kumpi.
Ob ihr Sexualleben abartig war oder nicht, darüber ließ sich sicher mit einer Menge Menschen streiten. Doch erst als die Fischerstochter so dreist war ihnen vor die Füße zu spucken, erntete sie sich damit wieder Clarence‘ Aufmerksamkeit.
Es mochte an ihrem Intellekt oder an ihrer derzeitig aufbrausenden Art liegen, jedenfalls schien sie ihrem eben noch angebeteten Quentin nicht anzusehen, dass sie das Fass langsam aber sicher zum Überlaufen brachte. Manch anderer war spätestens zu jenem Zeitpunkt so schlau gewesen seinen vorlauten Mund zu halten, sobald er den eisigen Blick des Hünen auf sich geheftet sah und auch Matthew war zumeist so schlau endlich seinen plappernden Schnabel zu halten, wenn sich erst mal die kühle Stille Mauer um den Jäger aufgetürmt hatte.
Eigentlich war es wirklich schade darum, dass sie in einer Welt wie dieser lebten. Denn wären einige gottgegebene Werte verdreht, so kam es dem gebürtigen Fanatisten durch den Kopf, wäre er nur allzu gerne bereit gewesen, auf der Stelle eine Lösung für das Problem namens Sally Mitchell zu finden.
Oh wie anmutig würde sich am Ende des Stegs, aufragend aus den wogenden Wellen des Meeres, nur ein schönes stabiles Kreuz machen. Den Blick zum blauen Horizont gerichtet und gepeinigt von Salzwasser und hungrigen Möwen, wäre es dem Christen ein persönliches Vergnügen gewesen sie an dem Drecksding aufzuhängen und nach einigen Tagen dabei zuzusehen, wie die Vögel ihr die starr gewordenen Augen aus dem Schädel pickten. Bis zum Anschlag hätte er ihr das kühle Eisen durch Fleisch und Knochen geschlagen und bei Gott, wenn es eine Sippe gab die keinerlei Gnade kannte in solchen Dingen, dann war es definitiv die des Schamanen.
Ein eigentümliches Grinsen legte sich bei dieser zauberhaften Vorstellung über die Lippen des Bärtigen, während sein Mann zwischen ihn und Sally gesprungen war – wohl zum Schutz des Blonden vor der Behandlung der Fremden. Wie sehr er Claire aber gerade auch vor seinen eigenen schauderhaften Impulsen schützte, schien Matthew zum Glück nicht im Geringsten bewusst zu sein. Eigentlich deprimierend, denn um die Aschblonde mit den gelben Zähnen wäre es definitiv nicht so schade gewesen, wie um Quenti.
„Ich un‘ meine bekloppte Schwuchtel sollt’n jetz‘ weiter wenn du willst, dass dein Vadder sein‘ Platz bis zum Mittag leer haben tut.“
Mit äußerster Beherrschung bemühte Clarence sich trotz allem freundlich zu bleiben, denn wenn es einen denkbar schlechten Zeitpunkt gab um Streit herauf zu beschwören, dann war es dieser hier. Die Tochter eines sicher bekannten Fischers, hineingezogen in einen Streit mit zwei Sodomisten direkt am Hafen, zog sicher mehr muskelbepackte Seemänner heran um die holde Maid in Not zu beschützen, als Cassie und ihm lieb sein konnte. Eine ganze Kleinstadt gegen sich aufzuhetzen war das eine, aber auf die eigene körperliche Unversehrtheit und die seines schwimmenden Zuhauses angewiesen zu sein um jemals wieder von dieser vermaledeiten Insel hier weg zu kommen, war etwas weitaus anderes.
„War nett gewes’n dich kennenzulern‘, Sal‘.“
Wie viele unfreundliche Dinge ihm gerade auf den Lippen lagen, würde die junge Frau zum Glück niemals in Erfahrung bringen – auch wenn es Clarence brennend interessierte, ob ihre Eltern grenzdebile Geschwister waren. Oder ob es tatsächlich abartiger war wenn zwei Kerle ab und zu einen weg steckten, oder ob es abartiger war wenn sie sich aus Mangel an Möglichkeiten von den Maultieren besteigen ließ, von denen sie ganz offensichtlich abstammte. Oder ob dieser penetrante Fischgeruch am Hafen wirklich von den Fischkuttern kam oder von Sallys Körpermitte zu seiner Nase hinauf strömte.
Uneinig ob zum Schutze seines Mannes oder sich selbst, langte der Blonde zum Mantel Cassies, zog diesen sachte von der Frau zurück und wieder näher zu sich heran: „Siehste, Feivi – das passiert, wenn ich versuch’n tu mir Freunde zu mach’n. Also tu ich das nie“, wisperte Quentin alias Clarence leise seinem Partner zu, der ihm vorhin noch die pampige Frage nach etwaigen Freundschaften gestellt hatte. Das endete nie gut, der Jäger war einfach kein Typ für lockere Bindungen zu anderen Menschen. Hatte die Vergangenheit schon oft genug gezeigt.


Sally Mitchell

Das die Situation zwischen ihnen und der jungen Frau vorerst nicht vollends eskalierte, verdankten sie vor allem Clarence. Denn anders als Matt, suchte er den Weg der Diplomatie statt der Konfrontation. Wenngleich er es nicht gerade auf besonders charmante Art tat. Denn die Worte: „Ich un‘ meine bekloppte Schwuchtel sollt’n jetz‘ weiter wenn du willst, dass dein Vadder sein‘ Platz bis zum Mittag leer haben tut.“ waren nicht gerade das, was man gemeinhin als taktvoll bezeichnen würde. Aber immerhin versuchte der Blonde überhaupt, sie beide mit heiler Haut aus der Situation zu lavieren.
Warum das so war, wusste Cassiel nicht, aber ihm blieb nicht verborgen, dass Clarence alles daran setzte Streit zu vermeiden. Das war löblich und der Jüngere hatte durchaus die Absicht, seinen Gefährten in diesem Vorhaben zu unterstützen.
Dabei war Sally niemand der ihnen in irgendeiner Form etwas bedeuten brauchte. Sie war eine Fremde, keine Freundin - und würde Letzteres auch sehr wahrscheinlich nicht werden, denn ihre Ablehnung kristallisierte sich scheinbar mit jeder Minute deutlicher heraus.
Matthews Warnung, oder besser gesagt die von Feivel nahm sie zwar ernst, doch nicht ernst genug. Und die Einlenkversuche ihres eben noch angehimmelten Quentin blieben gar ungehört.
„’s is nich’ okay wenn ihr hierher kommt und unsre schöne Stadt verdreckt mit euren widerlichen Neigungen.“ - sie hob ihre Hand und tippte mit ihrem Zeigefinger gegen Matthews Brust, wobei sie sich nach vorne lehnte und ihn anfunkelte. „Du hältst dich vielleicht für normal, aber in Wahrheit biste nich’ besser als Vieh, ’s is’ nich’ normal wenn ’n Mann auf Kerle steht un’ ich lass mir nich’ drohn’, alles klar? Geht das in dein Spatzenhirn?“ - die boshaften Worte waren aus einem unerfindlichen Grund nur an Matthew, beziehungsweise Feivel, adressiert und der Dunkelhaarige kam nicht umhin sich vorzustellen wie es wäre, der vorlauten Sally das Maul zu stopfen.
Ein Gentleman würde natürlich niemals die Hand gegen eine Frau erheben, doch Matthew war kein Gentleman in dieser Angelegenheit. Ebenso wie er in seiner Zeit als unverheirateter Schwerenöter sowohl Männer als auch Frauen um den Verstand gebracht hatte, hatte er auch schon so manchem weiblichen Wesen eine mitgegeben. Das war freilich nicht besonders ehrenhaft und ein jeder Adeliger hätte dieses Verhalten verpönt, doch Cassiel machte schlicht und ergreifend keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Ein unhöflicher Arsch blieb ein unhöflicher Arsch, egal ob mit Titten oder ohne und ihre Welt ließ es oftmals auch nicht zu, zu überlegen ob sich dieses oder jenes nun gehörte oder nicht.
Dass der junge Mann nicht auf Sally losging, hatte sie allein Clarence zu verdanken, denn der Blonde war nicht gewillt in diesem Kaff für mehr Aufregung zu sorgen als unbedingt nötig.
Er zupfte Cassiel an seinen Sachen einen Schritt zurück und somit etwas aus der Gefahrenzone, was die Fischertochter mit einem Schnauben quittierte.
Matthew funkelte die Frau auf eine Weise an, die an den Blick einer verrückten Katze erinnerte: warnend, lauernd, amüsiert. Ein Kater, der zu weise war um sich sofort des Spaßes zu berauben und den Gegner umgehend lahmlegte, und der den Spaß am Spiel mit dem Unterlegenen nicht verloren hatte. Wenn er gekonnt hätte wie er wollte, von der guten alten Sal würde nicht mehr viel übrig bleiben als ein Häufchen Elend, dass nicht wusste wie ihm geschehen war. Matthew hatte eine scharfe Zunge und er wusste genau welche Worte er benutzen konnte um anderen vorzuführen wie klein und unbedeutend sie waren. Freilich, dass war kein feiner Charakterzug von ihm, aber diese Seite - die kampflustige - gehörte ebenso zu ihm wie die sanfte und nachsichtige, die Clarence kannte.
„Siehste, Feivi – das passiert, wenn ich versuch’n tu mir Freunde zu mach’n. Also tu ich das nie.“ - nuschelte Clarence ihm leise zu und spielte damit auf ihren Zwist von vorhin an.

Matthew C. Sky

„Liegt dieses Mal nicht an dir, Quentin. Liegt an der verblödeten Kuh.“, entgegnete Matthew - leider nicht annähernd so leise und diskret wie sein Liebster. Und damit waren seine guten Vorsätze, Clarence zu unterstützen die Wogen zu glätten dahin...
„Lass uns gehen…bevor ich nochmal kotzen muss…“ - hatte Sally die Bezeichnung verblödete Kuh noch kommentarlos geschluckt, stieg sie auf die jüngste Bemerkung Feivels voll ein und empörte sich lautstark. „Willste da andeuten du hättest gekotzt wegen mir?!“ - „Ich deute das nicht an, ich sag’s dir ins Gesicht.“ - erwiderte Matthew mit einem vergnügten Funkeln in den Augen.
Oh wie er sie verachtete, die dummen, engstirnigen Hinterwäldler die glaubten die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, aber wahrscheinlich das Wort Weisheit nicht einmal fehlerfrei buchstabieren konnten. In Momenten wie diesen, fühlte sich der Dunkelhaarige ihnen allen überlegen - und war es sicherlich auch. Rouge hatte ihn viel gelehrt, mit fragwürdigen Methoden völlig zweifelsfrei, aber er hatte ihn so viel Bildung zukommen lassen wie manch ein Spross aus wohlhabender Familie sie nicht bekam.
Mathematik, Geografie, Geschichte, verschiedene Sprachen und philosophische Ansichten aus längst vergangenen Jahrhunderten. All das hatte ihn ebenso geprägt wie die Schläge mit dem Weidenstock oder die Feuerrituale die der Rote angewendet hatte um ihn zu züchtigen und abzuhärten. „Pass ma’ gut auf mit wem du redest, Schwuchtel sonst wirstes bereu’n das sag ich dir so wahr ich hier steh’! Quentin haste deiner bekloppten Tucke nich’ beigebracht die Schnauze zu halten in Gegenwart anständiger Leutchen?!“, mittlerweile war die junge Frau nicht mehr nur entrüstet und erbost, sondern regelrecht außer sich. Warum sie immer noch glaubte, dass Quentin anständiger war als Feivel, dass würde wohl ihr Geheimnis bleiben. Aber wahrscheinlich ging sie in ihrem verkappten Spatzenhirn davon aus, dass Quentin sich nur aus Mangel an anderen Optionen mit dem dümmlichen Dunkelhaarigen eingelassen hatte und das er, trotz der Tatsache ab und zu einen wegzustecken eigentlich an Frauen interessiert und somit ein anständiger Kerl war.
Dieser Gedanke war sogar naheliegend, denn wenn man es nicht wusste, so würde man niemals auf die Idee kommen, der Blonde könne auf Männer stehen. Seine Statur war maskulin, sein Auftreten war es, seine Optik sowieso und überhaupt alles an Clarence. Nur wenn man - so wie Matt - ein Gespür für bestimmte Blicke hatte - konnte man diese richtig deuten.
Es wäre Fischertochter Sally also nachzusehen, wenn sie davon ausging nichtsdestotrotz bei Quentin landen zu können. Aber Quentin gehörte Feivel, so wie Clarence Matthew gehörte. Daran würde der Kleinere nie Zweifel aufkommen lassen. Mit dem Hünen im Rücken und der Gewissheit für diesen Mann alles zu sein, fühlte er sich der guten alten Sal gleich doppelt überlegen - und obendrein wuchs das Bedürfnis in ihm, Clarence jetzt und hier innig zu küssen, sich ihm zuzuwenden, sich an ihn zu pressen und ihn zu fühlen. Seine Lippen, das Kratzen seines Bartes zu spüren, die Wärme seiner Haut…
Aber täte er das, so hätte er am Ende nicht mehr bloß die junge Frau gegen sich aufgebracht, sondern auch noch den Blondschopf - und obgleich Matthew vorhin noch so wütend und provokant ihm gegenüber gewesen war - so war Clarence der Letzte den er jetzt noch verärgern wollte. Im Gegenteil sogar, mit seinem Wildling hatte er - ohne sich bewusst dafür zu entscheiden - Frieden geschlossen.


Clarence B. Sky

Für Clarence, der sich gerade in einer ganz und gar ungewohnten Situation wiederfand, schien die Welt gerade ganz und gar verdreht.
Früher, vor gar nicht allzu vielen Jahren die er an seinen beiden Hände hätte abzählen können, würde er noch alle seine Finger besitzen, hätte er sicher nicht hinter oder neben Matthew gestanden während einer derartigen Diskussion – sondern standhaft und strikt an der Seite der fremden Blonden.
Als Unrat und gotteslästerlich hätte er Cassie beschimpft, seine Neigungen als widerlich betitelt wie auch Sally es gerade tat und letzten Endes hätte ihr Aufeinandertreffen in einer handfesten Auseinandersetzung gegipfelt, die der schöne junge Mann unter allen Umständen verloren hätte.
Es war ein grenzwertiger Anblick für den Jäger dabei zuzusehen wie Sal‘ seinen Partner anging, den nackten Finger auf dessen Brust setzte und ihm dabei nicht weniger drohte, als Matthew es eben bei ihr getan hatte.
Wie man dabei – abgesehen von dem deutlich spürbaren Aufkochen der Gemüter – dennoch derart ruhig bleiben konnte wie sein Mann, blieb Claire darunter ein absolutes Geheimnis. Denn mit jedem Schritt näher auf Cassie zu, ahnte Clarence bereits weiteren pöbelnden Mob im Rücken der Fischerstochter und wie es endete wenn man als Antisympathisant in der Mehrzahl war, kannte der gebürtige Fanatist nur allzu gut aus seiner Heimat.
Es war Fluch und Segen zugleich, dass Matthew niemals darüber nachzudenken schien was für eine Sorte Mensch sein wilder Barbar früher gewesen war, bevor Nagi Tanka ihn mit hinaus in die große weite Welt genommen hatte. Wie viele unschuldige Seelen er bereits auf dem Gewissen hatte, egal weil er selbst mit Hand angelegt oder einfach nur tatenlos zugesehen hatte; zum höheren Wohl – dem Willen seines Gottes – waren viele Ortsfremde gestorben, aus den unterschiedlichsten Gründen.
Leute mit andersartigen sexuellen Neigungen nahmen dabei zwar vielleicht nur einen geringen Teil ein, aber dieser Teil war da und ließ sich unmöglich verleugnen. Fragen und Diskussionen lagen in seiner Heimat nicht unbedingt an der Tagesordnung, was Claire nur umso weniger verstehen ließ, wie Matthew sich immer weiter in das Streitgespräch hinein ziehen lassen konnte. Dachte er wirklich, es würde nur bei Worten bleiben? Dass man in einer kleinen Hafenstadt voller Fischer davor zurück schrecken würde, einem unbedeutenden Fremden mir nichts, dir nichts den Garaus zu machen?
Willste da andeuten du hättest gekotzt wegen mir?!“ - „Ich deute das nicht an, ich sag’s dir ins Gesicht.
Erst als die lautstarke Auseinandersetzung zwischen den beiden einen für Clarence bislang ungeahnten Höhepunkt erreicht hatte, nämlich in Form seines Mannes der es einfach nicht lassen konnte der Fischerstochter die nächste harte Spitze zu stecken, vergruben sich seine Finger erneut in der Rückenfront Cassies. Mit einem unsanften Ruck zog er ihn ein weiteres Stück zurück, beinahe schon etwas hinter sich, ganz so als fühle er sich nun in der Position, einen schützenden Wall zwischen den beiden Streithähnen bilden zu müssen. Angesichts seiner dunklen Befürchtungen nicht verwunderlich.
Sal‘ schimpfte weiter, lautstark – schienbar war es immer wieder ein persönliches Highlight für die zweifelhafte Lady, Fremde in Empfang zu nehmen und ihnen direkt zu geigen, wie die Dinge in ihrem kleinen Städtchen zu laufen hatten.
Unterdessen fing Feivi sich abermals einen warnenden Blick seines Gatten ein, dieses Mal beißender als noch zuvor. Wo Clarence vor wenigen Wochen noch gedacht hatte, die beiden Welpen würden von ihnen vier die meiste Erziehung benötigen, schob sich Cassie heute unangefochten auf Platz Eins der ungebändigten Biester empor; ein Verhalten welches den Blonden zugleich besorgte wie auch mit Stolz erfüllte, immerhin zeigte sich sein Partner nur deshalb so bissig, weil er die eigene Bindung zu seinem Mann angegriffen sah.
Wer letzten Endes von ihnen zu den anständigen Leutchen zählte und wer nicht, das war ein Streitpunkt, über den sicher noch folgende Generationen diskutieren würden. Bislang wusste der Jäger nur, dass ihm die anfänglich einigermaßen sympathische Fischerstochter langsam gehörig auf den Senkel fiel und wer das tat, hatte zumeist keine gute Stellung mehr beim wilden Klotz, was an sich schon nichts Gutes bedeutete.
Als könne ihn das irgendwie beruhigen, musterte Clarence das lädierte Antlitz seines Geliebten für einen kurzen Augenblick, bevor er tief durchatmete und den Blick über die Umgebung schweifen ließ, während er sich schließlich wieder Sally zuwandte.
Zwischen dem Waffenladen – den Claire erst jetzt als solche realisierte – und dem folgenden Geschäft, in unmittelbarer Entfernung zu ihnen, tat sich eine schmale Sackgasse zwischen den beiden eigenständigen Häusern auf. Keine sichtbaren Fenster zeigten hinab in die Tiefe, keine Menschenseele außer ihnen so früh am Morgen an der Promenade unterwegs, die anderen stillen Fischer versteckt hinter dem noch immer dichten Nebel… es wäre ein so Einfaches gewesen die junge Frau – richtig gegriffen – ohne den leisesten Hilfeschrei hinüber zu zerren und unbemerkt zum Schweigen zu bringen. Ein paar überschaubare Schläge mit ihrem wenig ansehnlichen Gesicht gegen die kalte Backsteinmauer und es wäre Ruhe – ein bisschen länger sogar, wenn er ihren Schädel mit dosierterer Wucht dagegen schmetterte und somit dafür Sorge trug, dass die Nervensäge nie wieder jemanden belästigen konnte. Mit etwas Glück fand man sie auch erst zu späterer Stunde wenn ihr heimgekehrter Vadder sie langsam aber sicher vermisste… genug Zeit also, um bis dahin in Ruhe über den hiesigen Markt zu schlendern und die Einkäufe zu erledigen, welche sich die beiden jungen Männer vorgenommen hatten.
Ein leises Brummen kroch seine Kehle empor während Clarence, in seinen Überlegungen versunken, die Fremde musterte. Dass dieses Geräusch in einem solchen Fall kein gutes Zeichen war, konnte sie als Unbekannte kaum wissen; mit etwas Glück kam sie aber auch von ganz alleine auf die Erkenntnis, dass sie gegen eine Status wie Quentins weit weniger würde ausrichten können als gegen einen drahtigen, vorlauten Minderbemittelten.
„Sally Mitchell, du tust jetz‘ besser geh‘n.“ – Es war weder Bitte noch Frage, sondern die völlig ernst gemeinte Empfehlung eines Mannes, der Gewissensbisse nicht kannte wenn es um das ausgelöschte, unbedeutende Leben eines anderen Individuums ging. Dabei musste Clarence seine Stimme nicht mal erheben um sich Gehör zu verschaffen, der deutlich vernehmbare Unterton seiner Stimme reichte völlig aus. Denn wenn Claire eines nicht verstand dann war es Spaß, solange er sich in irgendeiner Weise um Matthew sorgte. „Du tust deine Beine in die Hand nehm‘, drehst dich um un‘ du gehst.“ – Denn ansonsten würde Clarence ihr nicht garantieren können, dass sie überhaupt noch mal in irgendeiner Weise jemals lief, so viel stand fest.
„Un‘ du…“, wandte sich der Jäger nach einem abermaligen Blick gen Sal‘ zurück zu seinem Mann, „bewegst deinen Hintern in genau die entgegengesetzte Richtung. Hast du mich verstanden?!“
Seine Stimme war zu einem leisen Zischen verkommen, einerseits damit die blonde Schönheit nicht spitz bekam dass ihr geliebter Quenti sich auch ordentlich artikulieren konnte, andererseits damit Matthew langsam einsah wie durchaus ernst es seinem Mann war, der nur selten zögerte wenn es um den Dunkelhaarigen ging.


Matthew C. Sky

Natürlich wusste Matthew, dass der Mann den er geheiratet hatte und mehr liebte als sein eigenes Leben, kein Heiliger war und das er Dinge getan hatte, von denen wollte er besser keine Ahnung haben. Aber er wusste auch, dass Clarence sich geändert hatte. Der Mann von heute und der junge Kerl von damals teilten sich gerade mal eine Vergangenheit, jedoch keine Gegenwart und keine Zukunft.
Das machte die Toten die auf das Konto von Clarence gingen zwar nicht weniger, aber es gab auch keinen Weg rückgängig zu machen was geschehen war. Egal wie viel Zeit vergehen und was kommen würde, die Toten blieben tot, alle Herzensgüte der Welt würde daran nichts ändern.
Also warum sich über das Gedanken machen, was zurücklag und unabänderlich war, wenn doch das worauf es ankam das Jetzt und das Heute war?
Und der Clarence der heute neben ihm stand und ihn unvermittelt noch weiter zurückzog, war ein guter Mensch, sogar der Beste den Matthew kannte und sich vorstellen konnte. Niemand war umsichtiger, war geduldiger, sanftmütiger in seinem Wesen, beharrlicher und edler. Er war nobel, in einer Welt in der Noblesse ausgestorben schien. Er war sich selber treu, wo doch um ihn herum jeder alles verkaufte was sich irgendwie gewinnbringend veräußern ließ, er war großzügig und selbstlos - auch das waren Attribute, die es kaum mehr gab.
Aber natürlich konnte Clarence auch anders, wenn es sein musste dann räumte er alles und jeden aus dem Weg der ihnen nach dem Leben trachtete und Sally war auf dem besten Wege dahin, zu einer weiteren Nummer auf Clarence’ Totenliste zu werden. Die blonde Frau konnte ja nicht wissen wem sie gegenüber stand und das der so gescheite Quentin wahrscheinlich schon darüber nachdachte wie er sie am schnellsten zum Schweigen brachte. Matthew allerdings…der wusste, was hinter den so ernsten Augen für Gedanken ihre Kreise zogen. Dazu bedurfte es gar nicht erst des schneidenden Blickes, es reichte schon zu sehen, wie Clarence seine Umgebung schweigend musterte und dabei für einen Moment zu lange an der verlassenen Seitengasse hängenblieb.
Wenn Sally nicht aufpasste, würde sie mit etwas Pech ihre vorlaute Klappe bald nie wieder aufmachen - aber völlig egal wie ausfällig und beleidigend sie auch war: Matthew würde nicht zulassen das Clarence ihr auch nur ein Haar krümmte, sofern es bei Wortgefechten und ein wenig Geschubse blieb. Und mehr traute er der jungen Frau auch nicht zu, denn nicht jeder Trottel der Sprüche klopfte, war auch gefährlich.
Das nachdenkliche Brummen des Größeren wurde deshalb mit einem vorsorglich verneinenden Kopfschütteln von Matthew quittiert, ganz so als habe der Blonde ihn etwas gefragt.
„Tickste jetz’ vollends aus, du Hohlkopf?!“ spie die junge Frau ihm deshalb entgegen, kurz bevor Clarence das Wort ergriff und als Quentin für Ruhe sorgte.
„Sally Mitchell, du tust jetz‘ besser geh‘n.“ - er sagte es so, dass keine Zweifel daran offen blieben, dass gehen die beste Idee war die man nur haben konnte. Sein Blick war frostig wie ein junger Wintermorgen auf dem Lande und irgendetwas an seinem Tonfall war derart eindringlich, dass sogar die einfach gestrickte Fischerstochter verstand, dass Quentin die Sache ernst war.
Die aschblonde junge Frau verstummte für einen Moment und sah ihren bis eben noch angeschmachteten Seemann an.
In ihrem Gesicht spiegelte sich Unverständnis und Ablehnung - sie sah sich im Recht und es gefiel ihr überhaupt nicht, dass sie nun aufgeben und das Feld räumen sollte, wo mit ihr doch alles richtig war während mit den beiden Männern etwas nicht stimmte - wobei der Löwenanteil an Verachtung noch immer Feivel entgegenschlug. Aber auch der bekam sein Fett weg, nur das Quentin zu ihm flüsterte und Sally somit nicht verstand was er sagte. „Musst nich’ leise mit deiner Schwuchtel reden, Quenti… Wir sin’ doch alle Freunde hier, nich’ wahr, Feivi?“ - ihr wieselhafter Blick richtete sich wieder auf Cassiel, so als wolle sie das er bestätigte - weil er ja ein dummer Trottel war und alles sagen und tun würde, was jemand verlangte der noch klar im Kopf war.
„Ja…schätze schon, klar.“, erwiderte der Dunkelhaarige argwöhnisch und musterte die junge Frau einen Moment länger. Ihr breites Grinsen gefiel ihm nicht, ebenso wenig wie das biestige Funkeln ihrer ansonsten recht ausdruckslosen Augen. Dass er einlenkte, lag allein an Clarence, denn der Hüne hatte auf seine Art und Weise sehr deutlich gemacht, dass er eine Eskalation der Lage zwar nicht suchte - jedoch auch nicht scheuen würde. Entweder entspannte sich die Sache jetzt sofort, oder Sally Mitchell würde ein gehöriges Problem bekommen.
„Also dann, Sal’ - hat mich gefreut. Ich geh’ dann jetzt…“ - er warf dem Hünen einen kurzen Blick zu, der ihm hoffentlich aufzeigte, dass es nicht angebracht war jetzt die Fassung zu verlieren und irgendjemanden niederzuschlagen. Bis auf ein paar Beleidigungen war nichts vorgefallen… und das sollte auch so bleiben.
Gefolgt von den Hunden ging Matthew ein paar Meter, folgte der ursprünglichen Route in Richtung Markt und blieb schließlich wieder stehen, als er bemerkte, dass Clarence ihm noch nicht gefolgt war. Auch Sally stand noch an Ort und Stelle. „Passt immer gut auf deine kleine minderbemittelte Schwuchtel auf, wa’?“, fragte sie Quentin, ohne das Matthew alles verstand. Lediglich ein paar Wortfetzen konnte er vernehmen, doch wie auch schon den Rest ihres dummen Geredes, tat er auch jene Fragmente als das ab was sie waren: leere Worthülsen.
„Hast ’n auch gut im Griff, den Feivi. So muss es sein. Bestimmt hät’ der nichts dagegen uns zuzuschauen wenn wir bisschen Spaß hätten…“ - Sally grinste abermals und wie schon vorhin kam Matthew nicht umhin dieses Lächeln als verschlagen zu empfinden. „Quentin? Kommst du endlich?“ - rief er Clarence ungeduldig zu, trat von einem Bein auf das Andere und blickte besorgt zu dem Blondschopf.
Es dauerte noch einen Moment, dann setzte sich Sally in Bewegung und ging zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nun stand Clarence allein da und auch wenn er schon wenige Sekunden später in Matthews Richtung kam, ging der Jüngere ihm auch noch entgegen, fast so als seien sie für Monate getrennt gewesen.
„Man…die Alte hatte echt einen Dachschaden.“, nuschelte er gen Clarence, packte ihn ohne Vorwarnung am Kragen seiner Jacke und drückte ihm einen barschen Kuss auf die Lippen. Wenn irgendwer in diesem Kaff sich daran hochziehen wollte: Bitteschön, Matthew war das egal. Er hatte noch nie - und er würde auch niemals - verhehlen in wen er vernarrt war. Es ging schlichtweg niemanden etwas an und nur weil das noch nicht alle Hinterwäldler begriffen hatten, hieß das nicht das er sich von denen etwas vorschreiben lassen musste.
„Und gruselig war sie auch noch…“, setzte Cassiel beinahe verdrossen nach, nachdem er Clarence’ Lippen schließlich wieder freigegeben hatte. „Lass uns zum Markt, die Vorräte aufstocken, in dem Laden da vielleicht ein neues Gewehr für dich kaufen…und dann wieder von hier verschwinden. Ich mag Cascade City Hill nicht.“ - und das lag nicht einmal mehr am Fischgeruch der in der Luft hing, sondern an der recht zweifelhaften Begegnung mit Sally Mitchell. Aber immerhin zwei gute Sachen hatte die Angelegenheit mit sich gebracht. Zum Einen hatte sich die frostige Laune Matthews gegenüber Clarence verflüchtigt und zum Anderen war seine Übelkeit gänzlich in Vergessenheit geraten und somit in den Hintergrund getreten.


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