Doktor Bennetts Haus

22. Mai 2210


Clarence B. Sky

Es dauerte eine ganze Weile bis die schweren Schritte des strammen Bären wieder von unten her auf dem Treppenabsatz ertönten, denn so heimelig und trist wie sich das Leben im oberen Stockwerk auch gestaltete, war es unten alles andere als das. Kain und Abel hatte Clarence nach wenigen Tagen erfolgreich an Gretchen – die Haushälterin des Arztes - verscherbeln können und selbst nach ihren anfänglichen Bedenken den wilden Monstern gegenüber die man nie satt bekam, schien sie die Hunde mittlerweile mehr als nur in ihr Herz geschlossen zu haben. Wenn sich Claire nicht täuschte, hatten die beiden dank dem Zutun der alten Dame bereits mehrere Kilo zugelegt und sei es nur deshalb, weil ihr ständig zufällig beim Kochen die ein oder andere Leckerei hinab fiel. Das bewahrte das eigentliche Herrchen trotzdem nicht davor, sich den Freudenattacken seiner beiden Anhängsel zu stellen sobald er sich unten blicken ließ.
Ich habe soeben die Erfahrung gemacht…“, tönte es gedämpft empor noch bevor Clarence überhaupt oben angekommen war; vorsichtig stieß er mit seiner Schulter die Tür auf, in den Händen zwei dampfende Tassen heißer Milch. Bislang hatte er wirklich noch keinen einzigen Tag erlebt, an dem Gretchen nicht versucht hatte ihre beiden jungen Gäste zu mästen. „…dass die Leute ziemlich lange zögern wenn es darum geht, einem Mann mit sporadisch zitternden Händen eine Schere zu überlassen. Dass ich den Tag noch erleben darf.“
Vermutlich war er der erste Jäger der Welt, dem man freiwillig keine potentielle Waffe in die Hände drückte – und dabei war das Problem mit seinen bebenden Fingern schon viel besser geworden. Da hätten sie ihn mal ganz am Anfang sehen sollen.
Klappernd stellte er die beiden Gefäße auf dem nahen Kosmetiktisch der früheren Bewohnerin ab und auch wenn er bis heute nicht verstanden hatte wofür Frauen so etwas brauchten, war es das perfekte Möbel um seinen Mann wieder etwas herzurichten.
„Wenn das so weiter geht, kann ich entweder versuchen Mutanten mit bloßen Fäusten niederzuschlagen oder meinen Ruf an den Nagel zu hängen. Beides nicht besonders verlockend.“
Auf den Tisch folgte ein verschnürtes Bündel, welches Claire aus seiner Gesäßtasche zog – und an dessen einem Ende die silbrige Spitze einer Schere hervor lugte, die Gretchen ihm mehr unwillig als wirklich überzeugt von seinem Können heraus gerückt hatte.
Seine wichtigsten Waffen und Werkzeuge endlich wieder leer, klatschte der Jäger in die Hände und rieb sie voller Tatendrang aneinander, zum Bett seines angeknacksten Gatten hinüber tretend, bevor er sie nach denen von Matthew ausstreckte um ihm Hilfestellung beim Rutschen zur Bettkante zu leisten.
„Auf, werter Herr. Als professioneller Barbier möchte ich meine Kundschaft nicht warten lassen. Ich bin gekommen um Sie zu ihrem Stuhl zu geleiten, ein heißes Getränk steht selbstverständlich zu Ihrem leiblichen Wohl schon bereit. Sie hatten den Termin für die fantasiereiche Flechtfrisur, wenn ich mich recht entsinne…?“


Matthew C. Sky

Es war schwer Clarence gehen zu lassen, auch wenn er ja eigentlich gar nicht wirklich weit weg zu gehen gedachte.
Seit Matthew wieder erwacht war, war das Zimmer in dem er sich befand, Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. Er kannte jedes Möbel, kannte die Aussicht aus dem Fenster und das Geräusch, wenn der Wind die Vorhänge aufblähte. Was jenseits der Zimmertür vor sich ging, wie der Flur und die Treppe dahinter aussahen, all das konnte der junge Mann nur erahnen. Die Besucher die ab und zu von unten nach oben zu ihm kamen, waren die einzigen die ihm ein Stückchen von der jenseitigen Welt brachten. Sie waren Matthews Schnittstelle zu dem, was hinter seinem Zimmer lag. Clarence war von allen Menschen der Wichtigste. Er beschäftigte sich mit ihm, gab ihm immer wieder neuen Input. Der Hüne passte auf, dass Cassiel nicht den Kopf in den Sand steckte, auch wenn ihm das nicht immer gelang. Wann immer der Blonde ging, führte sein Fortgehen Matthew deutlich vor Augen was er nicht konnte. Aufstehen, durch das Zimmer schreiten, den Flur dahinter durchqueren und die Treppenstufen nach unten nehmen. Was eigentlich völlig banale Dinge waren, war für den sonst so agilen und vitalen jungen Mann nicht mehr möglich.
Die Tür zur Außenwelt schloss sich in dem Moment, als Clarence ihn allein im Raum zurückließ um auf die Suche nach einer Schere zu gehen.
Matthew sah ihm hinterher wie er ging, geschmeidig wie eine große Raubkatze, der Hauch eines Lächelns auf den Lippen. Selbst als der Blondschopf schon verschwunden war, sah Cassiel noch immer zur Tür. Eine Weile fixierte er das Holz, so als könne er sie damit dazu bringen sich wieder zu öffnen - was natürlich nicht der Fall war.
Zu warten und auszuharren gefiel ihm nicht und es dauerte nicht lange, da gingen seine Gedanken auf Streifzug. Wie immer, wenn Matthew in den letzten wenigen Tagen ins Grübeln geriet, brachte das nichts hervor außer Sorgen und Befürchtungen.
Würde er wieder richtig auf die Beine kommen?Würde sein Gedächtnis zurückkehren? Was wenn er Zeit seines Lebens Schwierigkeiten haben würde sich zu konzentrieren? Warum hatte diese Sally ihm das angetan?
Matthew wollte sich diese Dinge nicht fragen, aber Tatsache war, dass er an nichts anderes denken konnte. Wer war er, dass Clarence immer wieder zu ihm zurückkehrte statt sich einfach irgendwann dagegen zu entscheiden? Gegenwärtig war er keine gute Gesellschaft. Er war schwach, er war unselbstständig und unansehnlich, sein Verstand - einst messerscharf - war zuweilen noch nicht wieder voll auf der Höhe. Er brauchte manchmal unüblich lange um einfache Dinge zu verstehen; und ab und an konnte er simplen Ausführungen einfach nicht folgen.
Man musste kein Genie sein, um sich vorstellen zu können wie anstrengend er für Clarence sein musste und auch wenn der Jäger mit Sicherheit sehr viel Geduld hatte, so konnte sich Matthew nicht vorstellen, dass seine Geduld mit ihm unbegrenzt war.
Je mehr Minuten verstrichen, umso trübsinniger wurde der Dunkelhaarige in seinem Bett. Er versuchte sich abzulenken, versuchte an andere Dinge zu denken als die, welche sich immer wieder in seinem Kopf drängten.
Aber die Stille im Zimmer und die Unfähigkeit etwas anderes zutun als zu warten, machten es ihm schwer. Es waren nicht die Schmerzen die ihm Angst bereiteten, sondern der Gedanke an das was wäre wenn… er nicht wieder vollständig fit wurde, was wäre wenn… das Leben das sie sich ausgesucht hatten nicht mehr funktionierte, was wäre wenn… er Clarence enttäuschte?
Als irgendwann Schritte jenseits der isolierten kleinen Welt des Dunkelhaarigen erklangen, machte das die düsteren Gedanken Matthews nicht etwa zunichte, sondern bestärkte sie nur noch. “Ich habe soeben die Erfahrung gemacht…, erklang es aus dem Korridor, noch ehe der Jäger das Zimmer überhaupt erreicht hatte. Nur einen kleinen Augenblick später, öffnete sich die Tür und da war er: Clarence, der Mann der ihn liebte und der alles dafür tun würde ihn wieder hinzubekommen. Was aber würde sein, wenn ihnen das nicht gelang? Traurig und schweigsam musterte Cassiel den Größeren, welcher auf den ersten Blick offenbar bei seiner Suche nach einer Schere keinen Erfolg gehabt hatte. Stattdessen hatte er zwei Tassen in den Händen, deren Inhalt heiß war und dampfte. Erfahrungsgemäß befand sich gesüßte Milch darin, ein Getränk das Matthew im Augenblick nicht wollte. Aufmerksam richtete sich sein Blick auf die hintere Hosentasche des Blonden, wo ihm sofort das in Leder eingeschlagene Bündel auffiel - also hatte er von Gretchen doch noch die gesuchte Schere bekommen.
„Die Leute hier sind eben anders als anderswo…“, versuchte Matthew ihr Zögern mehr schlecht als recht zu erklären, wobei er sich nicht so beiläufig anhörte wie er gern wollte.
„Vielleicht findest du hier jemanden mit dem du üben kannst. Du weißt schon…Jägergedöns und so. Möglicherweise würde deinen Händen ein bisschen Beschäftigung gut tun.“ - und damit meinte Cassiel nicht das Betüdeln seiner Person.
Mit keiner Silbe hatte sich der Schamane bisher beschwert, wenn er die Bettwäsche wechselte, wenn er ihm helfen musste sich aufzusetzen, wenn er ihn sauber hielt und Dinge für ihn tat, die Matthew ihm auf gar keinen Fall je hatte zumuten wollen.
Aber nur weil er nichts sagte, hieß das nicht das Clarence es mit ihm nicht doch zu viel wurde. Er war ein gesunder Kerl und es war nicht richtig das sich sein ganzer Tagesablauf nur um einem bettlägerigen Patienten drehte.
Von all den Überlegungen unbehelligt, klatschte der Hüne jäh in die Hände und rieb sie - seine Vorfreude bekundend - aneinander.
Ein kleines Schmunzeln legte sich auf Matthews Lippen, hervorgerufen durch den Tatendrang des Wildlings und durch sein loses Mundwerk.
Es war noch gar nicht so lange her, da hätte Clarence sich lieber noch einen Finger abgeschnitten statt mit seinem vorlauten Gefährten herumzuwitzeln und ihn aufzuziehen. Er war ernst und fokussiert gewesen und hatte nur selten Raum gelassen für so etwas wie gute Laune. Damals hatte Matthew nicht verstanden wieso der Hüne so war und viele Monate hatte er diese Tatsache einfach hingenommen und auch nicht ernsthaft hinterfragt.
Mittlerweile kannte er die Gründe seines Mannes, er wusste von dem Leid das ihm widerfahren war, wusste von dem Fluch der auf seinen Schultern lastete und ihn vom Glück einfach abschnitt, als sei Clarence nur ein loser Faden.
Glücklich sein war etwas das dem Blonden seither versagt war und trotz dieser Tatsache hatte sich etwas Elementares in seiner Art verändert. Er lächelte öfter, sein Blick war offener und es gab Tage, in denen stand seine Klappe der von Matthew in nichts nach.
Es war schön zu sehen wie aus dem wortkargen Jäger ein aufgeweckter Gefährte wurde und jedes Schmunzeln sowie freche Wort, erwärmte Cassiels Herz unermesslich.
Auffordernd wurden Matt nun die bekannten unvollständigen Hände hingehalten um ihm zu helfen. „Ich nehme die Flechtfrisur, wenn ich dir dafür die Haare schneiden darf…“, entgegnete der Kleinere und setzte sich mit der Hilfe des Größeren im Bett auf. Als das getan war, verharrte Matthew kurz, unsicher was neue Position anging. Zu liegen war das Eine, zu sitzen etwas Anderes und die Beine über die Bettkante zu schwingen und sitzen zu bleiben etwas, was er seit dem Vorfall nicht mehr getan hatte, so gewöhnlich der Vorgang an und für sich auch war.
Langsam löste Matthew seine Hände von denen seines Mannes und stützte sich unbeholfen neben seinem Körper mit ihnen ab um Halt zu finden, dann schob er seine Beine zur Seite in Richtung Clarence. Das aufrechte Sitzen verursachte zwar noch keinen zusätzlichen Kopfschmerz, sorgte aber für ein gewisses, unangenehmes Schwindelgefühl.
„Okay…Ich bin okay…“, sagte er leise um Clarence ungefragt zu beruhigen. Langsam nur rutschte er dichter zur Bettkante, bis seine nackten Füße schließlich den glatten Holzboden berührten. Unsicher blieb der junge Mann daraufhin sitzen, sah nach unten auf seine Füße und hoffte darauf, dass das Schwindelgefühl nachlassen würde. Er wollte aufstehen, wollte zu dem verdammten Stuhl gehen weil das verflucht nochmal kein großes Ding war. Wie schwer das in Wahrheit jedoch werden würde, war ihm allerdings schon jetzt deutlich bewusst.
Allein die Hände von der Matratze zu nehmen und damit seine Stütze zu verlieren, brachte ihn wieder ein bisschen ins Wanken, doch statt abzubrechen zwang er sich dazu aufrecht sitzenzubleiben. Nach all der Zeit die Matthew liegend im Bett verbracht hatte, war es kein Wunder, dass sein Kreislauf nicht auf der Höhe war und ihm zusätzlich zum Schwindel nun auch noch schlecht wurde.
„Wir…machen das jetzt. Ich krieg das hin…“ murmelte Cassiel und hob den Blick vom Boden in Clarence’ Antlitz. Der Dunkelhaarige war blass - zumindest dort wo seine Haut nicht von Hämatomen verfärbt war - aber entschlossen und verbissen genug, um den Versuch wirklich zu wagen. „Du hältst mich nur…wenn ich es nicht hinkriege, okay? Ich will es zuerst alleine versuchen.“ - kurz sah er zu dem Stuhl der nur wenige Schritte entfernt war, sich aber genauso gut auf dem Devil’s Teeth hätte befinden können.
Unsicher rutschte er weiter über die Bettkante, belastete seine Beine mit einem Teil seines Gewichts und versuchte schließlich, sich mit den Händen vom Rand nach oben zu stemmen. Unter der wachsamen Anwesenheit seines Mannes, gelang es Matthew unter Mühe sich aufzurichten und sich hinzustellen. Seine Beine trugen ihn zwar unsicher, aber allein das sie es taten, war mehr als Matthew hatte erwarten können. Ein Erfolg, der Kraft und Überwindung kostete. Aber einen Sieg bekam man nicht geschenkt, das wussten sie beide.


Clarence B. Sky

Der Trübsal, welchen sein Mann zuweilen blies, war dem aufmerksamen Jäger keinesfalls entgangen. Obwohl sie beide in einem sehr überschaubaren Abstand voneinander unabdingbar zurück geworfen worden waren – jeder auf seine Weise ans Bett gefesselt und unfähig die eigenen Gedanken festzuhalten – hätte sich ihr beider Einstellung nicht mehr voneinander unterscheiden können.
Wo Clarence ähnliche Beklemmung befallen hatte wie den Jüngeren kaum da sein Partner den Raum verließ, schaffe Matthew es derzeit nur schwer wieder zur Besinnung zurück zu finden, kehrte sein Bär zu ihm zurück. Der Dunkelhaarige war dann viel stiller als noch im eben geführten Gespräch, wirkte in sich gekehrt und mehr als nur lustlos.
Dass er sich sorgte um ihre gemeinsame Zukunft, um das was wird sein, konnte Claire ihm nicht verübeln und doch warf er ihm weiterhin vor, derart pessimistisch gegenüber seinen Gefühlen zum Söldner zu sein. Natürlich sprach Clarence das nicht laut aus; und dennoch – er selbst hatte Cassies Bemühungen und dessen frohe Hoffnungen als Antrieb genutzt um sich selbst wieder auf die Beine zu bekommen, hatte die Angst vor den eigenen potentiell bleibenden Einschränkungen als Ansporn gesehen, sein im Spinnenbau zermartertes Hirn wieder so gut es ging auf Hochtouren zu bringen.
Natürlich hatte er die vergangenen Tage nicht gesprächslos verstreichen lassen. Clarence hatte seinem Mann versucht dessen Bedenken zu nehmen wann immer es nur ging, hatte versucht im klar zu machen dass ein gemeinsames Leben viel mehr wert für ihn besaß als gemeinsam verlebte Abenteuer in körperlicher Ausuferung und extremster Belastung. Es scherte den Blonden nicht ob sie es schafften sechzehn Stunden am Tag zu segeln oder sechzehn Minuten, ob sie später einmal zehn Hektar Land besaßen welches sie zu zweit bewirtschafteten, oder einen Hektar Land um den er sich selbst kümmerte, während sein Mann den Rest ihres Lebensunterhalts bestritt.
All die Dinge und Sorgen, die Matthew derzeit wie eine unüberwindbare Hürde vorkamen, waren real und nicht schön angesichts dessen, was sie sich ausgemalt haben mochten – aber es war erstens nicht endgültig und zweitens nichts, wonach der blonde Bär sich nicht ruhigen Gewissens würde richten können. Cassie war nicht vom Hals abwärts gelähmt und deswegen – noch - auf seine Hilfe angewiesen, sondern geschwächt von einer schweren Verletzung.
Das einzusehen und zu verstehen, dass sie in einem gemeinsamen Leben dank ihres Glücks in die unmöglichsten Begebenheiten zu stolpern oft aufeinander angewiesen sein würden, begriff Matthew vielleicht niemals und Clarence bezweifelte nicht, dass der Stolz seines Partners ihn immer bis zu einem gewissen Grad hemmen würde. Aber tatsächlich fand der Ältere diesen sturen Charakterzug zuweilen noch viel anstrengender als die Aussicht auf eine lebenslange Verpflichtung zur Hilfestellung es jemals sein könnte.
„Ja, sicher finde ich hier jemanden für Jägergedöns. Weil wir Jäger uns auch so gerne mit fremden Clans abgeben und unser Wissen mit Zivilisten teilen wollen.“ - Clarence verkniff sich seinen ersten Gedanken, nämlich dass die Leute hier wirklich anders waren als anderswo – schmissen wildfremden Reisenden einfach Steine an den Kopf, in der Absicht Leben zu beenden und andere zu zerstören. Doch die vor seinem Aufbruch losgelöste Stimmung war zu schön gewesen um sie schon so früh wieder im Keim zu ersticken.
Auffordernd winkte er seinen Freund mit den Händen heran, ungeduldig und beinahe schon vorfreudig auf das, was sein Mann an diesem Tag tatsächlich mit ihm zu zelebrieren gedachte. Bislang hatte Cassie dieses vermaledeite Bett nicht wirklich verlassen; die Bettkante war das höchste der Gefühle gewesen, entweder weil seine Kopfschmerzen in den ersten Tagen zu schlimm geworden waren, oder aber weil ein plötzlicher Schwindel ihn übermannte. Und vielleicht - ganz eventuell vielleicht – auch deshalb, weil seine Angst zu versagen zu groß geworden war,
„Was du darfst und was nicht entscheide ich, wenn du endlich wie ein großer Junge auf beiden Beinen stehst. Also komm… denk an die Wanne voller heißem Wasser und an deine miefenden Duftölchen. Wenn das kein schöner Ausblick ist, weiß ich auch nicht“, versuchte der Hüne mit freudiger Stimme das Anstehende schmackhaft zu machen, wobei man nicht überhören konnte, wie wenig er selbst diesen Ölen entgegen fieberte. Für Clarence gab es nichts schlimmeres als sein Mann, der von Kopf bis Fuß roch wie eine dieser Parfümerien in Metropolen – das bereitete ihm übermäßig Kopfschmerzen, wenn auch sicher nicht so stark wie sie Cassie dann und wann noch überfielen.
Ihm nur als leichte Stütze und Widerstand zum Ziehen dienend, beobachtete Clarence seinen Mann mit wachem Blick, während dieser sich aus den zerwühlten Laken voran kämpfte. Wenn man Matthew kannte, stolz und agil wie er zuweilen sonst zu gehen pflegte, war sein Anblick noch immer kümmerlich und schmerzte einen alleine beim Zusehen tief. Es war grausam wie schnell eine einfache verrückte Frau einen strammen Kerl zu einem Häufchen Elend verkommen lassen konnte, so lange nur das Wurfgeschoss groß und der Aufprall hart genug war. Hätte Cassie bislang nicht jeden einzelnen Tag Fortschritte gemacht, sicher wäre dann auch der Bär nicht mal mehr halb so optimistisch. Aber da er das tat, sich jeden Tag selbst über seine Grenzen des Vortages hinaus trauend, war es für Clarence erstaunlich einfach im Vordergrund nicht mehr stehen zu sehen was sein Gefährte nicht konnte – sondern den Schwerpunkt seiner Sichtweise darauf zu richten, was Cassie schon alles wiedererlangt hatte.
Im Wissen dass die halbwegs überzeugenden Äußerungen mehr der Selbstermutigung dienten als Claire wirklich über irgendetwas in Kenntnis zu setzen, ließ er Cassie dessen Ruhe ohne ihm herein zu reden. Es ging nicht nach dem Tempo das Claires ungeduldige Vorfreude sich herbeigesehnt hätte, sondern ganz alleine nach Cassies Bereitschaft zur Wagnis.
„Sieh nach oben, zu mir… ist besser für deinen Kreislauf“, forderte der Schamane ruhig und kaum so geschehen, legte sich trotz der Blässe um die fremde Nasenspitze das schmale Lächeln zurück auf Claires Lippen.
„Vielleicht halte ich dich auch gar nicht, sondern schmeiße mich nur unter dich wenn du fällst. Überleg ich mir spontan.“ – ein kläglicher Versuch die Stimmung an einem Punkt aufzuheitern wo eigentlich nichts mehr zu retten war, denn Claire kannte seinen Mann. Matthews Stimmung für die kommenden Tage würde mit diesem Versuch hier steigen oder fallen; schaffte er nicht was er sich in den Kopf gesetzt hatte, würde der Bär die Konsequenzen deutlich zu spüren bekommen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Dementsprechend gespannt atmete Claire durch, beobachtete jede der schwachen Bewegungen seines Geliebten, jedes Fingerzucken und jede Veränderung der Positionen seiner Füße. Das hier musste einfach klappen, zu Cassies heil und auch zu seinem eigenen – denn dass Bennett ihn sonst zu Kleinholz verarbeiten würde wenn dem Patienten etwas passierte, kam noch oben drauf.
Beinahe schon übervorsichtig behielt er seine Pranken ausgestreckt in der Nähe des Jüngeren, wollte ihm die Möglichkeit geben sich an ihm packen zu können sobald Schwindel drohte ihn dahin zu raffen und gleichfalls möglichst kurze Wege zu haben, sollte er wirklich beherzt zugreifen müssen wenn Cassie stürzte.
Doch wider allen Erwartungen, wider jeder schlechten Befürchtung, passierte nichts von alledem; stattdessen brauchte es zwar einen Moment, aber dann stand Matthew vor ihm. Leichenblass und sichtlich abgebaut, aber völlig egal, das war nicht das was im Moment zählte.
Schweigend musterte der barbarische Wilde seinen gegenüber, noch immer lächelnd und mit einem seltsamen funkeln in den Augen. Wachsame Menschenkenner hätten nun diagnostiziert dies sei der sentimentale Hauch von Rührung, aber natürlich gab es so etwas bei hünenhaften Bären nicht. Niemals!
„Hi Süßer.“ – Zaghaft reckte Claire seine Hand aus und streifte die des Jüngeren mit seiner Fingerspitze, unsicher ob der vorlaute Taugenichts früher auch schon so groß gewesen war. Dass Sally Mitchell ihn nieder geschlagen hatte, kam ihm vor als wäre es erst gestern gewesen – und den Dunkelhaarigen auf den Beinen zu sehen wie eine halbe Ewigkeit. Dabei war es gar nicht unbedingt das erste Mal, dass sie sich in einer solchen Situation widerfanden; ihr Kennenlernen hatte nicht ganz unähnlich ausgesehen und auch damals hatte es früher oder später einen Moment gegeben, an dem sie sich nach viel zu langer Pflege das erste Mal gegenüber gestanden hatten.
„Mein wunderschöner Bart ist tabu, klar? Aber wenn du dich erbarmen würdest deinen alten, eingenässten Gatten mal in den Arm zu nehmen… kannst du mir die Haare schneiden wie du magst. Ich geb mir auch besonders viel Mühe bei deinen Zöpfchen, okay?“


Matthew C. Sky

Aufgeregt klopfte Matthews Herz in seiner schmalen Brust, pumpte Adrenalin durch die Adern und verstärkte - sehr zum Leidwesen des Jüngeren - den Kopfschmerz und das Schwindelgefühl, obgleich kein Wort darüber über seine Lippen kam.
Die Muskeln seiner Beine zitterten sichtbar und auch sonst offenbarte Matthew in jenen Sekunden nach seinem ersten Aufstehen all seine Schwäche.
Es fiel ihm schwer, sich aufrecht zu halten und trotz alledem fühlte er sich gerade wie ein Held. Der vor Rührung ganz weich gewordene Blick seines wilden Barbaren, sorgte dafür das sich seine Unsicherheit in Stolz wandelte. Übertrieben vielleicht, angesichts der Tatsache wie sehr er sich anstrengen musste, nur um ohne Hilfe stehen zu können. Aber Fakt war, seit elf Tagen hatte er nichts getan als zu liegen, sich bemuttern und untersuchen zu lassen und zu Anfang um sein Leben zu kämpfen. Der winzige Schritt den er aus dem Bett geschafft hatte, war mehr als nur ein Schritt. Es war ein Sieg über alle Sally Mitchells dieser Welt. Über Menschen, die meinten das Recht zu haben über das Leben und Sterben anderer zu urteilen. Und beinahe wäre ihr perfider Plan geglückt. Aber er war nicht tot, so wie die Fremde es beabsichtigt hatte und er war auch nicht mehr gänzlich hilflos an dieses Bett gefesselt.
Die Fähigkeit, allein aufzustehen und stehen zu bleiben war ein Stück Eigenständigkeit und diese war gerade für Matthew ein kostbares Gut. Er war niemand der es genoss sich von anderen umsorgen zu lassen, zumindest nicht wenn dieser Zustand etwas war der sein musste und nicht etwa vergnüglichem Miteinander galt.
Vergnüglich war an ihrer momentanen Situation freilich nichts, aber hier zu sein und vor Clarence zu stehen, war ein unerlässlicher Wegpunkt auf dem Pfad zu seiner Wiederherstellung. Auch wenn es den Dunkelhaarigen unverkennbar anstrengte und er sichtlich blass war, er bekam es hin: er blieb stehen - und das war weitaus mehr als irgendein Arzt ihres Kontinents ihm wohl derzeit zugetraut hätte. “Hi, Süßer…“ begrüßte Clarence seinen lädierten Ehemann mit Rührung im Tonfall und im Blick. Die Wärme jener tiefen Stimme und den stahlgrauen Augen konnte Matthew mit keinem Wort beschreiben, aber dafür umso intensiver fühlen. Der Blondschopf war stolz auf ihn und wenn Clarence es war, dann konnte Cassiel es auch sein.
Ein schwaches und dünnes Lächeln zeigte sich auf den ramponierten Zügen des Dunkelhaarigen und als Clarence’ Fingerspitzen ganz hauchzart die seinen streiften, schluchzte und lachte er kurz auf. Die enorme Anspannung des jungen Mannes, die Angst zu versagen und einfach körperlich zu jenem Schritt nicht in der Lage zu sein, fiel von ihm ab. Matthew öffnete seine Arme und fiel Clarence regelrecht um den Hals, presste sich an ihn und hielt sich zu gleich auch an ihm fest. „Hi, Baby…“, erwiderte er mit nicht weniger brüchig klingender Stimme.
Der ehemalige Kopfgeldjäger hatte sich so verbissen in den Kopf gesetzt aufzustehen, aber er hatte nicht daran geglaubt es wirklich zu schaffen. Bis auf seine baumwollne beige Unterwäsche, trug er nichts wodurch sein Zittern noch deutlicher ausfiel. Ob vor Kälte oder vor Anstrengung war dabei nicht ersichtlich, aber im Moment scherte sich Cassiel nicht darum wie sehr er fror.
Clarence nach all der Zeit - die ihm ewig vorgekommen war - wieder gegenüber zu stehen, fühlte sich überwältigend an. Auch wenn sein Kreislauf noch immer verrückt spielte, der Kopfschmerz ein unangenehmes Maß erreicht hatte und ihm schlecht war, so dachte Cassiel nicht einmal daran sich wieder zu setzen oder gar hinzulegen. Mit blassen Lippen drückte Matthew Clarence einen Kuss auf die Wange, eine Art stummer Dank dafür, dass er bei ihm war. Ohne den Blonden wäre Matthew schon viel früher gestorben, alles was danach gekommen war, jeder Atemzug, jede schöne Aussicht und jedes gute Essen, schlichtweg alles war eine Zugabe die er nur Clarence verdankte. Sein Leben würde wahrscheinlich nicht lang genug sein um dem Blondschopf ausreichend zu danken, aber Matthew hoffte, dass Clarence wusste wie sehr Matt ihn brauchte und wie dankbar er für dessen Liebe und Gefährtschaft war.
„K-keine Zöpfe, sonst rasier’ ich dir im Schlaf den Bart…“, brachte er schließlich über die Lippen und sah zu seinem Partner auf. Matthews eines Auge wies noch immer Einblutungen auf, doch da die Schwellung bereits etwas abgeklungen war, war sein Blick dennoch klarer als noch vor Tagen. Er sah nicht mehr aus wie ein Fremder, sondern schon wieder mehr wie eine - zugegebenermaßen entstellte - Version von sich selbst. Die Hände noch immer um den Hünen gelegt, fiel es ihm leichter stehenzubleiben, denn der Größere gab ihm nicht nur in seelischer Hinsicht Halt.
Dennoch, bis zum Stuhl zu kommen war eine Aufgabe die er allein bewältigen musste, wenn er sich selbst treu bleiben wollte. Für einen Menschen der so zäh war wie Matthew, war es schwer sich weniger als alles abzuverlangen. Er hatte sich Schwäche niemals leisten können, sie war jenen Menschen vorbehalten die andere Leute hatten die den Kopf für ihr Versagen hinhielten. Aber wer auf sich allein gestellt war, der trug auch sämtliche Konsequenzen des eigenen Tuns - oder eben auch des eigenen Nichthandels - für sich. Die Verfassung Matthews konnte noch so schlecht sein, so lange er wach war, so lange sein Herz schlug, so lange würde er auch ums Überleben und um Eigenständigkeit kämpfen. Er wollte für niemanden eine Belastung sein, am allerwenigsten für seinen Wildling. Vorsichtig sah der Kleinere über dessen Schulter hinweg zu dem kleinen Kosmetiktischchen auf dem Clarence sein Werkzeug und auch die Tassen abgelegt hatte.
An dem Spiegel hingen alte Bilder und Fotografien von dem Mädchen, welches einst dieses Zimmer bewohnt hatte und von dem Bennett bis Dato noch nicht gesprochen hatte.
Der Weg bis zu dem Platz war vielleicht fünf oder sechs Schritte weit, ein Katzensprung für einen gesunden Menschen, aber Matthew war nicht gesund, wie man ihm bereits von weiten ansehen würde. Nicht nur seinem Kopf und Gesicht sah man die Attacke überdeutlich an, sondern auch seiner Haltung. Er war schon immer zierlich gewesen, doch die Tage im Bett hatten ihn gezeichnet, er hatte abgebaut und es würde noch einige Zeit dauern bis er wieder richtig auf dem Posten war.
„Ich… geh jetzt und setz mich wieder…“, ließ er Clarence wissen, obgleich nicht das sich setzen sondern eher das Gehen das Problem werden könnte. Dennoch löste sich der Dunkelhaarige nun wieder von seinem Liebsten, straffte seine Schultern und atmete durch. In seinem Kopf pulsierte der Schmerz und seine Beine waren alles andere als stabil und kaum setzte er den ersten Fuß nach vorne, gaben seine Beine nach. Für den Bruchteil einer Sekunde geriet er ins Straucheln und es sah sehr danach aus als würde er stürzen. Nur die unmittelbare Nähe zu Clarence vereitelte das Schlimmste, den ebenso wie der Jäger parat war ihn aufzufangen, konnte sich auch der Jüngere gerade noch rechtzeitig an dem Älteren festklammern. „Scheiße…“, fluchte er leise und erschrocken, schluckte schwer und lehnte seine Stirn kurz an die Schulter seines Gefährten. Zu behaupten es ging ihm gut und er sei der Sache gewachsen, wäre eine glatte Lüge gewesen.
„Ich krieg das hin…ich krieg das hin…“, er musste es hinkriegen. Alles andere war keine Option, selbst dann nicht wenn es vernünftiger gewesen wäre. Erneut löste er sich von Clarence, setzte vorsichtig seinen Schritt erneut und schaffte es dieses Mal stehenzubleiben. „Noch fünf…“, zählte er angespannt, schluckte erneut und sah zu dem Größeren, versicherte sich seiner Gegenwart und seines Zuspruchs. Beides brauchte er, vielleicht sogar mehr als den Mut den es benötigte den nächsten Schritt zutun.


Clarence B. Sky

Matthew brauchte kein Wort sagen damit sein Mann erkannte, wie schwer es ihm fiel sich auf den Beinen zu hallten. Der schmale Leib des Jüngeren zitterte wie Espenlaub, seine Beine wirkten auf einen Außenstehenden wie aus Gummi gemacht und die kaltschweißigen Perlen auf Cassies Stirn offenbarten, dass es um seinen Kreislauf alles andere als gut stand.
Für den Schamanen, der nicht zum ersten Mal dabei war wie der Söldner von den toten wiederauferstand, war dieser Anblick nicht neu – doch heute umso furchteinflößender. Nicht länger ein Fremder war es, dem er dabei zusah wie jener sein Glück aufs Spiel setzte, sondern sein bester Freund, Geliebter und Ehemann. Aus dem unbekannten Patienten war über Monate und Jahre hinweg sein engster Vertrauter geworden und würde Matthew heute etwas zustoßen weil er nicht gegen seinen eigenen Stolz ankam, würde das auch für Clarence völlig andere Konsequenzen mit sich tragen.
Sally Mitchell, der personelle Unmut über ein Paar das aus zwei Männern bestand, Cascade Hill City… all das war für diesen Moment völlig aus Claires Bewusstsein gelöscht. Was blieb war das blasse und zugleich wächserne Antlitz des Mannes den er liebte; des Menschen, ohne den sein eigenes Leben keinen Sinn mehr haben würde.
Schhh… ist gut“, wisperte es leise über die Lippen des Bärtigen, kaum da er das Schluchzen und schließlich die schwachen Arme um seinen eigenen Hals vernahm. Was dieser Moment für sie beide bedeutete, mochte sogar jemandem bewusst sein der nicht in ihrer Lage steckte – doch was es hieß ihn auch bis tief in jede Faser des eigenen Leibes zu verspüren, war etwas völlig anderes.
Vor wenigen Tagen noch hatte man ihm nicht mal versprechen können, Cassie würde überleben. Danach, das Gröbste überstanden, hatte der Quacksalber nicht seine Hand dafür ins Feuer legen können, dass Matthew nach seinem potentiellen Erwachen noch der gleiche sein würde wie vorher; und hier, heute, in diesem furchtbaren Kaff welches nichts weiter war als ein unbekannter Fleck auf der Landkarte – da stand er nun endlich wieder vor ihm. Wankend zwar und vielleicht etwas zu schwach als bei seinen angestrebten Bewegungsversuchen gut für ihn gewesen wäre und trotzdem in voller Größe und mit dem funkelnden Stolz in den kandisfarbenen Iriden, der nur einem sturen Bock wie Matthew Cassiel zu eigen war.
Ob es ihm gefallen hatte sich umsorgen zu lassen oder nicht, ob es ihm unangenehm war wenn sein angetauter Ehebär ihn temporär umsorgen musste wie ein kleines Kind – in diesem einen Augenblick schien das alles keine Rolle mehr zu spielen.
Der Kampf, den sie miteinander ausfochten – mit dem Jüngeren an aller vorderster Front – mochte noch nicht endgültig gewonnen sein und doch erklommen sie heute an diesem Tag eine Etappe miteinander, die vor zwei Wochen noch völlig undenkbar gewesen wäre.
Ergriffen von dieser Erkenntnis schlossen sich die starken Arme des Jägers um den schmalen Rücken seines Mannes, pressten ihn sanft an sich und sehnsüchtig presste Clarence seine Nase in die Halsbeuge des Vorderen. Es war das eine dem eigenen Mann täglich in horizontlaer Ebene nahe zu sein und im Bett einen Arm um ihn zu legen; etwas völlig anderes war es hingegen, sich wieder in gewohnter Manier gegenüber zu stehen. Ebenbürtig, ohne dem vordringlichen Wissen zu unterliegen, dass einer von dem anderen abhängig war – und dass diese Gleichstellung bei Cassie in der Regel auch immer ein paar freche Äußerungen mit sich brachte, machte seine Fortschritte der Rekonvaleszenz nur umso offensichtlicher.
Ungläubig darüber wie ein einzelner Mensch nur so unfassbar sein konnte wie der ihm angetraute, schüttelte Claire unmerklich seine blonde Mähne und hielt nicht damit zurück, den Kreislauf der Drohungen noch etwas auszudehnen: „…rasierst du mir im Schlaf den Bart, schmeiße ich all deine Tiegelchen und Seifen von Bord und verdamme dich zu einem Leben mit natürlichem Körpergeruch.“
Das mochte ein seltsamer Konter sein, aber ein guter – zumindest wenn man Cassies Vorlieben und Neigungen kannte und den Wert den der junge Mann darauf legte, sich durch Pflege von der restlichen grauen Masse abzuheben.
Auch wenn es manchem befremdlich erschienen wäre, dass sie in den ersten Sekunden nach Matthews Auferstehung von den Toten nichts anderes als scheinbar böse Worte füreinander übrig hatten, so tat es gut sich in alter Manier zu wecken. Zu spüren wie die Lebensgeister langsam wieder in seinem Mann erwachten war ein Segen, der Clarence unbezahlbar war.
Stockend und dünn setzte der Jüngere seinen Wildling von den angestrebten Plänen in Kenntnis, eine Idee die nicht unbedingt die schlechteste war so wie Matthew aussah. Sein Kreislauf machte eine Berg und Tal Fahrt mit ihm, das sah sogar ein Blinder, und wie Cassie es angesichts dessen aufrecht bis zum Tisch schaffen wollte, wäre sicher sogar einem Magier ein Rätsel gewesen.
Clarence‘ Pumpe ging nicht weniger in einem viel zu schnellen Takt wie die seines Mannes, denn ihm wahrsten Sinne stieg und fiel das weitere Vorgehen mit Matthew selbst. Brach er ein, machte auch seine Motivation einen Rückschritt und sollte er es wider Erwarten schaffen sogar ein ganzes Vollbad zu überstehen, hieß das unendliche Zuversicht. Zuversicht, die Cassie dringend benötigte um nicht an sich selbst zu zerbrechen und die ihm gerade durch die Finger zu rinnen schien wie Sand, kaum da der erste Schritt ihn bereits aus der Bahn warf.
Noch immer jeden funktionierenden Nerv seines Körpers angespannt, zuckten die Arme des Wildlings ohne groß darüber nachdenken zu müssen dem Kleineren entgegen und fingen ihn dadurch wenigstens mit der Brust auf, an welche Cassie sich verdrossen lehnen konnte.
Es wäre eine glatte Lüge zu behaupten, dass die Dinge derzeit nicht scheiße wären“, pflichtete der Jäger seinem Mann in einem leisen Nuscheln bei – denn gottverdammt, natürlich hatte Matthew recht damit. Nicht scheiße wäre es, wie geplant die Vorratskammer auf der Harper Cordelia voller Essen zu haben und wieder auf See zu sein, fernab dieser Insel – aber im Leben kam es selten so wie geplant. Die wahre Kunst war es nicht sich seine Träume zu erfüllen, das konnte jeder Idiot mit ein bisschen Mumm und Talent, insofern er nicht bei dem Versuch drauf ging. Die wahre Gabe war es, überhaupt erst mal am Leben zu bleiben und nicht unter zu gehen. Und weil Cassie eben dies wusste, scheute er auch nicht, sein Glück erneut aufs Spiel zu setzen.
Der folgende Schritt sollte ihm tatsächlich gelingen, ein Unterfangen dem Clarence mit spürbarer Anspannung und Zweifel beiwohnte und das er für alles andere als gut befand. Dass sein Mann sich aber ausgerechnet bei ihm in diesem waghaften Szenario Zuspruch mit seinem stummen Blick versprach, war eine beinahe schon utopische Hoffnung.
„Sieh mich nicht so an als erwartest du jetzt von mir Jubelrufe… ich muss meinen Atem für die Schreie nach Bennett sparen“, schüttelte Clarence abermals den Kopf, eine unbestritten völlig andere Reaktion, als sein angeschlagener Ehemann sich unzweifelhaft erhofft hatte. Sein erfolgreiches Vorankommen ein Schritt näher dem Tisch entgehen hatte die Rührung aus den blaugrauen Augen nicht hinfort geweht, ganz im Gegenteil – er war im Augenblick so stolz wie niemals zuvor auf seinen geliebten Mann. Aber nicht nur hielten sich Stolz und Angst die Waage, nein; wenn er die Wahl hatte, dann hatte er lieber einen lebendigen und langsam genesenden Partner als einen übermütigen toten.
Cassie, du musst nicht… du brauchst-…“ – vorsichtig hob er seinen Arm um mit den Fingern über den Matthews zu streichen was wirklich keine Kunst war, denn weit war sein stures Böckchen ja noch nicht gekommen. „Ich weiß du willst alles lieber noch gestern als sofort, aber… du bringst mir nichts, wenn du stolperst und dir den Schädel an dem doofen Stuhl vom Schminktisch wieder entzwei schlägst…
So verschieden sie auch sein mochten, im Grunde waren sie doch beide aus ein und demselben Holz geschnitzt. Sie errungen glorreiche Taten lieber für sich selbst als für andere, waren stur wenn sie sich gewisse Ziele gesteckt hatten und taten sich schwer damit Vorstellungen den tatsächlichen Begebenheiten anzupassen, wenn sie sich etwas fest in ihre Dickschädel hinein zementiert hatten. So wie Clarence gewillt war in ein Feld voller Spinnen zu rennen auch wenn es offensichtlich keine gute Idee war, wollte Cassie seine Fortschritte alleine bewältigen auch wenn er wusste, sich damit mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst ins Verderben zu stürzen. Aber wenn er nicht um seiner selbst willen auf sich achtgeben wollte so wie der Jäger, vielleicht tat er es dann wenigstens seinem Mann zuliebe.
Wortlos umgriff Clarence das Handgelenk seines Mannes, nicht gewillt es wieder gehen zu lassen, und legte sich bestimmend den Arm seines Gatten um die Schultern. Sollte Cassie zetern und sich dagegen aufbäumen wie er wollte, sollte er ihn doch stundenlang anschweigen vor Wut – diese Stille war dem Hünen bei weitem lieber als die Stille die aufkommen würde, wenn der Dunkelhaarige sich zurück ins Koma stürzte.
„Denk dran was du mir antust wenn dir was passiert und dass du noch baden willst. Wir gehen die Wege heute zusammen und morgen… morgen wirst du mutiger sein dürfen, wenn du dich heute gut schlägst und deine Beine gelernt haben, deinen Adoniskörper wieder zu tragen.“
Nicht mal eine Frage war das – denn die Antwort darauf kannte Clarence schon jetzt.
Auffordernd hielt er Cassies Handgelenk fest damit jener seinen Arm nicht von den stützenden Schultern seines Mannes zurück ziehen konnte, während der Bär seinen anderen um Cassies Hüfte schlang.
„Ich liebe dich wirklich, aber du kannst mich auch manchmal echt zur Verzweiflung treiben. Weißt du das?“, blickte Claire aus der Nähe zu seinem Mann hinab, die Augen leicht zusammengekniffen so als habe er Angst davor, sein Söldner könne ihm diese schlagartig ausstechen wo er ihm doch seine Mündigkeit gerade abgenommen hatte. „Ich wollte ja eigentlich mein Glück herausfordern und es dich nicht wissen lassen, aber… ich weiß durchaus noch, dass ich dir versprochen habe zukünftig um deines Willen vernünftiger zu sein. Oder besser weiß ich es wieder, also… sei du es gefälligst auch. Und jetzt komm, sonst wird deine Milch kalt.“


Matthew C. Sky

Der Blick zu Clarence, von dem sich Matthew aus unerfindlichen Gründen Zuspruch erhofft hatte, brachte ihm nichts dergleichen ein, denn Clarence war von seiner Idee nicht begeistert. Kein Wunder, wenn man bedachte was alles passieren konnte. Um die fünf Schritte waren es, die ihn von dem Stuhl trennten und obwohl die Distanz beinahe schon lächerlich gering war, schien von den beiden jungen Männern keiner so recht darüber lachen zu können. Es war ein Trauerspiel Matthew dabei zusehen zu müssen wie dieser sich zwingen musste stehenzubleiben und nicht umzukippen.
Die Sorgen im Blick des Schamanen waren so unübersehbar wie das Zittern von Matthews schmalem Körper. Sie wussten beide, dass er unbedingt die Meter allein zurücklegen wollte, dass es ihm wichtig war die Schritte ohne Hilfe zu gehen. Ein Triumph würde ihn stärken, eine Niederlage mental weit zurückwerfen.
Schon seit er wieder erwacht war, hatte er sich in den Kopf gesetzt möglichst schnell wieder auf die Beine zu kommen. Bennett hatte mehr oder minder erfolgreich sämtliche dieser Unterfangen im Keim erstickt, hatte an ihn appelliert er möge sich Zeit geben, weil Zeit das einzige war das ihm helfen würde wieder zu Kräften zu kommen.
Geduldig sein, abwarten, sich nicht überfordern - all die guten Ratschläge des Doktors waren gerade ad absurdum geführt. Matthew hatte kaum Geduld mit irgendetwas oder irgendwem, am wenigsten aber mit sich selbst.
Clarence war in dieser Hinsicht nicht anders, er hatte sich mehrfach aus dem Bett gestürzt im irrsinnigen Versuch Cassiel zu folgen. Sein Weg der Genesung war nicht minder steinig gewesen als der des Dunkelhaarigen und er hatte die selben Allüren gezeigt wie Matthew. Dass sie beide stur waren, machte es natürlich nicht leichter, zeigte aber dass sie aus dem selben Holz geschnitzt waren. Stur, eigensinnig, sich selbst gegenüber nur wenig nachsichtig. Natürlich musste Matthew das hier nicht tun, er wusste das Clarence niemals verlangen würde das er nun allein klar kam. Aber Matthew wollte es trotzdem und zwar so sehr und unbedingt, dass er auch ohne den Segen seines Mannes sein Glück versuchen würde.
Und so wandte er den Blick wieder von dem Jäger ab, konzentrierte sich auf sein Ziel und verlagerte vorsichtig sein Gewicht auf ein Bein, um das andere einen winzigen Schritt nach vorne zu setzen, all das ohne sich noch einmal bei Clarence rückzuversichern.
Doch der Hüne ließ nicht zu, dass Cassiel den Schritt wie beabsichtigt setzte. Stattdessen umfasste er unvermittelt das Handgelenk des Jüngeren und legte sich dessen Arm um die Schultern. Ganz so, als habe Matthew kein Mitspracherecht mehr. „He was…soll das? Lass mich…“, protestierte der Jüngere so energisch wie sein Zustand es ihm erlaubte. Wenn Clarence ihn nicht festgehalten hätte, der Dunkelhaarige hätte sehr wahrscheinlich bei dem folgenden Versuch sich von ihm zu lösen, unsanfte Bekanntschaft mit dem Dielenboden des Zimmers gemacht. Was der Blonde da tat glich nichts anderem als Verrat in den Augen des Söldners. Er wollte keine Hilfe, weder von Clarence, noch von Bennett, noch von Arquin oder irgendeinem anderen Menschen. Das hier, so kümmerlich es auch aussah und so gefährlich es auch sein mochte, war seine Schlacht und er musste sie schlagen. Alleine, so wie immer.
Mit wütend funkelnden Augen sah er zu Clarence empor, der seinen Blick aus zu schmalen Schlitzen verengten Iriden erwiderte. Matthew zweifelte nicht daran, dass dem Jäger vollkommen bewusst war was er tat und dass er damit seinen Unmut auf sich zog.
“Ich liebe dich wirklich, aber du kannst mich auch manchmal echt zur Verzweiflung treiben. Weißt du das?“ – was kümmerte es Cassiel ob er bequem oder unbequem war? Im Augenblick wollte er alles dafür tun um den Größeren zu entlasten – das war zumindest was sich der Dunkelhaarige vorrangig einredete. In Wahrheit ging es ihm aber bei seinem Unterfangen weniger um Clarence als um sich. Er wollte wieder Stehen und Gehen können, er wollte wieder ein Stück Eigenständigkeit für sich erobern und sei es mit Gewalt. “Ich wollte ja eigentlich mein Glück herausfordern und es dich nicht wissen lassen, aber… ich weiß durchaus noch, dass ich dir versprochen habe zukünftig um deines Willen vernünftiger zu sein. Oder besser weiß ich es wieder, also… sei du es gefälligst auch. Und jetzt komm, sonst wird deine Milch kalt.“
„Ich kann die verfickte Milch nicht ausstehen!“ – polterte Matthew, so als sei das Getränk der Ursprung all seiner Wut.
„Lass mich gefälligst los, ich kann allein gehen!“ – setzte er unmittelbar nach und versuchte abermals, sich dem Griff des Armes zu entwinden, der sich um seine Taille geschlungen hatte. Aber natürlich konnte er eben nicht allein gehen, dieser Umstand war ja der Ursprung all seiner Sorgen und der damit einhergehenden Wut.
Letztere wurde auch nicht abgemildert durch die – eigentlich – versöhnlichen Worte des Größeren. Unter anderen Umständen, hätte Matt das Gesagte sofort aufgegriffen und seinen Gatten wissen lassen, dass er ihn künftig regelmäßig an seine Worte erinnern würde. Aber im Moment dachte er gar nicht soweit, auch nicht daran, dass es für Clarence ein massiver Fortschritt war, wenn er sich erinnerte. Das Meiste von dem was er in den Tagen und Wochen nach dem Verlassen des Spinnenfeldes mit dem Blonden besprochen hatte, hatte dieser bereits am nächsten Tag wieder vergessen. Das Buch Moby Dick war bisher nicht zum Ende vorgelesen worden, einfach weil sie immer und immer wieder neu hatten beginnen müssen. Die Geschichte von White Bone, Matthews letzten Tage dort und was ihm und seinen Freunden angetan worden war… nichts davon wusste der Blondschopf mehr. Die Erinnerungen daran waren so verschüttet wie die Erinnerung an Sally Mitchell bei Matthew.
„Spiel dich nicht auf wie mein Retter… Ich brauche keinen Aufpasser!“, genau genommen war Clarence genau das: sein Retter und sie wussten das beide. Zur Not würde Matthew bis zu dem elenden Stuhl kriechen, denn zu gehen würde er nicht schaffen. Allein aufrecht stehenzubleiben kostete ihn mehr Mühe als er zugeben wollte und ohne seinen Beschützer wäre er schon nach dem ersten Schritt hingefallen. Dem jungen Mann war bewusst wie wenig er im Augenblick auf sich selbst achtgeben konnte, aber wenn man ihn so sah, dann könnte man meinen er sei noch genauso kratzbürstig wie zu ihrem Kennenlernen – und gerade in jenem Moment, stimmte das auch. Er fühlte sich wie ein Einzelkämpfer, wie jemand der sich auf niemanden außer sich selbst verlassen konnte – eine Anwandlung die nicht von Dauer war.
Missmutig schnaufte Cassiel, wandte stur den Blick von Clarence‘ Antlitz ab und fixierte den Stuhl mitsamt dem Kosmetiktisch davor. Zu der Aufregung wegen der körperlichen Anspannung hatte sich unlängst Aufregung wegen seiner Unzufriedenheit und Wut gemischt. Es war nicht logisch, dass er derart dünnhäutig war und sicher tat er Clarence mit seiner Art unrecht. Der Wildling war nicht daran interessiert zuzulassen, dass er hinfiel. Er wollte keinen Sturz riskieren, kein erneutes Anschlagen seines Kopfes. Er wollte ihn heil und gesund – und vor allem brachte Clarence jene Geduld mit Cassiel mit, die dem Jüngeren fehlte. In den allermeisten Situationen wertschätzte Matthew es, wenn der Größere auf ihn aufpasste, aber der Griff um seine Taille und um sein Handgelenk führte ihm auf zu deutliche Art vor Augen, wozu er nicht in der Lage war. Es tat weh, sich einzugestehen Hilfe zu brauchen und ein stolzer Mensch wie Matthew hatte damit schlichtweg enorme Schwierigkeiten.
Aber wie weh würde er erst Clarence tun, sollte er bei seinem bockigen Versuch wirklich stürzen und sich den gebrochenen Schädel irgendwo anschlagen? Angespannt presste er seine Lippen aufeinander und schwieg. Der erste Impuls sich zu entwinden war verstrichen und nach den ersten erfolglosen Versuchen, unternahm der Dunkelhaarige keinen Weiteren mehr. Der Missmut stand ihm im Gesicht geschrieben, umso deutlicher wurde dies als er den Kopf hängen ließ und zu Boden sah. Vielleicht würde er morgen wirklich mutiger sein dürfen, vielleicht schaffte er morgen einen Schritt zu gehen. Vielleicht dauerte es noch Tage, vielleicht aber auch Wochen.
Und irgendwann zwischen seiner Schimpftirade und dem Blick nach unten auf den Dielenboden, wurde Matthew klar, dass er hier weg wollte. Weg aus dem Zimmer, aber vor allem weg von dieser Insel. Wenn er irgendwo das Gehen neu lernen musste, dann wollte er das Zuhause tun und nicht hier. „Kannst du… mir jetzt endlich die Haare schneiden?“


Clarence B. Sky

Für Clarence, der nicht weniger stur war als sein Partner wenn es um die eigenen Fortschritte der Genesung ging – ob er sich das nun eingestehen wollte oder nicht – war die Situation nicht einfach zu händeln, in der sie sich zunehmend befanden.
Er selbst, viel zu lange ans Bett gebunden und ohne Zugang zu derart starken Schmerzmitteln wie sein Mann sie bekam wenn er es denn zuließ, hatte seine Lage als nicht mal halb so dramatisch wahrgenommen wie den Zustand, in den Matthew wider Willen versetzt worden war. Sie waren sich bis heute nicht im Klaren darüber was nun genau mit dem Schädel des Jägers passiert war, ob er tatsächlich Frakturen erlitten hatte oder nicht. Der Jüngere hingegen hatte seine Diagnose – und zu wissen in welch kritischem Zustand die Knochen im Kopf seines Geliebten waren, machte Claire weitaus übervorsichtiger als er es mit sich selbst gewesen war.
Jedes Straucheln konnte zu einem Sturz führen und jeder Sturz zu einer Kette von Reaktionen, die nicht mehr aufzuhalten sein würde. Was war, wenn Cassie sich einen Teil seines Schädeldaches ganz und gar brach, sich die Platte mitten ins Hirn rammend? Was war, wenn er sich doch noch definitiv bleibende Schäden zuzog, nur weil Clarence nicht gut genug auf ihn aufgepasst hatte? Beschützte er den Kerl den er liebte nicht vor seinem eigenen Sturkopf, wäre er am Ende nicht nur Schuld an dessen Schmerzen und seinen abgebauten Kräften, sondern auch daran, dass aus Cassie Gemüse geworden war. Welcher Mensch auf Erden wollte schon mit so einer Gewissheit leben, in dem steten Bewusstsein den bedeutsamsten Menschen das ganze Sein gekostet zu haben?
Auch wenn es dem Dunkelhaarigen so vorkommen mochte, aber weder war er Last für den Schamanen noch Bürde, nur weil er ihn momentan bei den alltäglichen Dingen des Lebens unterstützen musste. Claire war auch niemand der sich darin badete, dass andere auf ihn angewiesen waren. Er bekleckerte sich deshalb nicht mit Ruhm, noch hielt er es seinem Mann ständig vor Augen – und falls doch, dann ganz sicher nicht bewusst. Aber was blieb dem blonden Bären derzeit denn sonst, wenn nicht diese einfachen Aspekte, bei denen er Cassie unter die Arme greifen konnte – im wahrsten Sinne, wie etwa jetzt gerade?
Er war Schamane und mochte sich mit vielem Auskennen, aber weder konnten Kräuter noch Mantras die Knochen seines Mannes heilen machen. Die Behandlung hatte er in die Hände des Arztes legen müssen und die derzeitige Jahreszeit machte es ihm nicht mal möglich, draußen die ein oder andere Pflanze zu sammeln, um damit seinem Geliebten die Schmerzen zu nehmen. Er war kein Meister darin einen potentiellen Hirnschaden zu behandeln, noch konnte er Hellsehen und seinem Partner dadurch die Angst nehmen, sein Augenlicht könne dauerhaft geschädigt bleiben.
Clarence war völlig hilflos. Er war anwesend, versuchte Matthew beizustehen und es ihm so angenehm wie möglich zu machen, auch wenn dem Jüngeren das nicht immer recht war und ihn mit Scham behaftete. Was blieb, das Einzige bei dem er Cassie wirklich eine Hilfe sein konnte um Fortschritte zu erzielen, war ihm zu helfen wieder auf die Beine zu kommen. Mit ihm das Laufen zu üben, seinen Kreislauf zu stabilisieren und ihm die Gewissheit zu geben, dass es Bergauf ging.
Doch was dem Bären der rettende Strohhalm in jener vertrackten Situation war, ging gegen den Stolz seines Mannes. Nicht, dass Claire das nicht kommen gesehen hätte, aber es machte die Lage auch nicht einfacher mit voller Breitseite zu spüren zu bekommen, dass der andere Part ihrer Gemeinschaft sich lieber als Einzelkämpfer erkennen wollte statt als gemeinsames Team, in dem es niemandem besonders einfach fiel mit den Geschehnissen umzugehen.
Er hatte die begründete Angst durchstehen müssen, Cassie könne ihm unter den Händen hinweg sterben und das war ein Leid, das niemand auf dieser Insel würde nachvollziehen können. Niemand hier kannte seine Geschichte und mit niemandem gedachte Clarence sie zu teilen; der einzige Mensch, der ihm an diesem Ort wirklich nahe stand, war Matthew selbst und dieses Wissen – mit ihm alles zu verlieren wenn er ihm aufgrund einer Unachtsamkeit doch noch starb und trotzdem zusehen zu müssen wie verbissen sich Cassie dagegen wehrte, für ihn vernünftig zu sein und am Leben zu bleiben – beschwor in Clarence eine Panik, die er nicht in Worte fassen konnte.
Er wollte im Augenblick nicht, dass sein Mann zu stolz war. Stolz war ein Zug, den er sich wann anders leisten konnte, aber nicht jetzt; denn dieser Aspekt schnitt auch Claire automatisch aus allem heraus was das Wohl des Jüngeren anging und wenn nicht mal mehr das wichtig war, würde das ihr Vertrauen zueinander potentiell auf wankende Beine stellen.
Eine eigentümliche Traurigkeit schlich sich in Claires Blick als sein Nebenmann polternd etwas über die Milch erwiderte, denn es zeigte dass Matthew zu verbissen war, um die Quintessenz des eben Gesagten zu begreifen. Denn sich an sein Versprechen zu erinnern bedeutete, dass auch andere Erinnerungen langsam wieder aus den Untiefen seines Gedächtnisses zu ihm empor drangen und wenngleich sich der Jäger nicht immer sicher war welche davon der Wahrheit entsprachen und welche nicht, so fühlte sich das vergessen gedachte Bild vor seinen Augen doch unglaublich greifbar an. Und wenn er tatsächlich mit jemandem über gewisse Dinge gesprochen hatte, dann einzig und alleine mit Cassie.
Nicht minder stur wie der Jüngere sich zeigte, hielt auch Clarence seinen Griff um den fremden Leib aufrecht und blickte schweigend auf seinen Mann herab, der sich wehrte wie ein bockiges kleines Kind im Wutanfall. Bei Gott, der blonde Hüne hatte wirklich Erfahrung mit solchen borstigen Plagegeistern aber wenn er die Wahl gehabt hätte, hätte er sich gerade ernsthaft lieber seine beiden kleinen Mädchen im schlimmsten Streit um eine ihrer Puppen an die Beine gebunden, als diesen Naseweis von Söldner auch noch mit etwas absehbarem wie einem Haarschnitt für seine Allüren zu belohnen.
Spiel dich nicht auf wie mein Retter… Ich brauche keinen Aufpasser!
Es wäre ein Leichtes gewesen zurück zu donnern, seine Kratzbürste mit Worten zu überhäufen und in Grund und Boden zu stampfen – ihm direkt vor Augen haltend, was er konnte und was nicht. Cassie war in seinem Zustand angreifbar wie nie zuvor und ebenso wehrlos, wenn man seine verbliebenen Fähigkeiten unterm Strich zusammenzählte. Aber nicht der Streit war es, den Clarence suchte, und auch für ausufernde Worte der Zuneigung und der endlosen Hingabe hatte er im Augenblick einfach keine Kraft.
„Du brauchst überhaupt niemanden, ich weiß. Aber ich brauche dich.“ - Wenn Cassie seinen Stolz über ein gemeinsames Leben stellte und er im Augenblick lieber den geschlagenen Hund spielen wollte der gen Boden starrte, dann war das so. Die Geduld würde er seinem wilden Ehemann dadurch aber sicher nicht nehmen, der trotz aller Streitigkeiten ganz genau wusste, wo an diesem Nachmittag seine Prioritäten lagen.
Sie waren beide mehr als unglücklich mit dem wie es war, das würde jeder spüren der just in diesem Augenblick zu ihnen ins Zimmer trat. Der eine war unzufrieden mit sich selbst und den Leistungen die er sich selbst abverlangen wollte, aber nicht konnte; der andere verzweifelte an seiner Unfähigkeit produktiv an der Genesung teilhaben zu können, wie ein Statist der ganzen Szenerie der letzten Tage und Wochen beiwohnend. Nicht mehr und nicht weniger.
„Ich werd dich sicher nicht tragen, also mach“, forderte der Ältere seinen Partner nach kurzem Schweigen auf, währenddessen er ihn immer noch an der Taille und dem Handgelenk hielt. Genau betrachtet hatte er Cassie nämlich überhaupt nichts abgenommen wie dieser ihm vorwarf, sondern lediglich eine Stütze gegeben die ihm helfen sollte, sein Körpergewicht besser auf den eigenen Beinen zu tragen. Die Füße voreinander setzen und dabei nicht einknicken musste Cassie immer noch ganz alleine, das würde Clarence ihm kaum abnehmen können, wenn er ihn nicht gerade mit beiden Armen vom Boden empor hob.
Auffordernd erhöhte er mit der Hand den Druck auf die fremde Flanke und wies Matthew dadurch auf, sich endlich voran zu bewegen. Der Dunkelhaarige konnte wirklich froh sein, dass sein Bär ein derart dickes Fell besaß – manch anderer hätte ihn vermutlich schon längst zurück ins Bett geschubst und zum Krepieren alleine zurück gelassen, unfähig über den eigenen verletzten Gefühlen zu stehen.


Matthew C. Sky

Die Zeiten, in denen Matthew ein Einzelkämpfer gewesen war – weil er es hatte sein müssen -, lagen eigentlich bereits hinter ihm. In den allermeisten Situationen wusste er das auch, gab sich aufgeschlossen und zugänglich – zumindest Clarence gegenüber. Er war gern ein Team mit ihm.
Und doch war er in den Tagen nach seinem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit immer dünnhäutiger geworden, ein schleichender Prozess der mal mehr und mal weniger spürbar war.
Je länger er wach war und je klarer bei Verstand, umso unzufriedener mit sich und seiner Lage wurde der Dunkelhaarige auch. Clarence war daran nicht schuld, er konnte nichts für das was Matthew passiert war und Cassiel hatte ihm auch nie Gegenteiliges signalisiert. Es ging nicht um Schuld oder Unschuld. Der Grund, warum Matthew sich in der momentanen Lage derart feindselig zeigte, war bloße Unzufriedenheit mit sich selbst und der Situation in der er sich wiedergefunden hatte und die ihm mit jedem Tag deutlicher bewusst wurde. Er war unfähig die geringsten Dinge allein zu veranlassen, da war es auch kein Trost das Clarence ihm bei der Erledigung jener Unterfangen gerne half und es nicht als Last empfand.
Es war eine unfaire Situation für sie beide, in die sie unverschuldet hineingeraten waren und doch waren sie beide nun dazu verdammt sich zu arrangieren, denn es gab schlichtweg keinen Ausweg. Hätte der Jäger sich nun dazu entschlossen Matthew zurück auf das Bett zu befördern und ihr eigentliches Vorhaben rigoros abzublasen, der Jüngere hätte dagegen nichts tun können. Er war körperlich zu schwach um sich durchzusetzen, zu schwach um allein gehen zu können, zu schwach um ohne Hilfe in eine Wanne zu klettern. Er brauchte Clarence, auch wenn er vor wenigen Sekunden so giftig das Gegenteil behauptet hatte.
Der Hüne hatte das Gesagte persönlich genommen wie an seiner Mimik und seinem Konter deutlich war. Er klang frustriert und doch verletzt, eine eigenartige Kombination zweier Gefühle die eigentlich unvereinbar schienen. Widerborstig schnaubte der Jüngere des Duos als er die Worte “Du brauchst überhaupt niemanden, ich weiß.“ vernahm. Sie wussten beide, dass das nicht stimmte, die Wiederholung seiner unsinnigen Äußerung änderte daran nichts. Es war sogar absolut offensichtlich wie lächerlich und unüberlegt diese Äußerung gewesen war. Ohne die Hilfe des Schamanen, würde er nicht mal in der Lage sein sich sauber zu halten. So viel zum Thema ‚er brauchte niemanden‘.
Ungewohnt herzlos ließ Clarence ihn schließlich wissen, dass er ihn nicht tragen würde und er selbst zusehen sollte, dass er sich in Bewegung setzte. Der Druck der fremden Hand gegen Matthews Flanke fühlte sich drängend und unbarmherzig an und Matthew ließ sich auch dieses Mal provozieren. Unüberlegt zügig hob er einen Fuß und setzte ihn auf, in dem irrsinnigen Bestreben so zutun als sei er fit genug um einfach so los zu stolzieren. Nagende Kopfschmerzen und Schwindel hin oder her. Das nachdrückliche mach seines Mannes verbot es ihm regelrecht sich Zeit zu lassen, dabei betonte Bennett jeden Tag unermüdlich wie wichtig jener Faktor war. Das Ergebnis jenes ersten, gemeinsamen Schrittes, war desaströs. Matthews Beine trugen ihn nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde, dann knickten sie unter ihm weg wie Streichhölzer unter einem Kastanientier. Der junge Mann sackte spürbar unter Clarence‘ Griff zusammen und wurde für einige Augenlicke nur noch von dem Älteren gehalten. Es dauerte quälend lange Sekunden und drei Versuche Cassiels, bis er seine Beine wieder aufsetzen konnte, ohne direkt wieder zusammenzubrechen. Die Unüberwindbarkeit der eigenen Schwäche vor Augen, waren dem Dunkelhaarigen sämtliche Worte des Trotzes abhanden gekommen. In seinem Kopf raste jäh der Schmerz so intensiv wie schon lange nicht mehr, ihm war unbeschreiblich schwindlig und übel. Dunkle Haarsträhnen hingen ihm wirr ins Gesicht und in seinen Ohren rauschte laut das Blut. Matthew hörte sein eigenes Herz klopfen, aufgeregt wie das eines gehetzten Tiers.
Clarence hielt ihn, hinderte ihn daran zu stürzen, auch wenn Matthew ihm kaum noch dabei helfen konnte. Verschwommen war seine Sicht geworden und die Farben der eben noch bunten Umgebung schienen es seinem Gesicht gleichzutun und zu verblassen. Die von Anfang an spärlichen Kräfte des Dunkelhaarigen reichten nun mehr nicht mehr aus, um sein Gewicht zu tragen und was ihm eben noch unter Anstrengung gelungen war – nämlich zumindest halbwegs sicher zu stehen – war mit einem Mal unmöglich geworden. Benommen stöhnte er, blinzelte träge und versuchte krampfhaft bei Bewusstsein zu bleiben. Sein ursprüngliches Ziel war in unerreichbare Ferne gerückt, Matthew sah nur noch verschwommene Umrisse der Möbel, so als hätte man ihm Wasser in die Augen gespritzt.
Reflexartig hatte er sich an Clarence‘ Oberteil festgehalten, als seine Beine so unumwunden nachgegeben hatten und bisher hatte er auch nicht losgelassen. Sein Griff jedoch wurde schwächer, bis seine Finger schließlich den Halt verloren und Cassiel regelrecht unkoordiniert versuchte wieder irgendwo am Oberkörper seines Mannes etwas zu finden, an dem er sich festhalten konnte. “Bett…“, brachte er leise über die bleichen Lippen, ein Wort das mehr Hauch war als wirkliche Sprache. B-Bett…bitte…“ Der junge Mann hatte das Gefühl vollkommen die Kontrolle zu verlieren, er konnte nicht mehr stehen, geschweige denn gehen. Seine Muskeln zitterten wie Espenlaub und kalter Schweiß hatte sich über seine Haut gelegt. Trotzdem war ihm warm und er hatte das Gefühl innerlich zu verglühen. Was auch immer plötzlich nicht mehr stimmte, es wischte jedweden Stolz und Trotz, den Stuhl erreichen zu wollen, brachial beiseite. Plötzlich war es das Bett zu dem er unbedingt musste, dementsprechend machte Matthew unwirsche und klägliche Versuche jene Richtung anzusteuern. Er spürte, dass er kurz davor stand das Bewusstsein zu verlieren und wollte – wenn das geschah – nicht in Clarence‘ Armen ohnmächtig werden, weil selbst ein Hüne wie sein Mann Schwierigkeiten haben würde sein Gewicht alleine in das vermaledeite Bett zu hieven. Der Druck in seinem Schädel und das Schwindelgefühl wurden schlimmer, so schlimm das es die bloße Willenskraft des Jüngeren war, die ihn noch bei Bewusstsein hielt, wenngleich es mit jeder Sekunde mehr dahinschwand. Alle Geräusche klangen dumpf und leise, als wäre er unter Wasser oder als hätte er Watte in den Ohren. Nur der Schlag seines Herzens war wirklich präsent.
Hellrotes Blut tropfte von seiner Nase auf seine nackte Brust und besprenkelte auch seinen Bauch wie er verwundert und zugleich abwesend registrierte, als er den Kopf wieder ein Stück hob, der ihm kurzzeitig nach unten gekippt war. Zu denken und sich bewusst zu koordinieren war unterdessen unmöglich geworden. Nur binnen weniger Augenblicke war Matt alle Kraft durch die Finger geronnen, scheinbar von einem Moment zum anderen. Wie ein Löwe rang der junge Mann trotzdem um Fassung, versuchte mit aller mentalen Kraft wach zu bleiben. Ein grausam anzusehender Kampf aufgrund der Vehemenz mit der er geführt wurde, obgleich der Ausgang vollkommen offensichtlich war. Es war ein Elend, welches umso schlimmer wurde je länger es anhielt.

Als Matthew das nächste Mal blinzelte, blickte er zur schmucklosen Zimmerdecke hinauf und wusste nicht ob er auf dem Boden oder aber auf der Matratze lag. Es fehlten ihm ein paar Minuten zwischen dem Jetzt und seiner letzten bewussten Wahrnehmung, dementsprechend verwirrt war er auch. Noch immer schlug sein Herz schneller als gewöhnlich, doch das laute Hämmern hatte nachgelassen und auch das Rauschen seines Blutes in den Ohren.
Benommen und schmerzerfüllt stöhnte der junge Mann, hob schwächlich eine Hand und fasste sich an den Kopf. Die beißenden Schmerzen waren weniger geworden, auch wenn sie noch nicht wieder auf das übliche Maß abgeklungen waren.
Das Tageslicht stach unangenehm in seinen Augen, weshalb Matthew lautlos die Lider wieder schloss, während er versuchte die Geschehnisse richtig zusammenzubringen. Er erinnerte sich an sein Vorhaben den Stuhl zu erreichen, damit Clarence ihm die Haare schneiden konnte. Und danach – so der Deal – hatte er ein Bad nehmen wollen. Ein eigentlich guter Plan, zumindest in der Theorie. Offensichtlich war das Unterfangen aber nicht besonders gut für ihn ausgegangen. Zumindest lag er jedoch im Bett, wie der Dunkelhaarige am Rande festgestellt hatte, auch wenn er sich nicht erinnerte wie er hierher gekommen war.

 


Clarence B. Sky

Lautlos harrte Clarence, zuckte mit keinem Muskel und keiner Wimper seines Körpers, als sich der Jüngere das erste Mal zu regen begann – ganz so, als könne der kleinste Hauch den Anflug von Leben sofort wieder im Winde verwehen.
Nicht minder blass als eine Kalkwand war er geworden, der Hüne mit dem sonst so unerbittlichen Blick und der unerschöpflichen Ruhe wenn es darum ging, sich Hals über Kopf in tödliche Abenteuer zu stürzen. Doch wenn es im Matthew ging, wurde dem kräftigen Jäger unlängst ganz anders in der Magengrube.
Nur noch die Konturen waren es, die Cassies Haupt aus den blütenweißen Laken seines Bettes abzuheben schienen; der Rest von zarter Röte war aus seinem Antlitz entwichen wie die letzten Schneewehen im aufkeimenden Sommer unter den ersten Sonnenstrahlen und alles was blieb, waren die beinahe schon künstlerischen Sprenkel stechenden Blutrots auf der sonst makellosen Bettwäsche.
Es zählten keine Spuren und auch keine Arbeit, die er Gretchen beim heraus bürsten der Flecken machen würde, noch waren die stechenden Schmerzen von Relevanz die ihm durch den Rücken schossen, seitdem Matthews Gewicht ungebremst an ihm gezerrt hatte. Er sollte nur aufwachen, sollte die Augen wieder aufschlagen kaum dass er im Bett lag und sein zierlich gewordener Leib wieder zur Ruhe kommen konnte – damit Bennett ihn nicht aus dem Haus jagte und der Blonde fortan mit der Gewissheit leben musste, er hatte die Vitalität seines eigenen Ehemannes letztlich doch noch voll und ganz auf dem Gewissen.
Natürlich hatte Matthew ihm dies nie signalisiert, noch würde er es ihm vermutlich jemals zum Vorwurf machen – doch auch ohne es laut auszusprechen wussten sie beide, Sally Mitchell hatte nur deshalb ihre Zurückhaltung verloren, weil der Christ sie hatte provozieren müssen. Vielleicht hatte er es unabsichtlich getan, vielleicht ganz offensichtlich ohne es bewusst zu tun. Aber Fakt war: Hätte er dieser Frau ihre Ehe nicht unter die Nase gerieben, Matthew würde heute nicht in diesem Zustand sein. Würde nicht an sich verzweifeln weil er an seinem eigenen Wunsch nach Selbstständigkeit scheiterte und sie beide würden nicht voller Zaudern in diesem fremden Haus verharren, ängstlich davor, welche von Cassies Einschränkungen bleiben würden und welche nicht.
„Hey, Sonnenschein…?“, wisperte Clarence leise, noch immer das in Blut getränkte Taschentuch zerknäult in seiner Hand und ein Knie auf dem Bett; seitdem er es geschafft hatte den Jüngeren mehr schlecht als recht wieder zurück dorthin zu bugsieren wo er eigentlich hin gehörte, hatte der Jäger es nicht mehr gewagt sich zu rühren. So wie es der Unterstützung der Gehversuche geschuldet gewesen war ob Cassies Enthusiasmus sich hielt oder fiel, hing es nun von Matthews Kräften sich wieder zu fangen ab, ob sie den aufgebrachten Wirbelwind des Arztes über sich ergehen lassen mussten oder nicht. Manch einer mochte es für völlig verantwortungslos halten dass der Blonde längst nicht nach dem alten Herren gerufen hatte. Aber noch spürte er an Cassies Extremitäten einen ordentlichen Puls und so lange das so war, würde es ihnen ein bisschen Zeit geben sich eine anständige Ausrede einfallen zu lassen – oder zumindest würde es Claire diese Zeit einräumen, immerhin war eigentlich er derzeitig derjenige von ihnen beiden, der hätte seine Vernunft durchsetzen müssen.
Stattdessen war er Cassies Bitten nachgekommen, hatte sich von dessen spürbarem Unmut mehr tangieren lassen als nötig und angebracht gewesen wäre. Er hatte sich aufstacheln lassen und damit ungewollt postwendend auch seinen Gefährten aufgewühlt. Ein Fehler der unverzeihlich war, immerhin hätte ihr gegenseitiges Drängen und Poltern in weit übleren und irreversibleren Geschehnissen enden können als in jenen, nach denen es derzeit den Anschein machte.
Nur wenige Momente hatte es gedauert die Blutung wieder in den Griff zu bekommen, vermutlich einfach nur einem durch die Panik angestiegenen Blutdruck und der durch den Kamin im unteren Geschoss trockenen Luft im Haus geschuldet. Aber das machte den Zusammenbruch Cassies nicht weniger kritisch und nicht stärker hätte es Clarence aufzeigen können was für ein dämlicher Idiot er war, dass er an diesem unheilvollen Tage so plötzlich von seinem sonstigen Mantra des Geduld haben abgekommen war.
„Sonnenschein, hörst du mich…? Komm, mach die Augen auf… gib mir eine von deinen kratzbürstigen Beleidigungen…“
Wüsste man es nicht besser, anhand Clarence‘ Angesichts hätte man meinen können, Sally hätte seinem Mann schon wieder einen Stein an den Schädel geschmissen. Am besten im hohen Bogen durchs Fenster dieses Mal, dafür trotzdem nicht mit weniger Wucht.
Dass er es überhaupt schaffte seinem Mann die wenigen Sätze einwandfrei entgegen zu wispern, glich beinahe schon einem Wunder – denn angesichts dessen wie flau es dem Jäger derzeit im Magen war, hätte er sich lieber im Abort eingesperrt und dort übergeben.
Wirr und hektisch fuhren seine hellen Iriden das Gesicht des Liegenden ab, versuchten sich jede Regung einzuprägen so als könnten alleine sie ihm verraten, wie es im Cassie stand – und bis zu einem gewissen Grad stimmte das sogar, denn als er in völliger Bewusstlosigkeit verharrt hatte, hatte Matthew gar nichts an sich von alleine gerührt.
Nun aber, keine volle Minute im Bett liegend auch wenn die überschaubaren Sekunden dem Blonden vorgekommen waren wie Äonen von Jahren, schien er endlich wieder zu sich zu kommen. Das nahm seinem hoch gewachsenen Gatten zwar nicht den Schock des Moments, in den er sie durch seine eigenen Gefühle von Beleidigung hinein manövriert hatte, aber es war mehr als man von Matthew nach seinem letzten unaufhörlichen Schlaf hätte erwarten können.
Zittrig nahm Clarence die Hand vom fremden Hals, an welchem er bis eben die kräftigen Schläge des fremden Herzens mitgezählt hatte, und legte sie nun stattdessen bebend auf der Wange des fahl wirkenden Patienten ab, um jenen wieder zu sich zurück zu holen. Cassie mochte seine Hand rühren, aber was verriet ihm das schon? Bis heute hatte der Schamane Sorge, es könne noch etwas im Hirn seines Freundes und Gefährten zu Bruch gehen und bis heute hatte er nie ganz und gar die Angst davor verloren, der Dunkelhaarige vergaß ihn letzten Endes doch noch. Oder schlimmer: Irgendetwas Wichtiges ging in diesem sonst so hellen Oberstübchen kaputt und verdammte den schönen jungen Mann zu einem Dasein als Krüppel und Geschädigten, wovon man ihn nie wieder würde heilen können.
Sag was, Süßer, schau mich an… bring mich nicht dazu den Quacksalber holen zu müssen, bitte… tu das nicht“, flehte der kräftige Christ beinahe schon, nicht nur weil er nicht des Hauses verwiesen werden, sondern weil er insbesondere auch eines nicht von Bennett hören wollte – dass sie es durch ihren Versuch Matthew aus dem Bett zu holen schlimmer gemacht hatten, als ihn auch nur irgendetwas Gutes damit zu tun, sei es auch nur für Seele und Geist.
Vorsichtig stützte er sich wieder auf das Knie um sich über seinen Liebsten zu beugen wie auch schon in jenen Schreckenssekunden, während derer er Cassie im Bett abgelegt hatte. Völlig falsch herum lag er in den weichen Laken, die Füße gen Wand und das Haupt dort, wo sich sonst in der Nacht ihre Füße aneinander drängten. Aber wen scherte das schon in einem Augenblick, in dem es um mehr ging als Anstand und Ordnung? Clarence jedenfalls nicht.
Weich und bittend strichen seine Finger über die fremde Schläfe, beobachteten seine wachen und hektischen Augen die ersten Zeichen des Erwachens, welche durch Cassie gingen. Noch immer spürte er seinen eigenen Herzschlag im Hals und in den Ohren trommeln und ihr panischer Rhythmus machte es dem selbst erst vor wenigen Wochen verwundeten nicht gerade einfacher, seiner anfälligen Hände vorm erneut aufkeimenden Zittern zu bewahren.


Matthew C. Sky

„Hey, Sonnenschein…?“ - leise und sanft brandeten die Worte in seinen Verstand. Es tat gut die vertraute Stimme seines Mannes zu hören, die geraunten Worte wärmten ihn wie die Strahlen der Wintersonne, welche durch das Fenster fielen. „Sonnenschein, hörst du mich…? Komm, mach die Augen auf… gib mir eine von deinen kratzbürstigen Beleidigungen…“ Ja, Matthew hörte ihn, aber die Augen öffnete er dennoch nicht. Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte und weil ihm die Stimme von Clarence auf angenehme Weise einlullte.
Matthew erwachte nur langsam wieder, es war ein Prozess der sich nicht beschleunigen ließ, selbst dann nicht wenn der junge Mann sich dafür einsetzte. 
Leise stöhnte er, benommen von den Strapazen denen er sich ausgesetzt hatte und die ihren Tribut mit grausamer Vehemenz eingefordert hatten. Ohne sich großartig zu regen versuchte er die Dinge die geschehen waren wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen, ein Unterfangen das ihm zwar gelang, aber seine Zeit brauchte. 
Sie hatten gestritten - mal wieder. Dann hatte er versucht sich durchzusetzen - mal wieder und Clarence hatte schließlich die Geduld mit ihm verloren - was etwas Neues gewesen war.
Behutsam rieb Matthew sich mit der Hand über die Stirn, fühlte die kleinen Unebenheiten der Säurenarben unter den Fingern und zog unwillig die Augenbrauen zusammen.
„Sag was, Süßer, schau mich an… bring mich nicht dazu den Quacksalber holen zu müssen, bitte… tu das nicht.“ Ach ja… der Quacksalber, Bennett. Matthew erinnerte sich an den Arzt und auch an dessen Mantra. Geduld müsse er haben, Zeit solle er sich geben. Nur nichts überstürzen, sondern sich lieber schonen. Irgendwann würde er dann von selbst wieder zu Kräften kommen - ein Motto das der Dunkelhaarige einfach nicht für sich gewinnen konnte.
Einen quälend langen Moment rührte Matthew sich nicht mehr, er lag nur da, sinnierte auf beinah verträumte Weise vor sich hin. Seine Atmung war so ruhig und flach, dass man sie glatt hätte übersehen können. Doch schließlich nahm er einen tieferen Atemzug, füllte seine Lunge mit Sauerstoff und blinzelte vorsichtig.
Clarence’ Hand lag an seiner Wange, wie er erst jetzt registrierte. Aber statt eine kratzbürstige Beleidigung auszusprechen, sah der Dunkelhaarige den Größeren fragend an.
Er wusste wer er selber war und er wusste wer Clarence war, aber so ganz verstand er trotzdem nicht was passiert war. Das Unverständnis deutlich im Gesicht stehend, waren Matthews erste Worte nach dem Erwachen aus seiner kurzen Ohnmacht weder kratzbürstig noch anderweitig von Trotz oder Vorwürfen geprägt.
“Hast du…mir schon…die Haare geschnitten?“, wollte er wissen und lächelte ein schwaches aber dennoch überaus ehrliches Lächeln, fast so als sei nie etwas passiert. Der Grund für ihren Streit war ihm allerdings durchaus noch geläufig, auch das Drängen des Älteren er solle endlich machen und sich in Bewegung setzen. Nichts davon hatte er vergessen, auch wenn ihm im Moment sicher noch das ein oder andere Detail an Erinnerung fehlte. Aber sollte er Clarence – der kreidebleich und schrecklich besorgt aussah – nun für das was passiert war einen Vorwurf machen?
Sollte er ihn anzischen? Sollte er beleidigt sein? Nichts von alledem lag in Matthews Interesse.
Er wusste, was passiert war lag nicht an dem Schamanen – auch wenn er zu einem denkbar schlechten Moment die Geduld mit ihm verloren hatte. So schmerzlich es auch einzusehen war, aber Matthew war noch nicht soweit das zu leisten was er sich abverlangte. Er konnte nicht aus dem Bett aufstehen und losmarschieren, eine Lektion die er zumindest im Augenblick verinnerlicht hatte.
Das war nicht Clarence‘ Schuld und selbst wenn doch, Cassiel würde dergleichen niemals über die Lippen kommen, eher noch biss er sich selbst freiwillig die Zunge ab.
Vorsichtig legte er seine eigene Hand über die des Hünen welche an seiner Wange ruhte, ein wortloser Zuspruch und zugleich eine stumme Bitte um Verzeihung. Es wäre gelogen, würde er vorgeben nicht zu wissen was in ihn gefahren war. Matthew wusste es. Die Gründe waren banal und lapidar, unvernünftig und eigentlich sogar fahrlässig dumm.
Er wusste, dass er zu stolz und zu eigensinnig war um sich nicht alles abzufordern was er geben konnte, ein nicht sehr kluger Charakterzug, der aber zu ihm gehörte. Matthew neigte dazu sich selbst gegenüber noch unnachgiebiger zu sein als bei seinen Mitmenschen. Seine persönliche Messlatte lag hoch, manchmal sogar zu hoch um überhaupt eine Chance zu haben sie zu erreichen. Er wusste ebenso, dass Clarence in den letzten elf Tagen unermüdlich an seiner Seite gewesen war um ihn zu unterstützen. Selbst für einen Mann in seinem Zustand, benommen und offensichtlich nicht halb so clever wie er von sich selber dachte, war es leicht Eins und Eins zusammenzuzählen. Matthew war anstrengend und irgendwann riss auch der Geduldsfaden eines gutmütigen Bären. Wer sich darüber beschwerte oder wunderte war nicht weniger als ein Trottel.
Der Dunkelhaarige schloss seine Augen wieder für einen Moment und brummte leise und nachdenklich. Er hatte noch immer Kopfschmerzen, fühlte sich aber nicht so als müsste Clarence direkt los um Bennett zu holen. Der Arzt würde ihn nur neuerlich mit irgendwelchen Mitteln vollstopfen, die ihm neben den Schmerzen auch noch jeden klaren Gedanken austreiben würden.
„Im Ernst…Claire… Hast du…hast du das schon gemacht? Weil wenn du…wenn nicht…also dann…“ - Matthew leckte sich über die Lippen und zögerte kurz. Es fiel ihm schwer munter zu bleiben und sich zu konzentrieren, aber seit Sally Mitchell ihm einen Stein groß wie eine geballte Männerfaust an den Schädel geknallt hatte, war das ja leider kein neuer Zustand mehr.
„…dann werden sich alle fragen was…was passiert ist, dass du es nicht…durchgezogen hast…“ - und da sie beide keine allzu neugierigen Fragen beantworten wollten, wäre es nur klug wenn der Ältere sich doch noch als Coiffeur betätigte. Der geschwächte junge Mann öffnete neuerlich die Augen, fischte die fremde Hand von seiner Wange und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken.
„Tut mir leid… Ich hätte auf dich hören sollen. Das…fällt mir manchmal schwer, weil du auch oft genug falsch liegst, aber ab und zu…hast du auch recht.“, ein freches Lächeln hatte sich auf Matthews Lippen gelegt, während der Blick seiner Augen dem in nichts nachstand. „Aber wie sagt man so schön? Auch…ein blindes Huhn findet mal ein Korn.“, dass Clarence alles andere als ein Geflügel mit Sehschwäche war, wussten sie beide. „Kann ich dich…trotzdem um was bitten, hm?“
Doch statt eine Antwort abzuwarten, atmete er tief durch und fuhr dann fort. „Bring mich nach Hause, Claire… Ich will…ich will heim. Ich weiß Bennett wird dagegen sein und vielleicht bist sogar du dagegen, aber…“ - jeder hier war freundlich zu ihm, niemand gab ihm das Gefühl nicht willkommen zu sein. Aber alle Höflichkeit nützte nichts, wenn man trotzdem in der Fremde war. Das Bett war weich, die Laken sauber, das Zimmer hell und freundlich. Doch es war nicht sein Bett, nicht die bekannten Laken und das Zimmer nicht der Bauch ihres Schiffes.
Matthew hatte nie ein Zuhause gehabt, noch nicht einmal ansatzweise. Erst mit Clarence hatte er einen solchen Ort gefunden und dorthin wollte er jetzt mehr denn je. „Lass uns…lass uns heimgehen, bitte…“


Clarence B. Sky

Hast du…mir schon…die Haare geschnitten?
Wirklich alles hätte man im Augenblick von Matthew erwarten können, von unartikulierten Lauten weil etwas in seinem Kopf kaputt gegangen war bis hin zu lautstarken Schimpftiraden, weil sein Bär nicht gut genug auf ihn aufgepasst hatte. Cassie hätte jeden Grund gehabt alles Mögliche zu bemängeln, von seiner eigenen Kraftlosigkeit über die Unfähigkeit des Schamanen bis hin zur Gesamtsituation. Aber dass er ausgerechnet seine Haare als ersten Anlass nutzte um wieder unter die Lebenden zu finden, war nicht etwa ein Grund um sich über die geistige Unversehrtheit seines Mannes zu sorgen – sondern der einzig gehaltvolle Beweis dafür, dass der dunkelhaarige Schöne noch immer ganz und gar er selbst war.
Sanft vergruben sich die zittrigen Fingerkuppen des Blonden in der Wange seines Freundes, während er aus noch immer vor Besorgnis blassem Gesicht auf jenen hinab sah. Ein eigentümlicher Laut drang dabei über seine Lippen – halb Schluchzen, halb Seufzen und zum Teil vielleicht sogar ein bisschen Erheiterung über das Chaos, in welches sie sich hinein manövriert hatten – bevor er seiner Erleichterung nicht mehr Herr wurde und sich über das schneeweiße Gesicht eine einzelne Träne hinab bahnte, bis sie in dem Wirrwarr aus Bart versank.
Du bist ein Idiot, Cassie…“, murmelte sein Mann leise und streichelte fahrig über die fremde Wange, unfähig zu begreifen welch unermesslichem Glück sie erlegen waren. Mal wieder. Nicht nur überstanden sie mitten in der Wildnis eine Horde von arachnoiden Mutanten, davon gekommen mit nennenswerten Verletzungen, sondern auch eine verrückte Steinschmeißerin; nur um selbst den Folgen jenes Angriffes mit Stolz zu trotzen, als gäbe es keinen Morgen mehr.
Wie viel Kraft und Lebenswillen es brauchte um sich immer wieder aufzurappeln und den dünnen Faden nicht loszulassen, an dem das eigene Leben gerade noch so hing, wusste Clarence aus eigener Erfahrung nur zu gut. Viel zu vielen hatte er beim Sterben zugesehen die scheinbar weit kräftiger waren als sein Mann und dennoch blieb Cassie ihm über allen Schmerz und alle Unachtsamkeit hinweg erhalten. Wusste der Jüngere, wie wertvoll er für ihn war? Vielleicht, vielleicht auch nicht; doch die Wärme, die sich über sein Herz legte kaum dass sich das schmale Lächeln über Cassies Lippen legte, stand über all jedem Zweifel.
Unter anderen Umständen hätte er jeden sonstigen Patienten angewiesen sich zu schonen und die wenigen Kräfte zu sparen die ihm noch geblieben waren, doch im Augenblick konnte sich Claire nichts vorstellen was auch nur halb so schön wäre wie der Klag der Stimme seines Mannes. Er wollte dass der Jüngere bei ihm blieb und ihn nicht gleich wieder an den tiefen Schlaf verlieren, wie bereits so oft schon geschehen. Machtlos war er den Verletzungen seines Partners gegenüber und umso machtloser in diesem Haus das ihm fremd war und in welchem er sich nicht mal selbst zu helfen wusste, wenn mit Cassie etwas war.
Lautlos neigte Clarence sein Gesicht zur Schulter hinüber und zwang die schimmernden Bahnen seiner Tränen, sich in seinem eigenen Hemd zu verlieren. Die Lage war schon aufreibend genug, da sollte der Kleinere nicht auch noch denken müssen es bestünde langsam aber sicher Anlass, weinend um ihn zu Trauern – denn so weit würde Claire es verdammt nochmal nie kommen lassen.
A-Als ob mir… jemals was daran gelegen hätte, was andere denken… du solltest mich besser kennen“, konterte Clarence mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen, denn heute war ganz sicher nicht der Tag an dem er anfing sich um die Meinung anderer zu scheren, nur weil er gewisse Haare nicht geschoren hatte. Vermutlich würde er das irgendwann – eines fernen Tages, dem Traum hinterher gestrebt mit seinem Mann einen Hof zu bewirtschaften und eingebunden in irgendeine fremde Gemeinde, angekommen in Gemeinschaft und im Streben nach konstanten Bindungen außerhalb ihrer Ehe – aber noch war dieser Tag lange nicht gekommen.
Vorsichtig liebkoste er die noch immer von Hämatomen dunkel verfärbte Wange seines Partners, streichelte mit den Fingerspitzen über die kaltschweißige Haut und das Antlitz, welches durch die Verletzungen so fremd wirkte und doch vertraut. Wenn Matthew schon wieder in der Lage war unterschwellig zu sticheln, konnte es nicht mal halb so schlimm um ihn stehen wie zu Beginn befürchtet und eben weil dem so war, schafften es die neckenden Worte nicht mal ansatzweise ihn trotz Anspannung auf einer reizvollen Ebene zu tangieren.
Du kannst mich um alles bitten was du willst, mein Herz. Ich würde alles tun…“ - Noch immer lehnte Clarence über seinem Mann, die Habachtstellung bei weitem noch nicht aufgeben könnend auch wenn er sie bereits aus seinen Sorgen fahren gelassen hatte, und musterte den wieder erstaunlich wachen Blick des Jüngeren. Ihre Beziehung war nie einfach gewesen, weder vor ihrer Heirat und schon gar nicht danach. Aus den schönsten Momenten ließen sie handfeste Streitigkeiten erwachen, zerkrachten sich wegen unbedeutenden Kleinigkeiten und waren beide zu stur und zu stolz um über ihre eigenen Schatten und damit den Bedürfnissen des anderen entgegen zu springen. Sie waren definitiv noch viel zu weit am Anfang eines gemeinsamen Lebens um ihren Alltag miteinander reibungslos zu bestreiten und aneinander zu wachsen statt nebeneinander her, aber bei Gott, trotz allem würde er Matthew Cassiel nie wieder hergeben wollen. Clarence wollte diesen Mann, wollte ihn mit Haut und Haar und jedem Atemzug; wollte ihn mit jedem Streit und jedem schönen Augenblick voller Ruhe und Innigkeit und vor allem wollte er nicht weniger als das, was der andere gerade zögerlich ansprach.
Zuerst wirkte es jedoch überhaupt nicht danach, denn ein sanftes Kopfschütteln fuhr durch das blonde Haupt, als Cassie seinen Wunsch das erste Mal formulierte. Doch nicht Widerwillen war es, der Clarence dazu trieb, sondern die irrige Annahme, er könne auch nur mit einer Faser seines Herzens dagegen sein, dass sein Mann zurück zu ihm nach Hause kam.
Ich will nicht, dass du…“, noch immer flüsterte der Jäger, eine völlig überflüssige Anwandlung, da es zwischen ihnen nichts zu verbergen gab. Doch seitdem Sally ihn mit dem Stein erwischt hatte kam es Clarence in Momenten der Schwäche seines Mannes so vor, als könnte jedes zu heftig ausgesprochene Wort den furchtbar dünn gewordenen Söldner einfach davon wehen. „…dass du länger hier bleibst, hörst du?
Zaghaft legte sich seine Hand zurück über die eingefallene Wange seines Geliebten und für einen Moment betrachtete er schweigend den Mann den er liebte und den er nirgends so dringlich wissen wollte wie daheim, in ihrem eigenen Bett.
Ich dachte du willst vielleicht nicht nach Hause, weil du dich hier… besser aufgehoben fühlst.
Eine traurige Selbstoffenbarung wenn man länger über diese Worte nachdachte, denn wenn es nach Clarence ging war es garantiert nicht so, als traue er sich die Versorgung des Jüngeren nicht eigenmächtig zu. Das war zu Beginn so gewesen, ganz sicher – aber mittlerweile waren Bennetts Möglichkeiten ausgeschöpft und selbst der Arzt tat nichts mehr weiter, als täglich die heilende Wunde zu kontrollieren und seinen Patienten dann und wann mit Schmerzmitteln abzuschießen. Das schaffte der Schamane auch noch selbst.
Aber nur weil er es sich selbst zutraute hieß das nicht, Matthew würde sich in seinen Händen ausreichend versorgt und behandelt vorkommen. Clarence verstand sich in vielen Dingen, heilte Wunden erfolgreich mit Kräutern aus Wald und Wiese und linderte Schmerzen mit Mitteln, von denen der Quacksalber sicher noch nie in seinem Leben etwas gehört hatte. Aber potentielle Hirnverletzungen waren ganz sicher nicht sein Metier und noch weniger hätte er es sich angemaßt Cassie einfach nach Hause zu zerren, wenn dieser sich bei ihm nicht gut genug aufgehoben fühlte.
Ich will dich daheim… in unserem Bett, in unserem Zuhause. Wir haben nun eins und ich denke nicht, dass du… dass du irgendwo in der Ferne schneller wieder auf die Beine kommst als in unseren eigenen vier Wänden. Die Hunde vermissen dich und ich… ich vermisse dich noch mehr. Ich will unser Leben zurück… in unserem Zuhause. Ich bin da wieder auf die Beine gekommen, also wirst du das auch“, erklärte er leise, die hellen Brauen beinahe schon ernst zusammengezogen, so als ginge es um den Umzug ans andere Ende der Welt anstatt nur die Straßen hinunter bis an den Hafen. Aber am Ende stimmte das ja sogar doch ein wenig, denn im Moment waren sogar die wenigen Schritte bis zum Schminktisch zu viel für Cassie. Wie musste dem Jüngeren da erst der Umzug bis zurück auf ihr Boot vorkommen?
Wir organisieren dir einen Wagen bis an den Pier und den Rest trage ich dich. Für dich kochen, deinen Verband wechseln und dich mit Drogen abschießen, kann ich eh viel besser als Gretchen und der Quacksalber zusammen. Lass uns… dich nach Hause schaffen, besser noch gestern als morgen erst. Lass uns hier weg…
Nicht nur eventuell vielleicht, sondern exakt das war mal wieder ihr Problem: Am Ende wollten sie doch genau das Gleiche ohne es je anzusprechen und Clarence bezweifelte nicht, dass eben jene unterschwellige Anspannung mal wieder zum Eklat geführt hatte – heute in Form eines ungewollten Zusammenbruchs seines Mannes und besten Freundes.
Wir zahlen Bennett aus, dann sind wir aus der Nummer raus und er kann uns kein schlechtes Gewissen machen. Ich kümmere mich drum, dass Zuhause alles in Schuss ist wenn du kommst… und dann wirst du dort wieder auf die Beine kommen. Erst bis ins Bad, dann bis an den Esstisch und irgendwann bis an Deck… so wie ich. Okay? Ich versprechs dir, aber… komm einfach nach Hause, Matthew. Bitte.


Matthew C. Sky

Immer wenn Clarence weinte, wurde Matthew das Herz eng und seine Brust schien sich zuzuschnüren. Der Dunkelhaarige wollte nicht, dass sein Mann Tränen vergoss wenn es denn keine aus Freude waren. All die Sorgen und Befürchtungen die den Jäger quälten, sollten ihn eigentlich gar nicht geißeln. Er hatte genug gelitten in seinem Leben, genug Verluste erdulden müssen. Wäre die Welt ein gerechter Ort, ihm wäre etliches erspart geblieben. Aber sie wussten beide, dass die Realität oft genug nicht fair war. Und trotz allem was beide jungen Männer schon erduldet hatten, so hatten sie trotzdem noch immer einander - und das war vielleicht sogar die einzige Entschädigung die sie brauchten. Dass Matthew noch unter den Lebenden weilte, lag nicht zuletzt daran, dass er geliebt wurde und das zu keiner Minute vergaß.
Bennett würde das wahrscheinlich abstreiten, weil es sich medizinisch nicht erklären ließ, aber Matthew war sich sicher, dass er - selbst ohne Bewusstsein - auf irgendeiner Ebene gespürt hatte, dass er von Clarence geliebt wurde und das er ihn nicht alleine lassen durfte.
Dergleichen würde der Jüngere dem Arzt freilich nicht sagen, damit niemand ihn für einen sentimentalen Trottel hielt, aber er selbst glaubte irgendwie daran. Sie gehörten zusammen, selbst dann wenn sie sich in den unpassendsten Momenten über die dümmsten Lappalien stritten. Als es schlecht um Clarence gestanden hatte, hatte Matthew keine Stunde vergessen wie sehr er ihn brauchte und wie sinnlos sein Leben ohne ihn sein würde. Wäre der Blonde gestorben, Matthew wusste er wäre ihm gefolgt.
Und Clarence? Wie sollte Matthew ihn je allein lassen können?
Zu sterben war keine Option, nichts was in Betracht kam und weder Spinnenmutanten noch geworfene Steine konnten sie entzweien.
“Sssscht…nicht weinen, nicht weinen. Ich bin hier…ich bin hier und ich verlasse dich nicht.“ - Matthews Flüstern klang beschwichtigend und aufmunternd, in der Hoffnung seinen Bären damit beruhigen zu können. Der Wildling, der auf andere oftmals rau und emotionslos wirkte, war weder das eine noch das andere. Clarence war ein sanftmütiger, aufmerksamer Gefährte und obendrein die treuste Seele die Cassiel kannte. Von ihm geliebt zu werden hieß, beschützt zu sein zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Aus eigener Erfahrung wusste Matt wie es war, wenn man um das Leben seiner Liebe fürchten musste und vor Sorge fast verging, wenn jeder Tag mit den gleichen Hoffnungen und Ängsten begann. Es machte einen mürbe und auch ein Stück weit dünnhäutig.
Binnen kürzester Zeit hatten sie beide große Angst umeinander haben müssen, aber sie konnten nichts anderes tun als kämpfen. Aufgeben stand nicht zur Debatte.
Umso wichtiger war es, dass sie beieinander blieben und über all die Schwierigkeiten hinweg sich nicht unnötig aneinander aufrieben. Eine schwierige Aufgabe angesichts der Situation in der sie sich befanden und Matthew rechnete nicht damit, dass seine Bitte die Sache in irgendeiner Weise leichter machte.
Als Clarence wieder leise seine Stimme erhob und zuerst die Worte “Ich will nicht, dass du…“ aussprach, da glaubte der junge Mann bereits dass sein Wunsch auf taube Ohren gestoßen war. Clarence würde ihn nicht nach Hause holen, er würde nicht wollen das er dieses Bett sobald wieder verließ und er würde nicht zulassen dass er sich der Überwachung durch Bennett entzog.
Der Dunkelhaarige öffnete bereits den Mund um zu protestieren, da drang die eigentliche Botschaft des Jägers erstmal wirklich zu ihm durch und er verstand, dass sein Geliebter ihn nicht abwies, sondern das er ihn so sehr in ihr gemeinsames Heim holen wollte, wie Cassiel sich selbst danach sehnte. Schweigend schloss er seinen Mund wieder und sah mit Leidensmine zu seinem Geliebten empor. Hatte der Hüne überhaupt eine Ahnung was es für Matthew bedeutete diese Worte zu hören? War ihm bewusst wie groß die Sehnsucht des Dunkelhaarigen war, endlich wieder dort zu sein wo er hingehörte?
Niemand in dem unbedeutenden kleinen Kaff das sich Cascade Hill City nannte war schlecht zu ihnen gewesen, sah man einmal davon ab, dass eine Frau versucht hatte Matthew zu töten. Doch obwohl bis auf jene unerfreuliche Aktion alle Menschen hier nett und zuvorkommend waren, konnten sie Matthew nicht geben was er brauchte. Nämlich sein Zuhause. Obwohl sich beide jungen Männer schon eine ganze Weile kannten, so war ihnen offensichtlich gar nicht in den Sinn gekommen, einfach auszusprechen was sie belastete um festzustellen, dass es die gleichen Sorgen waren die sie teilten und die gleichen Wünsche die sie hegten.
Statt ihn zu vertrösten und an seine Vernunft zu appellieren, statt ihn wissen zu lassen das es zu gefährlich war ihn aus diesem Bett zu holen und statt ihm mitzuteilen das er hier besser aufgehoben war…stattdessen stimmte der Wildling Matthews Bitte widerstandslos zu.
Clarence wollte ihn zu sich holen, weil er den Kleineren genauso sehr vermisste wie Matthew ihn. Und hätten sie vor ein paar Tagen bereits darüber geredet, vielleicht wäre die Anspannung zwischen ihnen gar nicht erst derart unnötig gewachsen um dann in einem denkbar schlechten Augenblick zu eskalieren.
Doch in dieser Hinsicht waren sie beide noch nicht wesentlich weiter als zu Beginn ihrer Beziehung. Manchmal sahen sie einfach das Offensichtliche nicht.
“Wieso um…alles in der Welt sollte ich… irgendjemand anderem…lieber mein Leben anvertrauen als dir?“, flüsterte der Jüngere, denn er verstand nicht wie Clarence dergleichen denken konnte. “Bei… nie-niemandem…f-fühle ich mich…besser aufgehoben als b-bei dir, h-hörst du?“, flehentlich sah Matthew seinen Liebsten an. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass Clarence wirklich glaubte er würde es vorziehen bei einem Fremden im Haus zu leben und sich von einem Fremden versorgen zu lassen. Wem, wenn nicht Clarence sollte er denn mehr vertrauen? Aus der Sicht des Jüngeren machte das keinen Sinn und doch stand sein Bär gerade vor ihm, sah ihn so traurig an und bat ihn inständig nach Hause zu kommen - als würde er Matthew erst überzeugen müssen.
Während der Blondschopf all die Dinge aufzählte die er tun würde und machen wollte, nickte Matthew ganz sacht zustimmend. Er wollte mehr als alles andere nach Hause kommen - war das denn nicht offensichtlich?
“Du musst mich nicht…nicht bitten…Ich w-will heim, ich will heim zu dir und zu den Hunden…Das will ich schon…seit Tagen.“, seit er wieder in der Lage war zu denken und nicht mehr zweiundzwanzig Stunden des Tages verschlief. Leise schniefte Matthew und wischte sich fahrig mit den Fingern über die linke Wange um etwaige Tränen wegzustreichen.
Dann hob er beide Arme und schloss sie hinter Clarence’ Nacken, behutsam - einfach weil er gar nicht mehr Kraft hatte - zog er den Größeren zu sich herunter, drängte sein Gesicht vorsichtig gegen die bärtige Wange und küsste sie.
“Ich liebe dich…hörst du? D-dich und keinen sonst….Weißt du….weißt du das denn immer noch n-nicht?“, warm brandete sein Atem gegen die goldenen Härchen der vertrauten Wange, während Matthew den Älteren weiterhin dicht bei sich behielt. “Wenn ich irgendwo wieder auf die Beine komme, dann Zuhause.“
Nach all der Zeit die sie schon zusammen waren, war sich sein Bär immer noch nicht über den Wert bewusst, den er für Cassiel darstellte, schrecklich - aber Matt würde niemals müde werden ihm zu zeigen wie kostbar Clarence für ihn war. “Hol mich heim.“
Bennett und Gretchen würden das vermutlich verstehen, wenn auch nicht gutheißen. Aber was machte das schon? Sie waren nette Leute und zweifellos verdanke Matthew dem Arzt sein Leben. Aber selbiges stand nicht länger auf der Kippe und falls doch, dann bekam Clarence ihn auch wieder hin. Es gab niemandem mehr, dem Matthew mehr vertraute und in dessen Hände er sein Leben bereitwilliger legte. Niemanden auf der ganzen Welt.


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