Doktor Bennetts Haus

11. Mai 2210


Arquin

Knappe drei Stunden, nachdem Matthew den scharfkantigen Stein abbekommen hatte, beendete der Arzt schließlich seine medizinische Versorgung notgedrungen. Er war an das Ende dessen gelangt, was er für den Verletzten tun konnte. Mehr war mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu machen. Und so blieb nun lediglich noch, zu warten und zu hoffen. Er hatte getan was er konnte um dem Dunkelhaarigen das Leben zu retten und Arquin war ihm dabei nach Kräften zur Hand gegangen. Nun verließ auch Letzterer den Raum, blass und sichtlich mitgenommen sah er aus und war so in Gedanken versunken, dass er Clarence zuerst gar nicht wahrnahm, welcher unruhig auf und ab lief. Die zwei Hunde folgten ihm dabei auf Schritt und Tritt, was ein ulkiges Bild abgab - trotzdem konnte Arquin nicht einmal lächeln.
„Hallo.“, sagte er matt. „Wir hatten noch keine Gelegenheit einander kennenzulernen.“ - ohne erkennbare Berührungsängste oder Scheu, so wie es bei der Erscheinung des Hünen oft üblich war, kam der junge Mann zu ihm herüber und hielt ihm die Hand entgegen. „Mein Name ist Arquin. Schön zu sehen dass du wieder wach und relativ okay bist.“


Clarence B. Sky

Clarence befand sich in einer Art Déjà-vu, anders ließ sich das nicht mit Vernunft erklären. Er wurde wach, wusste nicht wo er war, hatte höllische Kopfschmerzen.
Hätte er es nicht besser gewusst, der Jäger hätte schwören können er läge in seinem Bett und sein Mann hätte ihn gerade erst aus den Fängen der Spinnenmutanten gezogen, aber ganz so war es nicht.
Es war ganz und gar nicht so.
Seit Stunden lief der kräftige Hüne bereits in der Diel auf und ab, harrte, ging weiter, versuchte sich den Hunden zuzuwenden und blieb schlussendlich doch wieder daran hängen, tiefe Furchen in das knarrende, abgenutzte Holz zu rennen.
Unter dem fleischigen Gesicht einer rotwangigen Bäuerin war er vor gefühlten Äonen erwacht, unfähig sich in den ersten Sekunden dessen zu entsinnen wo er war und was geschehen war. Im einen Moment standen sie noch auf dem Markt und verkosteten Obst und Gemüse, im nächsten befand Clarence sich unter einem fremden Dach mit unbekannten Gesichtern über sich – und im übernächsten Moment strömte die boshafte Realität zurück in seine Wahrnehmung.
Der gleißende Schmerz, welcher seinen Schädel durchzuckt hatte kaum da der Jäger sich aufgesetzt hatte wie ein aufgescheuchtes Huhn, stand dem Donnern von vor wenigen Wochen in nichts nach. Beinahe hätte er seiner gutmütigen Helferin dabei sogar eine gehörigen Zusammenstoß verpasst, aber selbst wenn… so wäre das sicher das Geringste all seiner Probleme gewesen.
Sein pochender Rücken, die dicke Beule an seinem Hinterkopf, all das war völlig nebensächlich im Vergleich zu dem, was sich hinter dieser verdammten Tür abspielte, die sich seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet hatte. Der Arzt ist bei ihm, hörte Clarence noch immer die Stimmen der Fremden in seinen Ohren. Du kannst jetzt nicht zu ihm. – Lass den Doktor seine Arbeit machen.
Es war ein offenes Geheimnis was Clarence von Ärzten hielt, besonders wo er doch selbst derjenige war, der von Beginn an Matthew und sich selbst immer wieder zusammen geflickt hatte. Wunden nähen, etwas ausbrennen, Verbände auflegen – nichts von alledem erfolgte ohne die Aufsicht seiner wachen Argusaugen und wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, der Bär von einem Mann hätte sich sicher sogar selbst einen gebrochenen Oberschenkel gerichtet oder ein Knie wieder ein gekugelt, wenn einem der eigene Kreislauf nicht bei solchen Dingen unterm Arsch weg sacken würde.
Durch jedes verteufelte Zimmer in diesem verdammten Dreckshaus war er gewandert um seinen Mann zu finden und kaum so geschehen, hatte der Quacksalber ihn unter lautem Rufen der Räumlichkeit entfernen lassen. Das gefiel Claire nicht, es gefiel ihm ganz und gar nicht; doch andererseits hatte ihn ein einziger Blick auf das blasse, leblose Gesicht seines Geliebten, seines besten Freundes, seines Partners, seines Ehemannes… ein einziger Blick in das kalkweiße Gesicht des Menschen, der das Zentrum seiner Welt bildete, hatte ausgereicht um den Schamanen wissen zu lassen, dass das Geschehene über seine eigenen Kompetenzen weit hinaus ging.
Clarence Bartholomy Sky war ein Mann, den in den letzten Jahren nur wenig erschüttert hatte. Doch der Anblick Matthews, reglos, so als sei jegliches Leben bereits aus ihm gewichen, war schlimmer als alles was er sich hätte vorstellen können.
In den zurückliegenden drei Stunden hatte er auf dem Boden sitzend still geweint, hatte die uneingenommenen Ersthelfer angeschrien die am allerwenigsten für die Situation konnten, hatte sich schweigsam mit dem Gesicht in eine Ecke gestellt und zu Gott gebetet er möge ihm alles als bösen Traum enttarnen und hatte versucht sich erneut Zutritt in das Zimmer zu verschaffen in dem sein Mann versorgt wurde, nur um am Ende ganz und gar daraus ausgesperrt zu werden.
Für einen kurzen Moment, einfach weil er es konnte, war Clarence sogar durch den Kopf gegangen, sich die Zeit des Wartens vielleicht besser in der örtlichen Unterkunft der Friedensrichter zu vertreiben. Die beiden Damen zu besuchen, von denen man ihm berichtet hatte sie seien die Übeltäter seines kleinen persönlichen Weltuntergangs und die nur wenig Fluchtmöglichkeiten haben würden in ihrer kleinen Zelle, ausgeliefert dem schlimmsten Feind selbst, den sie sich hätten machen können.
Doch was geschah, wenn Cassie erwachte und sein Bär war nicht da? Was wenn er seine trüben Augen aufschlug und sein Rufen nicht erhört wurde, ähnlich wie Claire sich für den Bruchteil eines Augenblicks Verlassen gefühlt hatte, als er nach seinem tagelangen Schlaf und der Rettung durch den Jüngeren erwacht worden war?
Nein… Sally und Molly Mitchell würden ihm vorerst nicht wegrennen, weder aus ihrer Zelle, noch würden sie es weit genug von dieser Insel herunter schaffen um seinen würgenden Fingern jemals zu entkommen. Das einzige, was zählte, war Matthew – der noch immer hinter dieser vermaledeiten Tür lag und sich schlimmer gab wie ein Neugeborenes, bei dem man für endlos anmutende Sekunden auf den ersten Schrei wartete.
Das erste Mal, dass Clarence seit seinem unruhigen Marsch wieder für einen Moment stoppte, war der Augenblick als sich die Tür ohne sein eigenes Zutun öffnete und der junge Mann zu ihm hinaus in den Flur trat, welchen er bei seinen Versuchen des Eindringens nur kurz wahrgenommen hatte.
Der junge Mann. Nicht der Arzt.
Das war kein gutes Zeichen. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn erst die Helfer heraus kamen und danach erst der Arzt. Die Helfer kamen nur dann heraus, wenn es endgültig vorbei war und sie sahen auch nur dann so blass und erschöpft aus, wenn definitiv nichts mehr zu retten war. Das war zumindest ein ungeschriebenes Gesetz und es würde Clarence wundern, wenn es auf dieser gottverlassenen Insel anders wäre.
Als wäre der Unbekannte der Ursprung allen Übels das dem jungen Christen jemals widerfahren war, stierte er aus finsterer Miene zu dem Jüngling hinüber und nahm seinen Gang erneut auf, fast so als könne eine möglichst große Zahl an zurückgelegten Meilen einen möglichst genesenden Effekt für den Mann bedeuten, den Clarence mehr liebte als sein eigenes Leben. Als könne jeder einzelne Schritt ihm Matthew wieder zurück bringen, als könne jeder Meter mehr bedeuten, dass der Unbekannte bessere Nachrichten mit hinaus brachte als er vom ersten Blick her den Anschein machte.
„Alles wird gut… macht euch keine Gedanken“, murmelte er leise seinen beiden Verfolgern zu, die ebenso aufmerksam die Ohren aufgehoben hatten wie ihr Herrchen soeben seinen Blick. Natürlich verstanden die beiden weder die menschliche Sprache, noch glaubte Clarence daran, dass ein einfaches Wort sie beruhigen würde; es half ja nicht mal ihm selbst, so gut gemeint seine Absichten auch gewesen waren.
Hallo. Wir hatten noch keine Gelegenheit einander kennenzulernen“, drang indes die warme Stimme des Jünglings durch die dunkle Diele, die sich nach Stunden des Wartens genauso verfinstert hatte wie das Antlitz des Blonden. Aus rot verweinten Skleren blickte Letzterer zu dem Fremden hinüber, ein Anblick der Clarence ein Quäntchen Wahnsinn verlieh; weit hergeholt war das jedenfalls nicht wirklich, denn mit Matthews Leben würde auch sein gesunder Menschenverstand mit über den Jordan gehen, sollte der vorlaute Taugenichts nicht bald quietsch fidel im Türrahmen stehen und ihn mit seinem gewohnt seltendämlichen Grinsen begrüßen.
„Interessiert mich einen Scheiß wie du heißt.“
Ohne sich von Arquin irritieren zu lassen, überging der Hüne die freundlich ausgestreckte Hand, ebenso wie er an dem anderen vorbei ging. Er wollte nicht von so einem Dahergelaufenen hören, dass sein Mann soeben Hopps gegangen war. Verdammt nochmal, er wollte nach über drei Stunden endlich diesen Drecks Quacksalber vor sich haben und er wollte zu seinem Mann. Verstand das hier denn niemand in diesem grenzdebilen Inzesthausen?
Nervös rieb sich der Jäger in der Hosentasche mit seinem Daumen über den Stumpf, welcher früher einst seinen Ringfinger gebildet hatte. Das war eine furchtbare Angewohnheit, derer er schon seit Ewigkeiten nicht mehr nachgegangen war, die ihn aber zumindest insofern beruhigen konnte, damit er nicht ganz und gar ausflippte. Das Gefühl der Narbe, die die Oberfläche seines Stumpfes hart und taub machte, war das Einzige auf das er sich in jeder erdenklichen Lage fokussieren konnte und das auch heute dabei half, dem fremden Dunkelhaarigen nicht einfach aus unbändiger Wut heraus das Nasenbein zu zertrümmern.
Unmerklich schüttelte sich der blonde Schopf des Hünen um diesen verführerischen Gedanken von roher Gewalt aus seinem Kopf zu vertreiben, bevor er nach einer weiteren zurückgelegten Flurlänge schließlich doch vor dem jungen Mann stehen blieb, welcher sich als Arquin vorgestellt hatte. Arquin war nicht mal ein ordentlicher Name, wo kam dieser Wust aus Lauten und Silben eigentlich her? Aus Inzestwalden, dem Nachbarort von Inzesthausen – den berühmt berüchtigten Zwillingsgemeinden, die Bastarde wie Sally und Molly Mitchell hervor brachten?
Mit undefinierbarem Ausdruck in den kühlen, grauen Iriden musterte der Jäger Arquin, den jungen Mann, der just in diesem Moment den vollen Hass des Blonden abbekam wie zuvor schon die anderen Helfer, die ihm voraus gegangen waren.
„Ich will nur zwei Dinge: Den Quacksalber sprechen und zu meinem Mann“, artikulierte Clarence sich ruhig und deutlich, was nur wenig zu seinem aufgewühlten Blick zu passen schien. Nach dem Vorfall auf dem Marktplatz hätte man meinen können der Hüne wäre vorsichtig geworden seine Verbindung zu Matthew laut kundzutun, doch genau das Gegenteil war der Fall. Wenn sie hier deshalb ganz und gar untergehen sollte, dann wenigstens gemeinsam und bei Gott, Clarence würde nicht dafür scheuen die ein oder andere Menschenseele mit sich hinab in den Höllenschlund zu reißen.
„Wie du merkst, gehört Smalltalk nicht zu diesen zwei Dingen.“ - Eindringlich blieb der Jäger an den Augen des Fremden hängen und wenn er mit einem einzigen Blick jemanden hätte töten können, wäre sicher jetzt dieser Moment gewesen.
„Wenn du nicht hier bist um mir zu sagen, dass mir mein Wille endlich erfüllt wird, solltest du gehen. Ansonsten garantiere ich dir nämlich nicht dafür, dass ich dich nicht als Rammbock benutze um diese Tür ein drittes Mal einzurennen.“
Es war Clarence völlig egal wer hier wem geholfen hatte, wer es gut meinte, wer wie diese beiden Schwestern war oder wer nicht. Gerade waren hier alle eine verdrehte Sippschaft und je länger man ihn von seinem eigenen Mann fern hielt, umso mehr verfestigte sich der Gedanke beim Schamanen, hinter der Tür könne man das Werk der Mitchells ungesehen fortsetzen.


Arquin

Die Wut des blonden Mannes schlug Arquin mit aller Vehemenz entgegen und angesichts der Körpergröße des Tätowierten, war es kein Wunder, dass mittlerweile die anderen Helfer ihn lieber allein gelassen hatten.
Nicht so Arquin.
Er war ein paar Zentimeter kleiner als Matthew, mit ähnlicher Statur und ebenso gepflegtem Haar. Sein glattes Gesicht machte ihn jungenhafter als Matthew es war, trotzdem waren sie in etwa ein Alter. Wo Cassiel etwas Verwegenes an sich hatte, besaß Arquin eine vornehme Jugendlichkeit.
Er wirkte makellos und unverbraucht, ganz anders als Sally Mitchell und ihre Schwester Molly.
Und obwohl er dem Berg von einem Mann nur wenig entgegenzusetzen hätte, sollte dieser handgreiflich werden, wich er nicht vor ihm zurück.
Er ließ seine Hand wieder sinken als klar wurde, dass der Fremde sie nicht ergreifen würde und verfolgte seine Schritte mit müden, jedoch auch aufmerksamen Augen.
Dass es ihn einen Scheiß interessierte wie er hieß, war nicht die Art Gesprächseröffnung mit der Arquin gerechnet hatte, andrerseits konnte er die Aufregung des Mannes verstehen. Der Fremde wirkte einschüchternd, mit seinen unvollständigen Fingern, dem wilden Bart, den vielen Tätowierungen und den rot-verweinten Augen – aber Arquin war kein Feigling und wich nicht zurück. Auch dann nicht, als der hünenhafte Unbekannte ihm deutlich machte wie unbedingt er den Anderen sehen wollte und das er bis zum Äußersten gehen würde in das entsprechende Zimmer zu kommen.
„Wir haben ihn nach oben gebracht, Doktor Bennett sagt, es gibt nichts was er jetzt noch tun könne.“, erklärte Arquin ruhig, wobei er nicht sehr hoffnungsvoll aussah. Er war kein Arzt und er verstand deshalb nicht annähernd genug von Medizin um eine Prognose laut auszusprechen, innerlich jedoch glaubte er nicht, dass der Verletzte überleben würde. „Der Doktor will mit dir reden bevor du zu ihm darfst.“
Der Fremde sah so aus, als stünde er kurz davor den Verstand zu verlieren – und vielleicht stimmte das sogar.
„Komm, ich bring dich zu ihm.“, kurz sah er zu den Hunden, die den Blonden auf Schritt und Tritt verfolgten. Er zweifelte daran, dass Doktor Bennett die Tiere bei dem Verletzten dulden würde, aber sollte dem so sein, dann sollte der Arzt das selbst ansprechen.
Flankiert von dem Hünen ging Arquin zurück zur Tür, klopfte kurz und öffnete sie dann. Der Raum dahinter war in den vergangenen Stunden schon mehrfach von Clarence gestürmt worden, jetzt allerdings fehlte etwas ganz Entscheidendes: Matthew. Dort wo er zuvor gelegen hatte, waren lediglich noch verschmutzte Stoffbahnen, Tupfer und anderes von der roten Flüssigkeit durchweichtes Material. In der Luft lag der Geruch von Desinfektion und Blut.
Auf einem kleinen Metalltisch lagen diverse medizinische Instrumente in allen möglichen Formen, sowie ein Fläschchen mit desinfizierender Lösung, dass wohl für den beißenden Geruch verantwortlich war.
Eine hohe Stehlampe, die mit waschechter Elektrizität betrieben wurde, was in einem Örtchen wie Cascade Hill City nicht selbstverständlich war, tauchte den Behandlungstisch in unbarmherziges grelles Licht.
Am anderen Ende des Raumes, saß auf einem runden Hocker ohne Lehne, ein ergrauter Mann mit kluger Brille. Er blickte auf einen Gegenstand auf einem kleinen Metallwagen, den er zu sich gezogen hatte und begutachtete diesen so genau, dass er nicht einmal aufsah, als die zwei Männer in den Raum kamen.

Coktor Bennett

„Du kannst uns allein lassen, danke Arquin.“ – sagte er mit rauchiger und zugleich angenehmer Stimme und der junge Mann nickte kurz, um dann stillschweigend beide Männer in Ruhe reden zu lassen und aus dem Zimmer zu gehen.
Für ein paar Sekunden schwieg der Arzt und begutachtete weiterhin den Gegenstand auf dem Tischchen, dann blickte er zu Clarence und räusperte sich. „Sie sind wieder auf den Beinen.“, stellte er fest. „Gut.“
Doktor Bennett winkte den Blonden zu sich heran. Wenn er sich unbehaglich in der Gegenwart des wild anmutenden Jägers fühlen sollte, so ließ er sich davon nichts anmerken. Wahrscheinlicher war jedoch, dass er keine Unruhe in dessen Gegenwart verspürte.
Gefolgt von Kain und Abel leistete Clarence der Aufforderung Folge, wobei er so angespannt aussah wie Bennett es trotz seines Berufes nicht oft zu Gesicht bekam. Die meisten Verletzungen die er zu versorgen hatte waren weniger ernster Natur als das womit er heute konfrontiert worden war.
Als der namenlose Fremde sich bei ihm eingefunden hatte, richtete Bennett seinen Blick wieder auf den hellen Metalltisch. Darauf lag, auf einem blutigen Stück Stoff, der Gegenstand der Matthew am Kopf getroffen hatte. Es war klobiger, grau-schwarzer Schieferstein von der ungefähren Größe einer Faust. An dem Wurfgeschoss klebten Blut und Haarreste – wobei besonders Letztere auf brachiale Art deutlich machten mit welcher Wucht der Stein den jungen Mann getroffen hatte.
„Damit hat man Ihren Mann verletzt.“, eröffnete er Clarence, räusperte sich kurz und fuhr dann fort. „Der Stein hat ihn an der rechten Kopfseite getroffen, etwa hier.“, er deutete an seinem eigenen Kopf mit der Handfläche eine Diagonale zwischen Schläfe und Jochbein an, um zu verdeutlichen wo die Verletzungen lagen.
„Dabei hat er das Gewebe stark beschädigt, das Jochbein ist gebrochen, das Schläfenbein zumindest angebrochen, wobei ich eine vollständige Fraktur nicht gänzlich ausschließen kann. Besonders Letzteres bereitet mir Sorgen, denn ich kann nicht absehen, ob das Gehirn Ihres Mannes in Mitleidenschaft gezogen wurde.“
Die Lage für den Verletzten war ernst und Bennett war es wichtig, dass der Andere das auch verstand. Die Tragweite dessen was geschehen war, war auch für ihn als Arzt noch nicht vollständig abzusehen.
"Sollte das der Fall sein, wird Ihr Mann wahrscheinlich nicht überleben." - Bennett suchte während des gesamten Gesprächs den Blick zu Clarence, als wolle er sicherstellen, dass dieser ihm zuhörte und auch verstand was das bedeutete. "Es tut mir leid was vorgefallen ist, dass können Sie mir glauben.", doch der Mann vor ihm sah nicht so aus, als würde er sich dafür interessieren. "Mein Mitgefühl ist nicht was Sie gerade wollen, nehme ich an.", der Arzt räusperte sich neuerlich, dann stand er erstmals seit dem Gespräch von seinem Platz auf. "Sie können jetzt zu ihm, einfach die Treppe dort nach oben, im letzten Zimmer finden Sie ihn.“, gern hätte er dem Fremden gesagt, dass alles gut werden würde, doch das konnte er nicht. „Was für ihn getan werden konnte, habe ich getan. Die nächste Zeit wird zeigen, ob er es schafft.“ Mit einem Brummen senkte er den Blick wieder auf den Stein, der aus dem Nichts das Leben der beiden Reisenden verändert hatte. Geworfen von einer Frau die zu dumm war um zu begreifen was sie angerichtet hatte.
Der Vorfall hatte natürlich längst die Runde in dem kleinen Städtchen gemacht und hatte für exorbitante Aufregung gesorgt. Draußen warteten deshalb auch einige Menschen auf Nachrichten bezüglich des Gesundheitszustandes des Dunkelhaarigen, alle waren betroffen, alle entsetzt über das Geschehen. Aber sie würden sich noch gedulden müssen bis sie etwas etwas erfuhren, zumindest Bennett würde sich bedeckt halten was Informationen für fremde Ohren anging.
„Im Hinblick auf seinen Zustand rate ich Ihnen, die Hunde nicht mit zu ihm zu nehmen.", fügte Bennett schließlich noch an. "Ach ja, Arquin hat Ihnen das Nachbarzimmer hergerichtet. Wenn Sie wollen, können Sie also hierbleiben."
Wäre der Fremde nicht so offensichtlich durch den Wind und wäre die Situation nicht so bedrohlich für seinen Mann, Bennett würde ihm nicht sein Haus als Unterkunft anbieten. Doch in Anbetracht der Situation, hatte er nicht lange überlegt.
Der Raum in dem Matthew untergebracht war, war das ehemalige Zimmer seiner Tochter und noch immer fanden sich kleine Erinnerungsstücke an sie in der Räumlichkeit.
Das Zimmer war hell möbliert und dank zwei großer Fenster lichtdurchflutet. Das Bett hatte ein komfortables Maß, alle Bettwäsche war sauber und frisch. Auf einem Tisch daneben befanden sich eine Bibel, ein Glas Wasser und eine Karaffe.
In dieser Kulisse lag - auf den ersten Blick scheinbar friedlich ruhend - Matthew, dessen Gesicht auf der betroffenen Seite starke Einblutungen aufwies. Einen Teil der Haare hatte der Doktor mit dem Rasiermesser entfernt um großflächig die Platzwunde untersuchen und behandeln zu können. Nun zog sich eine lange Naht vom rechten Ohr bis vor zur Schläfe, wobei ein kleines Stück unvernäht geblieben war um das Wundwasser abfließen zu lassen. Auch am Jochbein gab es eine offene Wunde, außerdem war die gesamte Partie dunkelblau und lila verfärbt.
Er sah nicht gut aus, wahrlich nicht. Doch ohne den Kampf von Bennett und den Ersthelfern, wäre Matthew Cassiel Sky bereits seit Stunden nicht mehr am Leben.


Clarence B. Sky

Alles um Clarence herum, von der reinlichen und gutbürgerlichen Hütte bis hin zu den plötzlich ach so bestürzten Bürgern in dieser Kleinstadt, kam ihm vor wie ein schlechter Scherz. Wie eine Finte, die Matthew zusammen mit den Leuten hier ausgeheckt hatte um ihn vorzuführen wegen dem, was auf der Insel der Spinnen geschehen war.
Doch so gut wie die Menschen um ihn herum ihre aufgetragenen Rollen auch spielten, so wenig stand es im Verhältnis zu den Dingen, die im mittlerweile abgebrannten Arachnidenfeld und danach geschehen waren.
Mutanten, Dämonen, Monster. Sie alle waren berechenbar und keine von den Verwüstungen, die sie anrichteten, waren unvorhergesehen. Ging man in einen riesigen Spinnenbau hinein, bei Gott, jedem gesunden Mensch war klar, dass dies unter Umständen nicht gut würde enden können. Es wäre nicht überraschend wenn man von einem der Tiere gefressen wurde, wenn es einen vergiftete, wenn man in den Bau hinab stürzte und sich alle Knochen brach.
Das waren nun mal die Gefahren seines Berufs und Clarence hatte es vorher gewusst, genauso wie jeder andere Mann und jede andere Frau es vorher wusste, bevor man seinen Eid ablegte um Jäger zu werden.
Doch Cassie war nicht von einem sich lautstark anbahnenden Mutanten überrannt oder gar von einem Dämon in seine Einzelteile zerlegt worden. Es war ein verfluchter Stein der ihn aus diesem Leben von Claires Seite gerissen hatte. Ein verdammtes Stück Schiefer, aus dem Nichts geworfen von einem Menschen, der wohl unberechenbarsten Rasse die Gott auf seiner schönen weiten Erde erschaffen hatte.
In welchem Verhältnis stand dieser Stein zu einem Feld voller Spinnen, in das sie sich einvernehmlich begeben hatten, der Gefahr direkt ins Auge blickend?
In welcher Welt war es gerecht, dass Matthew in der einen Sekunde noch neben ihm stand und seinem Mann nun gerade gesagt wurde, es gäbe nichts was der Arzt jetzt noch tun könne?
Alleine dieser Satz, diese eine Aussage, die Quintessenz all dessen was Arquin verkörperte, war nicht mehr und nicht weniger als ein Todesurteil für Matthew Cassiel Sky, den man scheinbar schon zur letzten Ruhe gebettet hatte.
Es gab nichts was Clarence den Informationen des Fremden hätte entgegensetzen wollen oder können; alleine seine blasse Gesichtsfarbe wies deutlich darauf hin, dass oberhalb seiner Herzhöhe nicht mehr genug Blut durch den blond behaarten Schädel zirkulierte um überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Der Eintritt in das Behandlungszimmer des Arztes machte den Zustand des Jägers nicht besser, denn selbst der Schauplatz eines Krieges hätte geordneter ausgesehen als der Platz, auf dem bis eben sein Partner gelegen haben musste.
Desinfektionsmittel, unbekannte medizinische Werkzeuge, Tupfer und Stoff verteilte sich neben der Liege, die gen Kopfteil hin aussah wie die der Arbeitsplatz eines Schlachters. Clarence wurde schlagartig übel als er unter dem beißenden Alkohol die deutliche Note des ganzen Blutes wahrnahm, welches just in dieser Sekunde eigentlich durch die Adern seines Mannes zu fließen hatte. Zusammengerechnet mit der Lache, die man sicher schon vom Marktplatz gespült hatte, konnte man sich recht einfach herleiten, warum dieser Arquin nicht gerade vor Hoffnung strahlte.
Wortlos ließ der Schamane seinen Blick über das Chaos wandern, unfähig mit klarem Menschenverstand den Anblick in Zusammenhang mit seinem eigenen Mann zu bringen. Es war surreal sich vorzustellen, dass man an dieser Stelle bis eben Matthew behandelt haben sollte.
Matthew, der über seine trockenen Kommentare lachte wie ein kleiner Junge.
Matthew, der ihm noch vor wenigen Stunden die derbsten Seitenhiebe verpasst hatte.
Matthew, dessen Zähne sich vorhin noch voller Lebenshunger in dem Apfel versenkt hatten, welcher mittlerweile auf dem Marktweg sicher schon zu Brei zertreten worden war wie die Pläne, die sie für diesen Tag geschmiedet hatten.
Es entzog sich völlig seiner Wahrnehmung, dass der Helfer den Raum unlängst verlassen hatte und auch den Wink des Arztes nahm Clarence nur verspätet wahr. Wie um alles in der Welt war er nur hierhergekommen? Wie konnte es sein, dass aus dem interessierten jungen Mann von heute Morgen schlagartig ein Sterbender geworden war, für dessen Überleben man keine großen Hoffnungen mehr hegte?
Doktor Bennett war, ganz ohne Zweifel, ein weit gesitteterer Mann als seine beiden Mitbürgerinnen Sally und Molly Mitchell. Sein Äußeres wirkte gepflegt und weise, ganz als habe er bereits sämtliche Lehrbücher dieser Welt durch seine Brille gesehen und verinnerlicht. Die ruhige Art, mit der er in seinem Stuhl saß und die nervenaufreibende Behandlung seines Patienten sich setzen ließ, war ganz alleine Ärzten vorbehalten - selbst wenn sie an einem verlassenen kleinen Ort wie Cascade Hill praktizierten.
Es war ein offenes Geheimnis wie wenig der Jäger für Quacksalber wie Bennett übrig hatte, insbesondere da seine eigenen Kenntnisse des Schamanismus gänzlich andere Methoden praktizierte als die studierte Medizin es tat und auch die Ansätze der Behandlung völlig andere waren.
Aber – auch daraus hatte Clarence niemals ein Geheimnis gemacht – so gab es jene Dinge, die weit über die Möglichkeiten des Schamanismus hinaus gingen, ebenso wie jene Erkrankungen, gegen welche die Humanmedizin im Gegensatz zu einem Schamanen kein Mittel fand.
Ein gebrochener Schädel und ein potentiell verletztes Gehirn gehörten eindeutig nicht zu den Dingen, die Clarence zu behandeln gewusst hätte.
Obwohl ihm der wache und direkte Blick des Doktors zuwider war, hielt der Hüne ihm stand – nicht zuletzt auch deshalb, weil der Anblick des Wurfgeschosses mitsamt menschlichem Anhang seiner ohnehin flauen Magengrube nichts Gutes tat. Clarence hatte schon viel gesehen in seinem Leben: Von ausgeweideten Kadavern, über Kopfschüsse bis hin zu abgetrennten Gliedmaßen, war seinen hellen Augen nichts verborgen geblieben.
Doch seinen halben Ehemann an diesem Stein kleben zu sehen, überstieg eindeutig eine Grenze die keinem Menschen lieb war, der wusste was es hieß zu lieben.
Die Worte des Fremden waren eindringlich, seine Stimme matt und gediegen; sie verriet wie aussichtslos er den Zustand Cassies empfand, selbst dann, wenn sich seine schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheiten sollten. Natürlich wollte er, dass der Ehemann seines Patienten als derzeitiger Bevollmächtigter den vollen Umfang der akuten Lage verstand und doch konnte Clarence nicht dafür garantieren, es würde auch jede Silbe des gesagten an ihm haften bleiben.
Wie ein monotones Summen rauschten die Worte an seinen Ohren vorbei, die Lippen des Arztes schienen sich zu bewegen und doch kam ihr Klang nicht bei dem blonden jungen Mann an, ähnlich wie schon zuvor mit Arquin. Ganz so als würden sich die Dinge nicht bewahrheiten wenn Claire sie bloß nicht hörte, als wäre alles abwendbar wenn er es nur an sich abprallen ließ.
Ein dünnes „Okay“ sollte zu verstehen geben, dass der Jäger die Anweisungen des Doktors registriert hatte und tatsächlich hatte er die gut gemeinten Ratschläge auch aufgenommen, wenngleich widerwillig. Am liebsten wäre es ihm gewesen, könne er sich Cassie nun einfach über die Schulter schmeißen und zurück nach Hause bringen – in ihr Boot, in ihr Bett, in ihr Heim, wo er aktuell so sehr hingehörte wie nirgendwo hin sonst auf der Welt. Matthew hatte in diesem fremden Haus in der unbekannten Stadt nichts zu suchen, immerhin hatten schon frühere Vorfälle gezeigt, dass sie recht gut alleine füreinander Sorge tragen konnten.
Mit bedrücktem Blick und schiefgelegten Köpfen – immerhin waren die beiden seit dem Vorfall auf der Spinneninsel empfindsamer für derlei Geschehnisse geworden – schauten Abel und Kain ihrem Herrchen hinterher, als dieses sich die ersten, knarrenden Stufen der zugewiesenen Treppe hinauf begab. Brav blieben sie am Absatz liegen, dem Wort des Bärtigen Folge leistend wie kaum ein anderer Welpe auf dieser Welt. Welche Folgen es haben könnte nicht zu gehorchen, das wussten sie mittlerweile und auch, dass unüberlegtes Handeln ihnen keine Streicheleinheiten einbrachte, sollten sie im Krankheitsfall ihrer Besitzer nicht aufs Wort hören.
Wenngleich die obere Etage freundlich eingerichtet war und helles Tageslicht die Umgebung in einen Traum von Unterkunft verwandelte, war die unbekannte Umgebung dem Hünen einem Albtraum gleich. Kaum dass er die Treppe zu Ende erklommen hatte, suchte und fand sein Blick das weiche Bett, auf dem sein Mann scheinbar friedlich schlafend lag. Würde Clarence sich nicht daran erinnern was vor wenigen Stunden auf dem Marktplatz vorgefallen war, die ganze Szenerie hätte eine völlig andere sein können; Doktor Bennett, Arzt der Kleinstadt, nichts anderes als ein Mann bei dem sie ihr Recht auf Unterkunft eingefordert hatten und der Schlummer des Dunkelhaarigen nicht mehr und nicht weniger als ein Mittagsschläfchen nach der zehrenden Nacht auf hoher See.
In einiger Entfernung am Absatz der Treppe hielt er inne, betrachtete sich seinen Geliebten aus einiger Distanz. Noch immer stand er den weißen Möbeln farblich in nichts nach, doch zumindest das blutige Schlachtfeld der unteren Etage aus den Augen verloren habend, schien für einen kurzen Moment die Kampflust des Bären zurückgekehrt.
„Wehe du verreckst mir hier in diesem Dreckskaff, du mieser Penner. Hörst du?!“
Ein unmerkliches Schütteln ging durch das Haupt des Jägers, ganz so als könne ein böses Wort die Vorahnung des Doktors abwenden. Als würde ein bloßes, ernst gemeintes Verbot schon ausreichen, um Matthew wieder unter die Lebenden zu bekommen. Doch jener regte sich nicht, entlarvte nicht das Geschehene als perfide Farce, setzte sich nicht auf um Clarence auszulachen.
Mit verstörtem Ausdruck im Gesicht wandte der Blonde sich der nahen Kommode zu, erkannte darauf kleine Fotografien und am Spiegel darüber die Zeichnung eines Kindes. Der Mann, welcher sich neben dem bunt bekritzelten Pergament abzeichnete, wirkte auf Claire völlig fremd; sein Gesicht war eingefallen und fahl, die Augen umrändert und rot, als hätte er sich mit von Hagebutten verschmierten Händen hindurch gerieben.
Still wandte Clarence sich von seinem Spiegelbild ab und wagte nach einigem Zögern nun doch an das Bett seines Mannes heran zu treten.
Gleichzeitig blass und farbenfroh hob sich das geliebte Antlitz von dem hellen Kopfkissen ab; nichts mehr im Gesicht Matthews wies auf das Blutbad hin, welches er auf dem weg vom Marktplatz bis in dieses Haus hinterlassen hatte. Die Wunde, zu Beginn klaffend und strömend vor Blut, war fein säuberlich vernäht worden wie nicht mal der Schamane es besser hinbekommen hätte. Der Arzt hatte den jungen Mann wieder einigermaßen ansehnlich herrichten können und doch blieb eine Schmach, welche Cassie nebst der Narbe noch einige Zeit bleiben würde: „Wir hatten einen Deal, weißt du das etwa nicht mehr? Dass du dir deine verfickten Haare ein Jahr lang nicht mehr schneiden lässt, wenn ich dir die Hunde kaufe?“
Clarence‘ Lippen bebten auffällig und, natürlich, er war nicht direkt auf seinen eigenen Mann wütend. Er war wütend auf alles – von den Geschwistern Mitchell, über Cassies Naivität, über diese beschissene Stadt bis hin zu dem gottverdammten Stein, der seinen Mann am Kopf erwischt hatte. Auf die Situation und auf Gott und die Welt – und vor allem auf sich selbst.
Hatte er nicht versprochen, fortan besser auf den Mann den er liebte aufzupassen?
Hatte er nicht geschworen, dass er sie nicht mehr in lebensbedrohliche Lagen bringen würde?
Hatte er nicht selbst dieses Ende hier herauf beschworen, als er Sally Mitchell von ihrer Verbindung zueinander erzählt hatte?
Während all jene Vorwürfe unsortiert und ungefiltert durch seinen Kopf schossen, erwischte sich der Blonde selbst dabei, wie er Cassie unsanft in den Handrücken zwickte. Doch der Jüngere verzog weder sein lädiertes Gesicht, noch gab er anderweitig eine Schmerzreaktion von sich.
Ein zutiefst schlechtes Zeichen wie Clarence wusste und eine fehlende Reaktion, die ihn lautlos vor dem Bett auf die Knie zwang.
Cassie, wach auf… wach doch einfach auf…
Mit zitternden Fingern nahm er die Hand seines Mannes in seine und drückte sie sanft, aber noch immer erwiderte der Dunkelhaarige keine einzige seiner Kontaktaufnahmen.
Es war das eine in einem Feld verloren zu gehen und seinen geliebten Partner leblos vorzufinden. Nicht zu wissen was ihm fehlte, nicht abschätzen zu können wohin die Reise ging. Die Hoffnung starb bekanntlich immer zuletzt und so harrte man bis zum letzten Augenblick voller Zuversicht, aber was war das hier für eine Situation? Wo blieb die Hoffnung wenn einem ein studierter Arzt ins Gesicht sagte, dass er nichts mehr würde tun können und die Chancen denkbar schlecht standen?!
Still ließ Clarence sein Haupt in die weichen Laken des Bettes niedersinken und legte die Stirn auf der Hand des Jüngeren ab, die bewegungslos und kalt in der seinen lag. Er wusste wie Cassie aussah wenn er verwundet war, wie er sich gab und aussah, wenn es ihm nicht gut ging. Wie zickig er dann werden konnte, wenn er keine Lust auf menschliche Nähe oder gar einen kurzen Wortwechsel besaß.
Aber dasdas war unbekannt für den Jäger und eine Situation, derer er selbst mit seinem sonst so kühlen Kopf nicht mehr Herr werden konnte.
Oh Gott… oh Gott, bitte…
Fester presste er sein Antlitz in die weichen Federn unter sich, doch er wagte nicht zu bezweifeln, dass man sein klägliches Schluchzen auch noch in der unteren Etage vernehmen konnte. Aber all das war Claire im Augenblick egal – in welcher Welt könnte ihm sein Ansehen bei anderen jemals wichtiger sein als das Leben seines Mannes? Wo um alles in der Welt wäre es wichtiger den eigenen Ruf zu wahren als sich um den Menschen zu sorgen, den man mehr liebte als das eigene Leben?
Es t-tut mir leid… h-hörst du? Es tut mir l-leid, ich… ich w-werd n-nie wieder… nie wieder fies zu dir sein, ich… i-ich sag nie wieder ein b-böses Wort zu dir… ich werd nie wieder… nie wieder an dir rum mäkeln oder… d-dich anderen Leuten für dumm verkaufen, aber… aber… du m-musst auf-wachen… aufwachen, hörst du? Du k-kannst nicht…nicht einfach sterben
Man konnte an dieser Stelle beinahe schon von Glück sprechen, dass man Matthew am Kopf getroffen hatte und nicht an der Hand – denn so fest wie er jene seines Mannes gerade drückte, hätte das gebrochene Finger nicht gerade bei der Heilung unterstützt.
Oh G-Gott, oh bitte, All-Allmächtiger…
Ein tiefes, kehliges Schluchzen drang die Kehle des Bärtigen hervor, bevor sich für einen Moment gespenstische Stille über den hellen Raum legte. Es war ein kläglicher Versuch seinem Weinen Einhalt zu gebieten. Doch wie so vieles andere, sollte auch jenes Vorhaben an diesem Tag keine Erfüllung finden.
Bitte Gott, b-bitte… du k-kannst n-nicht… k-kannst ihn m-mir nicht auch n-noch… noch nehmen… nicht ihn… nicht ihn…“
Leises Rascheln gesellte sich zum haltlosen Klagen des Blonden, als er vehement sein Haupt in den blütenweißen Laken zu schütteln begann.
D-Du kannst nicht… k-kannst mir nicht… Matthew schicken, wenn ich dich…w-wenn ich d-dich um… um jemanden bitte… und ihn mir dann ein-einfach…wieder nehmen… das kannst du n-nicht… mach das n-nicht…“, wisperte Clarence - unterbrochen vom Beben seines eigenen zitternden Leibes - gegen die Hand seines Liebsten. „D-Du kannst nicht… kannst mir nicht… d-den Großvater nehmen… d-die Eltern… hnn… du kann…k-kannst mir nicht… mein W-Weib n-nehmen…
Gott mochte, seinem eigenen Glauben nach, dem Einzelnen nie mehr aufbürden als er zu tragen fähig war. Doch irgendwann waren auch Clarence‘ Grenzen erreicht, irgendwann war der Punkt gekommen, über den es mit bloßer Kraft und Gottvertrauen nicht mehr weiter ging. Sein Schöpfer gab ihm Kraft und so wenig Gott im Alltag des einstigen Fanatikers von jenem thematisiert wurde, so hieß das nicht, dass er nicht trotzdem weiter seinen Glauben in ihn setzte.
Herr, d-du… du h-hast mir… h-hast mir… du-du hast mir… meine K-Kinder g-genommen… allesamt… m-meine… meine Mädchen… meine beiden w-wunderschönen M-Mädchen…“, presste Clarence sein Gesicht tiefer in das weiche Bett um seinen Schmerz darin zu ersticken, den er am heutigen Tag nicht mehr zu bändigen wusste. Seine unvollständigen Finger sprachen Bände davon wie tief jene Wunde in seinem Herzen sitzen musste und die er doch immer irgendwie zu verbergen wusste, sei es nur dadurch, dass er sich fremder Leute Kinder vom Leib hielt.
Ich… i-ich werd nie mehr… nie mehr ihr L-Lachen hören… oder ihr… oder ihr Weinen… o-oder ihre kl-kleinen F-Füße, wenn sie… wenn sie durchs Haus rennen, ich… D-Du hast… Herr, du h-hast… du hast meine M-Mädchen… meine Söhne… du hast s-sie dir alle… alle z-zurück g-geholt, m-meine ganze… Familie hast du, nimm… nimm ihn mir nicht auch noch, ich… i-ich flehe dich an, nimm mir… n-nimm mir nicht noch ihn…“
Sollte es das etwa schon gewesen sein, hier, in dieser Stadt? Läppische wenige Monate nur, nachdem Gott seinem Schützling beim ersten Mal auch schon nur acht kurze Jahre gegönnt hatte? War das der Humor seines Schöpfers oder eine Strafe die er Clarence stillschweigend auferlegt hatte, ohne dass jener je etwas davon erfahren hatte?
Ohne Zweifel, wenn, dann konnte nur letzteres der Fall sein. Alles was Clarence Bartholomy Sky liebte, starb früher oder später – ein Schema, welches sich durch die pure rohe Gewalt des heutigen Tages bewies. Wie wahrscheinlich war es immerhin, dass nach all seinen bereits vorhandenen Verlusten nun ausgerechnet auch sein Ehemann dem Tod zum Opfer fiel? Dass so eine Irre auf einem Pferd traf, anstatt ihr Ziel zu verfehlen? All das konnte kein Zufall sein, nicht rückblickend, nicht in einer Welt wie der Ihren.
I-ich bitte d-dich, ich… i-ich flehe…flehe dich an, ich… ich war k-kein… kein guter Christ, ich… ich habe d-die letzten J-Jahre in… in Sünde verbracht, ich…h-habe meinen G-Glauben beschmutzt, als ich…als ich m-meinem Sehnen nach-nachgegangen bin, aber…aber Herr, sch-schick mir nicht… schick mir n-nicht… ihn w-wenn ich… dich um die Liebe bitte, n-nur um… nur um ihn m-mir dann wieder… zu…zu nehmen…
Die Wege des Herrn waren unergründlich und niemand schrieb dem Schöpfer aller Dinge vor, was er zu tun hatte – am allerwenigsten ein unbedeutender Christ wie Clarence, der seinen Glauben schon vor Jahren verraten und seitdem mit Füßen getreten hatte. Keine Sekunde in diesem Land hier draußen ging in irgendeiner Weise mit seiner Religion konform und jeder Atemzug auf diesem Feindesland würde in seiner Heimat bereits ausreichen, um ihn während der Anklageverlesung auf einem Scheiterhaufen von seinen zahlreichen Sünden rein zu waschen.
Er hatte gemordet, gehurt, er war der Sodomie mit einem anderen Mann nachgegangen und nicht zuletzt hatte er es gewagt, unter dem Dach eines fremden Gottes mit jenem auch noch den heiligen Bund der Ehe zu beschmutzen. Er war mit Matthew eine Verbindung eingegangen, die in der Welt aus der er kam nicht mal existierte – Gott hatte unbestreitbar genug Gründe, um ihn für sein verlebtes Leben zu bestrafen. Aber hatte sein Sohn sich auch jemals daran schuldig getan, seinen Glauben und sein Vertrauen nicht mehr in die Allmacht seines Gottes zu legen? Hatte er sich jemals mit Herz und Verstand von seiner Heimat oder seinen Überzeugungen gelöst, nur weil er sich – des Überlebens halber – der Welt hier draußen angepasst hatte?
I-ich bekenne dir… dem Vater dem A-Allmächtigen… dass ich… dass i-ich Gutes unterlassen und B-Böses getan habe… ich habe… habe gesündigt in G-Gedanken… W-Worten und Werken durch m-meine Schuld… meine g-große Schuld…“, wisperte er leise gegen die Hand seines geliebten Ehemannes, welche seine Tränen geduldig aufgefangen hatte. „Darum bitte ich die selige J-Jungfrau Maria… alle Engel und… H-Heiligen… f-für mich zu beten bei G-Gott, meinem Herrn… G-Gegrüßet seist du, Maria, v-voll der Gnade…
Worte und Gebete drangen über die Lippen des Christen, wie man sie zuletzt auszugsweise nur während ihrer Hochzeit hatte vernehmen können und die aus dem Munde des groben Bärtigen so falsch klangen wie aus dem tiefsten Herzen des gebürtigen Fanatikers so ehrlich gemeint. Selbst wenn Clarence nicht an die Religion gebunden wäre, was wäre ihm schon geblieben nach der wenig hoffnungsfrohen Begegnung mit dem Arzt? Was hätte es für Möglichkeiten gegeben um das Leben seines Mannes zu kämpfen, wenn nicht ein Stoßgebet zum Himmel – oder gar hunderte, auch wenn es die ganze Nacht hindurch dauerte?
Selbst wenn es nur dazu diente um seinen erwachenden Mann damit zum Lachen zu bringen, wäre für den Jäger an diesem Tag alles gewonnen, was er sich seit dem Ereignis auf dem Marktplatz gewünscht hätte.


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