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Eiswüste

12. Juli 2210


Clarence dachte, er hätte schon fast alles gesehen im Leben. Geisterstädte, vergangene Metropolen, künftige ebenso. Er hatte gesehen wie Leben auf die Welt kam und Leben verging – hatte Leben gezeugt und ebenso Leben genommen. Hatte Mutanten ins Auge geblickt. Er war Angehöriger einer fanatischen Sekte gewesen und war es zum Teil noch immer, hatte unter Schamanen versteckt in den Bergen gelebt, hatte monatelang alleine als Einsiedler in den Wäldern verbracht und hatte sich schließlich zum Jäger rekrutieren lassen.

Clarence dachte, er hätte schon alles gesehen.

Und doch lehrte ihn der heutige Tag eines Besseren.

Während er dort saß, unter sich die kalten steinernen Stufen des Treppenhauses und den Kopf gegen die Wand gelehnt, starrten seine Augen regungslos durch das Fenster vor ihm hinaus in die weiße Eiswüste, die unter ihm lag. Gebäude, Bäume und Monumente der Alten waren überzogen von Schnee und Eis, als habe man alles in schroffe weiße Mäntel gekleidet die dazu gedacht waren den Sehenden spüren zu machen, er war hier nicht willkommen. Hier existierte kein Leben mehr. Kein Vogel der zwitscherte, kein kleiner Dachs der sich aus den schmalen Gassen hervor wühlte und nach den Resten etwas Essbarem suchte, um den Winter zu überstehen. Obwohl längst kein Glas mehr das Fenster zierte, hörte Clarence dort draußen nichts. Kein Leben, keine Regung. Nur das trockene Heulen von Wind.

Nachdem er es dort oben auf den Dach geschafft hatte das Schränkchen von sich herunter zu stoßen und sich so gut es ging aufzurappeln, hatte er versucht sich einen Überblick zu verschaffen und begriffen, dass es kein Erdboden war, auf dem er sich befand. Dass es keinen Zeppelin gab, der in seiner Sichtweite war.

Was ihn umgeben hatte, waren hölzerne und metallische Trümmerteile gewesen. Einzelne Gegenstände, die ihren Sturz am Stück überlebt hatten und einen groben Anschein davon gaben, welches Chaos um sie herum seinen Lauf genommen hatte. Aber auch Menschen. Tote Menschen, im Ganzen und in Teilen, blass und bläulich… und auch schwarz verkohlt, so wie er sie am wenigsten ertragen hatte.

Seine Augen brannten vom andauernden Starren aus dem Fenster vor sich. Wenn er nur ein einziges Mal blinzelte, so seine Angst, würde er vielleicht vor Erschöpfung einschlafen. Oder noch schlimmer: In der Dunkelheit des kurzen Blinzelns vor seinen Augen Dinge sehen, die er gar nicht sehen wollte.

Der Anblick der Verwüstung fühlte sich an, als wären seine nächtlichen Alpträume plötzlich Realität geworden. Als wären die unzähligen Leichenteile, die er sonst nur drapiert vor sich auf dem Boden der Wohnstube sah, vom Holz aufgesammelt und oben auf dem Dach verteilt worden. Als würde die Asche seines verbrannten Jugendfreundes vor seinen Augen vom grellblauen Himmel hinüber geweht werden bis an diesen tristen verfluchten Ort hier und als wäre er wieder vierzehn Jahre alt, sich heute im stillen Treppenhaus verkriechend genauso wie damals unter seinem Bett.

Stundenlang hatte er dort gelegen. Er hatte kaum mehr dort drunter gepasst, ganz anders als in jungen Jahren, wo ihm der Platz unterm Bett vorgekommen war wie eine riesige Räuberhöhle. Nun aber hatte das Lattenrost ihm in den Rücken gedrückt, der Versuch die Beine anzuziehen um nicht gesehen und zur kleinen Kugel zu werden, hatte ihn gegen den Boden gezwängt und ihm dadurch ein eigentümliches Gefühl von Geborgenheit gegeben von dem er wusste, er würde es ab heute nie wieder von seinen Eltern bekommen. Wie schon im Hühnerschuppen, als seine Mutter ihm gesagt hatte er solle hier warten, hatte er sich auch unterm Bett die Frage gestellt, ob er mit vierzehn nicht schon tapferer und mehr Mann sein sollte. Ob er hervor kriechen, versuchen sollte eines der Pferde zu finden und ins Dorf zu reiten, um dort Hilfe zu holen.

Aber… Hilfe für was? Was gab es schon zu retten, wenn alle bereits tot waren?

Er hatte es versucht sich zu bewegen, wirklich. Doch seine Glieder hatten sich angefühlt wie Stein… nein, mehr noch wie schweres, kaltes Eis, das man einfach nicht vom Fleck bekam, egal wie sehr man es versuchte.

Es hatte bis spät in den Nachmittag gedauert, bis eine kleine Gruppe Männer aus dem Dorf auf den Hof gekommen waren um nach dem Rechten zu sehen, weil seine ganze Familie nicht beim Sonntagsgottesdienst erschienen war. Clarence erinnerte sich noch daran, dass es noch einige Zeit mehr gebraucht hatte, bis einer der Männer auf die Idee gekommen war unter den Möbeln nach ihm zu suchen. Er wusste nicht mehr wer es gewesen war oder was der Mann zu ihm gesagt hatte, seine Stimme hatte seltsam verschwommen geklungen, so als stünde der kleine Raum unter dem Bett unter Wasser und wolle einfach keine Stimmen zu ihm heran lassen. Aber dafür erinnerte er sich umso mehr an die Hitze seiner Hände, als er damit nach Claires Arm und seine Bein gegriffen hatte um ihn schließlich unter dem Bett hervor zu zerren. Hatte er sich nicht mehr bewegen können, weil er während den Stunden eingekauert unterm Bett so steif geworden war? Oder war es tatsächlich die Angst gewesen, die ihn so gelähmt hatte?

Nun saß er hier, auf der Treppe, und starrte hinaus. Im trüb gewordenen Glas starrte ihn eine fremde Fratze an, dessen dunkle Augen ihm aus blutverschmiertem Gesicht bis tief in die Seele hinein sahen. Der Hals war dank des Schranks blau unterlaufen und sah somit genauso an wie er sich auch anfühlte, doch all das war nichts gegen das Zitter seiner Hände, das sich in seine Muskeln eingebrannt hatte.­

Als er erwacht war, dort oben auf dem Dach, und die Zerstörung erkannt hatte die um ihn herum ihren Lauf genommen hatte, war ihm noch just in der gleichen Sekunde klar gewesen, dass er seinen Mann vermutlich nicht mehr lebend wiedersehen würde. Und wenn er tot war, die Wahrscheinlichkeit wohl ebenso gering, dass Clarence ihn zwischen all den Trümmern wiederfand.

Was, wenn Cassie ganz unten unter dem Wrack lag, auf ewig begraben, zu tief um vom Blonden geborgen zu werden? Oder was, wenn er vom Aufprall in alle Einzelteile zerquetscht worden war, bis nichts Brauchbares mehr von ihm übrig blieb? Oder wenn Clarence seinen Mann fand – aber nicht alle Teile von ihm? Er würde nicht gehen ohne Matthew gefunden zu haben, so viel stand fest. Er musste ihn sehen. Er musste einfach.

Und dann… wie er dort so gesessen hatte, aufgerappelt und der Wahnsinn mehr Herr über ihn geworden war als er selbst noch Herr über seine Sinne,  war ihm klar geworden, dass auch Cassie alles tun würde um zu ihm zu gelangen. Im Zweifelsfall sogar ihm hinterher zu springen. Aber wenn er das getan hatte und hier auf dem Dach nicht mit ihm war…

Clarence konnte spüren wie seine brennenden Augen sich erneut mit Tränen füllten, von denen er in der letzten Stunde schon mehr vergossen hatte, als er glaubte zu besitzen. An seinen Händen klebten noch immer Überreste der vereinzelten verkohlten Leichenteile, die er durchwühlt hatte um seine Sorge darüber zu zerschlagen, sein eigener Mann könne sich darunter befinden. Verbrannt, qualvoll und elendig, so wie es mit Benedict passiert war… oder mit Jamie. Waren das wohl Matthews letzte Gedanken gewesen? Dass sich nun der Kreis schloss, nachdem er seinem Freund damals seiner Meinung nach das gleiche Schicksal verbrochen hatte?

Unter ihnen hatte er ihn gefunden, diesen einen Rest, von dem er mit einziger Sicherheit wusste, dass er gar nichts über ihn sagen konnte. Das Feuer musste so heiß gewesen sein, dass es seinen Torso bereits zu Kohlestaub hatte zerfallen lassen. Um den dunklen Fleck verteilt hatten seine Arme und Beine drapiert gelegen und sein Kopf… mit weit aufgerissenem Mund, aus dem er die stillen Schreie noch immer hatte hören können. Wenn der einstige Fanatiker nicht gewusst hätte, wie bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Menschen aussahen, vermutlich hätte er diese Überreste gar nicht als solche wahrhaben wollen, sondern als… als Holzkohle mit der üblich borkigen  Maserung, von der man immer befürchtete sie brach einem entzwei, wenn man sie in die Hand nahm.

Er war panisch geworden, hatte abermals tonlos versucht nach seinem Mann zu rufen und war von der Stelle fort gerannt, hinüber zum Ende des Dachs, nur um dort erstmalig die Unglücksstelle von oben zu erblicken.

Selten hatte Claire etwas so schlimmes erblickt und noch seltener war er sich so sicher gewesen, dass Matthew so etwas nicht überlebt haben konnte.

Mittlerweile hatte er kaum noch stimme, aber wie es schien noch immer genug Tränen, die er hilflos mit seinem zitternden Handrücken hinfort wischte. Normalerweise hätte sich jetzt Matthew an ihn gelehnt, mit sorgenvoll zusammengezogenen Brauen, ihn gemustert und wäre mit seinem Daumen unter den blonden Wimpern entlang gefahren, statt Clarence mit seinem Kummer alleine zu lassen. Nicht weinen, Bärchen, hätte er gesagt. Und obwohl er selbst nicht so richtig daran glaubte, hätte er vielleicht geflunkert, um sein Bärchen zu beruhigen: Alles wird wieder gut werden. Er hätte seine Arme um Claire gelegt um ihn an sich zu ziehen und vermutlich hätte er ihn sachte gewiegt, ihm dabei leise jenes Lied singend, mit dem er ihn auch damals nach seiner Rettung aus dem Spinnenfeld beruhigt hatte.

Doch im Moment wollte Clarence nichts mehr als Matthew in den Armen zu halten und zu wiegen. Er würde alles für diesen Mann machen, wenn er denn nur einfach plötzlich vor ihm stand und da war. Er konnte ihn auch auslachen dafür, dass er diesen fiesen Streich glaubte, den Cassie ganz sicher mit Barclay und Adrianna ausgeheckt hatte um ihn in Angst und Schrecken zu versetzen – ein Unterfangen das ihnen wirklich gut geglückt war, das sie nun aber endlich auflösen konnten.

Selbst dann hätte er Matthew in den Arm genommen und geliebt, auch nach solch einem schrecklichen Streich.

Müde senkte er den verstörten Blick durchs Fenster hinab zurück aufs das Wrack des Zeppelins, dessen Anblick er seit dem Dach versucht hatte zu ignorieren. Er hatte schon gut fünfzehn Etagen geschafft, konnte aber zunehmend spüren wie ihm die Kräfte schwanden und es verführerisch wurde für einen Moment die Augen zu schließen. Nur für einen Augenblick wenigstens, um sich Cassie vorzustellen wie er nackt an Deck des Bootes stand weil ihm das Handtuch geklaut worden war, oder wie er zuckte und laut loslachte, weil sein Bär heimlich die Hand unter sein Oberteil geschoben hatte. Oder um ihn einfach vor Augen zu sehen wie er hinaus aufs Meer sah, plötzlich lächeln musste während Claire erzählte und ihm dann einen dieser verliebten Blicke zur Seite zuwarf mit seinen warmen, braunen Augen – einen dieser Blicke, für die man Matthew einfach an sich ziehen musste und nie wieder gehen lassen konnte.

The other night dear, as I lay sleeping, I dreamed I held you in my arms… But when I awoke, dear, I was mistaken. So I hung my head and I cried. You are my sunshine, my only sunshine… You make me happy when skies are gray. You'll never know dear, how much I love you - Please don't take my sunshine away“, wisperte er leise in dem Versuch sich vorm Einschlafen zu bewahren während er sich gestattete, wenigstens für ein paar Sekunden die Augen zu schließen und an Matthew zu denken. An jenen Mann, der ihm heimlich ein Bonbon in den Mund schob nachdem er ihre Sachen gepackt hatte und der so schön ausgesehen hatte damals in der heißen Quelle, ganz alleine, nur umgeben von Schnee und dem Dampf der Hitze. „In all my dreams, dear, you seem to leave me. When I awake my poor heart pains. So when you come back and make me happy I'll forgive you dear, I'll take all the blame. You are my sunshine, my only sunshine You make me happy when skies are gray… You'll never know dear, how much I love you… mhh… Please don't take my sunshine away…“

Adrianna Fairbanks

Adrianna hatte mit so ziemlich allem gerechnet in der aktuellen Lage. Mit einer Horde Halbstarken wie das Mädchen mit dem Lockenkopf, die alleine schon bei ihrem Anblick halb in Ohnmacht gefallen war, ebenso wie mit den zwei monströsen Kötern von Reed, die überlebt hatten und früher oder später das Feld durchstreiften, um etwas Essbares zu finden. Vermutlich hätten die Viecher sie bei lebendigem Leib einfach gefressen, dem Aussehen nach würde sie das diesen Biestern jedenfalls zutrauen, doch Reed selbst schlug dem Fass fast den Boden aus. Selten hatte die Redewendung Fluch und Segen zugleich sein so sehr auf etwas zugetroffen wie auf den Typen in just diesem Augenblick.

„Reed, beweg deinen Arsch hier her“, zitierte sie mit den Kräften die ihr noch verblieben waren hinauf durchs Loch, nachdem auf ihren ersten Ruf nichts geschehen war. Er brauchte gar nicht so tun als habe er sie nicht gehört, denn ihre Ohren funktionierten ausgezeichnet und sie irrte sich selten darin, jemanden auch an den kleinen Dingen wiederzuerkennen.

Seit sicherlich Stunden lang sie schon hier unten – jedenfalls ging sie anhand der wechselnden Farbe des Himmels davon aus, den sie von ihrer Position her erkennen konnte. Als sie aufgewacht war, hatte sich für eine kurze Zeit sogar etwas Sonne durch die Wolken geschoben, doch wirklich lange hatte das nicht angehalten.

Bemüht ihre Kräfte zu portionieren nachdem sie begriffen hatte, sie würde hier nie im Leben eigenständig heraus kommen, hatte sie auch ihr Rufen auf wenige Male in der Stunde beschränkt und auf jene Momente, in denen sie Geräusche gehört hatte. Dass überhaupt noch jemand kommen würde um sie zu finden, daran hatte sie – zumindest was heute anging – schon gar nicht mehr geglaubt. Mit etwas Glück vielleicht morgen oder übermorgen, wenn denn überhaupt noch jemand lebte und suchte, aber nicht mehr heute. Nicht Reed.

Als sein beklopptes Gesicht dann plötzlich am Loch erschien und der Lockenkopf dadurch bewies nicht gelogen zu haben jemanden zu holen der mehr Ahnung hatte, kam in Addy beinahe der kurze Wunsch danach auf, diesen Arsch zum Dank zu küssen. Doch vermutlich hätte sie selbst dafür weder genug Reichweite, noch genug Kraft besessen – ein Zustand, der ihr immer noch nicht so richtig in den Kopf gehen wollte, wie es schien.

Blass und eingefallen lag sie dort und war die letzten Stunden nicht untätig geblieben, wie man der Umgebung ansah. Sie hatte mit ihrer freien rechten Hand ihre Beine frei geschaufelt, die unter einem anderen Trümmerteil vergraben gewesen waren und dicke rote Male auf ihren Schienbeinen hinterlassen hatten. Hatte Bretter und Schutt von sich gezogen und so weit von sich geworfen wie es in der kleinen instabilen Höhle ging in der sie lag und hatte auch versucht ihren linken Arm zu befreien – deutlich erfolglos.

Von unten durch einen dicken langen Holzbalken und oben durch Stahl begrenzt, war die Quetschung an ihrem Unterarm bereits blutig angeschwollen und das bisschen Arm, das man durch den Spalt in der Dunkelheit erkennen konnte... nun ja, das hatte schon seit Stunden keine gesunde Farbe mehr und Adrianna wagte sogar selbst zu bezweifeln ob es ihrer Gesundheit nicht vielleicht eher schaden würde weiter zu versuchen, sich aus der Falle zu befreien, in der sie steckte.

Pass auf, hier sind überall gebrochene Metallstäbe… hab die Dinger schon ein paar Mal zu spüren bekommen“, warnte sie ihn während Reed sich vorsichtig zu ihr durchkämpfte. Sie hob ihren bewegbaren Arm und zeigte ihm die Unterseite um ihm zu beweisen, dass sie keine Scherze machte und die spitzen Enden alles andere waren als ungefährlich.

Es dauerte einen Moment, bis er sicher bei ihr angekommen war; Zeit die sie sich nahm, um ihn still zu mustern. Er sah verhältnismäßig gut aus, nicht ganz so ungeplagt wie der Lockenkopf zwar, aber insgesamt trotzdem nicht schlecht.

In einer Art Friedensangebot begrüßte sie ihn, nachdem er endlich bei ihr angekommen war, mit einem dünnen „Hi…“ – nicht etwa weil sie plötzlich Respekt vor ihm hatte als Mensch und als ihre letzte Rettung, sondern weil es ein gutes Gefühl war, wider Erwarten überhaupt ein bekanntes Gesicht wiederzusehen.

Adrianna brauchte seinem Blick durch die Höhle und zu ihrem Arm nicht folgen um zu verstehen, in was für einer scheiß Situation sie sich befand. Das hatte sie schon vor einiger Zeit begriffen und dementsprechend trocken äußerte sie ihre Überlegungen: „Ist wohl besser wenn es jemand anders macht, dachte ich. Aber spätestens morgen Abend oder übermorgen hätte so oder so was passieren müssen…“

Auffordernd blickte sie zu ihm empor, denn gerade war sie sich nicht sicher ob Reed wirklich begriff, was sie damit meinte. Gerade sah er nicht mal mehr so aus, als würde er überhaupt noch hören, was man zu ihm sagte.

Hol Clarence, der… der weiß, wie sowas geht. Lass es ihn machen, dann hab ich bessere Chancen“, tätschelte sie ihm vorsichtig den Arm, beinahe als müsse sie ihn dafür trösten, dass sie hier eingeklemmt lag – und das, obwohl sie sich ganz offenkundig nicht mal richtig grün miteinander waren. „Du… warst doch die ganze Zeit bei ihm, oder? Er lebt doch noch?!“

 

 

 

Heftig zuckte er zusammen, als er mit der Stirn an der Wand abrutschte. Als er die Augen wieder öffnete, war es nicht mehr so hell draußen wie eben noch, doch die Schmerzen in seiner Schulter waren die gleichen und die in seiner Brust waren auch nicht weniger geworden.

Fast zwanzig weitere Etagen hatte Clarence schon geschafft, doch auf dem Weg trotz mehreren Versuchen seine ausgekugelte Schulter nicht wieder zurück ins Gelenk springen lassen können. Nutzlos hängte er ihm an der Seite, schmerzend wenn er ihn nicht mit dem anderen Arm etwas hinauf stützte oder sich beim Gehen nach vorne lehnte um ihn von der Brust weg hängen zu lassen – beides anstrengende Varianten, die es umso erschwerlicher machten, wenn er im Treppenhaus ein Hindernis zu überqueren hatte.

Je näher er dem Ausgang gekommen war – wenn es denn überhaupt im Erdgeschoss eine Stelle gab aus der er ungehindert ausbrechen konnte – umso mehr hatte ihn der Mut verlassen, es überhaupt zu tun. Immer wieder hatte er sich gesagt, dass so lange er selbst noch atmete, Matthew es auch musste. Er musste einfach, es führte gar kein wenig daran vorbei. Letztlich hatte er beschlossen nochmals eine kleine Pause einzulegen, nur kurz; doch dieses Mal schien kein Singen dieser Welt gegen seine Erschöpfung zu helfen, die zunahm, je unwahrscheinlicher es war seinen Mann jemals wiederzusehen.

Keuchend richtete er sich wieder auf der Treppe auf und leckte sich über die spröde gewordenen Lippen, die ihm schon jetzt aufgrund der Kälte leicht aufgeplatzt waren. Seine Füße spürte er schon seit einigen Etagen nicht mehr, sie waren zu schweren Blöcken aus eisigem Stein geworden die ihm mehr im Weg waren als wirklich voran zu helfen. Und doch…

Während Clarence seinen Blick vom noch hellen Himmel abermals hinab auf das schon lange nicht mehr schwelende Wrack sinken ließ, versuchte er sich daran zu erinnern, dass nicht alle Hoffnung vergebens war. Nicht, so lange noch Funken seines Glaubens vorhanden waren und nicht, so lange er noch selbst dazu in der Lage war Luft zu holen.

Nicht, so lange sich aus den Trümmern kleine helle Lichter fort bewegten, um gen Gebäude zu wandern.

Ungläubig über das was er sah, rieb Clarence sich durch die Augen und erhob sich langsam von der Treppe, um seine eisigen Steinblöcke wieder voreinander zu setzen.


Matthew C. Sky

Tausende Dinge schossen Matthew durch den dröhnenden Kopf sie reichten von der Erkenntnis, dass er wahnsinnig werden würde bis hin zu dem Wunsch, einfach aufgeben zu wollen, weil er nicht mehr konnte. 

Er kannte die Rothaarige weder lange noch kannte er sie gut, aber der Klang ihrer Stimme machte ihn sofort begreifen, dass sie schwer verletzt war. 

Adrianna sprach bemüht, sie presste seinen Namen zwischen den Lippen hervor ohne sie groß zu öffnen. 

Reed nannte sie ihn, so wie er sich ihr vor wenigen Tagen vorgestellt hatte, als Clarence und er noch geglaubt hatten, diese Lüge sei notwendig um im Clan anzukommen und ihn letztlich wieder verlassen zu können. 

Reed, der Name seines alten Lebens. Ein Leben in dem er allein gewesen war, trotz der wechselnden Gesellschaft diverser Personen. 

Reed, der Name bedeutete Einsamkeit und Schmerz und nicht - wie man vielleicht hätte annehmen können - Freiheit und Nostalgie. Die Ehe mit Clarence hatte ihn seiner Freiheit nicht beraubt, sie hatte sie Matthew erst geschenkt. 

Ohne sich von der Stelle zu rühren blickte er nach unten auf seine Hand und betrachtete den Ring an seinem Finger. 

Clarence hatte ihm diesen darüber gestreift in den letzten Momenten bevor sie sich verloren hatten. 

Er hatte ihm gesagt, dass sie nicht sterben würden, nicht heute und er hatte einen Satz begonnen, den er nicht zu Ende führen konnte weil dann Cameron aufgetaucht war. 

Mit zitternden Fingern der anderen Hand strich er über das glatte Metall des Rings. 

Mehrere Tränen lösten sich lautlos und stürzten senkrecht nach unten in den Schnee wo sie unsichtbar wurden. 

Er hätte alles dafür getan nun die Stimme seines Mannes zu hören, aber es war nicht Clarence der seinen Namen stöhnte, sondern Adrianna - und so wie sie klang, ging es ihr nicht gut. 

‚Aber sie ist wach‘ ging es ihm durch den Kopf. 

‚Sie lebt.‘ und wenn sie lebte, dann war es möglich, dass Clarence es auch noch tat. Dass er irgendwo hier lag, begraben unter Trümmern. 

Oder...? Sein Blick wanderte hinüber zu einem der hohen, schmalen Gebäude. Wolkenkratzer hatten die Alten jene Bauten genannt. Aber treffender wäre Zeppelinkratzer gewesen, denn eines der Häuser hatte das Loch in die Seite des Flugschiffes gerissen aus dem Clarence gestürzt war. 

„Matthew“ - Ellen sprach seinen Namen ungeduldig und fordernd aus und riss ihn aus seinen Gedanken. 

Die Dringlichkeit ihres Tonfalls brachte ihn zurück ins Hier und Jetzt wo Adrianna seine Hilfe brauchte. 

Er nahm den Blick von dem Wolkenkratzer und blickte in Ellens Gesicht. Die junge Frau wirkte ängstlicher als bisher, was daran liegen mochte, dass der erste Schock langsam nachließ und sie verstand, dass es kein Aufwachen aus diesem bösen Traum geben würde. 

Erneut hörte er Adriannas Stimme, energischer dieses Mal  „Reed, beweg deinen Arsch hier her“.

Die junge Frau hatte Schneid, das hatte Cassie ihr gleich und schon von weitem angesehen. Es war in einem scheinbar anderen Leben gewesen, als Clarence vorgegangen war um sie allein zu begrüßen. 

Es war heller Tag gewesen, das Licht golden, die Bäume grün, das Gras satt und kühl... Matthew hatte seinem Mann nachgesehen, ihn keine Sekunde aus den Augen lassend, aus Angst, seine Freunde würden ihn verraten, plötzlich ein Messer ziehen oder ihn sonst irgendwie angreifen. 

Aber das war umsonst gewesen. 

All seine Vorsicht. 

All seine Aufmerksamkeit.

All seine Angst. 

In dem einzigen Moment als er hätte hinsehen müssen, als er für Clarence hätte da sein müssen...

Da hatte er weggesehen. 

Einen Sekundenbruchteil, der zu lang gewesen war. 

Einen Sekundenbruchteil, den er sich niemals mehr vergeben würde. 

Auf Beinen, die sich nicht wie die eigenen anfühlten, setzte der Dunkelhaarige sich in Bewegung. Seine Brust fühlte sich zugeschnürt an, sein Bauch tat weh, seine linke Schulter schmerzte und sein Kopf... der dröhnte. Aber er lief auf jene Stelle zu, zu der Ellen deutete und es reichte ein Blick in das Innere des Zeppelinkadavers um zu erkennen, dass Adrianna in einer denkbar beschissenen Lage war. 

Sie war wach, sie wusste wer sie war und auch wo. 

War das Segen oder Fluch?

‚Was für ein Alptraum...‘, dachte er schlapp und wusste, dass es leider kein solcher war. 

Die Trümmer hatten über der jungen Frau eine Art instabile Höhle gebildet, Metallstangen, Holzplanken und stählerne Überreste der Heizkessel waren um sie verstreut und ein beachtlich großer Teil des Letzteren lag über ihrem linken Arm. 

Vorsichtig begab Matt sich in das Trümmerfeld, begab sich hinab in den Schlund des Chaos und versuchte möglichst nirgends hängenzubleiben oder anzustoßen. 

Der kalte Wind zerrte an seinen Haaren und seiner Kleidung und er dachte ganz benommen, dass Clarence entsetzlich frieren musste - er war doch barfuß. 

Neue Tränen traten in seine Augen, doch er wischte sie fort. 

Etwas schwerfällig duckte er sich unter einem stählernen Balken hindurch und erreichte schließlich Adrianna, deren gehauchte Begrüßung er leise erwiderte. 

„Hi...“

Er schluckte hart, während er sie ansah. Seine Augen waren groß und dunkel wie die eines ängstlichen Rehs und tatsächlich schien er mit der Situation, mit seiner Aufgabe  vollkommen überfordert. 

So sehr, dass schließlich die Rothaarige über seinen Arm tätschelte. 

Ihre Finger fühlten sich wie eisige Zacken an, ihre Haut war wächsern und bleich, die Lippen bläulich verfärbt. 

Stundenlang lag sie hier, eingeklemmt und einsam, ohne zu wissen ob jemand kommen und ihr helfen würde...

Und doch war sie, nun da sie nicht mehr alleine war, so beharrlich in ihrer Stärke, dass sie versuchte ihn zu trösten, der er so hoffnungslos verloren aussah. 

Ohne darüber nachzudenken, nahm er Adriannas Hand in seine und legte die andere schützend darüber. 

„W-wir wurden getrennt...“, sagte er leise, während ein verräterischer Glanz in seine Augen trat. 

„Als der...Zeppelin...auseinandergerissen wurde... i-ist er...rausgestürzt.“ - Matthew wollte sich beherrschen, er kämpfte mit sich, doch noch während er die Worte sprach, fing er unweigerlich zu weinen an. 

Nicht laut, aber gerade wegen der Stille umso offensichtlicher verzweifelt. 

Als er sich über die Lippen leckte, schmeckte er das Salz auf ihnen, ein vertrauter Geschmack. 

„Ich w-werd ihn finden, ich hör nicht auf nach ihm zu suchen, okay? Aber jetzt...jetzt müssen wir dich hier rausholen... u-und...“, er schniefte einmal, sah wieder hoch zu ihrem Arm, der ab dem Ellenbogen abwärts feststeckte und die Farbe von reifen Pflaumen angenommen hatte, und beendete seinen Satz mit aller Überzeugungskraft die er gegenwärtig aufbringen konnte. 

„...du wirst deine Chancen nutzen, auch w-wenn ich nicht Clarence bin.“ Adrianna kannte ihn nicht und er maßte sich nicht an zu glauben, dass er sie kennen würde. 

Ihre Bekanntschaft währte erst kurz und war bisher wenig herzlich oder freundschaftlich gewesen, aber Clarence... sein Clarence schätzte die junge Frau und Matthew würde sie nicht aufgeben.

Er würde sie nicht hier sterben lassen, so wenig wie er diesen Ort ohne Clarence wieder verlassen würde. 

„Ellen!“, dieses Mal klang seine Stimme fest und entschlossen. 

„Lauf zu Ceyda, bring eines der Laken her das wir gefunden haben und sag ihr, sie soll Platz am Lagerfeuer schaffen. Wir brauchen... Verbandszeug und... warte....“ 

Matthew löste sich von Adrianna und verschwand kurz darauf für einen Moment. Zeit, in der er Ellen leise erklärte was sie noch brauchen würden. 

Er gab ihr eines der Messer aus seinem ledernen Harnisch, damit Ceyda es im Lager in die Flammen legen konnte um damit später die Wunde auszubrennen, beschrieb ihr, dass Ceyda lange Stoffbahnen aus einem Teil der gefundenen Kleidungsstücke machen sollte und sich der Kerl mit dem gebrochenen Unterschenkel möglichst um Lucy kümmern musste wenn sie mit Adrianna ankamen.

Die junge Frau nickte, dann lief sie davon, so zügig wie sie eben noch konnte. Ihre dunklen Locken tanzten durch den tristen Himmel, während Schnee wie Asche um sie wirbelte. 

Einen Moment sah er ihr nach, es wurde allmählich dunkel, doch ihre Fackel war ein leuchtender Kegel der dem Wind trotzte. 

„Gut... ist alles gut....“ sagte er leise zu sich selbst und schaute zu einem der Wolkenkratzer empor, der sich so starr und steif und trostlos über sie alle erhob. 

Er würde ihn finden, so oder so. 

Aber jetzt brauchte Adrianna ihn. 

Cassie fuhr sich durch das dunkle Haar, verwischte Blut aus der Platzwunde etwas über seine Stirn und wischte die Hand in alter Gewohnheit an seiner Jeans sauber, dann löste er den Gürtel seiner Hose...und kletterte zurück in das Innere des Wracks, innerlich verzweifelt hoffend, dass Adrianna das Bewusstsein verloren hatte. 


Adrianna Fairbanks

Wie ein ängstliches Kind, ging es ihr durch den Kopf als Reed endlich bei ihr angekommen war und sie mit großen Augen musterte. Er sah aus wie jemand, der Gruselgeschichten nur aus Erzählungen kannte, sich den Ausmaß dessen gar nicht richtig hatte vorstellen können und nun ungefragt vor den Kern des Chaos gesetzt worden war, um sich von dessen Macht überrumpeln zu lassen.

In Momenten wie diesen hier zeigte einem das Leben, wie klein und unbedeutend man eigentlich war. Man fühlte sich so oft stark wenn die Tage an einem vorbei zogen, man fühlte sich so… unendlich, als hätte das eigene Leben kein Ende, als wäre der Tod nur für andere da. Stolpersteine, ja, die mochten sich einem dann und wann in den Weg legen, aber sterblich, das waren immer die anderen.

Dass es nicht so war, bekamen sie heute mit aller Gewalt zu spüren und Adrianna erkannte in Matthews dunklen Augen die Ehrfurcht vor dem, was er heute da draußen schon alles hatte sehen müssen. Wenn sie nicht in der aktuellen Lage wäre, vielleicht hätte sie sich sogar kurz gefragt ob sie vielleicht dankbar dafür sein musste, das Elen nicht mit eigenen Augen gesehen zu haben, was da draußen zweifelsohne herrschte. Stattdessen war sie mit dem Anblick von Trümmern, Stahl und ihrem eigenen Blut gesegnet – und wenn sie Reeds verschrecktes Gesicht so ansah, dann war sie sich sicher, dass der Kerl für keinen vergessenen Anblick der Welt gerne mit ihr tauschen würde.

Seine Hände brannten wie tausende Nadelstiche auf ihren kühlen Fingern, so heiß kam ihm der Jüngere vor. Noch mehr als das taten ihr nur die Worte weh die er ihr bedächtig zu vermitteln hatte.

Adrianna musterte ihn schweigend, beobachtete wie sich die Augen Reeds mit Tränen füllten um die dunklen Wimpern zu benetzen und dabei zweifelte sie für keine Sekunde daran, dass seine Gefühle völlig ernst gemeint waren. Unzweifelhaft lag dem Typen viel an Clarence und auch wenn der Blonde in sozialen Interaktionen am besten schweigen konnte als wirklich teilnehmen, so verstand Adrianna genau, warum er den Verlust dieses Mannes so sehr fürchtete. Sky mochte eigen sein und nicht besonders nahbar, aber wenn man erst mal zu ihm durchgedrungen war, war er einem ein guter Freund. Ein richtig guter Freund.

Wir Kestrel… wir sterben nicht so schnell. Wir sind klug und… wir wissen uns zu helfen wenn wir draußen unterwegs sind. Clarence hat uns viel über solche Sachen hier beigebracht… Nagi hat das nie getan“, flüsterte sie ihm zwar leise zu, doch die Überzeugung in ihrer Stimme war so stark wie ihr Überlebenswillen. „Wenn du und ich noch da sind, dann sind unsere beiden Jungs auch noch da. Und sei es nur deshalb, weil sie sich gegenseitig eins auswischen wollen. So sind die zwei…“

Zwar hatte sie ihn nicht nach Cameron gefragt, aber wenn Reed ihn bei sich gehabt hätte, wüsste sie sicher schon davon. Stattdessen waren es sie beide, mehr Ironie hätte das Schicksal wirklich nicht aufbringen können am heutigen Tag.

Trotzdem, ob sie sich von Anfang an sympathisch gewesen waren oder nicht, Adrianna war Jägerin. Sie wusste, dass man nicht jeden seiner Brüder und Schwestern lieben musste, solange man trotzdem zusammen hielt wenn es darauf an kam – und gerade war Matthew Reed der einzige ihrer Brüder, der noch da war. Ein… Halbbruder quasi, das musste ausreichen.

Ein schwaches Lächeln huschte über Adriannas Lippen, als Reed der Fremden ernsthaft hinterher rief sie solle warten und dann aus Pietätgründen den Schlund des Chaos wieder hinauf stieg, um oben mit dem Lockenkopf zu tuscheln. Als wüsste sie nicht selbst, dass sie irgendetwas möglichst scharfes brauchten um sie hier heraus zu schneiden und falls möglich ein Stück glühenden Stahl, um sie bei lebendigem Leib durchzubrutzeln, wenn sie nicht verbluten wollte. Sie wusste das – und vermutlich wusste auch Reed, dass sie das wusste. Trotzdem machte er sich die Mühe, seine Stimme gesenkt zu halten um nicht allzu viel Unruhe in die Situation zu bringen. Machte er das, damit Adrianna nicht durchdrehte? Oder um sich selbst davor zu bewahren?

Du hast… nicht zufällig beim Plündern dieses wunderschönen Wracks was Hochprozentiges gefunden. Oder?“, versuchte sie ihren Gelgenhumor zu nutzen um mit etwas Glück nicht vielleicht doch eine positive Rückmeldung des anderen zu erhalten als dieser wieder bei ihr war, doch wie zu erwarten, war ihr Fortuna heute weiterhin nicht besonders hold.

Mit zusammengepressten Lippen schaute sie auf Reeds Hände hinab, in denen in einer etwas ruhte das aussah, als habe er vorsorglich schon mal seinen Gürtel aus der Hose gezogen. Noch hielt er ihn gefaltet in der Hand, beinahe unkenntlich im düsterer werdenden Lichteinfall ihres Chaosschlunds, und irgendwie war sie sich sicher, Matthew würde ihn ihr auch erst dann anlegen, wenn der Lockenkopf wieder zurück war.

Mach dir keinen Kopf, wenn… die Sache schief geht. Ich hab keine Angst vorm Sterben. Sieh nur zu, dass… dass du möglichst viel dran lässt. Bestimmt… entzündet sich das hier draußen im Dreck, dann brauchen wir noch etwas Platz um… um die Wunde zu korrigieren.“

Vorsichtig blickte sie wieder von ihrem Arm zu ihm hoch. Ihre Worte waren mit Bedacht gewählt, denn auch wenn es ihr eigener Körper war um den es da gerade fing, letzten Endes war es Matthew, der ihr ein Stück davon abtrennen würde. Der Arme schaute jetzt schon wie ein Reh mit Streifschuss: Eigentlich zu heil um sich zu beklagen und doch bereit, in jeder Sekunde panisch loszurennen und die Beherrschung zu verlieren.

Über diese Phase war Adrianna selbst schon weit hinaus, immerhin hatte sie lange genug versucht mit aller Gewalt ihren Arm irgendwie aus der Spalte zu bekommen und war kläglich gescheitert, wie man sah. Am Anfang waren ihre Schmerzen noch höllisch gewesen und dann nochmal schlimmer geworden, vor allem als der eingequetschte Teil langsam aufgedunsen und violett ausgesehen hatte. Vielleicht lag es an der vermaledeiten Kälte, die ihr die Lebensgeister langsam raubte oder daran, dass unter dem dicken Metallstück schon alles abgestorben war, was noch an ihr dran hing, aber die Schmerzen besonders in ihrer Hand waren irgendwann erträglicher geworden und mittlerweile konnte sie schon gar nicht mehr sagen, ob sie überhaupt noch da war.

A-Als ihr für… das Weingut gepackt habt und du… später auf dein Boot zurück bist und… und du eure Sachen geholt hast…“, durchbrach sie nach einer längeren Pause mit gesenkter Stimme die Stille und folgte dabei mit dem Blick ihrem eigenen kondensierendem Atem, so wie sie es die letzten Stunden auch schon getan hatte, um sich die Zeit zu vertreiben. „…h-habt ihr da… Skys Axt eingepackt? Ich war… z-zurück auf seinem Zimmer und hab seinen Rucksack geholt. Hätte ich ge-gewusst, dass ich… heute so ende… hätte ich vielleicht lieber die Flasche Schnaps eingepackt, die da noch herum lag…“

Sie warf Matthew ein wehmütiges Grinsen zu, das besagte, sie hätte ihm sogar was abgegeben, wenn die Flasche denn überlebt hätte. Aber auch wenn eine heile Flasche Schnaps sicher so einige Schmerzen abtöten oder Mut erzeugen konnte wo keiner war, so würde sie ihnen auch nicht Cameron und Clarence hierher zaubern.

D-Da sind… Sachen drin… die ihm wichtig sind. Bestimmt ist er der e-einzige arme Tropf von uns, der noch Sachen aus der Zeit hat, bevor Nagi ihn holen gekommen ist. A-Außerdem…“ – außerdem fielen ihr noch mindestens zehn andere gute Gründe ein, warum es sinnvoller war zu versuchen den Scheiß von Sky zu retten, als ihren eigenen oder den von sonst irgendwem. Und sei es nur wegen dem Wald- und Wiesenkraut mit dem man sich wenigstens weg dröhnen konnte um die Scheiße hier auszublenden, wenn man sie denn überlebt hatte.

Umständlich befreite sie sich mit ihrem funktionstüchtigen Arm aus dem einen Schultergurt des Rucksacks und versuchte ihn mit Reeds Hilfe unter sich hervor zu ziehen, wenngleich sie auf der linken Seite natürlich nicht heraus rutschen konnte. Das alte abgesetzte schwarz des Gepäckstücks, das an manchen Stellen schon fast eher dunkelgrün schien, hatte sicher schon so einige unglaubliche Dinge auf Clarence‘ Reisen gesehen, aber sicher nicht den Absturz eines Zeppelins miterlebt. Wenn sie sich sonst bei nichts sicher sein konnte was diesen Mann anging, dann wenigstens damit.

Hat… h-hat Cameron euch noch gefunden? Er hat gesagt er geht zum Speisesaal zurück, aber… ich glaube nicht, dass er schnell genug war. Er ist n-nicht der beste Läufer, auch wenn er athletisch aussieht. Eigentlich… pumpt der nur für die W-Weiber und ist sonst ein ziemliches Weichei…“

Und eigentlich rettete ein bisschen Smalltalk auch nicht die Lage, aber es lenkte ein wenig vor dem ab, was ihnen bevor stand sobakd der Lockenkopf zurück gekehrt war von wo auch immer.


Matthew C. Sky

An ein Reh mit Streifschuss mochte Matthew Adrianna erinnern, doch dieses Reh würde nicht panisch davonrennen, selbst dann nicht, wenn seine Aufgabe ihn ängstigte. 

Jenes Reh würde tun was nötig war, weil es wusste was richtig und falsch war und weil es niemals zulassen würde, dass seine eigenen Befindlichkeiten den Ausschlag dafür gaben etwas Falsches zu machen. 

Und weglaufen wäre falsch. 

„Da k-könntest du recht haben. Wir leben und das heißt ...sie k-können es auch tun.“ 

Cassie rang sich ein dünnes Lächeln ab, so echt wie eine dreihundert Dollar Note der Alten. 

Es wäre gut Hoffnung zu haben, daran zu glauben...dass wirklich alles gut war, doch Matthew war kein Mann der glaubte. 

Und er war kein Mann der große Hoffnungen in etwas setzte, dass nicht wahrscheinlich war. 

Etwas glauben und hoffen zu wollen, sich an der Möglichkeit eines Ereignisses festzukrallen, das war nicht das selbe wie wirklich davon überzeugt zu sein. 

Aber im Moment war er nicht in der Lage der Wahrheit ins Auge zu blicken, im Moment war es gut sich ein bisschen Glauben einzureden. 

„Hochprozentiges?“, wiederholte Matthew und zeigte ein schiefes, freudloses Lächeln gepaart mit einem Kopfschütteln. 

„Ich wäre schon besoffen wenn ich sowas gefunden hätte...“ 

Das stimmte nicht, weil der Luxus sich abzuschießen, gleichbedeutend mit Flucht gewesen wäre. Aber es war seine Art auf ihren Galgenhumor einzugehen und ihn zu erwidern. 

Abwägend blickte er einen Moment zu ihrem eingekeilten Arm. Unten begrenzt durch Holz und oben zerdrückt von einem Teil des Heizkessels, sah es nicht danach aus als sei noch viel Arm zu retten, dennoch überlegte er wie man ihn vielleicht hervorziehen könnte. 

Adrianna hatte diesen Gedanken jedoch offenbar schon abgelegt. Sie hatte Zeit gehabt um ihre Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen und letztlich... schien es ihr absolut klar, dass sie diese Grotte nicht mit beiden Händen verlassen würde. 

„Du stirbst nicht, ich... hol dich hier raus und wenn wir erst in Poison Ivy sind... dann bekommst du einen neuen Arm.“

Wahrscheinlich machte diese Aussicht es gerade nicht besser, aber Adrianna zeigte trotzdem ein winziges Lächeln. 

Dort wo keine Tattoos ihre Haut zierten, schimmerte selbige bläulich und kalt. Es wurde Zeit, dass sie hier heraus und ans Feuer kam. 

„Clarence‘ Axt... ja... ja die hab ich eingepackt.“, er schluckte neuerlich, denn es war klar, dass er damit nun kein Holz spalten würde. Etwas umständlich schafften sie es beide, den Rucksack nach vorne zu ziehen. Darin verstaut waren all die Dinge, die Clarence irgendwie wichtig waren. 

Um den Tragegurt nicht zerschneiden zu müssen, der noch um ihre linke Schulter hing, löste Cassiel den Verschluss und zog dann den Rucksack von Adrianna herunter. 

Behutsam - beinahe ehrfürchtig- öffnete er beidseitig die Laschen welche das Hauptfach geschlossen hielten und schlug den derben Stoff zurück. 

Zuerst fiel sein Blick auf Clarence‘ Bibel die ganz oben lag. 

„Du hast mal gefragt… ob ich dir irgendwann mal die Fotos von meinen Kindern zeige und ich dachte, dass heute vielleicht ein guter Tag dafür ist wo niemand von uns sagen kann, was ab Morgen passiert...“

Und das Morgen war passiert, hatte jeden Plan und jeden Traum zerrissen. 

Matthew dachte an die letzte Nacht, daran wie Clarence ihm seine Mädchen vorgestellt hatte. 

Cordy und Harper. 

Er war...so stolz gewesen, so verliebt in sie und so voller Wärme. Er hatte sie betrachtet mit Schmerz und Liebe in den Augen und er hatte - so hatte Cassie es empfunden - in jener zurückliegenden Nacht ganz bewusst sein Herz geöffnet und Matthew gestattet einen Blick auf das Vergangene zu werfen. 

Vergangen aber nicht vergessen. 

Nun lagen die Fotos wieder verborgen in der Bibel. Er könnte das Buch nehmen, auf die allerletzten Seite blättern und ganz hinten... den beklebten Einband an einer Ecke lösen um die Fotos zu finden. 

Cassie sah ganz genau vor sich, wie Clarence das getan hatte, wie seine Finger geschickt gearbeitet hatten und wie...vorsichtig er gewesen war. 

Er sah seinen Mann lächeln, während er von seinen Kindern sprach, er sah die Wärme in seinen Augen mit denen er Matthew betrachtet hatte.

Da war nur....nur Liebe zwischen ihnen gewesen in jener Nacht, die nur wenige Stunden zurücklag und in der doch alles anders gewesen war als jetzt. 

Schweigend strich der Dunkelhaarige nun über die Bibel, nahm sie mit beiden Händen heraus und legte sie vorsichtig auf seinen Schoß, bevor er im Innern des Rucksacks nach der Axt tastete. 

„Cameron...er h-hat uns gefunden... w-wir wollten.. weiter nach hinten als... der Zeppelin mit Irgendetwas kollidiert ist. Und...“, er schüttelte den Kopf und verstummte. 

Was aus Barclay geworden war wusste er nicht. 

„Matthew?“, Ellens Stimme ertönte von draußen und Cassie blickte sich um. Ihm wurde übel und flau, denn ihr Dasein bedeutete, dass es jetzt gleich schon keinen Raum mehr für Verzögerungen und Smalltalk geben würde. 

„Ich komme...w-warte!“ - rief er zurück und blickte wieder zu Adrianna. Seine Finger schlossen sich derweil um den Kopf der Axt, doch er zog sie noch nicht heraus um der Rothaarigen ihren Anblick zu ersparen. 

„Ich bin...gleich wieder da.“ erklärte er ihr überflüssig und stand wieder auf, wobei er seiner einstigen Eleganz mittlerweile fast gänzlich beraubt war. 

Er stöhnte dumpf während er sich erhob und hatte sichtlich Mühe zu gehen. Kurz stützte er sich an der Seite ab um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, dann fing er sich wieder, straffte einigermaßen die Schultern und trat hinaus ins Freie, wo Ellen schon auf ihn wartete. 

 

Matthews Unterredung mit der jungen Frau dauerte nur wenige Minuten, Zeit in der er sich mehrmals rückversicherte, dass im Lager jeder wusste was zutun war. 

Erst nachdem Ellen ihm zweimal versichert hatte, dass Ceyda und Joseph ihre Aufgaben kannten, nahm er ihr das Laken ab und schickte sie davon. 

Anders als erwartet, versuchte sie nicht gegen jene Entscheidung aufzubegehren, sondern nickte lediglich und ging zügig davon. 

Der Mut, so dachte Matthew während er ihr nachsah, verließ sie allmählich. Aber das schmälerte ihre Leistung nicht im Geringsten. 

Immerhin war das hier der reinste Alptraum. 

Aber für die nächsten Minuten durfte man ihm seine Verzweiflung nicht anmerken. In den nächsten Minuten musste er einfach nur funktionieren. 

Als der junge Mann zurück zu Adrianna kehrte, sah er weniger ängstlich als angespannt aus. Er war still und seine Bewegungen verrieten - anders als beim Hinausgehen- nun keine Schwäche mehr. 

Matthew wusste, dass er sich zusammenreißen musste und das tat er so gut er konnte. 

Adrianna konnte niemanden gebrauchen, der die Fassung verlor, schon gar nicht weil dieser jemand sich vielleicht an gewisse Freunde erinnerte, denen die Gliedmaßen bei lebendigem Leib abgetrennt und verzehrt worden waren. 

Das hier ist anders.‘ sagte er sich gedanklich und unterdrückte ein schweres Seufzen. 

„Okay... ich...“ - er sah sie an, zögerte, kniete sich nochmal hin und nahm erneut ihre Hand in seine. 

„Ich lasse nicht zu, dass du stirbst. Nicht jetzt, nicht in dieser beschissenen Scheißstadt. Auch wenn du keine Angst vorm Sterben hast... ich hab riesige Angst, dich sterben zu sehen. Also...tu mir den Gefallen und... s-stirb nicht, hm?“

Kurz drückte er ihre kalte Hand, dann suchten sich seine Finger eine neue Beschäftigung. 

Mit einem Ruck riss er das morsche Laken ein und trennte mehrere Streifen ab, bevor er nach einem Stück Holz langte und es zügig mit einer Schicht des Stoffes umwickelte.

„Beiß hier drauf...so fest wie du kannst...“

Nicht das er sich der Illusion hingab, dieses lächerliche Stück Holz würde ihr wirklich helfen die Schmerzen zu ertragen aber mehr konnte er ihr einfach nicht bieten. 

Mit Händen die erstaunlich ruhig waren griff er nach dem Gürtel, zog ihn auseinander und schob ein Ende vorsichtig unter ihrem eingequetschten Arm hindurch, führte es schließlich um ihn herum und zurück durch die Schnalle. 

Angespannt leckte er sich über die Lippen, beugte sich etwas über die Rothaarige um besser sehen zu können und justierte die Lage des Gürtels nach um nicht zu weit oben oder unten abzubinden. 

Bevor er den ledernen Riemen festzog, blickte er nochmal in ihr angespanntes Gesicht, in dem ihre Augen so schrecklich wach und kein bisschen benommen funkelten. 

‚Was für ein Alptraum...‘

„Es w-wäre...leichter, du wärst ohnmächtig.“, räumte er ein, ein Scherz der keiner war und ein schrecklicher Versuch die Situation aufzulockern. 

 


Adrianna Fairbanks

Die wenigen Minuten, in denen Matthew abermals den Schlund empor gestiegen war um sie alleine zu lassen, fühlten sich für Adrianna an wie eine kleine Ewigkeit.

Noch vor wenigen Stunden hatte sie an einem reich gedeckten Frühstückstisch gesessen, hatte dekadent die luxuriösen Vorzüge des Lebens fernab des Wanderns genossen und sich hungrig Rührei mit frisch gebackenen Brötchen in den Rachen geschoben und alles mit Orangensaft herunter geschüttet, als gäbe es kein morgen mehr. Was es nun vielleicht wirklich nicht mehr gab.

Noch vor wenigen Tagen hatte sie mit Cameron eine Sight-Seeing-Tour durch Rio Nosalida und das darum verteilte Land übernommen, sich mit Händen und Füßen verständigend, weil sie beide die Sprache nicht konnten. In wenigen Augenblicken würde sie keine Mehrzahl von Hand mehr

dafür vorweisen können.

Noch vor wenigen Wochen hatte sie mit Oliver und Cam die Käfige mit den Falkenküken auf den Wagen geladen, um ihrem Alibi für die Reise eine handfeste Komponente zu verleihen. Sie hatte auf die Viecher geschimpft, weil sie einfach nicht den Schnabel halten wollten und den kleinen Vielfraßen ständig irgendwelche Würmer in den Rachen zu stopfen war eine Aufgabe gewesen, vor der sie sich nur allzu gerne gedrückt hätte, hätte sie sie denn an wen anders abgeben können.

Doch im Augenblick konnte sie nur noch an diese dämlichen kleinen Küken denken. Mit einem in der linken Hand, es schön still haltend damit es ihr nicht vom Schoß fiel, hatte sie ihm mit der anderen Regenwürmer in den Rachen geschoben, damit es die Reise gut überstand und nicht an Gewicht verlor. Hätte Adrianna gewusst, dass sie an diesem Tag das letzte Mal einen dieser kleinen Falken zwischen ihren linken Fingern hielt, vielleicht hätte sie den Moment dann etwas mehr versucht zu genießen anstatt derart über die plärrenden Vogelkinder zu schimpfen.

Vielleicht hätte sie auch Barclay nicht mit der Linken von sich gestoßen und ihn angeschrien zurück zum Speisesaal zu gehen, sondern sich viel eher damit an ihm festgehalten, damit sie nicht getrennt wurden und der trottelige Prolet ihr nicht einfach weg starb.

Zurück auf ihren eingequetschten Arm blickend, schluckte die Rothaarige schwer. Ein Fehler wie ihr bewusst wurde nachdem ihre Kehle danach furchtbar zusammenklebte, so sehr war sie während der vergangenen Stunden bereits ausgetrocknet.

Wie würde das wohl aussehen, wenn sie in Poison Ivy angekommen waren? Wenn sie dort ankamen?

Würde Reed sie morgens freudestrahlend aus dem Bett werfen und entzückt verkünden, dass heute ihr Shopping-Tag für neue Arme angebrochen war? Gab es überhaupt Läden für sowas? Sie hatte nie darauf geachtet. Als ob… er ein schön verpacktes Geschenk hinter dem Rücken hervor ziehen und ihr danach einfach einen neuen aus Fleisch und Blut anschrauben würde, so redete er mit ihr und vielleicht hoffte Matthew das ja tatsächlich, während er das zu ihr sagte.

Viel lieber als ein neuer Arm wären ihr allerdings ihre Freunde, ein Wunsch den sie still hegte und sich davor bewahrte ihn laut auszusprechen als der Dunkelhaarige wieder zurück kam, weil sie ihn nicht erneut zum Weinen bringen wollte.

Als er erneut seine Hände um ihre Hand schloss, war Addy sich nicht mehr sicher ob es Matthews waren die so zitterten, oder nicht vielleicht doch schon ihre eigene. Seit Stunden hatte sie sich damit beschäftigt was ihr bevor stand und doch fühlte es sich so surreal und fernab all dessen was sie je erlebt hatte an, dass sie mehr Angst davor hatte noch keine richtige Angst zu haben, als alles andere. Natürlich war sie schon verletzt gewesen. Verdammt nochmal, Sky hatte sie abgestochen - der Arzt hatte sie über Wochen hinweg wegen einer Infektion wieder zusammenflicken müssen wie ein Metzger und das Fieber in Paarung mit den Schmerzen hatten sie so gequält, dass sie gedacht hatte, sie müsste sterben. Aber es lag in der Natur des Menschen, dass er solche Dinge mit der Zeit auch wieder vergaß. Sie wusste, dass es weh getan hatte, konnte sich aber nicht mehr vorstellen wie es gewesen war.

Wie war es wohl, bei lebendigem Leib zerhackt zu werden?

Schweigend nahm sie das Stück Holz entgegen und betrachtete es wenig begeistert, immerhin wäre ihr eine Flasche Schnaps wirklich lieber gewesen als das hier. Obwohl Reed es sich von ihr wünschte, versprach sie ihm auch nicht ihm den Gefallen zu tun und am Leben zu bleiben. Sie war kein Mensch dafür anderen Leuten Versprechen zu geben, die sie womöglich nicht halten konnte.

Vielleicht hätte er sie lieber mit einem Holzscheit bewusstlos geschlagen anstatt ihr eines zum drauf beißen zu geben, sagte ihr verdrossener Blick den sie Matthew kurz entgegen warf. Davon hätten sie beide mehr gehabt.

Die Rothaarige war plötzlich merklich still geworden; auch sie hatte schnell begriffen, was die Rückkehr von Lockenkopf bedeutete und mit dem umwickelten Stück Holz in ihrer Hand war auch das Bevorstehende langsam auf eigentümliche Weise greifbarer für sie geworden.

Es war… so absurd wie Reed sich über sie beugte und sie seinen Gürtel spüren konnte, wie er um ihren Arm herum drapiert wurde. Das Leder hatte sich durch seinen Griff leicht aufgewärmt und fühlte sich verstörend willkommen an auf ihrer ausgekühlten Haut, wie ein Handtuch das man vor dem Duschen mit kaltem Wasser nah beim Ofen aufgehängt hatte um sich danach darin einzuwickeln, weil man so schrecklich fror.

Während Matthew über ihr lehnte um den Gurt zu positionieren, musterte sie jedes Detail seines Pullovers. Der Bund vom Hals hing etwas durch und offenbarte einen kleinen Blick auf seine Tätowierungen, nicht genug um zu erahnen welche Bilder seine Brust zierten, aber weit genug um zu wissen, dass sie da waren. Das heute Morgen noch strahlende Senfgelb war mittlerweile dreckig und verschmiert mit dunklen Striemen und Blut und für einen Moment dachte sie auf verschrobene Weise, dass sie sich davor hüten musste mit ihrem Blut spritzenden Stumpf Reed zu treffen, weil er sonst seinen gelben Pullover nie wieder sauber bekommen würde.

Sie hasste dieses Ding schon jetzt.

Ein leises Klappern riss sie aus ihren Gedanken und für einen Moment blickte sie am Oberen vorbei durch die kleine Höhle in der sie waren um die Quelle des Geräuschs zu finden, bis sie begriff, es waren ihre eigenen Zähne, die angefangen hatten so zu klappern. Wenngleich sie sich geistig – zu ihrem eigenen Unglück - wach und klar fühlte, sprach ihr Körper mittlerweile andere Bände und strahlte die einsetzende Panik aus, die in ihren Gedanken noch nicht angekommen war.

Adrianna hatte schon schlimmeres gesehen und vor allem schlimmeres erlebt in ihrem Leben, und wenn man sie fragen würde hätte sie mit Gewissheit antworten können, dass Nagi Tanka sie schon vor Jahren innerlich getötet hatte. Jeder Tag mehr auf Erden war ein Geschenk, aber das was danach kam, ängstigte sie schon lange nicht mehr. Nur den Weg dorthin schien ihren Körper zu fürchten.

Zitternd wie Espenlaub umgriff sie das gepolsterte Holzstück fester um es nicht fallen zu lassen.

O-Ohnmächtig…?!“, quälte sie sich beinahe empört ab, denn das Bewusstsein zu verlieren wäre ja beinahe etwas wie eine Flucht vor dem was ihr bevor stand. Wegrennen war einfach nicht ihr Stil und seine Äußerung deshalb beinahe schon etwas wie eine persönliche Beleidigung die sie zwar aus seiner Sicht nachvollziehen konnte, ihm trotzdem irgendwie übel zu nehmen schien.

„D-Das würde d-dir… w-wohl so… s-so p-passen, M-… Matthew Reed. I-Ich verp…pass doch n-nicht… den g-ganzen Spaß…“

Spaß war das keinesfalls, das sah man ihr an, denn irgendwie hatte Adrianna es geschafft mittlerweile noch ein bisschen blasser zu werden als bislang schon gewesen. Doch wie ein Pfau zeigten trotz aller Gefahr nicht nur ihre Tätowierungen bunte Farbe um ihren Zustand zu verbergen – ihr schien auch noch nicht die Kraft ausgegangen zu sein, sich der Situation gegenüber aufzuplustern und sich ihr loses Mundwerk durch ihre eigene Angst verbieten zu lassen.

Zitternd leckte sie sich über die Lippen bevor sie den Stoff des Holzstücks daran hob und den Blick des anderen suchte. In ihren Augen glänzten Tränen der Furcht die nicht zu dem passen wollten wie sie ihrer aussichtslosen Lage trotzte, aber selbst jetzt noch würde sie sich nicht die Blöße geben loszuheulen, so wie das Matthew eben noch getan hatte.

S-Sei… s-sei k-keine… Pussy u-und… zieh’s end-… e-endlich durch. Und d-dann… b-bring mich g-gefälligst hier r-raus…“

Mit aller Kraft die sie noch auf bringen konnte, spie sie ihm die Worte beinahe entgegen, bevor sie sich das Holz zwischen die Zähne schob und fest zubiss. Wissend, dass sie einiges ertrug aber sicher nicht den Anblick der Axt und allem was danach kam, wandte die das Gesicht mit fest zusammengekniffenen Augen so weit wie es ging von der linken Seite ab und suchte sich rechts eine gute Stelle, wo sie sich mit der noch freien Hand festkrallen konnte um sich davor zu bewahren Matthew vor Schmerz von sich zu schlagen – immerhin gab es hier nicht mal irgendeinen verfluchten Dreckssack, der sie am Boden festhalten konnte. Hier gab es verfickt nochmal überhaupt nichts, nicht mal dieses drecks Verbandsmaterial von dem Reed gesprochen hatte und auch keinen gottverdammten Tropfen Schnaps, mit dem sie sich wenigstens danach schmerzfrei saufen konnte, wenn sie endlich hier raus war.

Und trotzdem, sie musste nicht aus diesem Loch herausgetrennt werden, sie wollte es sogar. Weil sie nicht so weit gekommen war, nur um hier unten elendig aber wenigstens am Stück zu verrecken.


Matthew C. Sky

Oh nein, er dachte nicht, dass sie Adrianna einfach einen neuen Arm aus Fleisch und Blut kaufen würden. 

Aber seine Worte waren der Versuch, Optimismus in dieser Sache zu zeigen und eine Zukunft auszumalen. 

Und das hieß, sie durfte nicht sterben. 

Das implizierte schließlich eine Zukunft. 

Allerdings ließ sich Adrianna nicht dazu hinreißen ihm ihr Überleben zu bestätigen. 

In ihren Augen erkannte Matthew Angst, Todesangst um genau zu sein - und er fühlte sich schmerzlich mit ihr verbunden. Die junge Frau, die Tochter Satans, war tough, aber das änderte nichts an ihrer entsetzlichen Angst. Matthew wusste wie das war. 

Trotzig versuchte Adrianna ihre Lage herunterzuspielen, aber sie wussten beide, dass es besser für sie gewesen wäre die nächsten Minuten ohnmächtig zu sein. 

Cassie betrachtete ihr wächsernes Antlitz und lauschte auf ihre Worte ohne etwas zu sagen. 

Je unruhiger sie wurde umso mehr schlug seine eigene Ausstrahlung um. 

Auch er war blass, aber anders als noch vor ein paar Minuten wirkte er mittlerweile ruhig und konzentriert. 

Seine dunklen Augen, die im schwindenden Licht des Tages beinahe schwarz wirkten, wanderten zurück zu dem Heizkessel. Wenn man aufstand, konnte man die Hand der Rothaarigen sehen und das war kein schöner Anblick. 

Die Farbe und Form ihrer Finger erinnerte an überreife aufgedunsene Pflaumen. Länglich, aber so geschwollen, dass die Hand nicht mehr zu retten war, selbst wenn sie sie irgendwie freibekommen würden. 

Auf ihrem Unterarm, direkt unter dem Handgelenk hatte die Metallkonstruktion den Arm erwischt und hatte ihn, soweit Cassie sehen konnte, mehrfach gebrochen. 

Pulverisiert war das Wort, dass den Unterarmknochen wohl am Besten beschrieb. 

Es folgten etwa fünfundzwanzig Zentimeter Stahlkesselkante und wäre es nur das gewesen, Matthew hätte versucht das Teil zu bewegen, doch der beachtliche Rest des Behälters, inklusive Stahltür, hing noch an der Konstruktion und wog sicher einige hundert Pfund. 

Adriannas Oberarm sah indes annähernd unversehrt aus, da waren Kratzer und Blutergüsse, Dreck und Ruß, aber ansonsten schien er heil. 

Erneut beugte sich der junge Mann über sie um einen besseren Winkel zu haben um sich den Arm und seine Lage zu betrachten. 

Er wollte so viel wie möglich retten, aber kurz unterhalb ihres Ellenbogens gab es schlichtweg nichts mehr das zu retten wäre.

Konzentriert schob er den Gürtel noch ein Stückchen tiefer, sich durchaus darüber im Klaren, dass der beschissene Kessel im Falle eines Verrutschens seine Hand und seinen Arm ebenso zerquetschen würde wie bei Adrianna. Und für den Fall, dass die ganze Konstruktion umkippte sie beide in Mus verwandeln würde. 

„Okay...“, sagte er, mehr zu sich als zu ihr und kontrollierte nochmal die Stelle wo der Gürtel saß. 

Die Rothaarige hatte sich bereits im Stock verbissen und den Blick abgewendet, Cassie roch den Schweiß auf ihrer Haut, spürte das Zittern ihrer Muskeln und die Panik die von ihr ausging. In der kleinen Höhle schien die Zeit stillzustehen, weiße Wölkchen kondensierten vor seinen Lippen wenn er ausatmete. 

Er zog den Gürtel fest, dann zog er ihn fester und Adrianna gab ein gepresstes Stöhnen von sich - ob vor Schmerz oder Angst konnte Matthew nicht sagen. 

Seine andere Hand umfasste im Verborgenen den Kopf der Axt, seine Augen suchten die Umgebung ab, ob alles griffbereit war. 

Das Laken lag über seinem Schoß, die abgetrennten Streifen direkt darauf. 

Angespannt, aber mit einer Hand die nicht mal ein winziges bisschen zitterte, hielt er den Arm der jungen Frau fixiert. 

Sie würde wahrscheinlich im Reflex nach ihm schlagen, sich aufbäumen und versuchen ihn von sich zu werfen. 

‚Sei keine Pussy...‘ gingen ihm die letzten Worte der jungen Frau durch den Kopf. Sie hatte wirklich Schneid. 

„Okay...“, wiederholte er leise und konzentriert, dann richtete er den Oberkörper wieder ein Stückchen auf. 

„Ich werd von drei runterzählen.“

Ohne die Axt aus dem Rucksack zu ziehen glitten seine Finger über das kalte, glatte Metall. 

Er hatte dieses Teil schon hunderte Male in Clarence Hand gesehen. Der nahm sie gerne mit zu seinen Streifzügen in den Wald, manchmal warf er sie... und wann immer er das tat, traf sie mit tödlichen Präzision - egal ob einen Keiler in den Schädel oder einen Plünderer in den Hals. 

Mit den Fingerspitzen strich er über die Fläche mit ihren winzigen Kratzern und Einkerbungen. 

Sie war scharf, auch das wusste er und wahrscheinlich würde die Klinge durch Adriannas Arm gleiten wie ein Messer durch Butter. 

Er dachte an Brandon und Christopher, daran wie sie geweint und geschrien hatten und daran... wie still es irgendwann geworden war. 

Er dachte an Clarence in dessen Rucksack seine Hand steckte und der nicht hier war, obwohl Matthew es sich so sehr wünschte. Aber vor allem dachte er an die Tränen in den hellroten Wimpern der jungen Frau neben ihm. 

 

„Drei...“ Seine Stimme klang fern und fremd in seinen eigenen Ohren, aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. 

Seine Finger schlossen sich unterhalb des Beilkopfes um den Griff und sowie sie das getan hatten, zog er die Axt aus dem Rucksack. 

Es war eine schnelle, geschmeidige und kraftvolle Bewegung, man hörte ein Sirren als die Klinge die Luft zerschnitt, dann hörte man Adrianna schreien, als die Klinge sie zerteilte

Kein Zögern, kein Hadern, kein flüchtiger Augenblick in dem Matthew zweifelte... So fest er konnte schlug er zu, die Schneide versank im Fleisch der jungen Frau, im gleichen Augenblick spürte Matthew einen Widerstand doch der Moment war so kurz, dass er nicht mal Zeit hatte zu befürchten womöglich nicht durchzukommen. Dann durchtrennte er den Knochen in einem einzigen Zug. 

Trotz der Kälte tropfte ihm Schweiß von der Stirn und in die Augen wo er brannte.

Die Ereignisse überschlugen sich, der Arm der jungen Frau war etwas unterhalb ihres Ellenbogens abgetrennt, sie brüllte und weinte und hörte sich auf verstörende Art wie Brandon und Christopher an...

Matthew machte Ssschht! was er selber gar nicht bemerkte, seine Augen waren weit aufgerissen und er presste mit einer Hand den Oberarm der Rothaarigen zu Boden um mit der anderen schnell nach den Stoffstreifen zu langen.

Blut strömte in beängstigender Geschwindigkeit aus dem Stumpf, mit jedem Herzschlag lief mehr aus den durchrennten Sehnen und Nerven. 

Matthew schlang hastig den provisorischen Verband um den Stumpf, wickelte immer mehr Lagen darüber und zog sie ebenfalls fest. In seinen Ohren klingelte es mittlerweile, so laut schrie Adrianna, sie weinte in vollkommener entsetzlicher Panik, bäumte sich einmal auf und sackte sofort wieder in sich zusammen. 

Mit rasendem Herzen schlang er das größte verbliebene Lakenstück um den Arm, presste es auf die Schnittstelle und knotete es zusammen. 

„Oh fuck...du verblutest n-nicht. Wage es bloß nicht zu verbluten!“ - Seine Hände waren blutverschmiert aber ruhig - anders als seine zittrige Stimme. 

Dunkles Blut sickerte schon jetzt durch den Verband und die Haut der jungen Frau wurde - falls überhaupt möglich - noch blasser. Sie sah aus wie ein Gespenst. 

Und er? 

Er sah aus wie ein Wahnsinniger. 

Blut an den Händen und auf dem Pullover, der Blick hektisch, die Haare wirr. 

Der ganze Prozess von dem Moment an, da er die Finger um den Griff der Axt gelegt hatte bis jetzt, hatte nur wenige Sekunden gedauert aber ihm kam es vor als sei er viel zu langsam, als würden nur Blut und Leben schnell aus Adriannas Körper fließen. 

Beiläufig zog er die Axt aus dem Holz, bemerkte das Blut an der Schneide und stopfte sie hastig zurück in den Rucksack. 

Ungelenk schlüpfte er in einen den Träger - den anderen hatte er ja vorhin auseinander gefriemelt - kam in die Hocke und zog Adrianna in eine sitzende Haltung. 

„Verfluchte Scheiße, wie soll ich dich hier rauskriegen?“

Die besinnungslose junge Frau antwortete nicht, sie war vollkommen schlapp und in sich zusammengefallen. 

Aber sie musste hier raus und zwar schnell, sie beide mussten das. 

Cassie zog sie ein Stück unter den Trümmern weg, dann schob er umständlich einen Arm unter ihre Beine, legte sich ihren gesunden Arm um den Hals und legte den eigenen von unten um ihren Rücken. Dann stand er auf, wobei er aufpassen musste weder ihren noch seinen Kopf gegen eine der Metallstangen zu knallen.

Ganz unterschwellig und fern spürte er die Schmerzen in seinem Bauch und in der Schulter, aber das Adrenalin verhinderte, dass er zusammenbrach. 

Er schleppte sich und Adrianna durch das Trümmelfeld, so wie ein frisch vermählter Ehemann seine Braut über die Türschwelle trug. 

‚So wie ich versucht habe Clarence zu tragen....

So wie Clarence mich dann getragen hat, nachdem ich ihn nicht durch die Tür bekommen konnte...‘

Er schniefte, schnitt sich den Unterschenkel an einer scharfen Kante auf ohne es zu merken und wankte hinaus in den Schnee. 

Mittlerweile war es dunkel geworden, aber noch nicht dunkel genug um nicht zu sehen, dass der Verband an Adriannas Arm feucht von Blut glänzte. Er verlagerte seine Handhaltung etwas und schaffte es auf diese Weise zu verhindern, dass der Stumpf herunterbaumelte. 

Nun lag er auf dem Oberkörper der jungen Frau, halbwegs ruhig und halbwegs geschützt...

‚Hoffentlich hat Ceyda genug Laken zerschnitten‘ das hoffte er wirklich. Und das sie das Messer ins Feuer gelegt hatte... 

Kurz blickte Cassie zurück in den Schlund aus dem sie gekommen waren, dann setzte er sich in Bewegung wobei sie beide den Schnee mit ihrem Blut sprenkelten...


Adrianna Fairbanks

Um sie herum war es still geworden. Völlig still.

Das einzige, was die Leere durchschnitt, war das Rauschen ihres eigenen Blutes in den Ohren. Dumpf und hektisch hörte sie es in Wogen durch ihren Kopf fließen. Nicht mehr kräftig genug um zu hämmern, aber doch noch stark genug, um ihren Kreislauf aufrecht zu erhalten.

Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.

Obwohl es draußen dämmerte, konnte sie den verbliebenen Lichteinfall durch ihre geschlossenen Lider erkennen, der ihre Umwelt in ein bedrohliches Rot tauchte und sie bis zur Erblindung zu blenden schien, sobald sie blinzelte.

Das, was das Rauschen dann und wann durchdrang, war ihr eigenes verzerrtes Stöhnen das seltsam fern klang, so als wäre sie selbst gar nicht hier in diesem Loch, sondern ganz wo anders.

Ihre Ohren waren taub geworden von den eigenen Schreien, hatten einen bleiernen Vorhang über ihre Wahrnehmung gelegt und sie beinahe bewusstlos werden lassen – aber eben auch nur fast, denn wenn Adrianna tatsächlich eine Schwäche haben sollte, dann war es sie selbst. Sie konnte nicht aus ihrer Haut, nicht die Kontrolle verlieren über sich selbst, das konnte sie sich einfach nicht erlauben.

Aber sie konnte aus diesem Loch hier raus. Endlich weg von hier.

Hatte Matthew überhaupt nach drei noch weiter gezählt? Hatte er wirklich mit der Axt auf sie eingeschlagen?

Adrianna konnte es nicht sagen. Alles ging so schnell. Der Gürtel. Das Zählen. Der Schatten von Reeds Arm mit der Axt, wie er sich wie ein Monster an der Trümmerwand gegenüber erhob. Hatte sie den Schatten überhaupt gesehen?

Hatte sie nicht die Augen zugekniffen?

Das erbärmliche Stück Holz war schon lange nicht mehr zwischen ihren Zähnen, es war ihr aus dem Mund gefallen kaum da sie ihn zum Schrei geöffnet hatte. Dabei hatte ihr der Stoff, festgeklebt an den trockenen Lippen, einen blutigen Schmiss hinein gerissen. Beinahe war es ihr so vorgekommen, als habe Reed mit der Axt in ihrem Gesicht weiter gemacht – aber eigentlich ließ sich das nicht so genau trennen, denn im Augenblick fühlte sie die Schmerzen wirklich überall, egal wie ausgekühlt und kraftlos sie eigentlich schon war.

Sie wusste nicht wie oft Matthew zugeschlagen hatte, ob man das Durchtrennen ihres Knochens gehört oder wann das scharfe Beil eben jene Hürde tatsächlich überwunden hatte. Alles was sie unbewusst sagen konnte, war das verstörende wie auch befreiende Gefühl, als ihre linke Körperhälfte sich plötzlich ruckartig aus der Starre mit der Verschmelzung der Trümmer löste und selbst der gleißende Scherz in ihren steif gewordenen Muskeln schien ihr willkommen, solange sie sie einfach nur benutzen konnte.

Aus Reflex, vielleicht aus einem Versuch sich zu schützen heraus oder aus Panik, versuchte sie den Mann über sich von sich zu drängen und sich weiter von den Trümmern zwischen denen sie eben noch festgesteckt hatte hinfort zu stoßen, übertönt von ihrem eigenen Stöhnen und Weinen. Der Ruck, der durch ihren Körper ging als sie sich links aufstützen wollte und mit der Schulter ins Leere stürzte, ließ sie zum ersten Mal den Blick auf ihren frei gewordenen Arm senken der nicht mehr dort war wo er eigentlich sein sollte und obwohl ihr eigentlich schon seit Stunden bewusst gewesen war was ihr drohte, so konnte Adriannas Verstand den Anblick nicht mit ihrem eigenen Körper in Verbindung bringen. Natürlich waren sie alle aus Fleisch und Blut. Aber es war das eine Muskeln, Sehnen und Knochenenden an einem erlegten Tier zu sehen oder an sich selbst, obwohl man (noch) quicklebendig war.

Obwohl die Rothaarige sich in ein paar Tagen sicher sein würde dass alles unglaublich schnell ging, brannten sich einzelne Bilder aktuell unwiderruflich in ihre Netzhaut ein, da war sie sich sicher. Der Blick auf ihren scharf abgetrennten Arm, der in einer harten kante plötzlich endete und klare Aussicht darauf freigab, wie ihr Körper von innen aussah. Matthes panisches Gesicht, das so weiß geworden war wie ihr eigenes und weißer noch als der Schnee. Seine blutverschmierte Hand, mit der er versuchte ihren Stumpf auf dem Untergrund zu fixieren und den sie ihm zwei Mal aufgrund der Nässe zu entziehen schaffte, bevor er wieder die Oberhand über die sich wehrende junge Frau gewann.

Am Rande konnte sie hören, wie sein beruhigend gemeintes und in der Hektik doch unglaublich schrilles Schttt das rhythmische Rauschen in ihren Ohren durchschnitt das schwächer zu werden schien seitdem sie nicht mehr unter dem Stahlkessel festhing. Adrianna hätte schwören können, dass die Sonne bereits untergegangen war, ansonsten konnte sie sich nicht erklären, warum ihre kleine Welt, ihre kleine Trümmerblase in der sie schon seit Stunden lag, immer wieder schwarz wurde und sie am nächsten Morgen erwachte, verwirrt und unfähig zu erkennen, wo sie gerade war und was um sie herum geschah. Als wache sie immer wieder in den gleichen Alptraum auf anstatt einzuschlafen und ihn zu träumen, als hätte etwas die Welt völlig und ganz und gar verdreht. Als hätten Realität und Wahnsinn die Rollen getauscht um sie alle an der Nase herum zu führen.

Ganz abgedämpft und fern konnte sie spüren, wie sie in eine sitzende Position befördert wurde und auch wenn sie nicht so aussah, irgendwie fühlte sie sich langsam wieder besser. Bestimmt hatte sie sich warm geschrien oder Matthews Anwesenheit hatte ihre kleine Kapsel endlich erhitzt dass sie nicht mehr so fror wie noch vor wenigen Minuten. Dass ihr wohliges Befinden eher daran lag, dass ihr eigenes Blut ihr in die Kleidung sickerte, sich wie eine wärmende Decke über sie legte und ihre eigene Körpertemperatur zeitgleich den winterlichen Begebenheiten anpasste, schien ihr genauso unwahrscheinlich zu sein wie die Möglichkeit, ihr Leben nur durch etwas Müdigkeit ausgehaucht zu haben, bevor sie ihren Käfig aus Stahl und Holz endlich verlies.

Stäbe, Splitter und Scherben hatten ihr Rücken und die Beine aufgerissen, aber all das spielte keine Rolle mehr, war egal, tat nicht weh – nicht mehr jedenfalls als sie ihren Körper sowieso schon spürte. Der Schmerz in ihrem Arm war zu einem Gefühl geworden, das sich wie ein Mantra über jede Muskelfaser ihres Körpers gelegt hatte und von dem sie nicht mehr wusste, ob es sie quälte, oder einfach nur da war. Selbst in Momenten in denen sie immer wieder das Bewusstsein verlor und ihr Haupt auf Matthews Schulter oder in ihren eigenen Nacken hinab sackte, schien ihr Gesicht verzerrt; von ihrem Befinden aber auch vom Kampf, den sie gegen sich selbst und gegen die eigene Möglichkeit zu sterben führte.

Lautlos und eher aus einem Instinkt heraus als wirklichem Bestreben, presste sie mit ihrer verbliebenen Kraft den durchbluteten Verband und damit ihren offenen Stumpf gegen ihren rechten Oberarm und versuchte sich tiefer in Reeds Arme zu drehen, um dessen Brust als Gegendruck zu verwenden um das auszugleichen, was sie selbst nicht mehr schaffte. Für einen kurzen Moment spürte sie nochmals das elendige Gefühl in sich aufkommen, das sie eben schon verspürt hatte nachdem der Dunkelhaarige das erste Mal surrend die Axt niederfahren gelassen hatte; doch auch dieses Elend verging kurz darauf, als sie es schaffte ihren roten Schopf an Matthews Arm vorbei zu drängen und die wenigen Tropfen, die sie noch in ihrem Magen gehabt hatte, an seiner Flanke hinab zu erbrechen.

…st d……? Ree…… Reed… H-…Hör…st… du…“

Ihre Stimme war so dünn, so fragil geworden, dass es beinahe beruhigender gewesen wäre sie würde wieder panisch aber wenigstens kraftvoll schreien – aber im Augenblick war jede Lebensäußerung noch besser, als gar nichts mehr voneinander zu hören.

D…D-…… nke… Re…ed… danke… d-d…anke…“

Mit fernem Blick und die Schläfe schlapp zurück an seine Schulter gelehnt, starrte sie ausdruckslos in seinen senfgelben Pullover mit den roten Sprenkeln die ihr vorher gar nicht aufgefallen waren.

Danke…“

Egal was jetzt noch geschah, sie schlief wenigstens nicht im Todesschlund beim Kessel ein, ohne je wieder aufzuwachen. Alles war in Ordnung, solange sie nicht dort unten in der bedrängenden Dunkelheit und alleine war.

Ihre Augen waren schwer geworden und sie bemühte sich wach zu bleiben, sich auf die Schreie zu konzentrieren die sie aus der Ferne durch die Kälte schallen hörte und die nach dem Lockenkopf klangen und nach einer anderen weiblichen Stimme, die sie bis jetzt noch nicht gehört hatte.

Wenn sie jetzt starb, ging es ihr durch den Kopf, war Reed wenigstens nicht alleine bis er ihre beiden Jungs endlich wieder gefunden hatte. Womöglich war sie aber auch schon tot, zumindest wenn es nach der fremden Stimme ging, die sie dumpf in ihrem Rücken hören konnte.

 

„Lebt sie überhaupt noch?“ – Wie ein dunkler Schatten huschte Ceyda um die beiden herum, zog ein umgelegtes Regal ein Stückchen zurecht aus der sie eine provisorische Pritsche gemacht hatte damit die Verletzte nicht auf dem kalten Boden lag und man besser an ihr arbeiten konnte. Sie hatte von Ellen gehört was Matthew vorbereitet haben und was er da draußen anstellen wollte, doch zu sehen dass er sein Vorhaben wahr gemacht hatte, ließ selbst die Dunkelhäutige blass um die Nase werden während sie nervös und aufgekratzt aussah, auf Anweisungen wartend von denen sie nicht wusste, ob sie sie umsetzen konnte.


Matthew C. Sky

Trotz Wind und Schnee spürte Cassie wie Schweiß seinen Nacken herunterperlte. 

Ihm war nicht mehr kalt, ihm war höllisch heiß. Sein Körper hatte zunehmend Schwierigkeiten mit dem Gewicht der jungen Frau in seinen Armen, seine gebrochenen Rippen schmerzten mit jedem Schritt mehr, aber aufzugeben war keine Option. 

Niemand würde kommen und sie retten, niemand würde Adrianna zum Lager bringen und niemand würde dafür sorgen, dass sie nicht über Nacht erfroren. 

Wenn er es nicht tat, tat es keiner. 

Ellen und Ceyda taten was sie konnten, aber sie waren vermutlich noch nie in einer derart bedrohlichen Situation gewesen. 

Cassie hingegen...

Über das dröhnende Rauschen seines Blutes hinweg, hörte er Adriannas Stimme. Sie war leise, so unendlich leise und brüchig, dass Matthew zunächst gar nicht sicher war, dass sie wirklich zu ihm sprach. 

Er blickte nach unten in ihr blasses Gesicht und erkannte, dass sie wirklich mit ihm redete. Aber sie sprach nicht wirr, gefangen in einem Alptraum oder im Dahingleiten des Deliriums, sondern sie... bedankte sich bei ihm. 

Ungläubig darüber, brauchte er einen Moment ehe er mit einem undeutbaren Schnauben reagierte. 

„Wir sind gleich da...gleich kannst du dich ausruhen.“

Cassie wusste nicht ob sie morgen noch leben würde, beim besten Willen konnte er das nicht einschätzen, aber er wusste, dass er tun würde was er konnte. 

Ceyda kam ihm schließlich entgegen, wollte wissen ob die Rothaarige überhaupt noch lebte - eine Frage die Matthew nicht kommentierte.  

„Hol das Verbandszeug, ich muss... es ausbrennen... das wird die Blutung hoffentlich stoppen und im besten Fall verhindern, dass sich die Wunde entzündet.“

Hochprozentiger Alkohol wäre noch besser gewesen, aber sie hatten keinen. Sie hatten wenig und das wenige würde vermutlich kaum reichen. 

So vorsichtig wie er konnte legte er Adrianna auf die provisorische Pritsche. 

Ellen hatte versucht sie mit einigen der gefundenen Kleidungsstücke zu polstern damit es zumindest einigermaßen warm und halbwegs bequem war. 

Das Regal stand an der Wand, in der Nähe des Feuers doch Dank dem Kassiertresen geschützt vor den Augen der Kinder. 

Ceyda lief los um die Fetzen zu holen die als Verband dienen sollten, während Matthew keine Zeit verstreichen ließ, die durchgebluteten Stofflagen vom Stumpf zu lösen. 

Er kniete sich neben Adrianna, schlug den roten, samtenen Vorhang - den Ceyda ihm vorhin noch umgehängt und mittlerweile in drei etwa gleich große Stücke geteilt hatte-  bis hoch zu ihrer Brust. 

„Das...wird schon wieder...“ hörte er sich sagen, wobei er selbst so genau wusste ‚was schon wieder werden‘ sollte. 

Aber die Rothaarige wirkte nicht so, als ob sie ihm noch zuhörte. Immer wieder fiel sie für Sekunden in Ohnmacht nur um kurz darauf aus selbiger aufzuschrecken. 

Ihre Haut fühlte sich entsetzlich kalt an während Matthew das Gefühl hatte zu verglühen.

Vorsichtig wickelte er den Verband von ihrem Unterarm und je näher er der Wunde kam umso blutiger wurden die Lagen. Mit einem feuchten Klatschen ließ er den Stoff auf den gefliesten Boden fallen, den Blick konzentriert auf den Stumpf gerichtet. 

Die Axt hatte Gewebe und Knochen glatt durchschlagen, doch die Blutung hatte selbst der Gürtel nicht stoppen können und mit jeder weiteren Sekunde in der die junge Frau mehr Blut verlor, schwanden ihre Chancen zu überleben mehr. 

Cassie wischte sich fahrig mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn, suchte kurz den Blick der jungen Frau und spürte Erleichterung als er feststellte, dass sie derzeit ohne Bewusstsein war. 

„Das Messer liegt im Feuer?“, Ellen war vor den Tresen gekommen und sah auf Adrianna und ihn, sie wrang die Hände und gab keine Antwort. Erst als Matthew nochmal fragte nickte sie schnell. 

„Kannst du...bei ihr bleiben?“ - „W-was? Ich weiß nicht was ich machen soll.“, sie blickte ihn erschrocken an, wodurch sie um Jahre jünger aussah. 

„Du musst nichts machen, nur einen Moment auf sie aufpassen während ich...“, er blickte vielsagend zum Feuer um nicht vor Adrianna auszusprechen, dass er das Messer holen wollte. 

Einen Moment schien es, als verstünde Ellen ihn nicht, dann plötzlich begriff sie. „J-ja ja, das kann ich...“

Sie kam um den Tresen herum und ging am Fußende der Pritsche in die Hocke. Cassie stand auf, legte ihr kurz die Hand auf die Schulter und drückte sie aufmunternd.  

„Ich bin sofort wieder da.“

Die Schmerzen ignorierend, ging er zum Feuer um welches die anderen saßen. Der Kerl lehnte a n der Wand, Gabriel schlief und Lucy, die bei ihm saß, betrachtete ihn mit großen Augen.

„Geht’s der Frau gut?“, wollte sie wissen und Matt schüttelte den Kopf. „Sie hat starke Schmerzen und ich...muss ihr nochmal wehtun, damit sie eine Chance hat.“

Matthew war vor dem Feuer in die Hocke gegangen, Schatten und glühendes Licht tanzten auf seinem Gesicht. 

Er fühlte sich leer und ausgelaugt, dachte aber keine Sekunde lang daran, sich der Erschöpfung hinzugeben. 

Lucy indes betrachtete ihn aufmerksam, etwas an ihrem Blick rührte ihn an. 

„Wenn sie schreit, brauchst du keine Angst haben.“

- „Werd ich nicht.“, erwiderte sie prompt und Matthew nickte. Sie standen alle unter Schock und im Moment war das gut so, der Schock verhinderte Hysterie.

Das Feuer, welches sie begrenzt hatten mit allem was nicht brannte, hatte den begrenzten Raum soweit erwärmt, dass keiner von ihnen erfrieren würde und die zusätzlich gefundene Bekleidung würde hoffentlich dafür sorgen, dass keiner eine Lungenentzündung oder dergleichen bekam. 

Die Messerklinge glühte in einem tiefen rotgold, fast schon lebendig schienen die Flammen um ihn zu züngeln, ebenso wie um das Holz. 

Den Rucksack seines Mannes noch immer einseitig auf der Schulter verharrte er noch einen kurzen Moment, dann griff er nach dem Messer und zog es heraus. 

Der Griff war heiß geworden, aber nicht so heiß als das Matthew ihn nicht halten konnte. 

Die Luft um die glühende Schneide flirrte sichtbar und das Metall pulsierte träge, fast wie ein Herz das langsam aber gleichmäßig schlug. 

Schweigend ging er zurück zu Adrianna, Ellen sprang regelrecht hastig auf, so als ertrage sie nicht was noch kommen würde. Unter anderen Umständen hätte er ihr gesagt sie solle sich hinlegen und ausruhen...aber die Umstände waren nicht anders. 

Ohne die junge Frau aufzuhalten setzte sich Cassie neben Adrianna. Sie befand sich wieder in einem Zustand irgendwo zwischen Delirium und Bewusstsein. 

Ihr freigelegter Stumpf blutete noch immer, wenn auch nicht mehr so stark. 

„Ich Zähl von Drei runter...“, sagte er - was ein Scherz sein sollte, weil die junge Frau mittlerweile wusste es würde nach ‚Drei‘ keine weitere Zahl folgen. 

Aber der schlechte Scherz zauberte ihm kein Lächeln ins Gesicht und wenn er Clarence nicht fand, würde er nie mehr lächeln, das wusste er. 

Im Gesicht der jungen Frau erschien so etwas wie ein gequältes Schmunzeln und sie erwiderte etwas, jedoch so leise und schwach, dass Matthew es nicht verstand. 

Vorsichtig hob er ihren Arm an, hielt kurz Blickkontakt zu der Rothaarigen und presste schließlich unvermittelt die glühende Messerschneide flach gegen das Fleisch. 

Einen Sekundenbruchteil schien es, als wolle sich Adrianna aufbäumen, doch noch vor dem ersten Schrei erschlaffte sie und fiel in Ohnmacht. 

Der Geruch von schmorendem Fleisch stieg von dem Stumpf auf, das Blut verbrannte zischend als die Adern und Gefäße verödeten und in Matthew wallte ein grausiges Déjà-vu auf. 

Er löste die Klinge von dem Fleisch, legte sie neu an einer anderen Stelle auf und verbrannte auch dort die zuckenden Muskelenden. 

Der Geruch von schwelenden Knochen und Fleisch ließ Übelkeit in ihm aufsteigen und sein Magen krampfte sich zusammen um das bisschen Inhalt vom Morgen heraus zu würgen. Er drehte den Kopf zur Seite, presste die Augenlider fest zusammen und kämpfte gegen das Erbrechen an, erfolgreich letztlich, aber der Sieg war nur fragil. 

Das heiße Messer auf den Boden fallenlassend damit es dort auskühlte, schob er es mit dem Fuß ein Stück bei Seite. 

Mittlerweile war er so blass geworden wie der Schnee draußen. 

Der verödete Stumpf hatte aufgehört zu bluten, Matthew lockerte vorsichtig den Gürtel und nahm ihn schließlich ab. 

Behutsam wickelte er Verbände um den Unterarm und knotete diese vorsichtig am Ende zusammen. Dann langte er neuerlich nach dem Gürtel und steckte den Dorn der Schließe durch das erste Loch. Das untere Ende des Lederriemens verdrehte er einmal und fädelte den Arm der jungen Frau durch die kleine Schlinge die sich gebildet hatte, bevor er den geschlossenen Gürtel über ihren Kopf zog und in den Nacken legte. 

Auf diese Weise war ihr Unterarm stabilisiert und am Körper fixiert. Erst jetzt zog er die Vorhangdecke höher, bis unter ihr Kinn und verdeckte damit den verstümmelten Arm. 

Prüfend hielt er die Hand vor ihre Lippen, ihr Atem war schwach aber regelmäßig und ihre Stirn, die er kurz darauf berührte, fühlte sich nicht mehr ganz so kalt an. 

„Schlaf dich aus...“, sagte er leise zu ihr, dann wischte er sich über das Gesicht. 

Er war erschöpft...unendlich erschöpft sogar, aber er konnte nicht ausruhen, denn er würde ohne Clarence keine Ruhe finden. 

Bei Adrianna sitzend, zog er den Rucksack des Blonden auf seinen Schoß und verband den Träger, den er vorhin gelöst hatte, wieder richtig. Tränen stiegen ihm in die Augen während er das tat und daran dachte, dass Clarence das vermutlich nicht hinbekommen hätte.

Dosen öffnen, seine Schuhe schnüren, Knoten lösen... damit tat er sich immer schwer. 

Außer es geht darum mich ausziehen, dann ist Clarence feinmotorisch unschlagbar.‘

Der Gedanke ließ ihn leise schniefen. Er hatte unendliche Angst, den Blonden nie mehr wiederzusehen. 

Ein paar Minuten saß er noch bei der jungen Frau, betrachtete sie schweigsam und lauschte auf die leisen Gespräche der anderen. 

Lucy hatte Hunger, Ceyda machte mit Ellen Pläne und Jeremy versicherte Lucy, dass es schon morgen Essen geben würde. 

‚Woher auch immer wir das nehmen sollen.‘, dachte Matthew resigniert und seufzte. 

Ächzend kam er wieder auf die Beine, schulterte Clarence‘ Rucksack und schob sich an dem Tresen vorbei. 

„Hey! Wohin gehst du?“ wollte Ceyda wissen und fing sich einen Blick von Matthew ein, der zu fragen schien wie oft er ihr das noch sagen sollte. 

Sie wollte einen Einwand erheben, tat es aber letztlich nicht sondern ließ ihn gehen. 

Es war unwahrscheinlich, dass er da draußen überhaupt noch jemanden fand und als er - Stunden später - durchgefroren und vollkommen fertig wiederkam, kam er so allein wie er gegangen war. 

 


Ceyda

Das Feuer prasselte leise und doch kam es Ceyda so vor, als habe sich eine Totenstille über den abgetrennten Bereich des Kaufhauses gelegt, genau wie über die restliche Halle ebenso, die sich trostlos hinter ihren Regalen erstreckte.

Jeremy schnarchte dann und wann dünn, grunzte ab und an wovon er schließlich aufwachte und hatte dann mehrmals begonnen leise zu schluchzen. Es schien ein paar Sekunden gedauert zu haben, bis er realisiert hatte, dass der Absturz Realität gewesen war und nicht der Traum, aus dem er eigentlich aufwachen sollte. Das seine Kinder, von denen er gestern Vormittag noch oft gesprochen hatte, vermutlich nicht mehr dort draußen zu finden waren und seine Frau auch nicht zu ihm zurück kehren würde. Wie er es überhaupt geschafft hatte einzuschlafen, war Ceyda unbegreiflich. Aber sie steckte auch nicht in seiner Haut und wusste nicht durch welche Hölle er gegangen war, bevor Ellen ihn gefunden hatte. Wahrscheinlich trieb die Erschöpfung sie früher oder später alle in den Schlaf, ganz gleich was sie noch zu tun hatten, wen sie noch suchen wollten oder wie sehr sie gegen die schwerer werdenden Augenlider ankämpften, in deren Dunkelheit sie nicht verschwinden wollten, um erst nach Stunden wieder zu erwachen.

Lucy war noch lange wach geblieben, fast so lange wie Ellen, hatte eng bei ihrem Bruder am Feuer gesessen und war zusammengezuckt, sobald ein unbekanntes Geräusch das Prasseln der Flammen übertönt hatte. Sie schlug sich tapfer, versuchte stark zu sein und ihrem Job als große Schwester gerecht zu werden. Man merkte ihr an, dass sie versuchte den Erwachsenen näher zu sein und sich in der Gruppe zu positionieren, wenngleich sie deutlich zu wissen schien, alle nahmen sie und ihren Bruder als Kinder wahr statt als ernstzunehmende Persönlichkeiten, denen man ernstzunehmende Tätigkeiten zuweisen konnte. Um ihr das Gefühl zu geben eine wichtige Rolle zu haben, hatte Ceyda ihr nach Matthews Aufbruch die Aufgabe zugewiesen sich bis zum Schlafen für das Feuer verantwortlich zu zeigen und somit einer zentralen Verpflichtung nachzukommen, welche der Gruppe beim Überleben half. Gewissenhaft hatte sie seitdem Holz aufgelegt, nachgefragt ob das Feuer zu groß oder zu klein war oder ob sie losgehen sollte draußen in der Dunkelheit nach Nachschub suchen, damit ihnen das Brennmaterial nicht ausging.

Sie gab sich wirklich tapfer. Aber jedes Husten und jede Regung in der Umgebung legte derartige Schatten der Angst in ihre Augen, wie nur Kinder sie hatten, die sich noch vor dem fürchteten was in der Nacht auf sie lauerte.

Ihr Bruder hingegen, Gabriel, hatte fast die ganze Nacht lang ununterbrochen geschlafen. Ceyda hatte nicht viel Ahnung von Kindern, aber sie wusste, dass die Kleinen in dem Alter noch viel mehr Schlaf brauchten als seine Schwester etwa. Lucy hatte die Überwachung des Feuers irgendwann an die Ältere abgegeben als ihr die Augen immer mehr gebrannt hatten und schwer geworden waren – seitdem lag sie eng an Gabriel gekuschelt da und teilte sich mit ihm eine Decke. Die beiden wirkten wie ein Herz und eine Seele und auch wenn Ceyda wusste, dass das an manchen Tagen sicher auch anders aussah, konnte sie schon jetzt sagen, dass das Verhältnis der beiden fortan sicher irgendwann schwierig werden würde. Ab heute würde Lucy immer die große Schwester raus hängen lassen, würde ihrem Bruder sagen was er zu tun hatte und was ihm verboten war. Aus Angst um ihn natürlich, aber das war etwas, das Gabriel eines Tages nicht mehr verstehen würde, wenn er älter geworden war und seine eigenen Erfahrungen sammeln wollte.

Als er wach geworden war weil ihn die Blase drückte, irgendwann weit nach Mitternacht, hatte Ellen blass und müde an ihrem Platz gelegen und leise gefragt, wo sie hin wollten. Ceyda hatte ihr erklärt, sie würde mit Gabriel hinter die Regale gehen, weit in die Räumlichkeiten hinein die sie noch am Nachmittag gemeinsam mit Matthew ausgekundschaftet und für sicher erklärt hatten und die seitdem zu der einzigen Möglichkeit geworden waren sich einigermaßen privat zu erleichtern, wenn man nicht hinaus in die eisige Kälte wollte.

Als sie zurück gekehrt waren, Gabriel sich wieder hingelegt hatte und sie selbst im Anschluss zur Rothaarigen hinter dem Kassentresen aufgebrochen war, hatte Ellen geschlafen.

Und als Ceyda eine Weile später zurück gekehrt war, war Ellen tot gewesen.

Einfach so.

Eine ganze Weile hatte sie begriffsstutzig vor dem Mädchen mit den Locken gestanden, hatte auf den regungslosen Brustkorb unter der Decke gestarrt während alle anderen schliefen und in ihr Gesicht, das wächsern und friedlich dalag, so als wäre Ellen einfach eingeschlafen. Es hatte gedauert, bis aus der Erkenntnis dass sie nicht mehr lebte die Gewissheit wurde, dass die junge Frau tot war. Obwohl sie den ganzen Tag über schon so viele Leichen gesehen hatten, mehr als ein Mensch in seinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen sollte, berührte sie der Anblick weit mehr als die namenlosen Gesichter draußen beim Zeppelinwrack. Sicher, weil sie die anderen nicht gekannt hatte, weil sie nichts mehr waren als… Leichen, die man sich nicht im lebendigen Zustand vorstellen konnte.

Ellen aber war lebendig gewesen. Sie hatte einen Namen gehabt, einen toten Bruder. Sie war diejenige, die ihr erstes Feuer zusammengetragen und die ersten Stoffe gerettet hatte, um sie alle darin einzuwickeln. Ohne Ellen gäbe es Ceyda nicht, Jeremy nicht. Nicht diesen Matthew, der aufgebrochen war um draußen im Eis seinen Tot zu finden und dank dem auch die beiden Kinder noch lebten. Von dieser jungen Frau, die nun mehr aussah wie das Mädchen das sie eigentlich noch war statt einer Erwachsenen, war alles ausgegangen. Und nun war sie tot.

Am Nachmittag hatte sie schon blass ausgesehen und zittrig. Sie hatte vermehrt Rückenschmerzen gehabt, das hatte man ihr angesehen wenn sie einen Moment stehen geblieben war um zu verschnaufen und sie dabei die Hände in die Flanken gestemmt hatte. Doch mit jedem Zuruf den man ihr getätigt hatte, mit jeder Anweisung was sie machen sollte, hatte sie ihren Schmerz wieder herunter geschluckt und weiter gemacht. Hatte dankbar ausgesehen für die aufgetragene Arbeit, so als… fühle sie sich dadurch abgelenkt. Aber wer tat das im Augenblick nicht? Wer war nicht dankbar für Zerstreuung?

Oder hatte Ellen da schon gewusst, dass es dem Ende zuging, und hatte versucht noch möglichst viel zu hinterlassen, solange sie das noch konnte?

Sie würden das nie mehr erfahren, keiner von ihnen.

Seitdem hatte Ceyda die junge Frau mitsamt ihren Locken mit dem größten Stück Stoff abgedeckt, das sie hatte finden können. Wenn Matthew hier geblieben wäre, hatte sie garstig gedacht, wäre das vielleicht nicht passiert.

Natürlich wusste sie, dass das nicht stimmte. Es hatte keine Anzeichen gegeben, keine offensichtlichen Probleme mit Ellen, außer die Müdigkeit, von sie aber sowieso alle geplagt wurden.

Aber wenn er geblieben wäre, hätte er Ceyda wenigstens helfen können Ellen vom Feuer und von den Kindern wegzuziehen.

Stattdessen hatte die Dunkelhäutige versucht ihre… Trümmerfreundin so gut es ging einzuknoten, leise, um die Kinder nicht zu wecken, und auf dem meist ebenen Weg vom Feuer weg zu ziehen. Wie schwer so ein Mensch werden konnte, wenn er keine Körperspannung mehr besaß, hätte sie sich im besten Willen nicht vorstellen können. Ellen war drei Mal so schwer geworden wie ihr Anblick es vermuten ließ und in den Pausen, die Ceyda benötigt hatte um Luft zu holen und mit ihrem Ächzen die Kinder nicht zu wecken, hatte sie weit mehr als ein Mal diesen dummen Kerl und später seinen Ehemann dafür verflucht, dass sie ihre gemeinsame Retterin derart respektlos durch die Halle zerren musste, anstatt sie anständig in eine ruhige Ecke zu tragen, so wie es ihr zustand.

Seitdem hatte Ceyda kein Auge mehr zugetan, noch ein bisschen Holz aufs Feuer geworfen und nachgesehen ob die fremde mit der fehlenden Hand etwas brauchte, doch die Rothaarige schien schlafend oder bewusstlos wie eh und je.

Um ihre Nerven zu beruhigen und ein paar Minuten für sich zu haben, hatte sie sich durch die Barrikade gezwängt um aus dem Innenfutter ihrer Jacke ein halbes Päckchen Zigaretten hervor zu schleusen, das sie in den Trümmern gefunden und heimlich für sich beansprucht hatte. Es war windstill geworden, so als habe sich der Tod wie eine Decke zurück über die Geisterstadt gelegt, so wie es auch sicher vor ihrem Absturz gewesen war und wie auch der junge Mann es nicht mehr ändern konnte, den sie schon von weitem durch weißes Eis und Schnee auf ihre trostlose Verbarrikadierung zukommen sah. Gerade fragte sie sich, ob überhaupt irgendetwas sie alle noch vor dem sicheren Tod retten konnte.


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