Camerons & Thias Unterschlupf
18. August 2210
Matthew ließ sich ein Stück zurückfallen und folgte der kleinen Gruppe mit ein paar Metern Abstand.
Er hinterfragte nicht, dass sich seit dem Aufkreuzen von Cameron die Interaktion mit Clarence auf das Wesentliche beschränkte und anders als der Blonde, verschwendete er auch keinen Gedanken daran den Anderen einzuweihen.
Nicht etwa, weil es ihm egal war wieder Reed zu sein, sondern weil Barclay ein Teil von Clarence‘ Vergangenheit war, irgendwann einmal hatte der Blonde in den American Kestrel seine Familie gesehen und vielleicht sogar gefunden. Und Cameron war Teil jener Familie. Ein offenbar ungeliebter zwar, aber eben dennoch ein Teil.
Und deshalb war es nicht seine Entscheidung ihre Beziehung zueinander klarzustellen.
Adrianna hatte es erfahren weil die Umstände gar nichts anderes zugelassen hatten und brachten sie die Rothaarige mit Cameron zusammen würde es sowieso bald kein Geheimnis mehr sein.
Für einen Mann wie Clarence, der sein ganzes Leben lang damit gehadert hatte nicht besonders an Frauen interessiert zu sein, war die Situation so oder so nicht einfach. Zumal ihr Entschluss als Reed und Sky aufzutreten eigentlich zu ihrem eigenen Schutz gefallen war.
Inwieweit ihre Sicherheit und der Plan den Clan zu verlassen nun gefährdet war, konnte Matthew nicht einschätzen - aber auch das war so eine Sache um die er sich später Sorgen machte, weil ihre aktuelle Lage besorgniserregend genug war.
Er dachte an Ceyda, daran wie sie ihn immer wieder Wer bist du? gefragt hatte, daran wie sie mehr und mehr zerfallen war um etwas zu werden, dass eindeutig nicht menschlich war.
Matthew blieb einen Augenblick stehen, betrachtete die vor ihm laufende Dreierkonstellation und hörte Thia zu, die von der Gruppe berichtete und dabei auch erwähnte, dass ein Neugeborenes Teil jener war. Unmerklich schüttelte Cassie den Kopf und fragte sich im Stillen das selbe wie Clarence.
Waren hier eigentlich alle verrückt geworden?
Ein Kleinkind oder Würmchen würde vielleicht helfen die Moral aufrecht zu erhalten, aber in allererster Linie war ein Neugeborenes unkalkulierbar. Bedürfnisse die es hatte mussten sofort gestillt werden, man konnte es nicht bitten kurz nicht vor Hunger, Müdigkeit oder Bauchweh zu schreien. Man konnte es auch nicht anweisen sich im Konfliktfall zu verstecken oder keinerlei Mucks zu machen.
Würde man Matthew nach seiner Sichtweise fragen, so hätte er salopp gesagt, dass man ein Kleinkind aktuell so dringend brauchen konnte wie ein Loch im Kopf.
Zum Glück fragte ihn aber keiner.
Davon abgesehen war dieser verfluchte Ort kein Platz für ein Baby. Es war eisig, es war gefährlich, es konnte jederzeit dazu kommen, dass sie das Lager verlassen mussten oder Vorräte abhanden kamen.
Weder Kind noch Mutter gehörten hierher und auch wenn Cameron’s Argumente nicht völlig an den Haaren herbeigezogen waren, so hätte Cassiel wahrscheinlich anders entschieden - vorausgesetzt Clarence wäre nicht noch unter den Vermissten.
Die kleine Gruppe verschwand für einen Moment aus Matthews Sichtfeld, als sie um die Ecke bogen und durch eine Tür verschwanden.
Matthew folgte Sekunden später und fand sich unverkennbar im Lager von Thia und Barclay wieder.
Der fast quadratisch geschnittene Raum war nach einer Seite hin mit allerlei Nützlichem ausgestattet.
Zwei Stühle - die mit den Rollen an den Füßen, zwei Decken - die leichte Variante um sie sich über die Schultern zu legen, wenn einen fröstelte.
Etwas abseits des kleinen Feuers, welches mit Ziegelsteinen begrenzt wurde und aktuell nur müde züngelnde Flammen bot, stand ein schmales, zerwühltes Bett, samt einer dicke Winterdecke, außerdem zwei Kopfkissen. Darüber waren achtlos Wintersachen geworfen worden.
Mützen, Handschuhe, Jacken.
Die Tatsache, dass es nur eine Schlafstätte gab würde nun auch dem letzten Trottel aufgehen lassen in welchem Verhältnis Thia und Cameron standen.
„Wir haben noch mehr von allem.“, erklärte die junge Frau ungefragt - sie hatte wohl Matthews Blick gesehen, der eine Sekunde zu lang auf dem Schlafplatz geruht hatte.
Beschwichtigend hob Cassie die Hände, die Worte „Schon gut, alles bestens.“ erwidernd.
„Wir haben noch zwei andere Zimmer bestückt. Thia meinte, dass sei sinnlos - aber ich hab drauf bestanden, für den Fall, dass wir wen finden. Und hier seid ihr. “, hakte Cameron ein und lächelte triumphierend - was die Blonde mit Augen rollen ließ.
Die Waffen und Taschen wurden schließlich nacheinander von beiden abgelegt, Matthew allerdings entledigte sich lediglich dem Bogen - behielt aber auch diesen in Reichweite.
„Setzt euch. Kaffee ist noch warm, wir haben so ein Gefäß gefunden, dass ist verrückt… alles was man reingibt bleibt ewig heiß oder kalt, wie so ein ~…“ - „Eine Thermoskanne.“, warf Cassie ein und Cameron nickte eifrig. „Ja, so ein Teil. Voll cool.“ - Matthew, der selbst so ziemlich alles voll cool fand das von den Alten kam, stimmte ihm innerlich zu und schmunzelte.
Die junge Frau kramte in einer Umhängetasche herum und förderte schließlich zwei Keramiktassen zu Tage die eindeutig auch Überbleibsel der Alten waren.
Auf der einen Tasse - bedruckt mit der Flagge der ehemaligen USA stand HONORING ALL WHO SERVED und die andere zeigte eine windschiefe Eiffelturm- Karikatur und darunter stand in kursiver Schrift *France - parce qu'il n'y avait pas de vol vers les États-Unis*
„Die gehörten wohl beide jemandem, der seine Heimat mochte.“, kommentierte Matthew und deutete auf die Gefäße, Thia runzelte die Stirn und lächelte verlegen.
„Wegen dem was drauf steht.“, erklärte Cassiel, das Lächeln der Blonden erwidernd.
„Du kannst lesen? Wow. Ich dachte, dass können nur Leute aus der Oberschicht.“, sie lachte nervös. „Tut mir leid, dass kam falsch rüber.“, ergänzte sie schnell, befüllte die Tassen und reichte sie an Clarence und Matthew, ehe sie die anderen beiden befüllte, die schon neben der Kanne gestanden hatten.
„Jetzt setzt euch aber echt. Macht’s euch bequem. Hier drinnen sind wir safe. Keine verrückten Tentakel, keine Hillibillys. Ach ja und wenn ihr mal müsst, da durch die Tür durch und ihr habt alles was ihr braucht.“
Ein kurzer Rundblick durchs Zimmer reichte Clarence aus um zu erkennen, dass es sich hier um ein Lager von Barclay handeln musste. Die Art wie er das Feuer mit geschichteten Steinen begrenzte, der Hauch von Bequemlichkeit der sich in den Stühlen mit den Decken wiederfand und der Geruch von dünnem Kaffee in der Luft waren typisch für jenen Mann, dem ein bisschen Wohlbefinden sehr am Herzen lagen.
Vermutlich hatte er wie immer den Kaffee rationiert, hatte die Plörre eher zu mild aufgesetzt als mit zu kräftiger Brühe die Bohnen schnell zu verbrauchen und war kreativ dabei geworden, alles zu einem feinen Pulver zu mahlen.
Nicht zuletzt das kleine Liebesnest war es, das dem Lager einen signifikanten Stempel aufdrückte und deutlich klar machte: Hier hatte sich jemand das Weibchen nach dem Umwerben erfolgreich klar gemacht und zwar nicht nur ein Mal, sondern so lange dauerhaft, wie es beiden eben Spaß machte.
Das eilige Einwenden Matthews ließ ihn den Blick heben und die Stimmung zwischen Thia und Cassie kurz sondieren, wobei er ihm aus der Ferne ein klares Zeichen gab das Thema besser ruhen zu lassen, dabei hastig den Kopf schüttelnd. Wenn er eines in der Zeit mit Cameron - und später dann auch mit Matthew - gelernt hatte, dann, dass man sich nicht zwischen einen Typen und dessen Liebschaft stellte und die Dame der Wahl mit unnötigen Sprüchen wieder vertrieb.
Oder noch schlimmer: Der Liebschaft das Gefühl gab, ein berechenbares kleines Flittchen zu sein. Denn dann wurden sie alle drei ihres Lebens nicht mehr froh.
Mit einem Stell dich nicht so an, bei uns sähe es nicht besser aus-Blick versuchte er Cassie aus der Ferne dazu zu bewegen sich nicht zum Idioten zu machen, während er durch den Raum ging um sich einen geeigneten Platz in einem Raum zu suchen, der definitiv nur für zwei Personen gemacht worden war und nicht für vier.
Das zerwühlte Liebesnest war für einen Sitzwütigen alles andere als einladend und die zwei Stühle auf Rädern schrieen derart nach Genickbruch, dass Clarence sie gar nicht erst ansteuerte. Bei seinem Glück brach die Rückenlehne heraus, dann kippte er mit den Schultern an den nahen Tisch, sodass ihm der Rest des Stuhls unterm Arsch weg und bis ins Lagerfeuer rollte - nur um dann brennend die züngelnden Flammen im Raum zu verteilen. Am Ende fingen sie alle Feuer und verbrannten elendig. Das würde seinem Karma wohl so passen. Nicht mit ihm.
Sich dem Feuer und einem Sitzplatz mittig zuwendend, damit Cassie sich direkt neben ihm niederlassen konnte, wurde ihm aber schnell klar, dass auch das keine Option war. Kein Mensch der Welt setzte sich so nah neben einen anderen, wenn der halbe Raum zur Verfügung stand.
So schlurfte er also ein, zwei Schritte weiter an den Rand während die anderen drei sich miteinander unterhielten, spähte kurz missmutig zwischen den Dreien umher ob ihn jemand beobachtet hatte und klopfte sich dabei grob die Asche und den Staub von Jacke und Hose. Sein Blick blieb schließlich an Matthew haften, der sich durch ungefragte Klugscheißerei mal wieder äußerst beliebt beim Proletariat machte, indem er mit seiner Bildung und seinen Fähigkeiten prahlte.
Nicht nur manchmal sondern grundsätzlich immer fragte sich Clarence, wie dieser Trottel von Mann so alt geworden war. Ein Söldner wollte er sein, Meister seines Fachs… und damit nichts weiter als ein Schatten, der durch verlassene Gänge huschte, ohne dabei von anderen entdeckt zu werden.
Das war zumindest die Theorie.
In der Praxis fiel er damit auf wie er laut hörbar Dinge vorlas, wie er mit einem bärenohrigen Plüschmantel durch die Walachei marschierte und wie er zwei Hunde mit einem Damenarmband anzahlte, obwohl er mit keiner Dame unterwegs war. Oh ja, das hatte Clarence damals durchaus zwischen Cassies geübten Fingern hindurch blitzen sehen; zwar mochte er diesen Vorfall bis heute nicht angesprochen haben, aber das hieß nicht, dass er das diebische Treiben seiner angeheirateten Elster einfach in Vergessenheit geraten ließ.
Immer dann, wenn Clarence dachte sich durch seine oftmals unbeholfene Art verdächtig zu machen, kam Matthew mit irgendeiner Schnöselei daher und auch heute lenkte er von der Suche des verwirrten Blonden nach einem Sitzplatz ab, indem Reed sein Können zur Schau stellte. Aber irgendwie liebte er diesen Kerl ja trotzdem.
Mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen, fühlte er sich Thia plötzlich unheimlich verbunden, die dem Lesenden unüberlegt und zweifelsohne ungewollt einen verbalen Seitenhieb verpasst hatte.
„Na dann wollen wir nur hoffen, dass sich der feine Monsieur Reed nicht zu schade ist für einen Sitzplatz auf dem Boden“, knüpfte er nahtlos an Thias Kommentar an und nahm ihr jene der beiden Tassen ab, auf der ein solches Kauderwelsch stand wie Clarence es bislang noch in keinem der Bücher gesehen hatte, die Cassie besaß. Selbst als Anfänger wusste er, dass das nicht ihre Sprache war und trotzdem versuchte er der Aufschrift nicht länger als nötig seine Aufmerksamkeit zu schenken. Nebst ihrer Ehe gab es immerhin noch andere Sachen, die ihr kleines Geheimnis bleiben konnten.
„Ich glaube, wir könnten nach der Tasse Kaffee eher eine Schüssel Wasser und einen Lappen gebrauchen. - Nichts für ungut“, fügte er an, aber auch wenn ihm sein Körper sowieso seit dem Absturz an gefühlt jeder Ecke weh tat, sollten sie es nicht drauf ankommen lassen auch nur den kleinsten Kratzer unbehandelt zu lassen. In einer von Jahrhunderte altem Dreck überzogenen Stadt, konnte jede Wunde zu einer potentiell tödlichen Infektion werden.
Vorsichtig nahm er einen Schluck aus dem Porzellangefäß und brummte dabei leise. Die heiße Flüssigkeit wärmte seine Brust augenblicklich von innen und tat fast so gut, wie es noch vor einem halben Jahr ein sonniger Tag an Deck getan hatte. Mittlerweile hatte sich Clarence auf dem Boden niedergelassen und reckte die freie Hand gen Feuer um seine Fingerspitzen zu wärmen; allmählich, wo das Adrenalin des Angriffs und des unerwarteten Wiedersehens verebbte, wurde ihm erst so richtig bewusst wie sehr sie der Kampf im Schnee ausgekühlt hatte. Dass Barclay vorerst nicht weiter auf Ceyda und ihren Untergang einging, war dem Blonden ganz recht so und er würde den Teufel tun die kleine Gruppe diesem Gesprächsthema allzu schnell wieder anzunähern. Alleine darüber nachzudenken was aus dem Ceyda-Ding geworden war, verursachte dem Jäger ein unangenehmes Drücken in der Magengrube. Gut also, dass es noch andere wichtige Themen gab, auf die er ablenken konnte.
„Du hast gesagt, ihr habt noch andere Zimmer fertig gemacht. Wie viele können wir noch herrichten? Wird es reichen, um die Lager hier zusammenzulegen?“
Er blickte zwischen Cameron und Thia umher, wobei der Dunkelhaarige das Gesicht verzog, angestrengt nachdenkend über die möglichen Optionen die er hier in der Stadt für sie sah.
„Weiß ich nich, ob wir alle hierher bringen sollten nachdem wir auch schon eine Weile hier sind. Wenn man die Umgebungen ums Lager zu weit abgrast, dann werden die Dorftrottel einem böse wegen dem bisschen Wild was noch da war und dann weg geschossen wird“, fasste Barclay sein Wissen um die riesige Stadt der Alten zusammen. Er wusste zweifelsohne mehr über den Ort hier, als Matthew und Clarence nach all den Wochen zusammengerechnet wussten und was das anging, hatte er völlig Recht. Es war jetzt schon schwierig in ihrem Viertel etwas zu jagen und die Gruppe mit dem zu ernähren was es vor Ort gab würde nicht einfacher werden, wenn die Meute plötzlich doppelt so groß war wie jetzt.
„Ich hab überlegt ob es weiter am Stadtrand einfacher wär. Da ist alles nich so eng bebaut wie hier und manche Straßen haben viel Gelände mit Bäumen zwischen den Häusern. Platz für Wild um zu fressen und auch Platz genug, um etwas Überblick zu behalten was so abgeht in der Nachbarschaft. Wir könnten euren huflahmen Typen auf ein bisschen Blech von den altmodischen Kutschen da draußen setzen und ziehen. Und dann let’s go, wenn wir da mit drei Mann und Super-Salami-Girl anpacken, haben wir da doch in maximal drei Tagen was brauchbares hingeschustert.“
Thia stierte ihn von der Seite her begriffsstutzig an. Ganz offensichtlich erschloss es sich ihr nicht, wen genau er mit Salami-Girl meinte oder was er damit sagen wollte.
„Na Super-Girl, weil Addy nix so schnell klein kriegt. Und Salami, wie wenn man-“
„Oh Gott, bitte. Bitte, lass es. Mach das nicht“, riet der Blonde ihm trocken und schlug gedanklich die Hände vors Gesicht, während Cameron mit einer Hand eine Fleischsäge auf seinem anderen Arm nachmachte und dabei mit dem Mund metallische Geräusche imitierte.
„Szoooom. Szoooom.“
„… findest du das witzig?“, giftete Thia ihn an und in ihren Augen glomm die Frage danach auf, wieso sie den Kerl eigentlich an ihr Höschen lies.
„Addy würd‘s witzig finden“, konterte er und schaute hilflos zu Matthew und Sky rüber, der desinteressiert mit den Schultern zuckte.
Matthew machte sich mit seiner Schnöselei zwar nicht unbedingt beliebt, aber immerhin lenkte er damit ein bisschen von Clarence‘ hilfloser Suche nach einem geeigneten Sitzplatz ab.
Wie ein verlassenes Küken steuerte der Blonde mal diesen und mal jenen Punkt im Raum an, auf der Suche nach Mama Huhn oder einem seiner zahlreichen Geschwisterchen - nur um festzustellen, dass kein Plätzchen das richtige war.
Es war ein irritierendes Schauspiel welches Cameron und Matthew nicht ganz entging - aber von Ersterem nur am Rande bemerkt wurde und daher unkommentiert blieb. Und Cassie tat gut daran dieses klägliche Herumgeirre nicht zu kommentieren.
„Der feine Monsieur Reed ist sich natürlich nicht zu schade.“, entgegnete Matthew seinem unverschämten Ehemann der seine erbarmungswürdige Platzsuche beendet und sich auf den Boden gesetzt hatte.
Er nahm die übrig gebliebene Tasse Kaffee, nahm einen Schluck und rümpfte kaum merklich die Nase.
Er hatte nicht mit Zucker im Kaffee gerechnet und war auch nicht positiv überrascht worden. Das Heißgetränk war pur - und damit nicht wirklich nach Matthews Geschmack. Aber wie so oft in seinem entbehrungsreichen Leben ertrug er auch diese Enttäuschung - die im wahrsten Sinne des Wortes bitter war - klaglos.
Beiläufig machte er ein paar Schritte auf Clarence zu und setzte sich schließlich neben ihn.
Nicht so dicht wie er es sonst tat, aber doch nah genug um zu demonstrieren, dass sie einander vertraut und Freunde waren.
Was folgte war ein kurzer Austausch zwischen Clarence und Cameron. Er fing harmlos an und kippte binnen weniger Sätze hin zu vollkommener Geschmacklosigkeit.
„Was zum Teufel…?“ entgegnete Matthew entgeistert und konnte gar nicht fassen, wie deplatziert der andere Dunkelhaarige war.
Es war nun nicht gerade so, als wären Adrianna und er beste Freunde oder stünden sich besonders nahe. Die Rothaarige redete nicht wirklich oft mit ihm, wenn sie es jedoch tat, so war sie ihm durchaus freundlich gesonnen und suggerierte, dass sie Matthew mochte. Ihr Verhältnis war weder eng noch kühl sondern basierte auf distanzierter Wertschätzung. Und wer die junge Frau besser kannte, der würde schnell merken, dass sie Matthew respektierte - und das war mehr als sie für so manch anderen übrig hatte.
Und was Matthew anging so respektierte er sie ebenfalls auf stille und unspektakuläre Art. Sie waren keine Freunde - dazu kannten sie einander zu wenig - trotzdem konnte Matthew über Barclays geschmacklose Bemerkung nicht lachen und der Bezeichnung Salami-Girl nichts abgewinnen.
„Sie hat den Arm nicht einfach vor Angst abgeworfen wie eine Eidechse, wahrscheinlich wäre so ziemlich jeder andere elendig gestorben. Salami Girl trifft also vielleicht nicht ganz den Kern dessen, was sie durchgemacht hat.“
Matthew würde in seinem ganzen Leben ihren Blick nicht vergessen als ihr klar geworden war, was als Nächstes passieren würde. Und ebensowenig würde er vergessen was er hatte tun müssen.
Und ihre Schreie auch nicht.
Schreckliche, furchtbare, elendige Schmerzensschreie.
Dass Adrianna noch lebte war alles andere als selbstverständlich und wie sie sich mit dem neuen Ist-Zustand arrangiert hatte, statt deprimiert in ein Loch der Verzweiflung zu fallen, war aller Ehren wert.
Sie hatte ihn damals angeleitet ihr den Unterarm abzutrennen um sie frei zu bekommen und eventuell vielleicht würde sie den Ausdruck Salami Girl wirklich witzig finden - aber er selbst fand ihn schrecklich deplatziert für die tapfere junge Frau.
Cameron indes zuckte die Schultern. „Hat sie erzählt wie’s passiert ist?“ wollte er wissen, setzte sich auf einen der Stühle und nahm einen Schluck Kaffee.
„Musste sie nicht. Ich hab’s gemacht. Sie war eingeklemmt und…“, Matthews Stimme brachte sein Unbehagen über das Ereignis zum Ausdruck und er schüttelte den Kopf.
„Den Rest erzählt sie dir wohl besser persönlich.“ -
„Alter Falter!“, rief Cameron überrascht aus und seine Augen leuchteten als habe er so eben einen kurzen Blick auf den heiligen Gral erhascht „Sky! Hast du gewusst, dass Reed aus so nem Holz geschnitzt ist? Du hast echt das Zeug zum Jäger.“ Cameron schien begeistert zu sein und das war wiederum nicht die Reaktion die Matthew erwartet hatte.
„Die Geschichte kannste auf keinen Fall für dich behalten. Erzähl!“, forderte Cameron ihn auf und schien nicht einen Moment lang daran zu zweifeln, dass der Augenblick für eine solche Erzählung gar nicht falsch sein konnte.
„Bitte nicht. Macht das unter euch, ich will’s nicht hören.“, vertrat Thia den gegenteiligen Standpunkt - und aus unerfindlichen Gründen hatte Cassie plötzlich nicht übel Lust jedes Detail von der Befreiungsaktion zu berichten. Und kurz, ganz kurz nur, zögerte er und wog tatsächlich ab.
Aber schließlich obsiegte die Vernunft und er schüttelte den Kopf, nahm noch einen Schluck vom Kaffee, unterdrückte ein Schaudern und antwortete schließlich:
„Wann anders vielleicht.“ - dass er damit Cameron nicht zufrieden stimmte war klar gewesen, aber der Dunkelhaarige nahm ihm seine Verschwiegenheit nicht übel.
„Na gut, is‘ vielleicht kein Thema für die Ohren einer Lady.“, zeigte er sich gnädig, obgleich Thia auf Cassie nicht wie eine solche wirkte. Aber egal.
„Aber später dann will ich die Geschichte hören. Wenn unter Jägern eins Tradition ist dann, dass man eine gute Geschichte niemals für sich behält.“ - und als könnte er von Clarence irgendwann und irgendwie doch nochmal Zustimmung erwarten, wandte er sich an ihn und fragte:
„Stimmt’s oder hab ich recht?“
Zum Glück wusste Clarence nichts von den eigentümlichen Vergleichen seines Mannes - denn ansonsten hätte er ihm mal gezeigt, wozu ein Küken mit scharfem Schnabel so alles in der Lage war.
Statt also einen offenen Kampf zwischen Stühlen auf Rollen, einem zerwühlten Bett und der verbliebenen Glut eines einstmals kleinen Feuers auszutragen, ertrug Clarence lieber schweigend den schwarzen Kaffee genau so, wie es auch jeder andere von ihnen tat. Den Luxus von Zucker, Milch oder Honig hatten sie schon vor einigen Wochen hinter sich gelassen und aus kollektiver Unzufriedenheit war damals in ihrer Gruppe irgendwann kollektive Gleichgültigkeit bezüglich des generellen Entsagens geworden. Etwas anderes blieb ihnen immerhin auch kaum übrig und der Blonde bezweifelte, dass es in dem Lager von Thia und Cameron anders vonstatten gegangen war.
Lautlos schwenkte er den Becher mit Kaffee zwischen seinen Händen, ganz so als könne das schwarze Gesöff dadurch irgendwie besser werden, und brummte verhalten auf Barclays Frage hin, ob er denn gewusst habe, aus welchem Stoff der Jüngere gemacht war. Clarence wusste da noch so einiges mehr über Matthew, weit über das Holz, aus dem er geschnitzt war, hinaus und er wurde den Teufel tun, seinem Clanbruder davon mehr zu erzählen als nötig. Es reichte ihm ein kurzer Blick in die Augen des jungen Mannes, der vor ihnen auf einem der beräderten Stühle saß, um darin das Feuer der Leidenschaft jetzt schon glimmen zu sehen.
Cameron war wirklich kein Typ Mensch, den man erst lange überzeugen musste, bis er von etwas begeistert war. Manchmal reichte schon ein kleiner Funke aus, um im Herzen des trainierten Dunkelhaarigen einen ganzen Waldbrand voller Leidenschaft zu entfachen, jedoch ohne ihn Fremden gegenüber unvorsichtig werden zu lassen. Doch Matthew Reed, das hatte man ihm von der ersten Sekunde an angemerkt, war ihm direkt ans Herz gewachsen und auch sein Argwohn gegenüber Fremden hatte sich augenblicklich in Luft aufgelöst - denn wem der sonst so schweigsame Schamane sein seltenes Vertrauen schenkte, der konnte auch für den Clan nur ein Freund und kein Feind sein.
Clarence wollte die Leidenschaft des anderen nicht mehr entfachen als nötig und auch wenn es ihm auf der Zunge lag, so konnte er die einzigartigen Vorzüge und Talente des Matthew Reed einfach nicht betonen. Ehe er sich versah, war Cassie überrumpelt und zu seinem Clanbruder geworden anstelle seines Ehemannes und wahrlich, von der ersteren Sorte hatte er wahrlich genug - doch von letzterem gab es eben nur einen einzigen und den wollte er eigentlich schon behalten, wenn möglich.
Nur allzu gerne hätte er Barclay erzählt aus welchem Material Adrianna gemacht war, die noch immer jeden Tag mit dem Erlebten konfrontiert wurde sobald sie auf den Stumpf hinab sah, wo einstmals ihre Hand und ihr Unterarm gewesen war. Manchmal, so kam es ihm jedenfalls vor, kochten in ihr die Emotionen auf, die sie seitdem mit eiserner Mine zu unterdrücken versuchte. Außer wegen der anfangs starken Schmerzen hatte sie danach keine einzige Träne mehr vergossen und selbst an den schlimmsten Tagen war sie nicht in Selbstmitleid verfallen, sondern hatte noch die Kraft gefunden ihren Unmut in Beleidigungen den anderen gegenüber zu kanalisieren. Sogar ein Constantin, der nicht gut mit Kritik umgehen konnte, hatte die Rothaarige keifen und gegen sich fluchen lassen - denn das alles war besser gewesen als der eigentümlichen jungen Frau das Gefühl zu geben, nun schwach oder bemitleidenswert zu sein. Auf ihre eigene Art kämpfte sie sich von Tag zu Tag und fuhr damit aktuell ganz gut, allen Hürden zum Trotz.
Doch weder Matthew, noch Thia lag daran über Addys Arm zu reden und der Blonde konnte das verstehen, denn auch er war ganz froh darüber, an ihrem Tag voller Zweisamkeit eigentlich nicht über Infektionen, Wundverbände oder Narben denken zu müssen. Doch ihre ursprünglichen Pläne waren genauso im Winde verwehrt wie die Asche des ausgebrannten Ungetüms und damit auch die kommenden Stunden die sie zu zweit hatten verbringen wollen, nun aber mit Cameron Barclay und seiner aktuellen Gespielin verlebten.
„Wann anders vielleicht“, vertröstete Matthew ihn indes und Claire konnte es sich nicht verkneifen, ein knappes „Eventuell vielleicht?“ nachzuschieben, während dem er seinen Mann kurz eindringlich musterte - immerhin gab es zwischen vielleicht und vielleicht mittlerweile ja einige, sehr klare Abstufungen zwischen ihnen.
Sein Schmunzeln hinter einem Schluck des Kaffees verdeckend, wurde ihm jede Freude nicht nur durch die Bitterkeit schnell wieder aus dem Gesicht gewaschen, sondern auch von Camerons Art nach seiner Zustimmung zu heischen.
„Stimmt auf jeden Fall. Da kann ich dir nur Recht geben, Barclay“, entgegnete er etwas zu enthusiastisch, wodurch Cam die Ironie an dem Ganzen nicht verborgen blieb.
Unzufrieden zog er eine Schnute, was darin endete, dass sie für einen Moment alle betreten an ihrem Kaffee nippten. Eine unangenehme Stille legte sich zwischen sie, so lange bis Thia sich schließlich räusperte und versuchte die angespannte Stimmung zwischen den drei Männern wieder etwas aufzulockern - auch wenn das schwer war, schienen die drei sich ja untereinander deutlich besser zu kennen als die Blonde den Rest von ihnen.
„Also, wie… öhm… was ist dann jetzt der Plan? Wie soll es jetzt weiter gehen?“
„Na wir trinken unseren Kaffee und dann…“ - „Nicht jetzt jetzt. Sondern jetzt generell“, unterbrach sie Cameron und begutachtete ihn eindringlich, immerhin hatte er bislang die Ideenschmiede voran und den Takt angegeben, obwohl ein Teil der Gruppe etwas ganz anderes gewollt hatte. Seitdem die zwei anderen Typen da waren, war seine vorlaute Ader für sie ungewohnt leise geworden, ein Zustand den sie so ganz offensichtlich nicht an Cameron kannte und der entweder damit zu tun haben musste, dass er nun nichts mehr zu sagen hatte oder eben damit, dass er bei seinen Freunden nicht den Takt angeben wollte.
„Naja, also ich war schon ein, zwei Mal mit den Jungs und Mädels hier. Damals, während du mit Nagi unterwegs warst-“ - „Wer ist Nagi?“, wollte Cynthia wissen, doch Cameron winkte ihr gegenüber ab und brachte sie damit schnell wieder zum Schweigen, damit er den Faden nicht verlor.
„Ich denk schon, dass ich zügig den Weg zurück nach Hause finde. Aber das wird zu Fuß schon ein paar Wochen dauern. Wir haben beobachtet, wie die Schwachmaten aus der Stadt vor ein paar Tagen eine kleine Gruppe Plünderer platt gemacht und von denen ein paar Pferde geklaut haben. Wenn sie die nicht gerade einkassiert haben um sie zu schlachten und zu essen, dann könnten wir damit deutlich mehr Strecke in kürzerer Zeit zurück legen, insofern wir Fersengeld geben, ohne vorher erschossen zu werden. Wir können in Falconry Hilfe holen, ein paar Planwägen und Rinder zum Ziehen für die Kinder und die Verletzten, Vorräte und Medikamente. Wir sind dann eine Weile unterwegs, aber wahrscheinlich schneller, als erstmal wochenlang Leuten aus irgendeinem Dorf auf dem Weg was abzuschwatzen“, schlug Cameron vor und man hörte ihm deutlich an, dass er sich schon länger Gedanken darüber gemacht hatte, wie es weiter gehen könnte.
Eventuell vielleicht lief dieser Tag überhaupt nicht wie beabsichtigt - und auch wenn das für sie beide nichts Neues war, so wünschte sich Matthew so sehr, dass es dieses Mal anders als sonst immer gelaufen wäre.
Das Cameron noch lebte war eine riesige positive Überraschung und zu erfahren, dass er eine ganze Gruppe weiterer Überlebender um sich geschart hatte war eine nicht minder gute Neuigkeit.
Aber egal wie eifrig Barclay versuchte die angeschlagene Stimmung aufzulockern, so richtig konnte es ihm nicht gelingen. Und davon mal ganz abgesehen hätte Matthew den Tag einfach wahnsinnig gern nur mit seinem Mann verbracht.
Matthew, der das freche Schmunzeln von Clarence genau gesehen hatte ehe dieser es hinter einem Schluck Kaffee verbergen konnte, richtete den Blick auf das kleine Lagerfeuer vor sich. Die Flammen züngelten in einem sich niemals wiederholendem Rhythmus. So wie Wasser nie gleich dahinfloss, so war auch das Feuer unbeständig und unvorhersehbar. Leise knackte das Holz wenn es aufriss und zum Opfer der Hitze wurde.
Den Flammen zuzusehen hatte etwas beruhigendes an sich, beinah schon etwas meditatives.
Bis zu dem Moment als Ceyda wieder in Matthews Sinn kam und er daran dachte zu was sie geworden war.
Und daran was mit dem Ding passiert war. Die gepanzerte Hülle der Kreatur hatte ähnlich geknackt und gezischt wie es nun das Holz tat, nur viel lauter… und plötzlich wurde Matthew bei dem Gedanken übel.
Er stellte den Kaffee zur Seite, lehnte den Oberkörper nach hinten und stützte sich mit ausgestreckten Armen hinter sich ab, unauffällig Distanz zwischen sich und dem Feuer schaffend, welches so hässliche Assoziationen geweckt hatte.
Cynthias Frage nach dem weiteren Plan schaffte willkommene Ablenkung und Cassie sah sie über die Flammen hinweg an.
Cameron ließ durchblicken, dass er sich sowohl in der Stadt auskannte als auch den Weg zurück zum Clan schnell finden würde und wischte während seiner Erzählung Cynthias Frage mit einer saloppen Handbewegung weg, die so beiläufig und gleichzeitig vernichtend war, dass Matthew sich ein Kichern nur gerade so verkneifen konnte.
Er drehte den Kopf zur Seite, tat so als fordere einer der Hunde seine Aufmerksamkeit und blickte erst wieder zu den anderen beiden, als jeder Anflug von Erheiterung über die Situation von seinem Gesicht verschwunden war.
Und Cameron’s Plan sorgte ohnehin dafür, dass die unangebrachte Albernheit schnell Geschichte war.
„Von wie vielen Schwachmaten reden wir hier? Was schätzt du?“, erkundigte sich Matthew, der den potentiellen Mehrwert dieser Idee sofort erkannte.
Und auch dessen Risiken.
„Ist schwer zu sagen.“, Cameron hob die Schultern und wog ab. „Man sieht nie alle, weil sie sich versteckt halten und nie direkt angreifen, aber ich schätze vierzig, fünfzig Mann. Vielleicht sechzig. Insgesamt.“
„Ihr seid doch irre.“, kommentierte Thia gallig und erntete nur einen knappen Blick von Matthew, ehe er wieder Cameron fixierte.
„Und diese Gruppe die sich die Pferde geschnappt hat?“ - hakte er nach ohne auf Thia einzugehen.
„Waren fünf Mann, die haben die Plünderer abgeknallt wie räudige Hunde. Drei Pferde sind abgehauen, zwei konnten sie einfangen. Was mit den anderen ist, kein Plan.“
Einen Moment füllte Stille den Raum, dann machte Matthew nachdenklich „Hmmm“ und wechselte schließlich unvermittelt das Thema.
„Leute, ich muss mich waschen. Ich hab das Gefühl ich rieche nach…“ - „Geröstetem Tintenfisch?“ , fiel Cameron ihm ins Wort und Matthew machte mit der Hand eine kippende Geste. „Das war nicht ganz die Beschreibung die mir auf der Zunge gelegen hat, aber okay.“
Die Sache mit Ceyda hatte nichts Spaßiges für ihn - aber anders als Cameron hatte er die junge Frau ja auch gekannt.
„Sky! Wir müssen unbedingt noch drüber reden was das Viech gegrillt hat. Sowas abgefahrenes hab ich in der Form noch nie gesehen. Irgendwelche Theorien was da gelaufen ist?“
Matthew sah nun ebenfalls fragend zu Clarence, sein Vorhaben sich frisch zu machen offensichtlich verschiebend.
Wie so oft wenn er von Cameron etwas gefragt wurde, machte Clarence zunächst jedoch nicht den Eindruck als würde er überhaupt antworten. Aber schließlich tat er es doch und obgleich Matthew nicht verstand warum so wusste er fast augenblicklich, dass er Cameron anlog.
Es fiel der Name Anthony Kilgore - ein Alter Ego das sie bereits in Rio Nosalida gebraucht hatten und von dem Clarence spezielle Munition erworben hatte die ihnen heute zum Sieg verholfen hatte.
Nichts davon stimmte, aber genau das erzählte Clarence den anderen. Warum… das verstand Matthew nicht, aber er verstand, dass er nun besser nichts Gegenteiliges verlauten lassen sollte. Und nachhaken sollte er besser auch nicht.
Also nickte er, machte ein ernstes Gesicht und lauschte auf die nachdenklichen Worte von Cameron, der ganz eigene Schlüsse aus dem Gesagten zog.
„Dann war es Bann-Munition? Man, das ist was besonderes. Hast du noch mehr davon? Hab noch nie gesehen, dass eine so stark ist.“
Matt, der genug gehört hatte von den absurden Ausreden klopfte sich schließlich mit den Händen flach auf die Oberschenkel und stand auf.
„Ich muss wirklich… also ich muss mich waschen.“ - „Hey, wenn du jemanden brauchst der sich die Schrammen ansieht, ich komm gern mit.“
Dieses Angebot des Dunkelhaarigen ließ Cassiel kurz aber ehrlich auflachen, er rappelte sich auf und schüttelte den Kopf. „Ich zeig meine Schrammen doch nicht jedem.“
- „Sorry wenn dir das zu schnell geht mit der Brüderlichkeit, aber du bist schon so gut wie Teil der Familie.“, attestierte ihm Cameron und prostete ihm mit der Kaffeetasse zu.
„Das geht schnell bei euch. Müsst ja ein verzweifelter Haufen sein.“ , zog Matthew ihn auf, was der Andere mit einem amüsierten Schnauben quittierte.
„Sind wir. Bild dir bloß nichts drauf ein, Reed.“ - konterte Barclay trocken und es schien, als könne dieses Geplänkel zwischen ihnen noch ewig weitergehen.
„Vielleicht bleib ich besser freiwillig in der Stadt. Mal sehen… Bei den Aussichten. Gibts hier eigentlich ein nutzbares Badezimmer? “ - „Durch die Tür, den Gang runter, vorletzte Tür links. Die Zimmer davor sind vorbereitet, für den Fall das… naja für diesen Fall jetzt. Falls ihr euch ausruhen wollt.“, erwiderte Cythia prompt - ein bisschen zu prompt als es nett gewesen wäre… Aber das war Matthew ziemlich egal. Sie war schließlich Cameron’s Häschen.
„Yeah… vielleicht keine schlechte Idee.“ und das musste man der Blonden lassen: die Idee war wirklich nicht übel.
Egal was er in vielen anderen Bereichen von Cameron Barclay hielt, aber neben seinen vielen charakterlichen Schwächen hatte der Typ auch starke Talente, die Clarence ihm nicht absprechen konnte. Er war ein Kerl auf den man sich verlassen konnte und der seine Versprechen hielt - selbst dann, wenn er einen nicht mochte. Er schmiedete gute Pläne, hielt daran fest wenn es richtig war diese trotz Hürden zu verfolgen, doch wusste auch von seinen Ansichten abzuweichen, wenn andere Menschen ihm ins Gewissen redeten und Schwachpunkte in seiner Taktik aufdeckten. Barclay redete viel und wirkte im Gespräch flapsig, plapperte bevor er nachdachte und manchmal verletzte er dabei Leute, ohne es zu wollen; doch statt sich unnötig für etwas zu entschuldigen das er auch so gemeint hatte, stand er dabei seinen Mann, ohne noch weiter in die gleiche Kerbe zu schlagen.
Und er beobachtete Dinge. Nicht etwa, weil er dafür ein besonderes Gespür besaß wie Clarence oder dazu ausgebildet worden war wie Matthew, sondern weil es ihm einfach vor die Füße fiel oder er in Situationen hinein stolperte, wie etwa den Klau der Pferde zum Beispiel.
Er schätzte seine eigene Lage in der Regel mit vernichtender Genauigkeit ein und wenn Barclay sagte, dass es etwa fünf Duzend Leute waren die diese Stadt ihr Eigen nannten, dann hatte der Blonde keinen Grund daran zu zweifeln oder es besser zu wissen. Und wenn Cameron Barclay auf den Trichter kam, dass mit der Vernichtung des Dings, das früher Ceyda gewesen war, irgendetwas nicht richtig war… dann würde er aufgrund seines Riechers wissen, dass er auch damit Recht hatte. Selbst dann, wenn dem keine handfesten Beweise zugrunde lagen.
Die Finte, die Clarence dem anderen vorlog, kam ihm mit einer Selbstverständlichkeit über die Lippen, dass es weder Cameron zum stocken brachte, noch Thia zum zweifeln. Zu ihrem Glück war Reed nicht auf den Kopf gefallen und natürlich nickte er aus das Gesagte hin ernst, immerhin war er damals ja dabei gewesen, als sie die besondere Bann-Kugel zum Dank für ihre Mühen erhalten hatten. Der andere Dunkelhaarige fragte nicht danach, doch hätte er es getan, so wäre ihm die sehr knappe aber genug detaillierte Geschichte nicht erspart geblieben, wie Anthony Kilgore, seines Zeichens Büchsenmacher und Munitionsproduzent, von manchen Kunden verprellt und auf den Kosten seines Schaffens sitzen geblieben war. Da sie im Einzugsgebiet von Coral Valley gewesen waren, hatten sie ihrer Tätigkeit als Jäger natürlich nicht nachkommen dürfen - aber Aufträge als Kopfgeldjäger annehmen, dagegen konnte kaum jemand etwas sagen. Es hatte sie einige Tage gekostet, bis sie die fehlenden Schulden eingetrieben hatten - teilweise mit Gewalt, teilweise auch nur durch ihre bloße Anwesenheit - aber schließlich war Kilgore an seine Bezahlung gekommen und sie beide dadurch zu einem anständigen Stapel Silberlinge, gekrönt durch diese eine ganz besondere Kugel, die Kilgore Clarence in Anbetracht seiner eigentlichen Tätigkeit vermacht hatte.
Aber Cameron fragte nicht. Nicht etwa, weil es ihn nicht interessierte - sondern weil der Schamane ihm mit der Art seiner Erzählung keinen Grund gegeben hatte, auch nur ein einziges Wort der Geschichte anzuzweifeln.
Es gab eben auch brauchbare Fähigkeiten, die sein einstiger Lehrmeister dem Blonden über Jahre hinweg eingebrannt hatte.
Beinahe desinteressiert legte er sein Schweigen zurück über seinen Kaffeebecher und damit eine Stille in der sich widerspiegelte, dass eine derart mächtige Munition als Entlohnung für seine Fähigkeiten mehr als angemessen war. Er konnte Camerons Blick noch für den Bruchteil einer Sekunde auf sich spüren; es war ein kurzer Moment nur, doch ausreichend genug damit er den Köder schluckte und die Munition interessanter wurde als das verbrannte Ungetüm an sich, das konnte Clarence deutlich spüren.
Eventuell vielleicht kam er heute also wenigstens bei Cameron damit durch, ganz sicher aber nicht bei seinem Ehemann, der alles andere als blöd war sondern sogar schlau genug, um nicht hier vor Ort darauf einzugehen.
Widerwillig versuchte er Cassies Aufbruch nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken als nötig - immerhin wäre es schon ein wenig seltsam, sich übermäßig für die Körperhygiene eines Freundes zu interessieren - und nickte ihm verabschiedend zu, während das Geplänkel zwischen den beiden Dunkelhaarigen endlich ein Ende nahm.
Wüsste er es nicht besser, er hätte schwören können, dass die beiden sich schon seit einer halben Ewigkeit kannten und wenn er nicht so ein Vertrauen in seinen Mann hätte… hätte er sich vielleicht sogar fragen müssen warum sich Barclay so sehr für die Schrammen seines Partners interessierte, ganz als wäre das ein Codewort für irgendwas.
Cameron und Cassie, das Dreamteam, das über alle Landesgrenzen hinaus bekannt war, ging ihm schon jetzt unheimlich auf den Keks und selbst die Aussicht auf Cynthia als Puffer zwischen Cameron und seinem Mann konnte ihn da nicht aufheitern.
„Ich hab mir den Tag irgendwie anders vorgestellt…“, murmelte Clarence verdrießlich in seinen Kaffee und nahm noch einen Schluck, im Anschluss den Becher rhythmisch schwenkend und dem Kaffeesatz beim Umherwirbeln zusehend, als könne er daraus eine glücklichere Zukunft lesen,
„Ich mir auch! Ich dachte das wird wieder einer dieser Tage an dem wir rum rennen und Ausschau halten, ohne auch nur ein Quäntchen Erfolg. Hab schon gedacht, bald werd ich wahnsinnig wie dieser irre George, den wir-“ - „Den wir damals auf der Jefferson-Farm abgeknallt haben?“
Der andere lachte herzlich auf, mit einer Energie nickend die besagte, dass Barclay sich daran noch ganz genau erinnern konnte.
„Ja… der war wirklich irre“, musste Claire ihm zustimmen und schüttelte amüsiert den Kopf, bevor er den letzten Schluck Kaffee austrank. Was am Boden seines Bechers zurück blieb, war kein Kaffeesatzbildnis, sondern ein einfacher schwarzer Klumpen - der vermutlich nachträglich das Verbrennen der Überreste des Monsters vorhersagte, nur eben etwa ein bis zwei Stunden zu spät.
„Ich glaube, ein bisschen frisch machen ist keine schlechte Idee. Ich riesle Staub in den Kaffee und das Vieh hat mich unter einen von diesen Metallkadavern gezogen, wer weiß was ich mir da eingefangen hab.“ Wundstarrkrampf war das Letzte, was sie hier gebrauchen konnten.
„Ja, ihr seht beide nicht gerade tageslichttauglich aus“, attestierte Thia ihm ungefragt und für einen Moment fragte sich Claire warum Cassie die nicht mochte, immerhin konnte sein Mann zuweilen genau so ein verbaler Rüpel sein wie die Freundin von Barclay auch.
Klappernd stellte er den Becher neben sich auf dem Boden ab und rappelte sich auf, nach seinem Rucksack greifend, in dem seine Sachen und ein paar Klamotten zum Wechseln für sie beide waren.
„Soll ich bei dir was verarzten?“, bot Cam ihm an - und auf wenig charmante Weise zeigte Clarence ihm alleine für den dämlichen Gedanken schon einen Vogel, ohne sonst weiter auf das Angebot einzugehen.
Mit einem kurzen Pfiff erhoben sich Abel und Kain flugs vom Feuer, folgten ihm auf dem Fuß und huschten durch die Tür, die Clarence ihnen aufhielt. Die beiden Hunde brauchten die Wärme als Abkömmlinge von Mutter aus das ewige Eis weit weniger, als Cassie und er ein wenig Privatsphäre nötig hatten und mit zwei einfachen Handbewegungen hatte Clarence sie bereits vor die vorletzte Tür am Ende des Flurs dirigiert, wo sie artig liegen blieben - in der Hoffnung, dass auf diese Weise weder Thia sie stören, noch Cameron nach ihren zahlreichen Schrammen schauen würde.
Auf das schlimmste gefasst was ein Bad so bieten konnte, klopfte er vorsichtig an bevor er eintrat, einer Angewohnheit folgend, die er selbst während ihrer Zeit auf der Harper Cordelia niemals abgelegt hatte. Was ihn hinter der Tür erwartete, erstaunte ihn dann aber doch ungemein; denn entgegen dessen, was er von Barclay und dessen fehlendem Ordnungssinn gewohnt war, sah es hier einigermaßen in Ordnung aus. Hier war eindeutig die Handschrift einer Frau zu erkennen.
Das Bad, klein und überschaubar, spiegelte in etwa das wider, was man bei den dürftigen Arbeiterunterkünften erwartet hatte. Irgendwie hatten die beiden es geschafft, den Dreck der vergangenen Jahrhunderte von den wichtigsten Oberflächen und dem Boden zu kratzen und die kleine Kabine, die sie alle bei den Häusern hier schnell als Dusche erkannt hatten, war mit dem Schutt aufgefüllt worden, damit der Dreck nicht weiter durch die Gegend flog.
Trotz Eis und Schnee draußen vor den Fenstern war es erstaunlich warm in dem kleinen Raum und als er sich kurz umsah konnte er erkennen, was Thia und Cam zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens alles fabriziert hatten.
Unter der Wanne, einstmals eingelassen und mit Fliesen bedeckt, hatten sie die Kacheln heraus geschlagen und zum Großteil entfernt, um den Boden der Wanne und das Gestell freizulegen. Darunter glomm noch immer eine Handvoll Glut, die den kleinen Raum zweifelsohne bis jetzt warm gehalten hatte und die die beiden mit etwas Holz aus der anderen Ecke des Raums angefeuert hatten, um sich Badewasser unkompliziert zu erwärmen. Die Rohre, die auch bei ihren eigenen Unterschlüpfen schon alle längst verstopft waren, hatten sie unter der Wanne heraus gebrochen um einen Abfluss zu schaffen und ein kleines Becken, das vor dem Fenster zum Abtropfen stand, diente wohl um sowohl Schmutzwasser aufzufangen, als auch um Schnee einfach und Effektiv von dem Flachdach vor den Fenstern in die Wanne zum Erhitzen zu befördern.
Auf den Fensterbänken des Badezimmers standen vereinzelt ein paar Kerzen - geziert von den Wappen der Zeppelinwerft und damit traurige Überreste eines einstmals imposanten Luftschiffs, das heute schon lange nicht mehr war. Dazwischen fanden sich Reste von Seifenstückchen, ein wertvolles Gut das sich bei ihnen in der Gruppe weitestgehend aufgebraucht hatte und weiter hinten ein Stapel Lumpen zum Abtrocknen, die alles andere als schön aussahen, aber dafür wenigstens abgekocht und sauber wirkten. Alles in allem nicht gerade gemacht für eine größere Menge Menschen, aber einladend genug, um sich gesucht und hier willkommen zu fühlen.
„Dass ich sowas wie Seife und Kerzen dieses Jahr noch mal wiedersehe, hätte ich nicht gedacht“, sprach Clarence den ersten Gedanken der ihm in den Sinn kam laut aus und ließ den Rucksack von der Schulter gleiten, um sich besser zu orientieren. Der Jüngere hatte sich bereits der Jacke und seines Pullovers entledigt und hatte damit, ob gewollt oder ungewollt, genug von sich freigelegt, damit sein Ehemann wachsam den Blick auf ihn richten und nach eben jenen Schrammen absuchen konnte, die Cameron absolut nichts angingen.
„Oder dass wir noch mal jemanden anderen zu Gesicht bekommen außer Constantin und Jeremy. Die Kinder gehen wahrscheinlich an die Decke, wenn sie das erfahren.“
Der ganze gemeinsame Weg bis hierher war ihnen allen Abenteuer genug gewesen, aber gerade die Kinder, die versuchen mussten mit der Situation klar zu kommen, versuchten auch positive Aspekte in allem zu finden. Erkundungstouren und Jagdausflüge machte man in der Metropole nicht alle Tage, von Waffentraining ganz zu schweigen. Weitere Überlebende und das Zusammentreffen auf eine zweite Gruppe würde für die drei Knirpse vermutlich sein wie Friedenstag und Sommerbeginn an einem Tag und Claire wollte schon jetzt nicht derjenige sein, der Zoes und Gabes gute Laune ausbadete.
„Tut dir was weh oder soll ich dir doch lieber Barclay holen, um dich zu verarzten? Ich will dich keinesfalls von dem Wiedersehen mit deinem alten Freund abhalten, wenn dir der lieber ist als ich.“
Von allen Menschen die Matthew kannte - und er kannte eine verdammte Menge - war Clarence der einzige Mensch dem er blind vertraute.
Und er war auch der Mensch, den Matthew von allen für den besten hielt.
Dabei war noch nicht einmal Clarence unfehlbar aber wenn er Fehler machte, so trug Matthew sie mit. Immer in dem Wissen, dass er nie von der Seite seines Mannes weichen würde, selbst dann nicht sollte er mal im Unrecht sein.
Sie waren nicht nur irgendein Team, sie waren das Team und auch wenn der Blonde anderes denken mochte, so bestand für ihn keinerlei Grund seinen Wert für Matthew gefährdet zu sehen.
Wegen nichts und niemandem und auch nicht wegen Cameron Barclay.
Clarence‘ Entscheidung ihm zu trauen war es, die überhaupt möglich machte, dass Matthew und Cameron derart entspannt miteinander umgingen wie sie es taten - was aber noch lange nicht hieß, dass Matthew dem Kerl vertraute. Er mochte ihn irgendwie, fand ihn sympathisch und verstand sich aus unerfindlichen Gründen echt gut mit ihm - aber waren sie deshalb gleich Freunde?
Nein. Denn mit Matthews Freundschaft war es so eine Sache… selbige zu gewinnen brauchte Zeit und die richtigen Umstände.
Dementsprechend unnötig war die Stichelei seitens des Blonden, der schließlich zu ihm in das kleine Badezimmer kam, zweifellos um nachzusehen wie es ihm ging.
Der Raum hatte zwei kleine, untereinander liegende Fenster, beide waren geschlossen aber die Scheiben sauber, wodurch das Tageslicht ungefiltert hineinscheinen konnte. Der Spiegel an der gefliesten Wand offenbarte ein wenig ansprechendes Bild von Cassiel - da half auch der Nippes nicht weiter, der auf einem Regal unterhalb aufgereiht war.
Kerzen, Flakons, eine künstliche Muschel.
Alles war von Staub und Dreck befreit worden. Alles außer sie beide, obgleich Matthew sich schon das Gesicht gewaschen und es vom gröbsten Dreck befreit hatte.
Trostlos blickte der Jüngere in den Spiegel und beobachtete über diesen wie Clarence ihn beobachtete.
Und allein dieses Bild verriet alles über ihre Beziehung - in der sie sich immer mehr umeinander sorgten, als um sich selbst. Es war, als könnte keine eigene Verletzung schwer genug sein um nicht doch das Augenmerk auf den anderen zu legen.
Matthew brauchte sich nicht zu dem Größeren umzudrehen um zu wissen, dass dieser gekommen war weil er um ihn besorgt war und er selbst wiederum war besorgt um Clarence.
„Mir tut alles weh.“, erwiderte der Dunkelhaarige kurz und knapp und frei heraus.
Ceyda - oder besser das Ding zu dem die junge Frau geworden war - hatte ihn mehrfach gepackt und weggeworfen wie eine Puppe, was ihm bis dahin noch nicht an Knochen wehgetan hatte, tat ihm seither weh - aber gegen so etwas konnte noch nicht einmal der Bär von Mann etwas ausrichten.
„Hab kaum Schrammen die sich Cameron ansehen könnte. Wollte mich deshalb nicht vor ihm blamieren. Darum musst du den Job machen.“ - Matthews Tonfall klang beiläufig und wer ihn nicht kannte, der hätte Schwierigkeiten damit gehabt den Sarkasmus als das zu erkennen was er war.
So richtig nach Witzeleien war ihm jedoch ohnehin nicht, was man ihm ansehen konnte, wenn man denn genauer hinsah. Das zurückliegende Ereignis hatte Spuren hinterlassen - aber ausgerechnet das Fehlen selbiger war einer der Punkte, die den Dunkelhaarigen überforderten.
Geröll und Scherben hatten kleinere Abschürfungen und oberflächliche Schnitte auf seiner Haut verursacht. Er hatte zwei Platzwunden an den Augenbrauen und eine Schramme über der Nase. Nichts besonders tiefes.
Darüber hinaus fehlte ihm auf den ersten Blick nichts. Morgen würden den bestehenden Hämatomen sicher neue hinzugefügt sein - aber neue Knochenbrüche hatte er nicht erlitten. Was in ihrer Lage wahrscheinlich schon als glückliches Ereignis galt.
Matthew senkte schließlich den Blick und nestelte an seinem Unterhemd herum, eine nervöse Geste der Anspannung. „Wie sieht’s bei dir aus, hm? Bist du okay?“
Erst jetzt drehte er sich zu Clarence herum, nicht länger willens diese komische Stimmung aufrechtzuerhalten.
Clarence‘ Gesicht war staubig und auch er hatte ein paar Schrammen und Kratzer abgekriegt.
„Komm… Wasch dir das Gesicht, zieh dich aus und lass mich dich ansehen.“
Er trat vom Spiegel und Waschbecken weg und setzte sich auf den Rand der Badewanne während er Clarence beobachtete. Einander die Wunden zu versorgen und aufzupassen, dass der Andere sich nicht übernahm war etwas, dass sie schon eine halbe Ewigkeit füreinander taten und wofür sie noch nie einen Cameron Barclay oder irgendwen sonst gebraucht hatten.
Aufmerksam sah Matthew dabei zu, wie der Größere nach und nach seine Sachen ablegte und dabei den Tribut des letzten Kampfes offenbarte.
Eine Wunde an seiner Flanke war besonders augenfällig und Cassie biss angespannt die Zähne aufeinander.
Schon auf den ersten Blick war ihm klar, dass die Verletzung nicht ernst war - aber allein ihre Existenz war schon schlimm genug.
„Seit wir in Rio Nosalida angelegt haben, ist nur Scheiße passiert.“, kommentierte Matthew und klang dabei resigniert und wütend zu gleich, ihre Lage treffend zusammenfassend.
„Ich frage mich langsam ob es je wieder besser läuft. Mal eine Woche ohne… irgendwelche Schrammen, Kämpfe auf Leben und Tod und Katastrophen.“
Er erhob sich von seinem Platz, ging zum Waschbecken und benetzte einen sauberen Lappen mit etwas warmen, abgekochten Wasser.
Ungefragt - aber eingespielt - ging Matthew vor dem Blonden in die Hocke und tupfte vorsichtig das Blut von seiner Flanke. Obgleich es keine besonders tiefe Wunde war achtete er penibel darauf behutsam vorzugehen.
Immer wieder wusch er den Lappen zwischendurch aus, wischte Blut und Schmutz von der umliegenden Haut und betrachtete sich die Verletzung sehr genau.
„Sieht eigentlich ganz gut aus.“ - attestierte er und blickte von unten zu Clarence auf.
Er würde trotzdem nicht darauf verzichten die Wunde mit Alkohol zu desinfizieren aber zumindest musste sie nicht genäht werden.
„Warum hast du…gelogen?“, wollte Matthew unvermittelt wissen. „Anthony Kilgore, hm?“
Er wusste schon jetzt, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde. Aber seit sie Ceyda auf der Kreuzung getroffen hatten gefiel ihm so einiges nicht mehr.
Ihm gefiel nicht, dass das Ceyda-Ding ihn immer wieder gefragt hatte wer er war, ihm gefiel nicht, dass die Kreatur verbrannt war als er die Barriere berührt hatte, ihm gefiel nicht, dass weder sein Finger - von dem vorhin noch Blut getropft war, noch sein Arm - durch den höllische Schmerzen geschossen waren - irgendwie verletzt aussahen oder sich danach anfühlten.
Und dann noch die Lüge von Clarence.
Irgendetwas stimmte nicht. Matthew wusste nicht was, aber er wusste genug um Angst vor der Antwort des Blonden zu haben.
Es war ein trostloser Anblick in das kleine Badezimmer zu kommen und hinter der geschlossenen Tür einen Moment zu verharren.
Mit so viel Aufmerksamkeit und zweifelsohne Mühe hatte man versucht den Raum zu reinigen und trotzdem konnte aller Glanz nicht das Geröll überdecken, das in der Dusche und in den Ecken des Raumes lag. Durch die Fenster, von der Patina der letzten Jahrhunderte befreit, fielen fahlen Sonnenstrahlen ins Badezimmer und machten die vielen kleinen Staubkörnchen sichtbar, die noch vor zweihundert Jahren teils des Interieurs gewesen waren, bevor sie sich langsam abgelöst hatten.
Und in mitten dieses Schauspiels war er, sein Mann, und schaute ihn durch die Reflexion des Spiegels an als wäre er das einzige, das inmitten dieser geisterhaften Millionenstadt voller alter Relikte einen Wert für ihn hatte.
Die räumliche Distanz zwischen ihnen hatte sich mit einer seltsamen Stille gefüllt und Clarence erkannte im Spiegel wie müde und erschöpft Cassie aussah, während er an seinem Hemd herum nestelte. Er mochte vor der Welt, vor Cameron und vor Thia durch laute Sprüche und lustige Witze überspielen können wie es ihm in Wahrheit ging - aber das gleiche hatte er noch nie bei seinem blonden Gefährten geschafft, der selbst aus Matthews seltener Stille mehr über den Jüngeren lesen konnte, als Barclay es jemals in hunderten Stunden des Gesprächs erfahren würde.
Sein Gesicht drückte eine eigentümliche Besorgnis aus und obwohl er kein Wort darüber verriet, erkannte Claire die kleine Sorgenfalte zwischen Matthews Brauen, die sein Taugenichts erst wenige Monate vor ihrer Hochzeit entwickelt hatte. Wann immer er um den Bären besorgt war, zeigte sie sich so deutlich wie ein Gewittersturm über dem offenen Meer und sie war deutlich tiefer geworden mit dem Absturz des Zeppelins, wo jeder Ausflug in die Geisterstadt in einer Katastrophe enden konnte, wenn man es nicht vor Einbruch der Nacht zurück schaffte.
„Mir tut auch alles weh“, stimmte er in das triste Wehklagen seines Mannes ein und ließ dabei den Blick über Matthews entkleidete Arme und sein Leibchen gleiten, um es nach etwaigen Blutflecken abzusuchen, die Wunden vor ihm verbargen. Nicht mal Schmerzen oder Cassies sarkastisches Geplapper würden ihn je davon ablenken können, sich um seinen Partner mehr zu sorgen als um sich selbst.
Selbst ihr eingespieltes Ritual des gegenseitigen Versorgens war Zeugnis dessen, auf welch abstruse Art sie einander hegten und pflegten: Der eine schaute dem anderen wachsam zu, wie er sich entkleidete - ganz so als könne jemand von ihnen es wagen ansonsten heimlich irgendwelche Wunden zu verstecken, nur um einander keine Sorgen zu bereiten.
„Früher hast du sowas zu mir gesagt, als wir auf dem Boot und frisch verheiratet waren. So ändern sich die Zeiten“, entgegnete er knapp, als sein Mann etwas von Gesicht waschen, sich ausziehen und ihn dann ansehen erzählte. Wahrlich, ihre Art miteinander zu reden hatte sich kaum verändert, die Umstände und Beweggründe dafür umso mehr.
Obwohl zwischen ihrer Zeit auf dem Boot und dem Hier und Jetzt nur wenige Wochen lagen, wirkte es wie eine halbe Ewigkeit. Er wusste nicht wie es Matthew ging, aber er selbst fühlte sich zudem um Jahre gealtert und nicht mal mehr halb so agil wie in der Zeit an Deck, wo er sich nackt den Rücken gebräunt und sich frisches Obst von einem Verkaufsstand eines kleinen Dorfes am Strand einverleibt hatte.
Er konnte mit Nahrungsknappheit umgehen, widerstand Hunger genauso wie Schlafmangel und konnte stoisch sein wenn es darum ging schlechte Zeiten auszuhalten - vom Dickkopf des Blonden konnte sein Mann ein lauteres Lied singen als er selbst. Doch diese elende Kälte, der andauernd Schnee und die fehlende Aussicht auf auch nur eine einzige Stunde Privatsphäre an einem warmen, sauberen Ort waren es, die selbst den Jäger nach und nach zermürbten.
Einen Arm überstreckt - damit Cassie an seine Flanke und damit nicht auf die Idee kam, der Bär versuche etwas vor ihm zu verstecken - nahm er mit der freien Hand einen zweiten Lappen herbei und versuchte sich damit vom gröbsten Schmutz zu befreien. Sich dabei selbst im Spiegel ins staubgekleidete, müde Antlitz starren zu müssen, glich dabei einer schlimmeren Strafe als Barclay von den Toten auferstehen zu sehen.
„Mh. Genug Scheiße ist auch vorher passiert, damit hat Rio Nosalida nichts zu tun. Ich sag nur… Cascade Hill, Spinnen… und mein persönlicher all time favorite: Schnee überm Devils Teeth. Ich schwöre dir, das ist dieser-“
Scharf sog er Luft ein, als Cassie ein weiteres Mal mit dem Lappen durch die Wunde an seiner Flanke fuhr und biss für einen Augenblick die Zähne zusammen. Schon jetzt überlegte er sich heimlich eine gute Ausrede, warum Matthew nicht noch mal mit Alkohol da durch gehen sollte, aber sein Mann war nur selten mit triftigen Argumenten ruhig zu stellen.
„…das ist dieser vermaledeite Winter. Frag diese Thia mal, sicher war beim Zeppelin irgendwas eingefroren und nur deshalb ist der Vogel runter gegangen. Dafür leg ich meine Hand ins Feuer.“ Dafür - und natürlich um sich zu wärmen, denn der Kampf im tiefsten Schnee hatte ihn ausgekühlt bis auf die Knochen.
Brummend wrang er den Lappen in einer zweiten Schüssel Wasser aus und fuhr sich im Anschluss damit durch den Bart, entwirrte die gröbsten Knoten und trug den Staub der letzten Jahrhunderte aus seinen Haaren, um sich einigermaßen tageslichttauglich zu machen. Dass Cassie wissen wollte, was es mit seinem Konter kurz zuvor gegenüber Cameron auf sich hatte, war nur eine Frage der Zeit und der Zweisamkeit gewesen und ließ wie erwartet nicht lange genug auf sich warten, um sich eine ähnlich gute Ausrede zu überlegen wie bei der Desinfektion seiner Wunden mit Alkohol.
„Wer sagt, dass das gelogen war? Vielleicht kenne ich ja wirklich einen Anthony Kilgore, der Munition verkauft. Willst du behaupten, auf mein Wort sei nicht Verlass? Das schadet meinem guten Ruf, Cassie. Reiß dich mal etwas zusammen“, wies er seinen Mann zurecht um die ernste Situation mit ein wenig Humor aufzulockern. Doch die ganze Lage an sich war vielleicht etwas zu vertrackt, um aktuell schon Scherze darüber machen zu können.
„Sieh mich an“, bat er ihn stattdessen schließlich, nahm Matthew seinen Lappen aus der Hand und warf ihn ins Wasser zurück.
Vorsichtig kämmte er mit den Fingern durch das dunkle Haar seines Mannes, versuchte dessen Haupt ein wenig vom Dreck zu befreien und ließ es am Ende doch wieder bleiben da er einsehen musste, dass es ein Kampf gegen Windmühlen war.
Für einen Moment schweigend, legte er sein Augenmerk auf die Platzwunden an den dunklen Brauen. Seine Hand ruhte noch immer im Haar des Jüngeren und hielt die fremde Stirn leicht zu sich hinauf gewandt um ihn besser betrachten zu können - ein Ausblick der ihm heute so gar nicht recht gefallen wollte, denn bis vor ein paar Stunden war Cassie noch unversehrt und fröhlich gewesen. Sie hatten im Schnee gelegen, gelacht und sich geküsst… und nun blutete sein Mann und sah aus traurigen Augen auf eine Weise zu ihm empor, die dem Bären einfach nicht gefallen wollte.
„Ich weiß nicht, von was Ceyda besessen war. Aber sie war es, das weiß ich“, fasste er die wenigen Fakten zusammen, die er klar benennen konnte.
„Es ist aber nicht normal, zu was sie geworden ist. Und es ist auch nicht normal… wie sie ihr Ende gefunden hat. Genauso wenig wie es normal ist, dass ihr Ende ganz genauso aussieht wie das, was die Vetala damals gefunden haben, denen wir in die Fänge gegangen sind.“
Sanft strich er mit dem Daumen über Cassies Stirn und musterte seinen Mann nachdenklich, an dem er schon unzählige Wunden und Schrammen gesäubert, verbunden oder genäht hatte. Im Laufe der Zeit hatten sie zusammen so viel Mist erlebt, dass es eigentlich für mehr als nur ein einziges Leben ausreichte. Doch wenn das noch nicht genug war, wenn noch mehr Scheiße darauf wartete, dass sie beide hinein stolperten… dann würden sie auch das irgendwie überstehen. Gemeinsam.
„Weder weiß ich, was von Ceyda Besitz ergriffen hat, noch was passiert ist, nachdem du sie angefasst hast - und so wie du aussiehst, weißt du es selbst auch nicht. Aber ich weiß, dass das nichts ist, das wir hier und im Beisein von anderen Jägern besprechen sollten, so lange es dafür keine Notwendigkeit gibt. Deshalb werden wir das auch nicht tun, damit es nicht zu Dingen führt, die wir danach nicht mehr unter Kontrolle haben. Sind wir uns da einig?“, wollte er ehrlich und knapp von Matthew wissen, bevor sie das Thema - hoffentlich - vorerst so tief begruben, dass niemals jemand außer ihnen beiden jemals davon erfuhr.
Egal was Clarence sagte für Matthew war klar, ihre Pechsträhne lag nicht am Winter.
Er hasste die Kälte zwar mindestens genauso wie der Blonde, doch für Cassie war der Umschwung eindeutig mit der Route gen Rio Nosalida einhergegangen.
Je näher sie der Stadt gekommen waren umso schweigsamer und gereizter war Clarence geworden und als sie dann auf Cameron und Adrianna getroffen waren…war die Anspannung seines Mannes schon fast mit Händen greifbar gewesen.
„Erinnere mich nicht an die Sache mit den Spinnen.“ erwiderte Matthew kurz angebunden und tupfte mit dem in Alkohol getränkten Lappen sanft über die Wunde.
Die Schmerzreaktion des Blondschopfes war unterschwellig aber Matt registrierte sie dennoch - immerhin kannte er Clarence nicht erst zwei Wochen.
Und Thia fragte er gar nichts - die Frau war ihm nicht gerade sympathisch und auf ihre Einschätzung bezüglich des Absturzes konnte er verzichten.
Außerdem spielte es auch keine Rolle warum der Zeppelin abgeschmiert war… das wusste Clarence genauso gut wie Matthew, der wieder schweigsam die Wunde reinigte.
Vor den anderen hatte er sich weit weniger still gezeigt sondern selbstbewusst und schlagfertig wie immer.
Clarence gegenüber brauchte er jedoch nicht so tun als sei alles in bester Ordnung, denn wenn sein Mann etwas besaß, dann war es sein Gespür.
Clarence wusste genau, wenn etwas mit ihm nicht stimmte und er ließ sich auch nicht von lockeren Sprüchen oder Witzeleien irritieren.
Niemand konnte Matthew so schnell und eindeutig lesen wie der Blonde - ihm etwas vorzumachen war also vollkommen sinnlos. Kurz versuchte Clarence trotzdem die Stimmung aufzulockern… doch was passiert war ließ keinen Raum dafür. Und während Cameron und Thia dachten es sei alles in bester Ordnung wusste Clarence, dass es nicht so war.
Und statt ihn zu fragen was nicht stimmte… wusste er es einfach. So wie man wusste, dass auf den Tag die Nacht folgte. Er wusste es ohne darüber nachzudenken, er wusste es weil er Matthew kannte.
Mit ruhiger Stimme forderte er den Dunkelhaarigen schließlich auf ihn anzusehen und nahm ihm den Lappen weg um selbigen ins Wasser zu werfen.
Matthew blickte zu dem Größerem empor, noch immer vor ihm kniend und keine Anstalten machend sich zu erheben. In seinen dunklen Augen lagen Sorge und Kummer und Angst.
Es dauerte einen kleinen Moment ehe Clarence wieder die Stimme erhob. Zeit, in der er Cassie genau musterte. Schweigsam ließ er den Blick auf sich weilen und sah seinem Bären an, dass auch er besorgt war.
Sie hatten beide Angst umeinander und der Absturz mit dem Zeppelin hatte die eine unumstößliche Wahrheit nur nochmal deutlich hervorgehoben:
Es gab keine Sicherheit. Niemals. Nirgends.
Jeder ihrer Ausflüge konnte der Letzte sein und was als Jagdausflug zu zweit begann - um endlich wieder Zeit für sich zu haben - konnte schnell zu etwas werden, dass ihr Leben bedrohte.
Als Clarence endlich weitersprach, da klang er ruhig aber ernst. Er hatte einen ganz bestimmten Tonfall an sich, wenn es wichtig war, dass Matthew ihm genau zuhörte und verstand was er meinte. Und genau diesen Tonfall schlug er jetzt an, den Blick unverwandt auf ihn herab gerichtet und mit den Fingern durch seinen dunklen Schopf kämmend. Fürsorglich, liebevoll, beschützend.
Dass es einen Zusammenhang zwischen den Vetala und der Kreatur gab zu der Ceyda geworden war, war etwas, dass Matthew gern von der Hand gewiesen hätte. Und vielleicht hätte er das auch getan, würde Clarence nicht davon überzeugt sein, dass es nichts von der Hand zu weisen gab. Was die Wesen miteinander verband war ihr Tod und er… war das Bindeglied. Oder nicht?
„Ich hab geschlafen.“, sagte er plötzlich und klang dabei als würde er sich rechtfertigen.
„Bei den Vetala. Ich habe sie nicht berührt. Kein einziges!“
Matthew sah aus Augen zu Clarence empor die Bestürzung und Angst ausdrückten, doch der Blonde ließ sich davon nicht anstecken. Die Finger in Cassiels Schopf vergriffen sprach er leise und ruhig, den Blickkontakt für keine Sekunde unterbrechend.
Clarence mochte nicht wissen was genau vor sich gegangen war - aber er war entschlossen dazu es nicht im Beisein anderer Jäger zu ergründen. Weil Jäger eine ganz bestimmte Art hatten mit Dingen umzugehen die Probleme bereiten könnten.
Matthew, dem bei diesen Worten dämmerte worauf der Blonde hinaus wollte, nahm unvermittelt die Hand von Clarence‘ Flanke wo er sie wieder abgelegt hatte und lehnte sich ein Stück zurück um sich dann aufzurappeln und Distanz zwischen sich und Clarence zu bringen.
Nicht aus Wut oder Trotz über das Gesagte, sondern aus Gründen der Sicherheit.
Sein Herz raste und er fühlte sich so eng in seiner Brust, dass er kaum atmen konnte.
„B-Bleib weg!“, bat er energisch, hob abwehrend eine Hand und setzte sich auf den Rand der Badewanne.
„Rühr‘ mich nicht an! Keiner…keiner darf…mich anrühren.“ setzte er nach und fixierte den Blonden mit eindringlichem Blick, damit dieser bloß nicht auf die Idee kam sich ihm wieder zu nähern.
Was wenn er etwas von den Vetala mitgenommen hatte? Etwas gefährliches, etwas unkalkulierbares?
„Diese Vetala haben mich…vielleicht mit etwas irgendetwas angesteckt und vielleicht hab ich es an C-Ceyda weitergegeben und dann ist sie…sie ist…du weißt schon.“
Er nahm den Blick von seinem Mann und blickte von der Badewanne aus in den Spiegel.
Er sah aus wie immer - bis auf den Dreck und die Platzwunden und er fühlte sich auch wie immer.
Aber auch wenn er sich gesund vorkam, irgendetwas stimmte offensichtlich nicht mit ihm.
Wenn er ausgelöst hatte was mit Ceyda passiert war, dann war er gefährlich und durfte unmöglich länger in der Nähe der anderen sein. Und das…galt erst recht auch für die Nähe zu Clarence, den er so sehr liebte, dass allein der Gedanke daran ihn in Gefahr zu bringen ihm fast schon körperlich wehtat.
„Wir… klären das nicht hier. Hab ich verstanden.“,
Cassie nickte und sah wieder zu Clarence. Sein Spiegelbild verriet ihm sowieso nichts… das hatte es noch nie getan.
Er fühlte sich elend und sah auch genauso aus, aber was sollte man auch erwarten von einem Tag wie diesem?
Einen Moment lang sagte keiner von ihnen mehr etwas, Sekunden die sich zu einem vielsagenden Schweigen addierten und in denen sie einander betrachteten ohne sich zu bewegen.
Da waren sie nun… einander so nah und doch so fern.
„Was wenn ich… wenn ich dich auch angesteckt habe? Was wenn… ich zu so etwas werde wie Ceyda?“, verunsichert strich er sich durchs Haar, vergrub kurz die Finger darin und ließ den Kopf hängen.
„Was w-wenn dir…das selbe bevorsteht?“, durchbrach Matthew plötzlich die Stille und füllte sie aufgeregt mit seinen schlimmsten Befürchtungen von denen die grausamste es war, Clarence vielleicht zu demselben Schicksal verdammt zu haben wie Ceyda.
Das Leben war schon immer unberechenbar gewesen, das hatte Clarence früh erfahren müssen. Von heute auf morgen war sein Großvater fort gewesen, später dann seine Mutter und sein Vater. Doch als wäre das nicht genug, hatte es ihm den großen Nagi Tanka geschickt und trotz seines Mutes ein neues Leben anzufangen, war ihm dadurch auch dieses wieder genommen worden.
Clarence wusste wie unberechenbar jeder einzelne Tag in seinem Leben sein konnte und das hatte sich auch nicht mit Matthew an seiner Seite geändert. Es gab keine Stabilität, die man sich mit einer Hochzeit erkaufen konnte und für kein Geld der Welt fand man in diesem verdorbenen Land Sicherheit, die man sich bis ans eigene Ende des Lebens erkaufen konnte. Gang im Gegenteil sogar, fand er im Beisammensein mit seinem Mann oft noch mehr Chaos in seinem Alltag vor als damals alleine und hungernd in den Wäldern - denn aus dem Verstehen seiner einfachen Worte konnte Cassie sich Sachen zurecht drehen, die der Blonde so niemals gesagt hatte.
Anfangs dachte er es wäre ein makaberer Scherz, als Matthew sich plötzlich von ihm drückte, ihn anwies fern zu bleiben und ihm bloß nicht mehr zu nahe zu kommen. Als müsse sein Mann ihn für etwas strafen, das er heute unachtsam von sich gegeben hatte, wie etwa Cameron den unpassenden Kommentar zu Addys Arm oder ein fieser Schnitzer, der sich in der Wortwahl des Älteren eingeschlichen hatte und durch den sich Cassie eher angegriffen und behelligt fühlte statt in seinen Sorgen abgeholt.
Doch es war nichts dergleichen und so schnell wie die Angst bei Matthew gekommen war, so schoss sie nun auch dem Bären von Mann ins Herz, der es nicht aushalten konnte wenn es seinem Partner schlecht ging.
„N-Nein, so hab ich das nicht… Ich hab nicht gesagt, dass…“, versuchte er zu intervenieren, doch so schnell wie Cassie sich von ihm entfernt und Distanz geschaffen hatte, konnte Claire nicht mal ein einziges richtiges Wort in seinem Kopf finden.
Heute morgen war noch alles okay gewesen. Sie waren aufgebrochen, zwar mit schmerzendem Rücken und schmerzender Schulter, aber trotzdem glücklich. Selbst hätten sie keinen warmen Unterschlupf für die Nacht gefunden, wären sie trotzdem zufrieden gewesen und hätten sich gegenseitig irgendwie gewärmt. Doch nun saßen sie stattdessen hier, in dem Unterschlupf von Cameron Barclay und seinem neuesten Betthäschen, und sein Mann blickte mit solch einer Angst in den kandisfarbenen Iriden zu ihm hinüber, wie er es schon lange nicht mehr an Cassie gesehen hatte.
„Ich hab nie gesagt, dass du was Ansteckendes hast“, fasste er die Quintessenz seiner vorherigen Worte zusammen und hätte sich an dieser Stelle nun doch fast Cam herbei gewünscht, damit er seinen Mann mit einer ebenso klaren Geste zum Schweigen brachte, wie er es vorhin bei Thia getan hatte. Er konnte es nicht gebrauchen, dass Matthew - über alle sieben Weltmeere für sein loses Mundwerk bekannt - ihm noch weiter in den Monolog quatschte und sich dabei selbst aus Angst heraus eine Geschichte zusammen dichtete, die seine Panik nur noch weiter entflammte. Gedanken konnten der schlimmste Brandbeschleuniger sein und wenn das Feuer erstmal loderte, dann fegte es einem den Kopf leer, bis darin nichts mehr zurück blieb außer Angst, Unsicherheit und Zweifel.
Nachdenkend rieb er sich die Stirn, in Distanz zu seinem Mann, fast so als wäre Cassie ein bissiger Hund, von dem man sich am besten fern hielt. Ein bisschen ähnlich war es ja aber auch tatsächlich, denn wenn er eines im Zusammenleben mit dem Jüngeren gelernt hatte, dann, dass man seine nächsten Schritte am besten gut überlegte, wenn man den anderen nicht noch weiter in Angst und Schrecken versetzen wollte.
„Überleg doch mal - wie viel Zeit du mit mir verbringst und wie oft du diese Ceyda gesehen hast“, deutete er auf das Fenster und Richtung Straße, auch wenn man von hier nicht die Überreste ihres Kampfes erkennen konnte. Er war nie mit dieser Frau warm geworden und vielleicht ging ihm ihr Schicksal deshalb weit weniger nah wie dem Dunkelhaarigen, aber das änderte nichts daran, dass er Cassies Sorgen ernst nehmen musste.
„Es kann gar nichts Ansteckendes sein, weil ich es sonst schon längst gehabt hätte. du verbringst mehr Zeit mit mir als mit all den anderen. Und wenn eine Ansteckung direkt nach dem Absturz passiert wäre, dann wäre das auch längst schon mit allen anderen aus unserem Lager passiert… - Wenn du dir was geholt hättest, hätte es dich schon längst getroffen. Nicht Ceyda oder mich“, fasste er das Offensichtliche klar zusammen. Selbst wenn er nicht wusste was es war oder wieso es geschehen war, so war sich der Jäger doch unumstößlich sicher, dass es keine Infektion, keine übernatürliche Krankheit oder dergleichen sein konnte. Sonst hätte es sie alle schon längst elendig dahin gerafft; was den Tod anging, ließen sich die übernatürlichen Mächte selten Zeit.
„Die Vetala waren eine Bedrohung und Ceyda war eine Bedrohung. Beide sind nun ausgelöscht… Das sehe ich. Keine Krankheit und keine Gefahr, die von dir für die anderen um dich herum ausgeht.“
Wäre das anders, wäre schon längst etwas mit dem Rest von ihnen geschehen und würde sich das, was passiert war, auch gegen etwas anderes außer Bedrohungen richten, hätten sie das schon längst im engen Zusammenleben miteinander bemerken müssen.
„Ich kenne dich so gut wie kein anderer hier und glaub mir wenn ich das sage, aber mir fällt auf, wenn mit dir was nicht stimmt oder du dich anders verhältst als sonst.“
Selbst die kleinsten Nuancen in Matthews Stimmung waren ihm noch nie verborgen geblieben, ganz zu ihrem gemeinsamen Leidwesen.
„Wenn während oder nach den Vetala etwas mit dir passiert wäre, hätte ich es gemerkt.“ - Genauso wie er es gemerkt hatte, dass es zwischen den Vetala und Ceyda eine Verbindung gab, die man nicht von der Hand weisen konnte.
Clarence wusste nicht, ob schon früher etwas mit Cassie passiert war, dass er es zustande brachte solche Wesen auszulöschen oder ob nichts passiert war, sondern diese Fähigkeit ihm einfach in den Schoß gelegt worden war. Beides waren erschreckende Optionen und um ehrlich zu sein wollte er auch nicht darüber nachdenken. Jedenfalls nicht im Moment und nicht hier an diesem Ort, wo man keinen klaren Gedanken fassen konnte.
„Du bist keine Gefahr. Nicht für die anderen und auch nicht für mich.“
Nicht jetzt jedenfalls und auch nicht heute.
Ihn nötigend von solch deprimierenden Gedanken abzulassen, streckte er eine Hand nach Matthew aus und forderte ihn auf diese Weise dazu auf, endlich nicht mehr solch einen Stuss zu denken, sondern die geschaffene Distanz wieder zu überbrücken und zu ihm zurück zu kommen - fürchtend ihn zu verschrecken und in die Enge zu treiben, wenn Clarence das einfach selbst tat.
„Ich verspreche dir, dass wir herausfinden werden, was es damit auf sich hat. Aber bis es so weit ist, bist du kein mieser Anstecker oder eine Gefahr für irgendjemanden. Sondern mein Ehemann, der mit mir versucht uns aus dieser gefrorenen Stadt voller Irrer raus zu kommen. Und danach… danach sehen wir weiter. Schaffen wir das?“