<- ZURÜCK          WEITER ->


Winterwanderung

18. August 2210


Matthew C. Sky

Egal wessen Vorschlag hier der dämlichere war, das Ceyda Ding würde sie beide töten, wenn sie der Kreatur nicht zuvorkommen würden. Und dann wäre eine Herzattacke wohl noch der schönere Tod. 

Mit einer Mischung aus Ekel und Irritation sah Matthew dem Kokon bei seinem Verfall zu. 

Die Tentakeln ähnelten jenen die ihn vorhin gepackt und herumgeschleudert hatten, aber zumindest im Augenblick machten sie keinerlei Anstalten sie anzugreifen. 

„Warum zum Teufel hast du diese verdammten Kugeln nicht griffbereit? Dein Clan kann froh sein, wenn er dich los ist.“, schimpfte Matthew, während er dabei zusah wie der Blonde den Rucksack zum Teil auf die Straße kippte. 

Dass er dabei gleich zweimal gotteslästerlich fluchte konnte Clarence ihm gern vorwerfen - wenn sie heil aus der Sache rausgekommen waren.  

Eigentlich war Clarence von ihnen beiden der ordentlichere. Er sortierte gewissenhaft Kräuter und fasste sie zu akkuraten Bündeln zusammen, er pflegte sein Schuhwerk ebenso akribisch wie seine Waffen und er war meisterlich darin Gepäck zu stapeln und Stauraum auszunutzen. 

Aber den Inhalt seines Rucksacks schüttete er nun mehr achtlos auf den Asphalt weil er ausgerechnet die Kugeln nicht fand die als Munition - eventuell vielleicht -  taugten. 

„Wenn… etwas von mir in die Luft fliegt?!“ - Cassie drückte seinen Arm an sich und schien mit einem Mal nicht mehr so sicher zu sein ob er die Barriere wirklich nochmal berühren sollte. 

Ihm war der Gedanke bisher nicht gekommen, aber nun da Clarence es ausgesprochen hatte, schien es ihm nicht mehr wie eine besonders gute Idee. 

Zögernd sah er zu der Kreatur herüber deren Metamorphose noch immer im Gange war und deren Gestalt immer alptraumhaufter wurde. 

Dort wo der Panzer aufgesprungen war, pulsierte offenes Fleisch, teilweise verschmort. 

Blutige Blasen kochten auf der schleimigen Oberfläche, platzten und blähten sich neu auf. 

Die Hunde, die sich nach Clarence‘ Ansage nicht mehr wagten in Richtung des Kokons zu preschen, knurrten und fletschten die Zähne mit Blick auf das Ding. 

Die Ohren weit zurückgelegt und mit hochgezogenen Lefzen sahen sie aus wie die Wölfe aus dem Norden, um die sich zahlreiche Mythen rankten und von denen es hieß, sie seien die Abkömmlinge früher Götter. 

Mit einem lauten Knirschen brach die Kruste an gleich mehreren Stellen auf und insgesamt drei neue Tentakeln wanden sich kraftvoll aus den Spalten und Ritzen. 

Die Arme waren dick wie Bäume, überzogen von einem schimmernden Film aus Blut und klebrig schwarzer Masse. 

Die bis eben noch passiven Auswüchse schossen jäh seitlich vom Kern der Kreatur davon, mit einer solchen Gewalt, dass sie auf ihrem Weg Autos verschoben und das Glas umliegender Gebäude zerstörten. 

Eine der Tentakeln verhakte sich in einem der Wagen und schleuderte ihn mit Wucht auf die kleine Gruppe. Ein gutturales und unmenschliches Knurren ging von dem Wesen aus, steigerte sich in ein Kreischen und übertönte alles. Selbst das Bersten von Metall und Glas, das von dem Autowrack erzeugt wurde welches nur knapp neben den jungen Männern einschlug.  

Reflexartig war die kleine Gruppe ausgewichen, Kain und Abel hatten die Köpfe eingezogen und kläfften bedrohlich erst in Richtung des Autos und dann in Richtung der Tentakeln. 

Das Cedya Ding steuerte die langen Auswüchse gleichzeitig und aus mehreren Richtungen flogen Scherben, Brocken von Aspahlt und Fassade. Nichts war vor ihr sicher und die Attacken waren beängstigend gut koordiniert. 

Einer der Arme wickelte sich wie eine Würgeschlange um einen Laternenmast, der Stahl ächzte und krümmte sich unter der Kraft und wurde letztlich ausgerissen wie von einem Kind das eine Blume pflückte.

„Ach du Scheiße….“, war alles was Matthew dazu einfiel, der mit einem solchen Wesen in seinem ganzen Leben noch nicht konfrontiert worden war - und auch weiterhin gern darauf verzichtet hätte. 

Das Ding war in seinem Ausmaßen derart gigantisch geworden, dass ihre Chancen auf ein Überleben plötzlich verschwindend gering anmuteten.

Den abgefetzten Laternenmast schwang die Kreatur gegen eine nahe Häuserwand, wobei das Schaben von Stahl auf Beton ein unangenehmes Kreischen verursachte, wie es Cassie ganz am Rande an die Geräusche des abstürzenden Zeppelins erinnerte. 

„Wir müssen hier weg!“, erinnerte er Clarence, der in dem verstreuten Chaos des Rucksacks nicht fündig geworden war und der - ebenso wie Cassie - von Glück reden konnte von dem Autowrack nicht erschlagen worden zu sein. 

„Wer bist du?“, grollte die Kreatur erneut, doch sie klang dieses Mal überhaupt nicht mehr nach Ceyda. Die Stimme war blechern und verzerrt und nicht im Mindesten mehr menschlich. Der verkrustete Kokon bröckelte indes immer mehr, aber an Kraft hatte das Ding nicht verloren, zumindest nicht erkennbar. 

Wie eine Keule schwang die riesige Tentakel nun den metallischen Mast, fegte Autowracks und Geröll zur Seite wie Spielzeug. Der Nebel wurde wieder dichter, vermischte sich mit Staub und Dreck und machte es immer unmöglicher zu erkennen, was vor einem lag. 

Gehetzt rannten beide junge Männer davon, angeführt von den Hunden. Sie wichen den Hindernissen aus, versuchten Distanz zu gewinnen und gleichzeitig nicht von den anderen Tentakeln erwischt zu werden. 

Überall schnellten die Auswüchse hervor, versperrten Wege,  versuchten nach ihnen zu langen und sie zu greifen. Nahezu alles was sich auf der Kreuzung befand wurde als Geschoss gegen sie verwendet, was die Gruppe immer wieder dazu zwang Haken zu schlagen, die Richtung zu wechseln oder neue Hindernisse zu überwinden. 

Die Barriere verhinderte indes, dass sie die geschaffene Arena verließen und auf diese Weise dem Monster entwischten. 

Gehetzt sprang Matthew über die Motorhaube eines zerbeulten Wagens, rannte noch ein paar Meter weiter und drehte sich nach Clarence um. 

Kain und Abel waren bei ihm aber wer fehlte, dass war der Blonde. „Claire!“, brüllte er durch den Nebel aus Staub und schwarzem Nebel. 

„Claire, wo bist du?!“, er lief zurück, rief neuerlich nach seinem Mann und wurde unvermittelt von einer der Tentakeln zur Seite gestoßen. Er prallte gegen das Autowrack, schrammte mit dem Kopf am Rückspiegel und fühlte warmes Blut von seiner Schläfe laufen. Das Rot lief ihm ins Auge, trübte seine Sicht und wurde von dem Dunkelhaarigen mit trotziger Achtlosigkeit weggewischt. So plötzlich wie er zur Seite gestoßen worden war, so schnell wurde er nun auch schon gepackt und in die Luft gerissen. Der fleischige Arm wickelte sich um seine Hüfte, schlang sich weiter seine Taille bis zur Brust empor und drückte langsam immer fester zu. Cassie strampelte, versuchte die Finger in die glitschige Haut des Dings zu graben und sich zu befreien. Seine vergeblichen Versuche trugen unerwartet Früchte, als der Widerstand um seinen Körper plötzlich geringer wurde und der Fangarm ihn letztlich losließ. Was ihm diese Chance beschert hatte wusste er nicht, aber sicher war es nicht sein Verdienst gewesen. 

Schnell rappelte er sich wieder auf, rief erneut nach seinem Mann der ihm wahrscheinlich gerade wieder das Leben gerettet hatte und erhielt abermals keine Antwort. 

Die Tentakel die ihn umfangen hatte, hatte sich in den Nebel zurückgezogen und nun mehr umgab Cassie nichts mehr weiter als Staub und Dunkelheit. 

Ohne Orientierung an irgendwas zu finden lief er los. Glas knirschte unter seinen Sohlen, doch wann immer er stehenblieb um zu lauschen ob er Clarence hörte, vernahm er nichts außer sein eigenes Keuchen. 

Zunehmend außer Puste kletterte er über den Laternenmast, den die Kreatur vor wenigen Minuten nach ihnen geschleudert hatte und folgte dem Metall entlang ein paar Meter in den Nebel bis er plötzlich die Barriere wieder vor sich sah. Pechschwarz und rot geädert erhob sie sich aus der dunklen Nebelsuppe. 

Matthew, dem die Haare wirr von Kopf abstanden und dessen Gesicht verschmiert von Staub und Blut war, leckte sich über die Lippen und blickte sich nochmal über die Schulter um. 

Er wusste nicht was passiert war, dass der Arm ihn losgelassen hatte, aber was er wusste war, dass die Kreatur noch immer lebte. Er hörte das Kratzen von Metall über Stein und er spürte das Pulsieren der Wand vor sich, einem Herzschlag gleich. 

„CLAIRE!“, schrie er mit aller Kraft in die Dunkelheit. 

„VERSUCH IRGENDWO IN DECKUNG ZU GEHEN. ICH…MACH JETZT, WAS WIR BESPROCHEN HABEN!“

Entweder, so dachte er in einem Anflug von Zynismus, ging er oder das Vieh in die Luft. Noch kurz wartete er, zählte gedanklich bis drei und streckte dann die Hand aus, um das Schwarz vor sich zu berühren. 

Der Schmerz folgte augenblicklich, ergoss sich über seine Hand und schließlich den gesamten Arm. 

Die Barriere platzte nur eine Sekunde später an etlichen Stellen auf und das Wesen stieß ein schrilles Kreischen aus, gefolgt von der immer gleichen Frage, wer er sei. 

Ich bin das Feuer.‘, ging es Matthew durch den Kopf, mit einer Klarheit die nur ein eigener Gedanke mit sich bringen konnte und doch verstand er ihn nicht. 

Eine grelle Flamme lichtete jäh den Nebel der Finsternis als die Kreatur unvermittelt in Brand geriet. Von innen heraus fraß sich das Feuer durch das Fleisch, erfasste die Tentakeln ebenso wie es den Kokon schmolz. Unter einem unmenschlichen Fauchen und Kreischen schrie das Ding sein Ende in die Welt. 

Die Hitze der Flammen strahlte bis in den hintersten Winkel der Kreuzung und ließ den Schnee um die Kreatur herum sofort verdampfen.  

Die Risse in der Barriere wurden immer breiter, bis sie nach nur wenigen Sekunden begann zu zerbröckeln. 

Große Stücke zerschellten zu Asche beim auftreffen auf den Boden, andere wurden vom Wind verweht. 

Das gesamte Ereignis dauerte nicht länger als ein paar wenige Sekunden, dann war die Wand zu einem Großteil verschwunden und von dem Ceyda Ding  war nichts mehr übrig als eine verkrustete, dampfende Hülle. 

Noch immer schwebte Staub in der Luft, welche nun zusätzlich noch mit Asche geschwängert war die sich nur langsam legte und in den Augen brannte . 

„Claire?“, rief Matthew mit krächzender Stimme, ehe er hustend seinen schmerzenden Arm an sich drückte und sich langsam wieder in Bewegung setzte, auf der Suche nach dem Blonden, der die unschöne Angewohnheit hatte Matthew mit seinem Verschwinden immer eine Heidenangst einzujagen.


Clarence B. Sky

Wenn Matthew eines ganz genau wusste, dann wo unterhalb der Gürtellinie war und wie man sich dort austoben konnte - auf ganz verschiedene Art und Weise. Meistens verliebt und wohlwollend, doch an Tagen wie heute war jedes Wort ein Schlag in die Eier und auch das wusste der Typ zielstrebig umzusetzen.

Natürlich hatte er keine Kugeln griffbereit, die er in den letzten zwei Jahren kaum hatte gebrauchen können und vermutlich wäre nicht nur Clarence‘ Clan froh ins los zu sein, sondern auch sein eigener Ehemann, wenn das Monster ihn einfach mit Haut und Haaren verschlang.

Doch noch bevor er ihm eine garstige Antwort entgegen speien konnte, riss Cassie ihn zurück auf die Füße und fort von seinem Platz, an dem wenige Sekunden später eine des der riesigen blechernen Automobile landete, eine mehrere Mann breite Schneise schlug und noch ein ganzes Stück weiter schlitterte. So viel Kraft lag in den Auswüchsen des Dings, das sie in nur einer Millisekunde von den Tentakeln zerdrückt werden würden, kamen sie nur nah genug an es heran; auf der anderen Seite gingen ihnen zunehmend die Optionen aus und just in diesen Moment verfluchte er sie alle beide dafür, dass sie manchmal viel mehr miteinander diskutierten als einfach zu handeln.

Mit lautem Kreischen holten die Auswüchse des Monsters aus, mähten auf seinem Weg um was ihm in die Tentakel kam und ließen den Blonden einen Satz zurück machen, als mit Donnern eines der Schilder von den Straßenrändern vor ihm aufschlug und der Schneenebel die Hunde und seinen Mann plötzlich vor ihm verschluckten.

Cassie!“ - er hörte sich nicht mal selbst schreien, so laut übertönte das Wesen alles um  sich herum und ließ durch das Wirbeln seiner Auswüchse beinahe schon Sturm aufsteigen wo auch immer sie hindurch wehten und die Luft verwirbelten. Die Straßenkreuzung war beinahe klar geworden und erstmalig seit ihrer Ankunft in der Geisterstadt er kannte man wieder den grauen Asphalt unter den Schneewehen, ähnlich wie in Miami, wo sie letztlich ja doch nur in ihrem Träumen gewesen waren, aber nicht persönlich.

Doch was hier war nicht Miami. Es war weder warm, noch sonnig, noch einigermaßen friedlich wie am Anfang ihres Traums. Das hier war einfach nur die Hölle.

CASSIE!!“, schrie er orientierungslos in die Wolke aus Schnee und Staub hinein, den das Monster aufgewirbelt hatte. „BLEIB WO DU BIST, ICH-“ … finde dich, hatte er rufen wollen, als ihn einer der Tentakel plötzlich von den Beinen fegte und ihn hinüber an einen der großen Wagen prellte. Im Sturm aus Dreck konnte er augenblicklich einen dunklen Schatten erkennen, der ihm keine Zeit mehr ließ sich aufzurappeln; er wollte nach der Waffe in seinem Holster greifen, doch noch bevor er überhaupt den Gedanken formulieren konnte zu schießen, manifestierte der dunkle Schatten sich nicht wie erwartet zu einem peitschenden Tentakel, sondern zu einem fliegenden Autowrack, als er näher kam.

Voller Entsetzen kniff der Blonde die Augen zusammen und hob aus Reflex die Arme vors Gesicht, während er sich weg rollte und ihn kurz darauf ein derartiger Krach übermannte, dass ihm davon schwindelig wurde. Metall krisch während es auf Metall traf, Glas zersprang und regnete auf ihn hinab und alles was blieb war ein ansteigendes lautes Klingeln in seinen Ohren - an die dumpf noch fremde Schüsse heran drangen, die er nicht mehr zuordnen konnte als für einen kurzen Moment alles Dunkel um ihn herum wurde.

Cameron Barclay

Das Fell des Bären war einst weich und schön wie Seide gewesen, während es nun nur noch traurig von ihm herunter ging. Zerzaust sah er aus, ganz anders als er es von sich gewohnt war und dadurch bestand kein Zweifel, dass er sich gerade alles andere als wohl in seiner Haut fühlte. Er hatte ein paar Schrammen dazu gewonnen die unbedeutend waren; auf sowas hatte er noch nie etwas gegeben, auch wenn man es vielleicht von ihm erwarten würde. Der einzige Trost war der schöne Bärenmantel, der ihn schon seit dem Absturz einigermaßen warm hielt.

Hier! Hier drüben!, rief er immer wieder in den sich nur langsam legenden Dunst aus Asche, Schutt und dem Geruch von verbranntem Fleisch, der über allem Lag und sich in jede Faser seiner Kleidung gebrannt hatte. Angewidert roch er an seinem Mantel und verzog das Gesicht, bevor er auf den Boden spuckte und sein Gewehr neu Schulterte.

Seitdem er die Kreuzung erreicht hatte, hatte er keine Menschenseele mehr gesehen. Keinen Mensch und auch kein Tier - aber zum Glück vor allem auch kein Tentakel-Unterwasser-Monster das aussah wie die riesenhafte Variante von einem Octopus, den er in Rio Nosalida in einem Meeresfrüchte-Restaurant probiert hatte.

Eigentlich waren die Tentakel sogar ganz lecker gewesen, wenn man von den Saugnäpfen Mal absah, die ihn schon ziemlich angewidert hatten. In seiner Vorstellung kaute er die vielleicht nicht gut genug durch, dann verfing sich so ein Ding in seinem Rachen und saugte sich an seiner Speiseröhre fest und dann stand auf seinem Totenschein irgendein Mist, obwohl er viel lieber ehrenhaft mit einer Kugel zwischen den Augen gestorben wäre.

Hier! Ist hier jemand?“, rief er wieder und fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar, wofür er von seiner Begleiterin nur ein müdes Augenverdrehen erntete.

„Deine Frisur sitzt, keine Angst. Meinst du nicht, wir haben andere Prioritäten?“

Cynthia Dearing

„Zum Beispiel… nach jemandem zu rufen, weil wir sie endlich gefunden haben? Also das, was ich die ganze Zeit mache?“, wollte er von Thia wissen und sah sich keiner Schuld bewusst, immerhin gab er ja schon seit längerer Zeit sein Bestes. Das war nicht immer besonders viel, aber er strengte sich wenigstens an und das war die Hauptsache.

Cameron gab sich sogar schon sehr lange verdammt viel Mühe, mehr als so manch anderer hier. Im Gegensatz zu den anderen glaubte er als einziger noch so richtig daran, dass noch andere den Absturz mit dem Zeppelin überlebt hatten… oder zumindest, dass sie die Zeit danach noch überlebt hatten, denn daran scheiterten die anderen Momentan in ihrem Glauben.

„Jo, ich weiß, dass du mich für ziemlich naiv hältst weil ich meinen eignen Arsch nich rette sondern immer noch hier abhänge. Ist gut, wenn du abends besten Gewissens schlafen gehen kannst, aber so’n Typ bin ich halt nich. Ich hab sowas wie Freunde, das kennst du Kratzbürste halt nich.“

Du hast Freunde?“, musterte seine junge blonde Begleiterin ihn von der Seite und schob sich theatralisch ihre Fliegerbrille hinauf auf die Stirn, so als läge es an ihren verschmierten Gläsern, dass sie die Liebenswürdigkeit an ihm nicht auf den ersten Blick erkannte statt an der sirupdicken Staubwolke, die sich nur ganz langsam zu lichten begann. „Interessant.“

„Du findest mich interessant? Gut zu wissen“, nickte er ihr neckisch zu und wurde von ihr sanft voran gestoßen, damit er sich jetzt bloß nicht zum falschen Zeitpunkt in falschen Sachen verlor.

Wie interessant, zeige ich dir heute Abend wieder. Aber nicht jetzt, Cam. Beweg deinen Arsch, mir ist kalt und ich will hier so schnell wie möglich weg, falls das schon wieder eine Sackgasse ist. Wenn das wieder die Irren sind die auf uns schießen oder irgendso ein Monster wegen dem ich mich erstmal eine halbe Stunde beruhigen muss, dann benutz ich dich als Schutzschild und rette mich alleine. Nur, dass du das weißt.“

Thia, die eigentlich Cynthia hieß, hatte eine raue aber klare Stimme und ihrem Dialekt hörte man deutlich an, dass sie aus Poison Ivy stammte. Cameron konnte man kaum verübeln sein Glück bei ihr zu versuchen, so temperamentvoll ihr Charakter und so adrett sie ohne den dicken Mantel und ohne die anderen Sachen war, die ihren hübschen Körper bedeckten.

„Junge, sucht jetzt und gaff mich nicht so pervers an, sonst dreh ich um und du kannst deine scheiß Suche alleine fortsetzen.“

„Ich… guck dich gar nicht an“, entgegnete er ihr zögerlich und für Thia sah er aus, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen - was angesichts des Ungetüms irgendwie seltsam war, das Cameron kaum beunruhigt hatte.

Matthew!“, plärrte er wie von allen guten Geistern verlassen, drückte Thia das Gewehr in die Hand und rannte wie um sein Leben los, untermalt von knirrschenden Glassplittern und kratzenden Metallspänen unter seinen Stiefeln. „Matthew! Du lebst! Matthew!“

Wie ein Irrer, dessen Halluzinationen plötzlich als wahr anerkannt wurde, schallte sein helles Lachen über die Kreuzung und erstarb selbst dann noch nicht, als er den Dunkelhaarigen halb umrannte und ihm um den Hals fiel. 


Matthew C. Sky

Er rief wieder und wieder, doch er bekam keine Antwort. In dem Nebel aus Asche und Staub konnte Matthew kaum etwas erkennen, zumindest nichts Lebendiges. 

Auf dem Boden und den Autowracks hatte sich eine zentimeterdicke Staubschicht gebildet welche Scherben und Schutt teilweise bedeckte. 

Die Tentakeln der Kreatur waren alle fast vollständig verbrannt. Vereinzelt säumten verkohlte Reste Matthews Weg, manche brannten noch, die meisten waren jedoch komplett zu leeren Hüllen geworden. Wie versteinerte Überreste lagen sie da, noch in ihrer Form erhalten, aber hohl. 

„Claire…Clarence… sag was!“,  aber er bekam keine Antwort von dem Blonden. Hustend blieb er kurz wieder stehen, beugte sich nach vorne und stürzte sich einen Moment lang mit den Händen auf den Knien ab. 

Er kniff die Augen zusammen, versuchte ruhig zu atmen und  nicht in Panik zu geraten. 

Schon viel zu oft hatte er Clarence verloren geglaubt, aber an das Gefühl und die Angst hatte sich Cassie nicht gewöhnt - und würde es wahrscheinlich auch niemals tun. Aktuell gab es auch noch keinen Grund vom Schlimmsten auszugehen, immerhin war das Gelände unübersichtlich und Dank der verstreuten Hindernisse auch noch einigermaßen verwinkelt und besonders laut konnte er nicht rufen, weil der Ruß in der Kehle brannte… also war vielleicht alles gut. In bester Ordnung sogar. 

‚Wenn ich ihn gefunden hab, holen wir die Hunde und dann gehen wir jagen. So wie wir es vorhatten, ganz genau so.‘ - ging es Matthew durch den Kopf, sich jeden Gedanken daran verbietend was wäre, sollte er Clarence nicht mehr heil auffinden. 

Sie hatten nicht diesen verdammten Absturz überlebt um sich hier von einem grottenhässlichen Monster trennen zu lassen. 

‚Okay… weiter.‘ Matthew richtete sich wieder auf, blinzelte in den sich langsam legenden Staub und wischte sich über die Augen, weil er einfach nicht klar sehen konnte. 

Doch die unscharfen Figuren verschwanden nicht. Ganz im Gegenteil. Sie kamen näher, ein Mann und eine Frau. Matthews Blick blieb auf der Gestalt des Mannes hängen und kaum eine Sekunde später rief der Kerl auch schon seinen Namen. 

Cassie, der mit jedem gerechnet hätte außer mit Cameron, erkannte ihn in der ersten Sekunde gar nicht, einfach weil er ihn überhaupt nicht auf dem Zettel hatte. 

Der Andere hatte offensichtlich keine Schwierigkeiten ihn zu erkennen, er kam auf ihn zu gelaufen, lachte und rannte Matthew fast um, so heftig fiel er ihm um den Hals. 

„Cam… Cam… Scheiße, du lebst…!“, entkam es Matthew fassungslos und er schloss die Arme um den verrückten Kerl, alle Schmerzen ignorierend. Er hatte nicht viel darüber gesprochen, aber es hatte ihn beschäftigt, Cameron tot zu glauben. 

Obwohl sie sich weder lange noch besonders gut kannten, hatte Cassie den Anderen sofort gemocht und seinen vermeintlichen Tod betrauert. 

„Heilige Scheiße…“, er drückte ihn an sich wie einen lang verschollenen und nahen Freund und klopfte Cameron auf den Rücken, lachte kurz aber herzlich auf und und schob ihn dann von sich, wobei er ihn an den Schultern festhielt. 

„Lass dich ansehen…“, er musterte ihn, klopfte ihm gegen den Oberarm und attestierte Cameron schließlich: „Siehst ganz passabel aus. Und… fetziger Mantel.“, es war ja immerhin sein Schabrackentapirpelz.

Fuck, wir dachten du wärst… naja…“, so viele hatten den Absturz nicht überlebt und nach tagelanger Suche nach Überlebenden hatte auch Matthew irgendwann die Hoffnung darauf verloren, noch irgendwen ausfindig zu machen. 

„Clarence ist auch hier irgendwo. Wir müssen ihn finden…“, das klang ziemlich dringlich und tatsächlich war Matthew im Augenblick auch nichts wichtiger als Clarence wiederzusehen. „…und Addy ist im Lager.“ fügte er an, immerhin standen sich die Rothaarige und Cameron relativ nahe - sofern das bei Addy eben möglich war. 

„Nein, aus! Platz, Platz, PLATZ!“, rief die noch unbekannte junge Frau einigermaßen hysterisch und das kehlige Knurren von Kain und Abel unterstrich unmissverständlich, dass ihre Angst durchaus berechtigt war. 

Matthew wollte die Hunde gerade zurückpfeifen als beide - fast synchron - die Köpfe hoben und in den Nebel blickten. 

Ein freudiges Bellen von Kain folgte und der dunkle der Wolfshunde lief in Richtung einer weiteren Gestalt, die Matthew sofort als Clarence erkannte. 

„Claire!“, verdammt er war so froh ihn aufrecht zu sehen. Auch Abel lief nun zu ihm und Cassie… er schloss sich schließlich an, auch wenn er nicht so schnell rannte wie er es gern getan hätte - immerhin - und das sagte er sich bei jedem erzwungen ruhigen Schritt, wusste Cameron noch nichts davon in welchem Verhältnis sie beide wirklich standen. 


Clarence B. Sky

„Natürlich leb‘ ich noch! Wär doch Verschwendung wenn ich draufgehen würde“, lachte Cameron, strahlend von einem Ohr bis zum anderen, und wuschelte seinem Kumpanen im Geiste glücklich durchs staubbedeckte Haar um ihn sauber zu bekommen.

„Und du auch! Und Addy? Mann, krass… Und hoffentlich noch eine Menge andere. Seit Wochen sag ich Thia, sag ich - Thia, wir können noch nich aufbrechen, wir müssen weiter suchen. Und schau nur wer uns in die Fänge geht! Bist ‘n bisschen dürr geworden, aber das bekommen wir bald wieder hin. Mein Gott, Addy und Sky!“

Noch immer konnte er sein Glück nicht fassen, auch wenn der Hüne noch verschollen war. Ein weiteres Mal drückte er Matthew, ungeachtet potentieller Verletzungen, übermütig an sich und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken, denn ab jetzt konnte alles einfach nur besser werden.

Obwohl er seinen verschollenen Seelenbruder am liebsten gar nicht mehr losgelassen hatte, rief die Unruhe der Hunde ihn schließlich dazu ihn wieder gehen zu lassen und stattdessen Thia schützend zu sich zu ziehen, die sich bei den wolfsartigen Ungetümen mit irgendetwas unbeliebt gemacht hatte - was Cameron so gar nicht nachvollziehen konnte, denn zumindest bei ihm stand sie ganz hoch oben im Kurs.

Von der ganzen Wiedersehensfreude bekam der blonde Jäger nicht viel mit, zum Glück, denn im Augenblick hatte er ganz andere Probleme. Immer wieder kniff er die brennenden Augen zusammen, die von Staub, Deck und Blut aus seinem Haaransatz gereizt waren und sich anfühlten, als hätte ihm jemand eine Hand von Sand entgegen geschmissen. Zittrig drückte er sich ein Taschentuch aus seinem Mantel auf die Stirn aus der er blutete und die geziert sein musste von einer lebensbedrohlichen Kopfverletzung, denn mit zunehmen rauschendem Puls sah er immer klarer werdende Doppelbilder in der Ferne. Vielleicht sogar eine Halluzination, die ihm gerade im akuten Sterbeprozess widerfuhr?

Matthew hatte weder diesen hässlichen Schabrackentapirpelz seit dem Absturz, noch so makellos mit Pomade gestyltes Haar, auch wenn er das zweifelsohne gerne hätte.

Das ist der Geist der gegenwärtigen und der vergangenen Weihnacht. Jetzt ist‘s vorbei, ging es ihm durch den Kopf und er spürte, wie sich ihm der Magen augenblicklich umdrehte. Der Gestank von Verbranntem machte ihm zu schaffe, brannte in seiner Nase und ließ ein unglückliches Gefühl in seinem Magen zurück, so als würde jemand ihm den Bauch energisch mit beiden Händen auswringen.

Mit blasser Nase musterte er einen ausgebrannten Auswuchs des Monsters, dessen zurückgebliebenen Strukturen ihn an etwas erinnerte, das er bereits vor nicht allzu langer Zeit schon mal gesehen hatte: Die Überreste der Vetala, die ähnlich wie das Ceyda-Monster zurück geblieben waren. Nur eben nun in völlig übertriebenen Dimensionen und damit auch mit einem Gestank, der alles ohne Gnade einnahm.

Würgend lehnte er sich vornüber, doch dank des nüchternen Magens, mit dem sie heute früh los marschiert waren, hatte die ganze Prozedur auch kein befriedigendes Endergebnis, das seine Übelkeit mildern würde.

So ein Scheiß…“, murmelte er zermürbt und wankte kurz ein paar Schritte, bevor er sich schüttelte wie ein Hund und einen Blick auf sein Taschentuch warf. Er fühlte sich viel elender als es die Blutung seiner Stirn hergab und irgendetwas sagte ihm, dass es mit viel Pech auch nicht besser werden würde. Doch noch mehr als seine körperliche Verfassung machte ihm seine psychische zu schaffen - denn seit der Attacke des Ceyda-Dings mit dem ersten Tentakel hatte er seine Sachen nicht mehr bei sich, die er mitsamt Rucksack an Ort und Stelle zurückgelassen hatte.

Aber wo war dieser Ort und wo war diese Stelle?

In der Hektik waren sie in alle Himmelsrichtungen davon gelaufen und auf der großen Kreuzung mit all den Automobilwracks hatte er völlig den Überblick verloren. Solche Größenordnungen wie hier kannten sie aus ihren heutigen Metropolen nicht und mit all dem Rost sahen auch die Fahrzeuge völlig gleich aus, ohne dass man sie hätte auseinander halten können.

„Claire“, wehte es aus der Ferne, wo Cassie und sein unliebsamer Doppelgänger standen, energisch zu ihm und auch das aufgeregte Bellen der Hunde übertönte just in diesem Augenblick auch das Rauschen in seinen Ohren. Wenige Sekunden später rannte ihn Abel fast um, der an ihm hoch sprang und ihn zum Wanken brachte.

„Hallo mein guter Junge… hast du mich schon vermisst, was? Bist du in schlechter Gesellschaft da hinten?“, wollte er von seinem blonden Gefährten wissen und klopfte ihm lobend die Seite - bevor auch Kain ihn für sich einnahm, lautstark sein Wohlgefallen kund tat und dessen Freude mit munterem Kraulen zwischen seinen Öhrchen quittiert wurde. „Ist da ein blöder Trottel aufgetaucht, auf den wir gerne verzichtet hätten? Ja… ich weiß, ich weiß. Ich wäre gerade auch gerne lieber wo anders.“

Dass es nicht nur bei den beiden blieb, die ihn in Empfang nahmen, war Clarence‘ größtes Glück auf Erden, denn kurz nach den beiden Hunden erreichte auch sein Mann ihn endlich, an dem Claire direkt eines auffiel: „Du siehst richtig bescheiden aus, Torfkopf. Heute doch kein Hirngespinst, mh?“

Das mochte ein wenig aus dem Kontext gerissen sein, doch nicht selten hatte Matthew immer wieder betont, dass all die seltsamen Begebenheiten, Dämonen und Geister eine Erklärung wie optische Täuschungen, Halluzinationen oder sonst etwas haben mussten.

Heute war das - zumindest für Clarence - ganz offensichtlich nicht so.

Mit verzogenem Gesicht hustete er sich kurz Staub und Dreck aus den Lungen und überbrückte mit ein paar wenigen Schritten die verbliebene Distanz zu Cassie, der ihn mit einer einfachen Geste dezent auf Abstand hielt und ihm nochmals verbal unter die Nase reiben musste, dass der Trottel in der Ferne tatsächlich der Trottel war, den er vermutet hatte.

„Weiß du, ich hatte die besten fünf Wochen meines Lebens ohne Barclay. Die besten. Und jetzt taucht das Arschloch aus dem Nichts auf und macht alles kaputt. Ist dir mal aufgefallen, dass der Typ immer genau dann in der Nähe ist, wenn schlimme Dinge passieren? Abstürze und Monsterangriffe und so?“

Na gut, bislang hatten sich nur zwei Begebenheiten in Camerons Gegenwart ereignet und dafür hatten sie schon oft genug große Katastrophen ohne ihn erlebt. Aber es ging Clarence ums Prinzip, nicht um Fakten.

„Und jetzt - was? Jetzt darf ich meinen Ehemann nicht mal mehr küssen? Der Arsch kann mich mal. Ich scheiß auf Cameron Barclay.“

Motzig nahm er sein Taschentuch von der Stirn, die nicht mehr zu bluten schien, und seufzte schwer.

„Gib mir jetzt meinen Kuss“, forderte er trotzig und sah noch während er seine Trophäe erwartete, wie die Pappnase mitsamt Anhang seiner Rebellion einen Strich durch die Rechnung machte.

„Sky!“, ertönte es strahlend von Barclay, so als hätte die erneute temporäre Trennung jetzt doch etwas an ihrem Verhältnis gerüttelt, wenn schon die zwei Jahre davor es nicht geschafft hatten.

Düster mustere Clarence ihn, wie der Trottel unbeholfen die Arme öffnete und schließlich peinlich berührt wieder sinken ließ, nachdem Claire mit keinem Härchen auf das non-verbale Friedensangebot einging.

„Ich glaub der mag dich nicht", flüsterte Thia ihrem Begleiter zu und traf damit genau ins Schwarze.


Matthew C. Sky

Cameron und Matthew waren aus unerfindlichen Gründen beinah sofort auf einer Wellenlänge gewesen. 

Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen hatte es keine Spannungen, keine Bösartigkeiten oder Ähnliches gegeben. 

Anders als Adrianna hatte Cameron ein einnehmendes Wesen und konnte zweifellos schnell Menschen für sich gewinnen. Ein Talent, das auch Matthew besaß obwohl dieser durch sein Misstrauen häufig lieber eine beobachtende Haltung einnahm. 

Matthew konnte sehr überzeugend sein, wenn er denn wollte und er hatte die seltene Gabe Menschen für sich einzunehmen ohne viel dafür tun zu müssen. 

Cameron konnte das zweifellos auch und doch gelang es ihm Clarence gegenüber nicht. 

Die Fehde zwischen beiden jungen Männern hatte offensichtlich einen unüberwindbaren Graben geschaffen, denn schon die Silhouette des Dunkelhaarigen veranlasste Clarence dazu in bester Trotzmanier zu granteln. 

„Sei kein Idiot, ich hab nie behauptet, dass das Vieh Einbildung war. Siehst übrigens selbst nicht ganz taufrisch aus.“ griff er die schroffe Begrüßung des Blonden auf und hielt ihn wenige Sekunden später davon ab ihn zu küssen. 

„Cameron ist hier.“, flüsterte er seinem Mann zu und musste nicht mehr sagen um den Bären zu stoppen. 

Zwar erklärte Clarence ihm nun, wetternd wie ein Rohrspatz, dass ihm Cameron ganz egal war und er sich von dem Kerl gar nichts würde vorschreiben lassen, doch den Kuss holte er sich nicht und Matthew machte auch keine Anstalten ihm einen zu geben. 

Sehr zügig aber dennoch aufmerksam hatte der Jüngere den mosernden Bären nach Verletzungen abgesucht. Aber der Kerl stand aufrecht, konnte sich artikulieren und über Cameron schimpfen. Die kleine Platzwunde an seiner Stirn  blutete kaum noch und weitere nennenswerte Wunden schien der Blonde zum Glück nicht zu haben. 

Clarence darauf hinzuweisen, dass Barclay vielleicht für vieles verantwortlich war, nicht aber für die Katastrophen in die sie immer wieder stolperten, war sicherlich sinnlos- aber Cassie unterließ es trotzdem nicht. 

„Seit wann brauchen wir beide jemanden der unsere Pechsträhne am laufen hält, hm?“ 

Das schafften sie schon ganz wunderbar selbst. 

„Gott ich bin so froh, dass du lebst…“ - er zog Clarence an sich und klopfte ihm vorsichtig auf den Rücken, eine Geste die seine Sorge zum Ausdruck brachte, sie aber auf der anderen Seite nicht verdächtig machte irgendetwas anderes als Freunde zu sein. 

Cameron der mit der jungen Frau im Schlepptau schließlich auch bei ihnen ankam, versuchte es mit einem sonnigen „Sky!“ - Matthew hatte es nur selten erlebt, dass der Blonde derart begeistert angesprochen wurde… aber leider beruhte die Wiedersehensfreude nicht auf Gegenseitigkeit und Clarence machte sich nicht mal zum Schein die Mühe vorzugeben, er würde froh sein Cameron am Leben zu wissen. Ein etwas peinlicher Moment der Stille senkte sich über die Gruppe, ehe Matthew das Wort ergriff. 

„Yeah… und nach diesem herzerwärmenden Augenblick schlage ich vor, wir hauen von hier ab.“ - sein Bedürfnis länger an Ort und Stelle zu verweilen hielt sich in engen Grenzen und Cameron pflichtete ihm sofort bei. 

„Seh ich auch so. Das verkohlte Viech stinkt wie die Hölle.“ und dieser Tatsache mussten alle zustimmen, sogar die junge Frau die bisher wenig gesagt hatte und trotzdem nicht schüchtern aussah. 

Ihrem Outfit nach zu urteilen war sie kein Mauerblümchen, an der blassen Nasenspitze konnte man ihr jedoch ebenso ansehen, dass sie keine abgebrühte Jägerin wie etwa Addy war. Thia hatte Cameron sie genannt, was vermutlich eine Abkürzung war und bestätigte was Matthew sowieso schon von Cameron wusste: der Kerl fand schnell Freunde. 

Gemeinsam setzten sie sich wieder in Bewegung, vorbei an verkohlten Überresten die schwarz und hohl waren. Der Staub und der Ruß legten sich allmählich und die Sonne legte schonungslos das ganze Ausmaß der Zerstörung offen. Verbeulte Automobile, aufgerissener Asphalt, geschwärzte Fassaden und geborstene Fenster. 

Die Hitze der Flammen hatte die Polster und Armaturen jener Autos schmelzen lassen, die zu nahe an der Barriere gewesen waren und der Laternenmast war so heiß geworden, dass er noch immer rot glühte. 

„Ich glaub dort irgendwo hast du den Rucksack durchsucht.“, Cassie wies in die Richtung die er für die richtige hielt und steuerte jenen Ort an. 

Doch auch mehrere Minuten später mussten sie einsehen, dass der ausgekippte Kleinkram nicht mehr auffindbar war. Vielleicht nur bedeckt von Staub und Dreck, wahrscheinlicher aber verbrannt und geschmolzen wie so vieles das sich in der Nähe der Barriere und nahe des Kokons befunden hatte. Wenigstens den Rucksack selbst fanden sie wieder, er lag einige Meter von der Stelle entfernt wo sie ihn ursprünglich abgesetzt hatten. Verdreckt und staubig, aber immerhin intakt was man nicht von vielen Dingen behaupten konnte, die hier in der Arena gewesen waren. 

Das Schlachtfeld sah aus als wäre ein Sprengsatz detoniert, kleine Feuer nagten noch immer an verstreuten Tentakeln und der beißende Geruch von brennendem Kunststoff schmerzte in den Lungen und Augen.   

Aus der Mitte der einstigen Arena ragte ein pechschwarzer Monolith, um ihn herum existierte kein Schnee mehr und der  graue Asphalt war zu einer schwarzen Suppe aus flüssigem Teer geworden. Das Ceyda Ding war Geschichte. 

Einiges an Zerstörung konnte man sicherlich der Kreatur zuschreiben, aber den größten Schaden hatte zweifelsohne das Feuer angerichtet. 

Krass“, kommentierte die junge Frau ehrfürchtig. „…was habt ihr mit dem Monster gemacht?“, erhob Thia erstmals das Wort an Clarence gewandt, den sie nicht ganz zu Unrecht als stillen Leitwolf ausgemacht hatte. Und in ihrer Stimme schwang aufrichtige Verwirrung wie auch Interesse mit. Sie hatte schon eine Menge irren Scheiß gesehen, aber sowas nicht. 

„Das war kein Monster.“, mischte Cassie sich ungefragt ein. 

„Nicht als wir sie kennengelernt haben jedenfalls… sie hat den Absturz überlebt und war eine zeitlang Teil unserer Gruppe. Für den Rest…“, er seufzte und schüttelte den Kopf. Sie hätten sich niemals trennen dürfen, Ceyda hatte nicht verdient was passiert war und auch wenn es vielleicht nicht stimmte, so fühlte Matthew sich für ihren Tod verantwortlich. Sie hatten sie und die anderen im Stich gelassen. 

Unglücklich fuhr er sich durch die Haare, zerzauste die wirren Strähnen noch mehr und beendete seinen Satz schließlich, mit Blick auf die schwarzen Überreste der Kreatur. „…hab ich keine Erklärung. Aber die zwei da sind auch die Fachleute.“


Clarence B. Sky

Er war so erleichtert seinen Mann wiederzusehen und gleichzeitig so verstört von der ganzen Szenerie. Noch nicht mal zwei Stunden war es her, da waren sie bester Dinge aus dem Lager aufgebrochen. Sie hatten die Werkstatt hinter sich gelassen, hatten im Schnee herum getollt und sich geliebt - und beinahe war es ein bisschen so gewesen wie damals, ganz alleine unterwegs mit der Harper Cordelia.

Damals, als alles noch in Ordnung gewesen war. Es hatte gefühlt auf der ganzen Welt niemanden außer ihnen beiden gegeben, sie alleine gegen den Rest der Welt… und sie waren sich einfach so sehr genug gewesen. Es war nicht nervig gewesen keinen anderen Menschen in der Nähe für andere Gesellschaft zu haben, es war nicht schlimm gewesen jeden Morgen neben dem gleichen Gesicht aufzuwachen und nichts zu tun außer sich zu sonnen oder jagen zu gehen war völlig ausreichend.

Dieses Leben war keine Entbehrung von irgendetwas gewesen, sondern ein Zugewinn an Lebensqualität und Lebensfreude.

Heute jedoch waren sie gezwungen nachts die Finger voneinander zu lassen. Nicht mal mehr nackt schlafen konnte Matthew, der ihm noch anfangs auf dem Boot lange Vorträge darüber gehalten hatte wenn Clarence sich vor dem Schlafen wenigstens in Unterwäsche geworfen hatte und jetzt, nachdem sie sich selbst vor Jeremy wieder abendliches Anschmiegen am Feuer erlaubt hatten, kam Cameron - und ließ seinen Mann ihn auf eine Weise umarmen, die sie eigentlich schon lange hinter sich hatten.

Es fühlte sich furchtbar befremdlich und verstörend an wie Cassie ihn an sich zog, ihm distanziert auf den Rücken klopfte und dann wieder von sich schob, als wäre er nichts weiter als ein entfernter Verwandter. Jemand den man schnell wieder auf Distanz brachte und dem man nicht länger nah sein wollte als nötig. Sein Mann sprach davon, dass ihre Pechsträhne am laufen blieb und Ja, damit hatte er offensichtlich ganz recht.

Selbst als sich die Gruppe langsam gemeinsam in Bewegung setzte, warf er Cameron wie auch seinem geheimen Geliebten immer wieder finstere Blicke zu. Dem einen, weil er es überhaupt wagte zu existieren und dem anderen, weil er gegen die Existenz des ersten nichts unternahm. Er durfte sich nicht mal mehr als nötig darüber freuen, dass der einstige Söldner noch lebte und das war wohl die schlimmste aller Einschränkungen, immerhin konnte er ihn so weder auf Verletzungen inspizieren, noch dafür tadeln überhaupt verletzt zu sein.

Der Gestank der Kreatur brannte sich in ihre Kleidung und ihre Haare ein, während sie schließlich im rauchenden Dunstkreis verweilten um darüber zu sinnieren, was wohl geschehen sein mochte. Clarence wühlte mit zusammengekniffener Miene in seinem Rucksack, den er unter Staub und Dreck beinahe nicht wiedergefunden hätte und von dem ausgerechnet Cameron es war, der den richtigen Riecher gehabt und das Ding unter einem abgetrennten Rad hervor gefischt hatte.

„Ich hab nich alles gesehen, aber ich denke sie war sicher besessen. Lässt sich nich anders erklären“, fasste Cameron fachmännisch seine Meinung zur Frage zusammen und deutete auf die Gebäudereihe die Kreuzung entlang. „Wir sind schon seit ein paar Tagen hier in der Ecke. Haben immer mal wieder Spuren gefunden von anderen Überlebenden, aber das Lager haben wir nich immer ausfindig machen können.“

„Ein Mal, da waren wir in so einer Halle mit Regalen und Brettern vor den Fenstern. Das war direkt bei der zweiten Absturzstelle vom Bug, die Führergondel hat es wahrscheinlich an den Gebäuden dahin gerafft. Aber beim Lager waren schon alle wieder weg“, ergänzte Thia, die ganz offensichtlich keine Jägerin war - aber sicher auch kein Angsthase, denn sonst wäre sie nicht mit Cameron alleine hier draußen.

„Zweite Absturzstelle?“, wollte Clarence wissen und ertastete am Boden des Rucksacks schließlich das, was er gesucht hatte und zog damit zufrieden die Tasche wieder zu.

„Ja, der Zeppelin ist entzwei gebrochen. Wir waren hinten beim Heck vor den Flossen, beziehungsweise… sind wir alle irgendwie da hinten gelandet. Ich hab versucht die Motorengondeln noch abzuwerfen damit wir an Höhe gewinnen und an den Häusern vorbei kommen, aber so schnell kann selbst ich nicht arbeiten. Wir sind vor dem Gebäude runter gegangen, ihr irgendwo dahinter.“

„Thia gehört zum Personal. - Hat zum Personal gehört“, ergänzte sich Cam selbst und ließ sich nicht lange bitte, das Wort erneut zu ergreifen: „Wir haben und irgendwie organisiert und dann nach anderen gesucht. Aber bis wir uns zum zweiten Zeppelinteil vorgekämpft haben, wart ihr schon weg. Ein Teil wollte aus der Stadt raus, aber ich hab gesagt wir bleiben noch, irgendwann finden wir euch schon. Und da sind wir!“

Brüderlich gab er Matthew voller Enthusiasmus einen kleinen Hieb gegen den Arm und strahlte von einem Ohr bis rüber zum anderen.

„Aber wir haben auch so ein paar Irre gefunden, solche einheimischen Hillbillys. Die haben auf uns geschossen mit richtigen Gewehren, als wir von denen Vorräte und Gewächshäuser gefunden haben. Einen, ich vergesse immer seinen Namen-“ - „Montgomery!“ - „Ja, Montgomery, den hat’s erwischt. Direkt hinten zwischen die Schulterblätter, seitdem halten wir die Augen offen. Aber so lange wir an nichts von denen ran gehen, halten die auch die Hände bei sich.“

„Ja, genau deshalb sollten wir auch hier von der Kreuzung runter. Die mögen’s nich so, wenn wir hier in der Stadt Unruhe machen. Fanden die noch nie so geil“, schloss Cameron das Plädoyer und trieb die anderen drei mit ausgebreiteten Armen etwas vor sich her, denn das war kein Scherz von ihm gewesen.

Da haben sich ja die zwei richtigen gefunden, ging es Clarence durch den Kopf, in dessen Ohren noch immer die Stimmen von Thia und Cameron klingelten, die alle beide sehr gerne zu reden schienen. Zu gern für seinen Geschmack, aber er konnte ihnen kaum das Wort verbieten, wo noch immer so viele Fragen auf seiner Zunge brannten.

„Was habt ihr jetzt mit dem Monster gemacht?“, wollte die Blonde wissen und wurde dabei von Clarence unterbrochen, dem eine Formulierung von seinem Clankamerad besonders aufgefallen war: „Was heißt hier fanden die noch nie so geil? Was für ein noch nie?“

„Na noch nie halt. Auch damals nicht. Wir waren schon ein paar Mal mit dem Clan hier, haben die Stadt ausgekundschaftet. Aber damals war dieses riesige Ungetüm noch nich da, was sich momentan hinten beim Vergnügungspark herum treibt. Denkst du wir sitzen nur rum während du mit Nagi unterwegs bist oder was? Krass was für ‘ne Einstellung du hast, Junge“, stichelte Cameron. „Wird nicht lang dauern bis Die hier sind. Hier lang.“

Auffordernd winkte er sie in eine Seitengasse hinein, die sie weg führen würde von der Kreuzung und dem Lärm, den man sicher einige Blöcke weit in der Umgebung gehört hatte. Ab und zu ein Schuss war die eine Sache, aber derartige Unruhe vertrieb selbst das letzte verkrüppelte Tier aus dieser Gegend und das würde Cameron auch nicht gefallen, würde er hier wohnen und darauf angewiesen sein.


Matthew C. Sky

Dass Ceyda besessen gewesen war war etwas, dass Cassiel nach allem was er gerade gesehen hatte nicht mehr abstreiten würde. 

Die junge Frau war nicht mehr sie selbst gewesen und zu was sie geworden war…nicht zu erklären. Zumindest nicht für ihn. Die Geschwindigkeit mit der sie sich verändert hatte passte nicht zu einer Infektion mit irgendeiner unbekannten Krankheit der Alten, wie Matthew sonst gern argumentierte. 

Nein, in diesem Fall musste er eingestehen, dass er keine Ahnung hatte und das alles an ihr… vollkommen unnatürlich gewesen war. Keine Krankheit, keine Gruppenhalluzination. 

Besessen. ‚Lässt sich nicht anders erklären…‘

Für den Dunkelhaarigen ergaben sich so viele Fragen aus Cameron’s Feststellung, nur schienen weder Barclay noch Clarence die Priorität auf Ceyda zu legen. Vielleicht weil es für beide nichts besonderes war auf eine Besessene zu stoßen, vielleicht war Cassie aber auch der einzig vernünftige Mensch der anwesend war. Auch wenn Clarence das das gern abstritt indem er ihn einen Torfkopf nannte. 

Schnell und ohne großartig um den heißen Brei herumzureden kam Cameron auf ihre Situation zu sprechen. Ihr Lager, andere Überlebende, der Absturz… und Hillibillys die irgendeinen Montgomery abgeknallt hatten. Wer auch immer das nun schon wieder war. 

Der freundschaftliche Klaps den Barclay ihm gab hinterließ ein unangenehmes Brennen auf Matthews lädiertem Arm, aber Cassie ließ sich nichts anmerken. „Da sind wir.“, stimmte er ihm zu und lächelte ebenfalls, wenngleich sein Lächeln nicht wirklich unbeschwert war. Es war eines jener Lächeln von früher, freundlich, warmherzig und freundschaftlicher Natur - aber eben nicht ganz echt. 

Zu viele Fragen gingen Cassie durch den Kopf und die Geschwindigkeit mit der ihm neue Informationen mitgeteilt wurden machte es schwer, alles in den richtigen Kontext zu setzen. 

Cameron war schon öfter hier gewesen, die anderen überlebenden Passagiere waren in einem Lager untergebracht oder auf dem Weg raus aus der Stadt. Dieser Ort hier wurde von Plünderern bewohnt, den Hillibillys und die wollten lieber ihre Ruhe haben. Schön

Cassie blickte zu Clarence, der ein Gesicht machte als habe er in eine Zitrone gebissen. Er konnte einfach nicht verhehlen wie ungern er hier war. 

Oder besser: wie ungern er mit Cameron hier war. 

„Wenn du schon öfter in der Stadt warst… wie weit ist es bis zur nächsten Ortschaft? Wir haben Verletzte die Hilfe brauchen könnten.“ , warf Cassie ein. 

„Schwer verletzt?“, wollte Thia neugierig wissen. 

„Naja, einer hat einen gebrochenen Fuß und Adrianna…“ - bei dem Namen horchte Cameron auf und drehte sich im Gehen zu Matthew um. „…hat einen Unterarm verloren.“ 

Heilige Scheiße!“  entfuhr es ihm und das Entsetzen in seiner Stimme war unüberhörbar. 

„Sie ist soweit okay…“ - „Fuck! Wenn einer das überlebt, dann Addy.“, schloss Cameron an und schüttelte verdrossen den Kopf. 

„Wir haben keine Schwerverletzten. Jedenfalls nich mehr, wenn ihr versteht was ich mein.“ und was Cameron meinte war offensichtlich. Nicht jeder der den Absturz überlebt hatte, hatte auch das Glück die Tage danach zu schaffen und Matthew wollte lieber gar nicht wissen wie viele Menschen unter den Trümmern gelegen und auf Hilfe gehofft hatten die letztlich nie gekommen war.

„Einen Unterarm verloren… na zum Glück ist an uns alles dran geblieben. Wäre doch ‘ne Schande, wenn deine Grace dich nicht vollständig und in einem Stück wiedersieht.“, witzelte Barclay während er die kleine Gruppe eine schmalere Gasse entlangführte. Schritt für Schritt weiter weg von der Kreuzung auf der Ceyda sie gefunden und eingekesselt hatte. 

„Yeah…“, erwiderte Matthew spröde und warf Clarence einen kurzen Seitenblick zu, eher er weitersprach. 

„Sie ist immer ziemlich besorgt und hasst es, wenn ich auch nur irgendwo einen Kratzer habe.“ 

„Na so sind die Mädels.“, erwiderte Cameron und erntete von Thia ein genervtes Augenverdrehen. „Übertreibts mal nicht, nicht jede Frau ist ein zitterndes Heimchen.“

Hätte Matthew denn wirklich eine Ehefrau namens Grace, so hätte er die Bemerkung vielleicht beleidigend gefunden und klargestellt, dass sein Mädchen überhaupt kein Heimchen war. Aber so war es ihm ziemlich egal. 

„Nich alle, aber einige. Und stehste erstmal unterm Pantoffel ist eh alles zu spät. Stimmt’s oder hab ich Recht, Matt?“

Cassiel, der möglichst wenig von Grace erzählen wollte zuckte die Schultern und lenkte das Thema dann in eine andere, für ihn viel wichtigere Richtung. 

„Besessen wovon? Ceyda war mit uns im Zeppelin, die ersten Tage waren wir zusammen unterwegs. Was zur Hölle ist mit ihr passiert?“


Clarence B. Sky

Es war Camerons Art zu Plappern und damit eine Stille zu füllen, die eigentlich gar nicht da war. In kürzester Zeit die dichteste Menge an Informationen zu verstreuen, das lag ihm einfach - und nicht selten war er deshalb derjenige, der Schlachtpläne kurz und präzise auf den Punkt brachte, wenn irgendjemand oder irgendwas sie umzingelt hatte.

Aber manchmal war es eben einfach nur Plappern und das konnte Clarence bei Cameron genauso schlecht ertragen wie bei Matthew früher, wenn der mit Gerede versucht hatte das Schweigen des Blonden auszugleichen.

Während Barclay und sein Mann sich austauschten, musterte Clarence seinen Clanbruder kurz aber aufmerksam hinsichtlich Auffälligkeiten in seinem Auftreten. Seine Bewegungen waren Geschmeidig und selbst als Cameron sich zu Cassie umdrehte um sich nach Adrianna zu erkundigen, zeigte er in seinem Gesicht kein einziges kurzes Murren, das auf eine Verletzung hinweisen konnte. Seine Schritte waren fest und zielstrebig, genau wie die seiner Gefährtin - wohingegen Thia in einer Schulter steif oder auch angespannt wirkte. Vermutlich hatte sie der Absturz am Oberarm oder oben im Gelenk erwischt, vielleicht aber auch oberflächlicher wo anders. Ihren Kopf konnte er unter all den dicken Locken nicht beurteilen, aber wenigstens Barclay sah nicht so aus, als müsse er frische Narben durch ein Rauswachsen seiner Haarpracht kaschieren, um seinem eitlen Charakter gerecht zu werden. 

Im Gegensatz zu Thia schien Grace ein Heimchen zu sein, das sich um einen Kratzer mehr oder weniger durchaus Gedanken machte und so war es nicht verwunderlich, dass er Cassie kurz mit einem Blick aus verengten Augen innerlich abzustechen schien. So waren die Mädels halt, bestätigte der Trottel Barclay ihm auch noch und wenn Reed so weiter machte, dann zeigte Clarence ihm mal ein paar Dinge, bei denen sich seine Grace wirklich Sorgen um ihn machen musste.

„Lass uns über diese Ceyda reden wenn wir drin sind. Das dauert zu lange, hier draußen mit den behinderten Hillbillys im Nacken“, sorgte sich Cameron offensichtlich um ihrer aller Sicherheit und winkte sie weiter durch die Gasse bis zu einer alten Leiter, die weit über ihren Köpfen an der Hauswand montiert war.

Routiniert lehnte er sich mit dem Hintern gegen die Wand, hielt Thia die Hände hin und katapultierte die zierliche Frau regelrecht hinauf zur Leiter, wo sie geübt nach der Sprosse griff, um sich daran empor zu ziehen. Anscheinend war ihre Verletzung am Arm jedenfalls nicht schlimm genug um sie von sportlichen Aktivitäten abzuhalten - entweder das, oder aber sie wollte sich vor Cameron nicht die Blöße von Schwäche geben, die Zähne in seiner Gegenwart zusammenbeißend.

„Sollen die Hunde sich Flügel wachsen lassen und rauf fliegen?“, wollte Clarence bissig von ihm wissen und nickte hoch zur Leiter, die in seinen Augen alles andere als vertrauenswürdig aussah. „Oder lässt du uns hier zurück, wie du das mit dem Rest von deiner Gruppe gemacht hast? Fand ich auch eine annehmbare Option.“

„Tut mir leid, ich muss dich enttäuschen. Muss mir deine gute Laune und dein freshes Antlitz leider noch ‘n bisschen länger geben. Thia macht uns auf.“

Cameron deutete die Gasse entlang und setzte sich wieder in Bewegung, während irgendwo über ihren Köpfen eine schwere Tür krächzend aufgestemmt wurde.

Für Sicherheit zu sorgen war noch nie eine von Camerons Schwächen gewesen und dass er sein Lager selbst hier draußen verbarrikadiert hielt wenn er es verließ, sprach trotz allem Übermut für ihn und seine Vorsicht.

„Der Rest der Gruppe“, betonte er extra deutlich um dem Blonden klar zu machen, dass es nicht seine war, „ist noch im richtigen Lager. Ein Teil der Leute wollte auch aufbrechen als wir weg sind, ihr Glück alleine versuchen auf dem Weg raus aus der Stadt. Ich bin nich deren Aufpasser. Wenn die weg wollen, halt ich die nich auf. Jeder für sich, Frauen und Kinder zuerst“, fasste er seine Grundeinstellung kurz und knapp zusammen und zuckte mit den Schultern.

„Der größte Teil wollte aber da bleiben und warten. Thia und ich wollten los, so zwei, drei Wochen, euren Fährten folgen, aber ihr macht es einem echt nich leicht. Bis zu dem riesen Bada-Boom heute.“

„Wärst auch schön blöd, wenn du nicht mal die Spur gefunden hättest“, murmelte Clarence und warf Matthew einen Blick zu der besagte: Hättest du Ceyda bloß stehen gelassen, dann könnten wir endlich weit weg von hier sein.

Dass das kein besonders gerechter Wunsch war und seine Gedanken gerade alles andere als edel oder christlich, dessen war sich Clarence natürlich bewusst. Gegen seine Abneigung Cameron gegenüber konnte er aber trotzdem nichts anrichten, nicht mal dem lieben Frieden zuliebe. Es war ein Schatten über den er einfach nicht springen konnte, egal wie sehr er es auch versuchte.

„Wir haben noch genug Essen hier, Klamotten und abgekochtes Wasser ohne Ende. Weiß nich wie es bei euch ist, aber wenn ihr euch ausruhen müsst oder so, hier ist Platz. Beim Rest der Gruppe ist noch so viel Zeug, dass es auf jeden Fall reicht, bis Thia und ich zurück sind. Das war zumindest der Plan.“

In Camerons Gesicht lag eine gewisse Anspannung als er das sagte und wenn man bedachte, dass ein Teil geplant hatte aufzubrechen als auch er und die Blondgelockte weg sind, fiel es einfach eins und eins zusammen zu zählen.

„Üble Typen, die weg wollten?“, Clarence griff den unruhig werdenden Kain am Halsband als es hinter der Stahltür, vor der sie standen, lautstark schepperte und sich das Tor zu Clarence‘ persönlicher Hölle kreischend öffnete.

„Ja… nein… kann man so nich sagen. Aber wenn man alleine los wollen würde und die Gruppe hätte noch genug Zeug da.. dann würde man seinen Teil wohl haben wollen um sich selbst abzusichern. Und wenn es dann noch dazu ein Arschloch wäre wie der ein oder andere Kerl, dann kann ich mir denken, dass am Ende vielleicht mehr fehlt als der Teil, der einem zusteht. Hoffentlich nich, mein ich. Aber ich weiß es halt nich.“

Mit einer unwirschen Handbewegung schnitt er das Thema ab. Er schien sich, so fernab der Leute die er seit dem Absturz kannte, nicht mehr Fragen stellen zu wollen als er sie derzeit beantworten konnte und das war auch sein gutes Recht, denn ansonsten wurde man hier draußen verrückt. Das kannte Clarence von sich selbst auch wenn es um Lucy und Gabriel ging, die alleine mit den anderen in der Werkstatt zurück geblieben waren und von denen er nicht sagen konnte, ob noch alles in Ordnung war.

„Huhuuu und herein spaziert!“, begrüßte sie Thia, stemmte die Tür gerade so weit auf dass alle gut hindurch kamen und presste sie mit ihrem ganzen Körpergewicht am Ende wieder zurück in den Rahmen, als alle eingetreten waren. Vor ihnen ergoss sich ein schmales, altes Treppenhaus hinauf in pure Schwärze - und damit auch ein beißender Geruch, wegen dem Clarence kurz darauf schon das Gesicht verzog und sich den Schal vor die Nase presste.

„Was zur Hölle stinkt hier so?“

„Njaaa… da war so ein Vieh…“, druckste Thia herum und erklomm als erste wieder die Treppenstufen, vermutlich um sich ein bisschen aus der Schusslinie zu bringen.

„Irgend so ein mutierten Riesenvieh, als wir die Hütte hier erkundet haben. Thia hat aus Schreck so eine Tür zugezogen und danach ging die nich mehr auf. Es hat drei oder vier Tage gewütet da drin, danach war Ruhe. Und jetzt… gammelt es da vor sich hin, denke ich.“

„Na toll. Ich freue mich so sehr, dass ihr uns gefunden habt. Ab jetzt kann es ja nur besser werden“, gab Clarence seiner geringen Freunde Raum um zu existieren und war schon jetzt gespannt auf die vielen anderen grandiosen Dinge, die sie hier erwarten würden.


Matthew C. Sky

Schon nach wenigen Minuten des Aufeinandertreffens von Cameron und Clarence war klar: der Blonde hatte ein scheinbar unüberwindbares Problem mit dem Anderen. 

Was unter anderen Umständen belanglos gewesen wäre, ging Matthew in Anbetracht ihrer Lage aber schon jetzt auf den Senkel und er sparte nicht daran, Clarence genervte Blicke zuzuwerfen, wenn dieser mal wieder herumstichelte. 

„Die anderen sind vorerst noch versorgt, aber in ein paar Tagen wird Nahrung knapp. Wir sollten die Gruppen zusammenlegen, vorausgesetzt die Verletzten schaffen den Weg.“, fragend sah er zu Clarence. „Bei Adrianna schätze ich, dass sie es schafft. Aber Jeremy mit Zoe?“

Der Weg durch die verschneiten und vereisten Straßen war nicht leicht und würde man einmal unterwegs sein und in Bedrängnis geraten, so flüchtete es sich schlecht mit einem gebrochenen Bein. 

„Wir müssen die anderen fragen was sie davon halten. Ob sie es riskieren wollen das Lager zu verlassen.“

So wenig wie die andere Gruppe Cameron’s Gruppe war, so wenig waren die in der Werkstatt zurückgebliebenen Menschen ihre Gruppe. 

Aufmerksam prägte Matthew sich den Weg ein und hielt gleichsam unauffällig Ausschau nach den oft zitierten Hillibillys. Cameron schien ein Kerl zu sein, der auf seinesgleichen gut achtete - der Lage seines Verstecks nach zu urteilen und wie er es gegen Eindringlinge sicherte. Aber gleichzeitig kannte Matthew ihn weder lange noch gut genug um ihm vorbehaltlos zu vertrauen und so war es nicht verwunderlich, dass er auch Cameron im Auge behielt.  

Es war das eine, dass er sich augenscheinlich gut mit ihm verstand, aber Vertrauen war etwas, dass man sich bei Matthew hart erarbeiten musste - härter noch als bei den meisten anderen. Clarence konnte davon ein Lied singen - würde er denn in Stimmung dazu sein. 

„Üble Typen hatten wir auch welche.“, entgegnete Matthew finster und dachte dabei ganz besonders an Miguel, dessen Interesse an den Jüngsten in ihrer Gruppe nicht ganz koscher gewesen war. 

Angespannt und auf der Hut folgte er dem Dunkelhaarigen neben Clarence gehend während Thia die verschlossene Tür nochmal kontrollierte und dann voraus ging. 

Der süßliche Gestank von Verwesung hatte die Luft geschwängert aber Matthew verzog keine Miene.   

Die Hunde machte der Gestank unruhig und motivierte Clarence dazu erneut zu sticheln. 

„Weiter oben riecht es weniger streng,“ versicherte Thia, welche bereits die Treppe hinaufeilte, wahrscheinlich im Bestreben den Gestank möglichst schnell aus der Nase zu kriegen. „Ist ‘ne gute Abschreckung schätz ich, keiner der durch die Tür kommt hat Bock sich hier länger aufzuhalten als nötig, ganz zu schweigen davon nach Vorräten oder Leuten zu suchen.“, relativierte Matthew die Schrecklichkeit des Miefs und folgte Thia die Stufen empor. 

Der Hausflur war dunkel und schmal und hatte nur alle zwei Etagen ein kleines Fenster. Die Scheiben waren jeweils so dreckig, dass selbst das Sonnenlicht nur spärlich Einlass fand. Die Wände waren nackter Beton, abweisend und rissig und ohne jeden Versuch der Dekoration. 

Anders als in dem Hotel, in dem die Gruppe der beiden jungen Männer eine zeitlang gelebt hatte. 

Wahrscheinlich war es hier selbst in der Blütezeit der Stadt nicht besonders einladend gewesen, ein Eindruck der sich noch verstärkte als sie endlich in der obersten Etage angekommen waren. Hier versperrte eine große zweiflügelige Tür den Weg zu einem langen Korridor. Durch die Griffe war eine schwere Metallkette gezogen die mit einem Zahlenschloss gesichert war und die laut klirrte als Thia erst das Schloss öffnete und schließlich die Kette gerade weit genug entwirrte, um einen Türflügel so weit nach hinten zu drücken, dass sie und die anderen sich nacheinander durch den Spalt schieben konnten. 

In Ermangelung der Fähigkeit zu schreiben hatte einer der beiden mit schwarz einen Totenkopf auf die Tür gekritzelt - was die gesamte Örtlichkeit noch weniger einladend machte als sie es von Natur aus schon war. 

Suchende würden an dieser Tür nur weitergehen, wenn sie wirklich verzweifelt oder sicher waren es gab hier oben was zu holen. 

„Home sweet home.“, kommentierte Matthew ironisch und schob sich durch den Türspalt, gefolgt von Kain, Cameron und zum Schluss Clarence. 

Auf dem Korridor wartete Thia und zog die Kette von innen bestmöglich wieder in Position, hängte das Schloss wieder ein und verdrehte die Zahlenkombination. 

„Zur Sicherheit. Falls uns irgendwer gefolgt ist.“, erklärte sie ungefragt. „Schon klar. Hillbillys.“, erwiderte Matthew, der sich beiläufig die Kombination merkte. Die Hunde blieben dicht bei ihren Herrchen und was Cassie anging so war er zwar nicht misstrauisch, aber auch weit davon entfernt entspannt zu sein.

Cameron schloss zu ihm auf und deutete auf Thia, die dem dunklen Gang zügiger folgte. 

„Das hier oben waren mal Unterkünfte. Schätze für die Arbeiter die unten geschufftet haben. Gibt auch Räume voll mit komischem Zeug. Große Tische, Stühle mit Rollen an den Füßen und alle Wände aus Glas.“

„Hast du dir die ganze Etage angesehen?“ wollte Matthew wissen und Cameron nickte. 

„Den ganzen Komplex. Keine Toten. Nichts. Hier war keiner.“ - „Okay… klingt gut. Aber wir sind jetzt ganz oben. Wenn jemand dieses Versteck aufspürt… wie sieht’s mit Fluchtwegen aus?“ - „Die Kette macht mordsmäßigen Krach wenn einer rein will, unbemerkt steht also keiner auf der Matte. Und es gibt zwei Treppen und eine Leiter ins Freie und nach unten.“ Cameron musterte Matthew von der Seite und schien dessen Gedanken zu lesen, weshalb er anfügte: 

„Alle gesichert. Über die Wege kommt keiner rein.“

Matthew nickte - ob er darauf vertraute sah man ihm aber nicht an. Vielleicht schaute er sich besagte Fluchtwege nachher mit Clarence noch an. Nur zur Sicherheit natürlich. „Jetzt aber erstmal ins Lager. Dort haben wir es uns ganz hübsch gemacht. Man kann ja nich’ leben wie die Tiere.“ und zumindest in dieser Hinsicht stimmte Matthew ihm vorbehaltlos zu. Wenn auch schweigend. 


Clarence B. Sky

Die Unterkunft als Abschreckungsmaßnahme nach Verwesung riechen zu lassen klang nach einem Plan, der tatsächlich von Cameron hätte kommen können. Niemand würde in solch einem Geruch Menschen erwarten, selbst wenn die Luft einige Treppen weiter oben garantiert besser war als hier unten. Alleine schon an der Etage vorbei zu müssen hinter der das verrottende Tier lag, war eine enorme Zumutung und auch wenn Clarence bei vielerlei Umstände hart im Nehmen war, zeigte sich in diesem Augenblick bei Matthew ein deutlich stärkerer Magen als beim Blonden. Seltsam eigentlich, wo Cassie doch oft zimperlicher war als er selbst - aber mindestens genauso oft zeigte er in scheinbar bedeutungslosen Momenten umso mehr Talente.

Etwas blass um die Nase folgte er der Kleingruppe die Treppe hinauf und rief dann und wann die Hunde wieder bei Fuß, die sich weiterhin unruhig Ablenken ließen; jedenfalls bis zu jenem Moment, als die dicke Türkette einige Etagen weiter oben interessanter wurde und auch Clarence wieder etwas von seinem flauen Magen ablenkte.

Zieh nicht so ein Gesicht. Wenn Barclay sagt es ist sicher, dann ist es das auch“, murmelte Clarence ihm im Vorbeigehen widerwillig zu und ließ dabei außen vor, dass seine eigene Miene weit finsterer war als die seines Mannes. Er konnte die Anwesenheit Camerons zwar nicht ausstehen, doch selbst nach fast zwei Jahren Trennung zu seinem Clan war sein Vertrauen noch immer größer als seine Abneigung - immerhin hätte er ihn ansonsten nicht mal am Pago Estrella Vaga am gleichen Tisch geduldet.

Ihre Fehde war lang und den Ursprung zu erklären womöglich so sinnlos wie der Versuch Sonnenstrahlen in einem Glas einzufangen. Da gab es nichts zu begreifen oder zu hinterblicken und wenn Clarence ehrlich zu sich selbst wäre, dann ging es meistens um die Abneigung an sich die ihn Cameron nicht mögen ließ. Denn was genau zu ihrem Disput geführt hatte, hatte er schon vor einer Ewigkeit vergessen. Manchmal ging es eben einfach ums Prinzip, selbst bei einem sonst gewissenhaften Kerl wie dem Jäger.

Trotzdem würde er sich in den kommenden Stunden den Kopf darüber zerbrechen müssen, wann und wie er den anderen Jäger darin einweihte, in welcher Beziehung er zu Reed stammte und dass es keine kleine Grace gab, die irgendwo Zuhause auf den Kerl wartete. Er wünschte so sehr dass es eine Möglichkeit gäbe daran vorbei zu kommen und bis zu ihrem Absturz war das auch nicht notwendig gewesen, immerhin hatte er nicht geplant gehabt, überhaupt irgendwen darin einzuweihen was Matthew und ihn miteinander verband. Doch mittlerweile wusste es natürlich die ganze Werkstatt und zumindest den Kindern einzubläuen, dass sie fortan so tun sollten als ob nichts wäre, war absolut unmöglich. Da bekam er ja eher noch Addy dazu die Klappe zu halten als Zoe, die manchmal plapperte wie ein kleiner Wasserfall, ganz und gar ohne jeden Filter.

Kurz musterte er Matthew neben sich, dessen Hand er nicht mehr genommen hatte, seitdem die Überreste des Ceyda-Dings draußen auf der Kreuzung lagen. Nicht mal geküsst hatten sie sich seitdem. Genauso gut könnten sie ein Geschwisterpaar sein, das keusch und anständig keine einzigen unzüchtigen Gedanken füreinander hegte so wie es sich gehörte und gerade diese Rolle war eine, die Clarence nie wieder einnehmen wollte.

Erst als Thia die Flügeltüren wieder hinter ihnen verschlossen hatte, setzten sie ihren Weg weiter den Gang hinab fort und der Blonde versuchte sich eine stille Ablenkung zu suchen, die ihn die verstörenden Szenarien in seinem Kopf vergessen ließen, während denen er sich vor Cameron Barclay als Ehemann von Matthew Reed outete.

Es fiel Clarence sofort ins Auge, dass die Wände auch hier - ebenso wie im Treppenhaus - aus unverblendetem Beton waren und karg wirkten. Es war kein einladender Ort und selbst ohne den Mief war es kein Gebäude, in dem der Blonde arbeiten, geschweige denn leben wollen würde. Da lag die Latte ja selbst zu ihrer Zeit heutzutage weit höher als dieses Gebäude hier anbot und eben jener Aspekt war es, der Clarence sich die Frage stellen ließ, ob denn tatsächlich die Arbeiter freiwillig hier gelebt hatten. Vielleicht war das hier auch eine Art altertümliches Arbeitslager wie man es etwa in manchen Metropolen mit den Gefangenen aus den Kerkern machte, die zu viele Straftaten begangen hatten um sie freizulassen, aber auch nicht gefährlich genug war um sie hinzurichten. Manche wurden dazu verdonnert beim Ausbau der Infrastruktur zu helfen oder draußen auf den Feldern zu arbeiten, bewacht von den Friedenswächtern und scharfen Hunden, mit denen Clarence zum Glück noch nie Bekanntschaft gemacht hatte, obwohl die Kerker ihm persönlich nicht alle fremd waren. Ob so ein Arbeitslager wohl eine geeignete Alternative war, um dem anstehenden, unangenehmen Gespräch mit Barclay zu entkommen?

„Hier hoch schafft Jeremy es jedenfalls auf keinen Fall. Wenn die Lager zusammengelegt werden sollten, dann müssen wir uns etwas anderes überlegen. Im Notfall müssen wir was in der Nähe der Werkstatt finden, wenn es zu viele Leute werden. - Wie viele seid ihr?“, wollte er wissen und stellte damit eine der wohl essentiellsten Fragen, immerhin hatten sie noch nicht darüber gesprochen, wie viele andere überhaupt sonst noch den Absturz bis heute überlebt hatten.

Thia seufzte schwer. „Nicht mehr so viele wie am Anfang jedenfalls. Wir haben echt versucht alles zu geben, aber die Verletzungen waren einfach zu schwer. Einer von denen hat es vier Tage lang gemacht, aber das Stöhnen und die Schmerzen… frag nicht.“

„Wir haben überlegt ihn zu erlösen, nich mal einen Hund hätte ich so leiden lassen wie den“, deutete Cameron auf ihre vierbeinigen Begleiter. „Aber der Typ wollte nicht. Hat seinen Mann gestanden und ist vor sich hin gestorben, so wie er es haben wollte. Muss man auch respektieren, sowas.“

Clarence konnte sehen, wie Thia missmutig zu Barclay empor schielte - sie schien anderer Meinung zu sein und hätte dem Fremden wohl auch ohne seine Zustimmung ein vorzeitiges Ende gewährt, wenn sie die Chance dazu gehabt hätte.

„Sind jetzt noch wir zwei und acht Leute in unserem Lager. Wir haben noch jemanden dazu bekommen, das war auch ein Abenteuer. Unter dem Wrack haben wir eine Frau ausgegraben. Wir dachten die hat Schmerzen und eigentlich war sie hochschwanger und lag schon in den Wehen. Wir sind froh dass sie das gepackt hat, dem Kind geht es so den Umständen entsprechend. Aber das Würmchen ist auch ein ziemlicher Lichtblick und hält die Moral aufrecht, hat allen gut getan die letzten Wochen. Dann hat man ein Ziel und es hat die Leute irgendwie zusammengehalten, wisst ihr was ich meine?“, Thia nickte bei ihren Worten kräftig, so als müsse sie sich selbst noch mal in Erinnerung rufen, dass ein Kind in solch einer Lage tatsächlich ein Zugewinn war und kein Defizit aufgrund der Sorgen und des Schlafmangels, weil das Geschrei alle die ganze Nacht wach hielt.

„Ihr habt… ein Neugeborenes bei euch? Und du hättest dir vor Wochen ein paar von deinen aufbruchswütigen Typen schnappen und Hilfe holen können, aber hast beschlossen hier zu bleiben wegen Leuten, von denen du bis eben nicht mal wusstest ob sie noch leben… Bist du irgendwie irre oder so?“, fuhr der Blonde Cameron von hinten an und hätte ihm am liebsten in die Kniekehlen getreten, stände nicht Kain zwischen ihnen, so als würde der Hund ahnen dass er als Puffer zwischen die beiden Männer müsse.

„Hey hey, ich hab mir das mehr als ein Mal gut überlegt und ich rede mit Menschen, weißt du. Es war für alle die, die auf Hilfe angewiesen sind, okay hier zu bleiben und zu suchen“, hob Cameron abwehrend die Hände vor die Brust und schlüpfte zu seinem eigenen Glück durch die nächste Tür, wodurch er aus Clarence‘ Reichweite verschwand. „Wir haben genug Essen und haben für Wärme und Sicherheit gesorgt. Den beiden geht es gut und wir brauchen auch Leute die hier bleiben und dafür Sorge tragen, dass es genauso bleibt. Was soll die machen, wenn ich mir die anderen schnappe und los ziehe und keiner mehr da ist, der weiß wie man hier in der Stadt überlebt? Das geht auch nicht. Aber jetzt vielleicht schon eher, wo gute Leute da sind wie Addy und Reed.“

Ob er Clarence absichtlich nicht aufzählte, weil er mit diesem aufbrechen wollte oder weil er ihn für unfähig hielt, ließ Cameron erstmal unbeantwortet.

"Kommt erstmal an jetzt. Wir wärmen uns die kalten Füße, trinken einen Kaffee und überlegen uns wie es weiter geht."


<- ZURÜCK          WEITER ->