Winterwanderung
18. August 2210
Die Bestimmtheit in Clarence‘ Stimme ließ Matthew unverzüglich reagieren. Er machte ein paar Schritte zurück, stellte keine Gegenfrage und zögerte auch nicht.
Irgendetwas stimmte mit Ceyda nicht.
Und damit meinte er nicht ihr wie Kerzenwachs geschmolzenes Gesicht.
Nichts an ihr was noch richtig und alles an ihr schrie förmlich danach Abstand zwischen sich und ihr zu bringen.
Clarence, der ihn energisch von der Frau weggerufen hatte, langte bereits nach seiner Waffe, doch noch bevor er diese auch nur aus dem Halfter ziehen konnte, wandte Ceyda sich ihm zu, hob ihre Hand und warf dem Blonden etwas entgegen, das weder eine feste Form noch eine Masse zu besitzen schien.
Dunkler Nebel, so schwarz wie ihre Augen, breitete sich wie eine Wand vor dem Wildling aus, umschloss und verschlang ihn und schirmte ihn vor Matthew ab.
„Claire!“, rief der Jüngere erschrocken und machte ein paar Schritte auf das undurchdringliche Dunkel zu, ehe er die Richtung wechselte und stattdessen zu Ceyda lief und ihr einen harten, groben Stoß versetzte.
Das Schwarz fiel in sich zusammen und kroch in dichten Schwaden über den Boden.
„Lass ihn in Ruhe, Miststück.“, zischte Cassie an die junge Frau gewandt, die kurz ins Straucheln geraten war, sich aber bereits wieder gefangen hatte.
Sie stieß ein animalisches Knurren aus, während der schwarze Nebel über sie zu kriechen begann.
Ihre Aufmerksamkeit wandte sich wieder Matthew zu, der den Bogen gespannt und einen Pfeil aufgelegt hatte.
„Besser du ziehst deine komische Show woanders ab.“, warnte er das Ceyda Ding welches immer unförmiger wurde je mehr von dem wabernden Nebel sie umhüllte.
„Du…“ - das Wort klang seltsam gurgelnd.
„Du ziehst Leine, jetzt! Ich warn dich nicht nochmal! Clarence? Claire, sag was!“, rief er seinem Mann zu, den er auf dem Platz nicht mehr ausmachen konnte und es auch nicht wagte die Frau aus den Augen zu lassen.
Die Hunde gaben jäh ein wildes Jaulen von sich als die kriechende Schwärze sich ihrer bemächtigte.
Der Dunst war an manchen Stellen zu einer Art flüssiger Teer geworden, zog dicke Fäden und wickelte sich um die Pfoten der Hunde um sie zu fixieren.
Das schmerzhafte Fiepen von Kain und Abel, die Abwesenheit seines Mannes und das gutturale Knurren von Ceyda veranlassten Matthew dazu den Pfeil von der gespannten Bogensehne schnellen zu lassen.
Mit charakteristischem Sirren durchschnitt der Pfeil die kalte Winterluft und traf sein Ziel mitten in die Brust.
Ceyda wurde ein Stück zurückgeworfen, doch das kümmerte sie nicht. Sie gab ein dumpfes Stöhnen von sich, hob die von Nebel umschlungenen Arme und warf etwas von dem schwarzen Dunst auf Cassie.
Die Masse, die so leicht und schwerelos aussah, warf den jungen Mann nach hinten und machte, dass er mit dem Rücken gegen eines der stehenden Autos prallte.
Den Pfeil noch in der Brust steckend bewegte sich Ceyda mit erstaunlicher Präzision und Geschwindigkeit auf den Dunkelhaarigen zu, packte ihn an seinem Hals und riss ihn nach oben.
Matthew legte beide Hände um den Arm der ihn gepackt hielt und strampelte mit den Füßen. Er versuchte energisch sich zu befreien und kämpfte gegen den Druck um seinen Hals an.
„Wer bist du?“, zischte die Kreatur und funkelte zu Matthew empor. In den dunklen Augen lag nichts menschliches mehr und auch kein Licht brach sich in ihnen. Finster und schwarz wie Kohle lagen sie im aufgequollenen Gesicht der sterbenden jungen Frau.
Oder war sie schon tot?
Cassie hustete und trat nach ihr, erwischte sie am Gesicht und bewirkte nur, dass der Griff fester wurde.
„Zeig dich! ZEIG DICH!“, Matthews Finger krallten sich noch stärker in den Arm, doch er hätte ebenso gut versuchen können eines der Autos umzuwerfen.
Wütend schreiend warf ihn Ceyda zur Seite. Matthew prallte auf den harten Asphalt, rappelte sich auf alle Viere auf und hustete.
Die junge Frau betrachtete ihn ausdruckslos, um sie herum schien die Luft zu stehen, der Nebel umgab sie wie ein wabernder Mantel aus Schwarz.
Sie musste Matthew nicht aus den Augen lassen um zu wissen, dass Clarence sich seinen Weg zurück in die Freiheit bahnte, doch sie fürchtete ihn so wenig wie sie die Pfeile fürchtete, welche verteilt auf der Straße lagen.
Er war unbedeutend. So unbedeutend wie alle Menschen es waren. Und doch hätte Clarence ein gutes Gefäß abgegeben - ein deutlich besseres als es Ceyda gewesen war.
Aber in Gegenwart des anderen, war der Blonde nicht mehr - aber auch nicht weniger - als eine Alternative.
Alles, was Clarence um sicher herum sah, war der dichte schwarze Nebel, der sich um Ceyda - oder das, was von ihr übrig geblieben war - gelegt hatte. Er schien alle Farben zu verschlingen, den Ton zu absorbieren und zu vernichten was er berührte, ohne es von der Welt zu tilgen.
Ihm war heiß und kalt zur gleichen Zeit, nachdem er sich unter dem Auto hervor gekämpft hatte und wieder auf die Beine gekommen war; seine Seite brannte wie Feuer und doch fror er unter dem dicken Mantel, der sich im Wind der Eiswüste plötzlich seltsam kalt anfühlte.
„Cassie?!“
Er hört gedämpfte Stimmen. Irgendwo hinter den Automobilen, irgendwo da draußen auf der Kreuzung, untermalt vom aufgeregten Bellen und Kreischen der Hunde, die er in dem dichten Schwarz nicht mehr ausmachen konnte. Auch nach ihnen rief er - jedoch ohne Erfolg. Was blieb war sein Rucksack, den er aus dem dunklen Nebel um seinen Füßen heraus zuziehen konnte, mit einem Kraftaufwand, als halte Ceyda ihn krampfhaft mit all ihren Kräften am Boden.
„So eine Scheiße“, fluchte er, warf sich sein Gepäck wieder auf den Rücken und legte die Hände auf dem rostigen Metall vor sich ab, um sich daran empor auf das Dach des alten Wagens empor zu drücken. Keine gute Idee sich so zum Ziel der Irren zu machen, die es auf sie abgesehen hatte. Aber noch immer besser, als seinen Mann und die beiden Hunde erst dann wiederzufinden, wenn es zu spät war.
Der Schnee war vom Boden aufgewirbelt worden, paarte sich mit den Schwaden und Auswüchsen die von der jungen Frau ausgingen und als Clarence in dem Durcheinander des Labyrinths vor sich langsam Strukturen erkannte, offenbarte sich vor ihm zunehmend das große Ganze.
„Gütiger Gott…“, murmelte er leise angesichts des Meeres aus Dunkelheit, das sich vor ihm ergoss. Wie dichte Wellen bewegte sich die Masse zwischen den Autos umher, hatte jene teils sogar auseinander gedrängt und dadurch eine Schneise geschaffen, in der Ceyda wandelte wie eine Ausgeburt der Hölle, zu der sie vermutlich geworden war. Als würde ihre Kraft und Wut dazu ausreichen, alles um sie herum zu vernichten wenn ihr nur danach war - und als wären Matthew und er nur ein weiteres Hindernis auf ihrem Weg, schmiss sie den Jüngeren bereits beiseite wie Dreck, der ihr im Weg war.
„MATTHEW!“, rief er nach seinem Mann um sicherzustellen, dass er nichts dummes tat weil er glaubte, Ceyda habe ihm etwas angetan; doch er glaubte nicht daran dass Cassie ihn hören konnte - er selbst verstand die Frau, oder… das Wesen über den Wust aus Dunkelheit hinweg auch nicht, der zwischen ihnen hing.
Clarence hatte solche Haut schon gesehen. Nicht oft zwar - denn meistens war es zu spät und Es bereits weiter in das nächste Gefäß gewandert - aber doch das ein oder andere Mal, wenn Es zu mächtig war und der Körper unter der Last zerbrach, die ihm aufgebürdet wurde. Manch einer wirkte, als schmelze ihm die Haut vor Hitze im Kern von den Knochen, andere fraßen sich im Versuch die Kontrolle zu behalten und sich zu spüren das Fleisch herunter - so lange, bis Es gelernt hatte mit dem neuen System umzugehen, in dem Es nun wohnte.
Ceyda hatte keine solcher Anzeichen gezeigt. Vermutlich war sie zu stark gewesen, hatte im Inneren dagegen gekämpft die Kontrolle zu verlieren und gedacht sie würde wahnsinnig werden, dem Trauma geschuldet, das der Absturz verursacht hatte. Vermutlich wäre es Clarence an ihrer Stelle genauso gegangen.
Aber woher kam Es? Cassie hatte Waffen gewunden… Waffen von anderen Jägern, denen es nicht schwer gefallen sein könnte Fallen zu entwickeln und Es darin umher zu transportieren, auf dem Weg zu irgendeinem Ziel, um damit viel Geld zu verdienen. War die Falle beim Absturz zerstört worden? Hatte Ceyda sie beim Durchwühlen der Trümmer gefunden - und falls ja, war auch Matthew damit in Kontakt gekommen, der die Überreste viel länger auseinander genommen hatte als alle anderen von ihnen zusammen? Wollte Es ihn holen nachdem es festgestellt hatte, dass der junge Mann eine viel bessere Hülle abgegeben hätte als Ceyda, die langsam in ihre Einzelteile zerfiel?
„Was willst du?“, schrie er über die nebelige Dunkelheit hinweg und konnte seine eigene Stimme dabei kaum hören, so sehr verschluckte die Schwärze jeden Ton. Doch Ceyda hatte ihn schon hören können, da war er sich ausnahmsweise sicher.
Längst hatte er, seitdem er wieder auf die Beine gekommen war, seine Waffe in der Hand und mit Munition auf seinem Mantel geladen, seitdem er auf das Automobil geklettert war. Er wusste, eine Kugel würde sie kaum aufhalten und ein Schuss in ihre Stirn dazu führen, dass er den Hort des Wesens völlig unbrauchbar machte und Es sich im schlimmsten Fall einen neuen beschaffen musste. Ein Szenario, das niemand von ihnen in ihrer Lage gebrauchen konnte. Schon gar nicht Adrianna, die keine Kraft besaß sich der Anstrengung hinzugeben, irgendjemandem in der Gruppe irgendwas wieder auszutreiben.
schallte es plötzlich nach, ohne dass Ceyda dafür die Lippen bewegen musste.
Er hörte ihre Worte in seinem Kopf, mit einer Stimme, die nicht von dieser Welt war.
Wütend hob sie ihre Hand in die Richtung des dunkelhaarigen Mannes und erfasste ihn mit unsichtbaren Banden, die seinen Körper vom Boden hoben, als wiege er nicht mehr wie eine Feder. Doch noch bevor sie ausholen und ihn ein weites Mal durch die Luft werfen konnte, zerschnitt Clarence eben jene mit einer Kugel, die ihre Hand in blutrotem Nebel zerbersten ließ.
„Wag es dich ihn nochmal anzufassen und ich schicke dich dahin, wo du hergekommen bist!“, drohte er ihr und legte den Finger über den Abzug, bereit sie so lange in ihre Einzelteile zu schießen, bis sie ihre Macht verlor und gefangen war im ausblutenden Körper der jungen Frau. Wenigstens so lange, dass Cassie und er genügend Abstand zwischen sich und Es bringen konnten.
Dumpf und unbeeindruckt schallte düsteres Lachen hinter seiner Stirn durch seinen Kopf, ein Geräusch so grausam und düster, das man es am liebsten abschütteln wollte.
Ein zweites Mal ging ein Knall durch die Luft, spaltete die Atmosphäre und sollte Ceyda an einer ihrer Extremitäten treffen - doch kaum hatte er diesen Gedanken gefasst und dementsprechend gehandelt, schien es, als würde ihr schwarzer Mantel zu Staub zerfallen. Als würde alles an ihr zu Staub zerfallen und in der Ferne vor seinen Augen nichts weiter zurück bleiben als schwarzer Nebel, der sich in das düstere Meer unter ich ergoss.
„Oh Shit…“, zögern sprang Clarence vom Dach, sich schließlich eilig in Bewegung setzend, nicht ohne einen großen Bogen um das tiefschwarze Gebilde zu schlagen, das zwischen ihm und seinem Mann lag. Weder wusste er, ob ihnen das Zeit verschaffte, noch ob es dazu diente einen weiteren Angriff vorzubereiten und gerade der letztere Gedanke war es, der ihn seinen Beine in die Hand nehmen ließ.
Was auch immer aus Ceyda geworden war, es war nicht menschlich und die junge Frau hatte über ihren berstenden Körper keinerlei Kontrolle mehr.
War die junge Frau noch da drin? Oder war alles was von ihr geblieben war jene dämonisch anmutende Hülle?
Sie hob ihre Hand, riss ihn neuerlich von den Füßen und fixierte ihn mit schwarzen, leeren Augen. Matthew hatte keine Chance sich zu wehren, die Kraft mit der Es ihn aufhob war so gewaltig, dass der junge Mann keine Möglichkeit hatte auf den Beinen zu bleiben.
„Matthew! Ich bin Matthew!“, antworte er auf die wiederholt gestellte Frage.
Aber diese Antwort schien nicht die richtige zu sein.
Ein wütendes Zischen entrang sich ihrer Kehle und der Griff der schwarzen Masse wurde fester. Cassie spürte den Druck schmerzhaft werden und versuchte frei zu kommen. Aber all seine Gegenwehr brachte ihm nichts ein.
Ein dumpfer Knall ertönte irgendwo in der Ferne und nur wenige Augenblicke später verwandelte sich Ceydas Hand in einen Nebel aus blutiger Gischt.
Matthew fiel unsanft zu Boden, rappelte sich auf und rief nach Clarence, den er als Urheber des Schusses begriffen hatte.
Dunkle Wellen brandeten über den Platz, drängten Autos auseinander und türmten sich auf nur um Augenblicke später wieder zu verlaufen. Die Luft flirrte und schwarzer Nebel hatte den eben noch sonnenhellen Tag verfinstert.
Hektisch suchte Cassiels Blick nach seinem Gefährten, doch er sah ihn nirgends.
Der düstere Nebel umgab den Platz und schuf eine Barriere die beinahe schon lebendig schien.
Leise, wie von fern, hörte er jedoch Clarence’ Stimme und rief nach dem Blondschopf um auf sich aufmerksam zu machen.
Obwohl er selbst dem Ding näher war, hatte Matthew mehr Angst um Clarence als um sich selbst und so war es nicht verwunderlich, dass er dem Blonden zurief, er möge abhauen. Was auch immer aus der jungen Frau geworden war, sie waren unvorbereitet mit jenem Ding konfrontiert worden und Clarence sollte bloß nicht den Helden spielen.
Aber so sicher wie Matthew wollte, dass sich der Blonde in Sicherheit brachte, so sicher würde dieser nicht ohne ihn verschwinden.
Ein weiterer Schuss ertönte, dieses Mal lauter zu hören. Und das Ding gab ein garstiges Fauchen von sich, bevor es zu zerfallen schien, nochmal jene Frage stellend die es immerzu stellte.
„Wer bist du? Wer bist du?“ verebbte die zähklebrige Stimme. Wo eben noch Ceyda gewesen war, schwebten nun winzige Schwaden und Nebelflocken in der Luft. Sie bewegten sich träge hin und her, wie Pflanzen unter Wasser. Die teerartige Substanz die über die Straßen gezogen war hatte sich weitestgehend zurückgezogen. Vereinzelt waren Pfützen des dunklen Suds zurückgeblieben, doch im Vergleich zu dem schwarzen Gebilde das wie ein Turm in die Höhe ragte, schienen sie winzig und unbedeutend.
Matthew blickte über den Platz über den sich eine eigenartige Stille gesenkt hatte. Kain und Abel kamen bellend auf den jungen Mann zugelaufen, scheinbar unversehrt. Er strich ihnen beiden durch das Fell und kraulte hindurch, den Blick jedoch kaum von seiner Umgebung abwendend.
„Claire!“, rief er schließlich laut und ging auf den Turm aus dunkler Masse zu. Gefolgt von den beiden Hunden die ihn leise flankiert begleiteten.
Der schwarze Turm sonderte ein konstantes Pulsieren aus, wie ein Herz das dumpf schlug.
„Claire!“, rief Matthew erneut und beschleunigte seine Schritte, einen ähnlichen Bogen machend wie auch der Blonde es tat.
Endlich hörte er die eiligen Schritte seines Mannes und erblickte ihn kurz darauf. Erleichterung flutete durch sein Herz, schien Clarence auf den ersten Blick doch unversehrt.
Begleitet von den Hunden lief Matthew dem Blonden entgegen und fiel ihm nach wenigen Sekunden in die Arme.
„Gott sei dank, es geht dir gut.“, stammelte er hastig und drückte den Größeren fest an sich.
„Lass uns verschwinden bevor…“, er hatte den Satz noch nicht beendet als das pechschwarze Gebilde mit einem lauten Donnern explodierte. Die Fetzen der schwarzer Masse verbanden sich in der Luft neu, verliefen ineinander und bildeten binnen Sekunden eine ringförmige Barriere um sie herum.
„Shit… was zum Teufel…? Hast du sowas schon mal gesehen?“ Clarence war hier der Fachmann für gruseliges Zeug und das hier war definitiv verdammt gruselig.
Die Barriere hatte den Platz beinahe um die Hälfte verkleinert, was es ihnen schwer machen würde irgendwo Deckung zu suchen, denn bis auf ein paar Autowracks gab es fast nichts das mit ihnen eingeschlossen war.
Die Pfützen der klebrigen Masse begannen aufeinander zuzukriechen, sich zu sammeln und aufzutürmen. Kain und Abel bellten hysterisch je größer und bedrohlicher das Gebilde wurde welches nur noch ganz vage menschliche Konturen besaß.
Mit schwarzen Wülsten übersät und dunklen Fäden, die sich wie freigelegte Muskelstränge über den unförmigen Körper spannten, sah das Ding aus als wäre es geradewegs aus Alpträumen entsprungen.
Ceyda selbst war nur noch ein kleiner Teil der Kreatur, halb mit ihr verwachsen und zu einem großen Teil überwuchert war sie kaum mehr als Mensch wahrnehmbar.
„Claire…“, Cassie blickte dem Ding leichenblass entgegen und fasste nach Clarence‘ Hand.
„Wir müssen hier weg…“, die Angst in seiner Stimme war kaum zu überhören und gerade war die Anwesenheit des Blonden der einzige Grund dafür, dass er nicht kopflos davonrannte.
Ein letzter Pfeil war in seinem Köcher verblieben, der Rest lag verstreut auf dem Schlachtfeld.
„Scheiße… ich weiß nicht mal wohin ich zielen soll.“
Trotzdem löste er sich widerstrebend von Clarence‘ Hand, langte hinter seinen Rücken und fischte den verblieben Pfeil aus dem Köcher um ihn aufzulegen und zu spannen.
Noch nie hatte sich eine eigentlich überschaubare Zeitspanne länger angefühlt als die kurze Trennung zwischen ihm und seinem Mann. Mit jedem dumpfen Rufen, das er gehört hatte, hatte sein Herz begonnen schneller zu schlagen und wenn er es nicht besser wüsste, er könnte schwören dass es ihm einfach stehen blieb, wenn er Matthew nicht bald wiederfand.
Als es schließlich endlich so weit war und der Dunkelhaarige mit ihren beiden Hunden zusammen hinter der nächsten Säule aus schwarzem Teer und Schlieren erschien, da fühlte es sich an, als wäre eine tonnenschwere Last von seinen Schultern gefallen. Dem instinktiven Drang ihn an der Hand zu nehmen um keine Zeit zu verlieren, kam Cassie nicht ebenso nach, sondern schlang seine Arme feste um ihn - und auch wenn Clarence das nicht gedacht hätte, so war es absolut gut so.
„Shit, lass uns weg hier“, stimmte er ihm ungewollt zeitgleich zu und selbst die Hunde zogen unruhig ihre Kreise um sie herum. Wohl unentschlossen ob sie ihre Herrchen verteidigen, oder selbst wegrennen sollten.
„Ich denke nicht, dass ich sowas… in so einem Umfang schon mal gesehen hab.“ - obwohl es nicht helfen würde, hatte er wieder sein Gewehr im Anschlag.
Manchmal, in seltenen Fällen, hielten die Menschen lange genug stand, wenn sie von irgendetwas besessen nur willensstark genug waren. Er wusste, dass Oliver Hazel einem solchen Zustand damals knapp entkommen und sein ganzes Dasein dadurch zersplitterte war, so als wäre er nicht mehr Mensch, aber auch nicht der Dämon, der ihn damals befallen hatte. Doch dass Ceyda wieder zusammenzuflicken war… daran glaubte Clarence bei aller guten Hoffnung nicht mehr.
„Lass“, legte er die Hand über Cassies Bogen und drängte ihn vorsichtig hinab. „Ich denke nicht, dass der von hier aus was hilft. Behalt ihn für…“ - den Notfall, das war das, was Clarence auf der Zunge lag. Aber über die Lippen brachte er diese Tatsache nicht, weil er sie einfach nicht haben wollte.
„Okay, wir… versuchen eine Schwachstelle in dieser… Barrikade hier zu finden. Vielleicht kommen wir da durch“, schlug er vor und griff kurz nach Cassies Handgelenk, um ihn in besagte Richtung hinter ihnen zu führen.
„Sie hatte die Hunde in ihren Fängen, aber die sehen okay aus. Vielleicht schaffen wir es durch diese Fäden hindurch, wenn wir eine offene Stelle finden. - Geht‘s dir gut, ist noch alles an dir dran?“
Das war eine Frage für die sie keine Zeit hatten, aber die umso wichtiger war nachdem, wie Ceyda oder das Wesen ihn behandelt hatte. Hastig warf er einen Blick über die Schulter und musterte Cassie auf Blut oder Verletzungen, doch auf anhieb konnte er - zum Glück - nichts erkennen, das augenscheinlich lebensbedrohlich war.
Der flüssige Sud, der sich vor ihren Augen in einen Hybrid aus Ceyda und dem Wesen ergoss, zog sich in Schlieren über das Areal vor ihren Augen. Über und zwischen Autos hinweg, ergossen sich die Ausläufe wie die Kabelanlage am Stomwerk von Coral Valley, an dem sie bei ihren Spaziergängen vorbei gekommen waren. Durch die halbe Stadt hinüber in die Reichenviertel zogen sich auf hölzernen Masten die schwarzen dicken Kabel, einem Spinnennetz gleich, das immer nur von einem Punkt ausging, aber dafür umso mehr Raum für sich einnehmen konnte.
Nur, dass sie dieses mal nicht in den warmen kleinen Villen der Reichen mündeten, sondern in dem Wall um sie herum, der ihre Fluchtmöglichkeiten eingrenzte.
„Hörst du das?“, wisperte er Matthew leise zu und lauschte dem eiligen Pulsieren der Stränge, die sich rhythmisch in dem Wall um sie herum anspannten. Immer wieder rauschte pulsartig ein angespanntes Flimmern durch die Schlieren, ließ sie sich an- und wieder entspannen in einem eiligen Takt, der ihm furchtbar bekannt vorkam, als er auf das eilige Rauschen in seinen eigenen Ohren hörte.
„Sie spürt uns… sie weiß wo wir sind…“, kurz erlaubte er sich einen Blick durch ihr gesponnenes Netz zum Zentrum, wo der schwarze Sud die menschlichen Überreste der jungen Frau immer weiter auffraß.
Wäre er alleine, vielleicht hätte er versucht seine Gedanken so gut wie möglich bedeckt zu halten und sich zu beruhigen in der Hoffnung, dass sie ihn dadurch nicht mehr so gut aufspüren konnte. Aber sie hatten Angst umeinander, ihre Herzen rasten und die Hunde konnten sie schlecht abstellen - alles keine guten Ausgangspunkt für ein erfolgreiches Entkommen.
Mit einem schrillen Pfiff rief er Abel und Kain zu ihnen und suchte Deckung hinter einem Auto, um irgendwie einen Schutzwall zwischen sie und das Herz des Gebildes zu bringen. Ihre Möglichkeiten waren begrenzt und das wusste selbst Clarence, der sonst gerne durch Kamikaze-Aktionen noch einen Ausweg fand.
„Wenn wir sie umbringen, entfesseln wir vielleicht das, was in ihr wohnt“, seine Stimme war leise geworden, was vielleicht nur bedingt gegen Es half, aber immer noch besser war als gar keine Taktik zu haben. Vorsichtig reckte er den Kopf über das Dach des Automobils und beobachtete den Kern, zu dem Ceyda geworden war, um mit dem irgendetwas vor sich ging.
Die verbliebene Haut der jungen Frau war mittlerweile vollends vom schwarzen Teer des fremden Wesens bedeckt und war matt geworden, wie ein Käferpanzer oder ein… Kokon.
Der sich gebildet hatte, um die Metamorphose gänzlich zu vollziehen?
„Ich hab sowas noch nie gesehen“, stellte er mit vielleicht etwas zu viel Faszination in der Stimme fest, als augenblicklich gut für sie beide war. „Irgendwo hab ich Munition, ein oder zwei Kugeln. Jemand aus dem Clan hat sie gemacht, mit irgendwelchen Symbolen aus alten Bannbüchern. Keine Ahnung, ob die hier was helfen. - Nimm“ - auffordernd hielt er Cassie sein Gewehr entgegen, denn mit einem einzigen Pfeil kam vermutlich nicht mal sein talentierter Mann noch besonders weit gegen das, was hinter ihnen her war.
Noch immer pulsierten die Stränge, die sich von der Barrikade zum Kern hinüber zogen und schienen dabei selbst vor Energie zu flimmern. Es wirkte, als hätte Es die Barrikade nicht unbedingt geschaffen um sie beide bei sich zu halten, sondern sich selbst während der Entwicklung von außen zu schützen. Und das Ergebnis, das Es erwartete, fühlte sich schon jetzt in seiner Magengrube schwer wie Stein an.
Was auch immer aus Ceyda geworden war, es war nicht menschlich und die junge Frau hatte über ihren berstenden Körper keinerlei Kontrolle mehr.
War die junge Frau noch da drin? Oder war alles was von ihr geblieben war jene dämonisch anmutende Hülle?
Sie hob ihre Hand, riss ihn neuerlich von den Füßen und fixierte ihn mit schwarzen, leeren Augen. Matthew hatte keine Chance sich zu wehren, die Kraft mit der Es ihn aufhob war so gewaltig, dass der junge Mann keine Möglichkeit hatte auf den Beinen zu bleiben.
„Matthew! Ich bin Matthew!“, antworte er auf die wiederholt gestellte Frage.
Aber diese Antwort schien nicht die richtige zu sein.
Ein wütendes Zischen entrang sich ihrer Kehle und der Griff der schwarzen Masse wurde fester. Cassie spürte den Druck schmerzhaft werden und versuchte frei zu kommen. Aber all seine Gegenwehr brachte ihm nichts ein.
Ein dumpfer Knall ertönte irgendwo in der Ferne und nur wenige Augenblicke später verwandelte sich Ceydas Hand in einen Nebel aus blutiger Gischt.
Matthew fiel unsanft zu Boden, rappelte sich auf und rief nach Clarence, den er als Urheber des Schusses begriffen hatte.
Dunkle Wellen brandeten über den Platz, drängten Autos auseinander und türmten sich auf nur um Augenblicke später wieder zu verlaufen. Die Luft flirrte und schwarzer Nebel hatte den eben noch sonnenhellen Tag verfinstert.
Hektisch suchte Cassiels Blick nach seinem Gefährten, doch er sah ihn nirgends.
Der düstere Nebel umgab den Platz und schuf eine Barriere die beinahe schon lebendig schien.
Leise, wie von fern, hörte er jedoch Clarence’ Stimme und rief nach dem Blondschopf um auf sich aufmerksam zu machen.
Obwohl er selbst dem Ding näher war, hatte Matthew mehr Angst um Clarence als um sich selbst und so war es nicht verwunderlich, dass er dem Blonden zurief, er möge abhauen. Was auch immer aus der jungen Frau geworden war, sie waren unvorbereitet mit jenem Ding konfrontiert worden und Clarence sollte bloß nicht den Helden spielen.
Aber so sicher wie Matthew wollte, dass sich der Blonde in Sicherheit brachte, so sicher würde dieser nicht ohne ihn verschwinden.
Ein weiterer Schuss ertönte, dieses Mal lauter zu hören. Und das Ding gab ein garstiges Fauchen von sich, bevor es zu zerfallen schien, nochmal jene Frage stellend die es immerzu stellte.
„Wer bist du? Wer bist du?“ verebbte die zähklebrige Stimme. Wo eben noch Ceyda gewesen war, schwebten nun winzige Schwaden und Nebelflocken in der Luft. Sie bewegten sich träge hin und her, wie Pflanzen unter Wasser. Die teerartige Substanz die über die Straßen gezogen war hatte sich weitestgehend zurückgezogen. Vereinzelt waren Pfützen des dunklen Suds zurückgeblieben, doch im Vergleich zu dem schwarzen Gebilde das wie ein Turm in die Höhe ragte, schienen sie winzig und unbedeutend.
Matthew blickte über den Platz über den sich eine eigenartige Stille gesenkt hatte. Kain und Abel kamen bellend auf den jungen Mann zugelaufen, scheinbar unversehrt. Er strich ihnen beiden durch das Fell und kraulte hindurch, den Blick jedoch kaum von seiner Umgebung abwendend.
„Claire!“, rief er schließlich laut und ging auf den Turm aus dunkler Masse zu. Gefolgt von den beiden Hunden die ihn leise flankiert begleiteten.
Der schwarze Turm sonderte ein konstantes Pulsieren aus, wie ein Herz das dumpf schlug.
„Claire!“, rief Matthew erneut und beschleunigte seine Schritte, einen ähnlichen Bogen machend wie auch der Blonde es tat.
Endlich hörte er die eiligen Schritte seines Mannes und erblickte ihn kurz darauf. Erleichterung flutete durch sein Herz, schien Clarence auf den ersten Blick doch unversehrt.
Begleitet von den Hunden lief Matthew dem Blonden entgegen und fiel ihm nach wenigen Sekunden in die Arme.
„Gott sei dank, es geht dir gut.“, stammelte er hastig und drückte den Größeren fest an sich.
„Lass uns verschwinden bevor…“, er hatte den Satz noch nicht beendet als das pechschwarze Gebilde mit einem lauten Donnern explodierte. Die Fetzen der schwarzer Masse verbanden sich in der Luft neu, verliefen ineinander und bildeten binnen Sekunden eine ringförmige Barriere um sie herum.
„Shit… was zum Teufel…? Hast du sowas schon mal gesehen?“ Clarence war hier der Fachmann für gruseliges Zeug und das hier war definitiv verdammt gruselig.
Die Barriere hatte den Platz beinahe um die Hälfte verkleinert, was es ihnen schwer machen würde irgendwo Deckung zu suchen, denn bis auf ein paar Autowracks gab es fast nichts das mit ihnen eingeschlossen war.
Die Pfützen der klebrigen Masse begannen aufeinander zuzukriechen, sich zu sammeln und aufzutürmen. Kain und Abel bellten hysterisch je größer und bedrohlicher das Gebilde wurde welches nur noch ganz vage menschliche Konturen besaß.
Mit schwarzen Wülsten übersät und dunklen Fäden, die sich wie freigelegte Muskelstränge über den unförmigen Körper spannten, sah das Ding aus als wäre es geradewegs aus Alpträumen entsprungen.
Ceyda selbst war nur noch ein kleiner Teil der Kreatur, halb mit ihr verwachsen und zu einem großen Teil überwuchert war sie kaum mehr als Mensch wahrnehmbar.
„Claire…“, Cassie blickte dem Ding leichenblass entgegen und fasste nach Clarence‘ Hand.
„Wir müssen hier weg…“, die Angst in seiner Stimme war kaum zu überhören und gerade war die Anwesenheit des Blonden der einzige Grund dafür, dass er nicht kopflos davonrannte.
Ein letzter Pfeil war in seinem Köcher verblieben, der Rest lag verstreut auf dem Schlachtfeld.
„Scheiße… ich weiß nicht mal wohin ich zielen soll.“
Trotzdem löste er sich widerstrebend von Clarence‘ Hand, langte hinter seinen Rücken und fischte den verblieben Pfeil aus dem Köcher um ihn aufzulegen und zu spannen.
Entfesseln was in ihr wohnt? Was zum Teufel wohnt denn in ihr?
Das war eine Frage, die angesichts ihrer Lage vermutlich nur von Matthew kommen konnte, dem wohl dickköpfigsten und anmaßendsten Kerl, dem Clarence jemals über den Weg gelaufen war. Humbug nannte sein Mann jenes, dem Jägerclans hinterher rannten. Nichts weiter als Hirngespinste oder Halluzinationen hatte er es mal geschimpft und irgendwann hatte Claire aufgehört mit ihm darüber zu diskutieren. Er nannte es eine Magenverstimmung oder eine Depression die sie kuriert hatten, wenn sie zur ein oder anderen Austreibung gerufen worden waren - ganz so als wäre der Blonde irgendein dummer Quacksalber der nichts anderes tat als kleine Gebräue mischen wie jenes, das Cassie gegen seine Seekrankheit verweigert hatte.
Wenn es nicht gerade ein Mutie war - die wohl einzig abnormale Konstante, an die der einstige Söldner glaubte - dann fand er andere Ausreden für das was er sah. Und selbst wenn er es spürte, fiel ihm noch ein gutes Argument ein, warum Jäger anderen Menschen irgendwelchen Schwachsinn einredeten und damit ihr Geld machten.
Für seine Frage, was denn in ihr wohne, fing sich der Jüngere dementsprechend einen ungläubigen Blick, gepaart mit einem dezenten Augenverdrehen ein. Eine spitze Antwort lag Clarence auf der Zunge, doch mit dem Tod im Nacken war im Moment vielleicht nicht der richtige Augenblick, seinem Mann eins reinzuwürgen.
„Ich denke jedenfalls nicht, dass wir zwei das rausfinden wollen“, entgegnete er ihm stattdessen und wühlte sich mit einer Hand durch seine Tasche, in der Hoffnung nicht alles auspacken zu müssen. Doch der Anblick des Steins, der durch die geschaffene Barriere des Monsters wie durch feste Butter tauchte, war wesentlich spannender als irgendwelche Munition, die er in den Untiefen seines Rucksacks finden konnte.
„Hast du das gesehen? Immerhin… hat es nicht gezischt und gedampft, hm?“, versuchte er die Anspannung etwas aufzulockern und Galgenhumor zu beweisen, auch wenn er nicht wusste ob die Aussicht darauf zu verdampfen nun besser war als das, was das Ceyda-Ungetüm mit ihnen anrichten konnte.
Nervös blickte er über die Schulter und durch die verschmierten Autofenster zurück zum Kokon der sich gebildet hatte. Das kräftige Pulsieren war ruhiger geworden, ganz anders als sein eigener Puls dieses Mal, was nichts gutes heißen konnte. Vielleicht blieb ihnen nicht mehr viel Zeit um abzuwägen was das Richtige war, ob es gefährlicher war sich durch die Barriere zu drängen oder abzuwarten, was Es als nächstes tun würde. So oder so waren sie in Gefahr und für große Entscheidungen blieben keine ruhigen Minuten.
„Scheiß drauf, einverstanden. Lass uns das durchziehen.“
Bestimmt rappelte er sich hinter ihrem Schutzschild auf, schulterte seinen durchwühlten Rucksack und zog die Handschuhe fester über seine Handgelenke, bevor er die Säume der Mantelärmel fest hinein stopfte. Nur weil der Stein nicht verpufft war hieß das nicht, dass es ihrer Haut genauso gehen würde.
„Wir müssen… die Hunde vermutlich hinter uns her ziehen. Bestimmt wird das denen nicht gefallen und ich lasse die beiden nicht hier bei der da“, nickte er gen Zentrum ihres übersinnlichen Kerkers und überbrückte gemeinsam mit Matthew die letzten Meter bis hinüber zur Wand aus leer, die sie einschloss und dabei beinahe lebendig wirkte. Wie zu erwarten hielten sich Abel und Kain in ihrer Motivation zurück je näher sie der Masse kamen und Clarence wusste schon jetzt, dass nach ihrem Erlebnis im Feld der Spinnen ihre Meinungen weit auseinander gingen, ob man eine mögliche Flucht für die beiden herauszögern sollte oder nicht. Die Hunde würden also gut daran tun sich durch dieses Drecksding mitnehmen zu lassen, ob sie nun wollten oder nicht.
Tapfer stellte er sich der Barriere entgegen und blickte an dem Gebilde empor. Wie flüssige schwarze Suppe erhob sie sich vor seiner Nase, roch nach nichts und fühlte sich auch nicht heiß wie Teer an, obwohl er das irgendwie erwartet hatte. Wie ein stilles Gewässer bewegte sich die Oberfläche, kaum merklich und nicht auf seinen Atem reagierend, obwohl er vorsichtig dagegen pustete.
„Was ist, wenn… wenn es zu breit ist und wir es auf der anderen Seite nicht wieder raus schaffen?“, wisperte er leise und hob einen Finger gen Masse, um zögerlich dagegen zu tippen. Er hatte nicht das Gefühl als wäre es gut zu atmen während sie hindurch gingen und niemand konnte ihnen versichern, dass es nicht mehrere Meter waren, durch die sie sich hindurch drängen mussten. Sie konnten ersticken, verbrennen, darin stecken bleiben oder einfach… von diesem Ding absorbiert werden um ein Teil von dem zu werden, was Ceyda befallen hatte.
Vorsichtig ließ er seinen Finger tiefer tauchen und stippte hinein wie in schwarzen Pudding, doch von der Masse blieb weder etwas an seinem Handschuh hängen, noch fühlte er sich seltsam an, als er ihn wieder heraus gezogen hatte. Aber das musste nichts heißen.
Eine unangenehme Gänsehaut machte sich auf ihm breit und Clarence schauerte unmerklich auf.
„Es fühlt sich an, als… würde man mit all seinen Klamotten am Leib ins Wasser springen“, stellte er leise fest, ganz so als könne Es sie hören, je näher sie an die Barrikade heran getreten waren. „Ich werd… einen Arm reinstecken und schauen, ob sich auf der anderen Seite irgendwas wieder nach Luft anfühlt. Und dann… wir… ähm… nehmen die Hunde an die Leine und… versuchen uns irgendwas übers Gesicht zu ziehen“.
Etwas besseres fiel ihm wirklich nicht ein und noch bevor Cassie dagegen Einwände erheben konnte, hatte sich Clarence bereits bis zum Ellenbogen durch den tiefschwarzen Sud gezwängt.
Der Stein war nicht verdampft oder verschmort - zumindest nicht sichtbar. Aber sie wussten auch nicht ob er auf der anderen Seite der Barriere wieder rausgekommen war.
Matthews Wurf hatte somit zumindest bewiesen, dass der schwarze Sud nicht direkt tödlich war. Das sagte aber rein gar nichts darüber aus wie dick die Wand war und ob sie einfach auf die andere Seite gelangen konnten.
Clarence schien allerdings überzeugt davon zu sein, dass es den Versuch wert war. Schnell rappelte er sich auf und suchte die Nähe zu der schwarzen, wabernden Masse.
Cassiel kam ebenfalls wieder auf die Füße, warf noch einen Blick nach hinten über seine Schulter und beeilte sich dann zu Clarence zu kommen.
Der Blonde hatte sich nicht darüber ausgelassen was von Ceyda Besitz ergriffen hatte, aber Matthew war sein Blick nicht entgangen. Ein Blick der besagte, er soll sich nicht lächerlich machen weil die Antwort doch auf der Hand lag.
„Wie breit kann es sein? Es ist binnen Sekunden entstanden.“, erwiderte Matthew und klang dabei einigermaßen selbstbewusst. So als sei er sich der Sache sehr sicher, dass die Wand nicht besonders dick war.
Angespannt presste er die Lippen aufeinander als Clarence sich daran machte das Schwarz erstmals vorsichtig zu berühren.
Alles was in den letzten Minuten geschehen war, war völlig surreal und Matthew konnte weder einschätzen wie ihre Chancen im Kampf gegen das Ceyda Ding standen noch wie wahrscheinlich es war, dass sie heil durch diesen schwarzen Sud kamen.
Die Oberfläche des Zeugs bewegte sich leicht, fast wellenartig. Es glänzte, reflektierte ihre Spiegelbilder aber nicht. Dunkles Blau und Grün zog Schlieren auf dem Schwarz und ließ die Barriere wie etwas lebendiges erscheinen.
Anders als Matthew es erwartet hatte, blieb das Zeug nicht an Clarence‘ Finger haften als dieser seine Hand zurückzog und sie betrachtete. Kein einziges Tröpfchen hatte sich auf Haut oder Stoff niedergelassen, fast so als sei die Masse nichts weiter als ein Hirngespinst und gar nicht wirklich da.
„Wie Wasser, hm?“, echote er leise und hob nun seinerseits eine Hand um die dunkle Substanz mit dem Zeigefinger zu berühren. Wie Wasser das man leicht berührte versetzte die Berührung die Oberfläche in sanfte Wellen, aber Matthew kam nicht dazu die Reaktion zu beobachten oder ihr Aufmerksamkeit zu schenken, denn anders als offensichtlich bei Clarence der Fall, schoss ein gleißender Schmerz von seinem Finger durch seinen ganzen Körper.
„WER BIST DU?“
Grell rote Adern zogen sich für den Moment der Berührung durch den gesamten Wall. Eine Kettenreaktion die nicht auf das Areal beschränkt war, welches Matthew berührt hatte, sondern die komplette Barriere erfasste und auch den Kokon kurz zum Aufleuchten brachte.
Mit einem schrillen, überraschten Schmerzensschrei zog Matthew seine Hand zurück und wich einen Schritt von der Wand weg.
Clarence, der bis zum Ellenbogen in der Substanz steckte, schien keinerlei Schmerz zu empfinden, während von der behandschuhten Fingerspitze mit der Cassie die Masse berührt hatte, Blut tropfte. Fluchend schüttelte der Dunkelhaarige die Hand, schlenzte etwas von dem Blut auf den Boden und wich noch etwas zurück.
„Scheiße, was soll das?“, rief Matthew, der mit dem Schmerz nicht gerechnet hatte, und blickte zu Clarence so als könne der ihm erklären was los war.
„Du… spürst nichts?“, fragte er obwohl er die Antwort schon kannte.
Das Wesen in der Mitte war noch immer reglos, doch die zähe Masse die es umgab und einhüllte war matt geworden und wirkte an manchen Stellen porös.
Hatte Clarence die grollende Stimme ebenso gehört wie er?
Im Augenblick war sie wieder verstummt, aber sie hatte eindringlich und verzweifelt zu gleich geklungen.
Die Frage danach wer er war, war eine Frage die Cassiel nicht verstand, aber dem Ding schien es wichtig zu sein.
Was auch immer aus Ceyda geworden war, es schien sich an Matthew nicht mehr zu erinnern.
Der Dunkelhaarige schaute nochmal zu dem Wesen, dessen Mantel rötliche Risse bekommen hatte.
„Du solltest gehen.“, kam es Cassie über die Lippen ohne den Blick von der Kreatur abzuwenden.
„Im ernst jetzt. Dir tut das Zeug nicht weh, also geh. Nimm die Hunde und sieh zu, dass du weg kommst.“ , erst jetzt blickte er wieder zu Clarence und zwar eindringlich und bestimmend, damit Clarence gar nicht auf die Idee kam mit ihm darüber zu diskutieren. „Ich find schon einen Weg raus. Ich komme nach.“
Heftig zuckte Clarence zusammen und zog sich aus der schwarzen Masse zurück, als der Schrei seines Mannes über das Areal schallte und die Hunde erschreckt bellen ließ. Er dachte bereits, dass das Cedya-Monster wieder zum Leben erwacht war und Matthew hinterrücks mit irgendwelche Auswüchsen abgestochen hatte, denn der Laut war ihm derart durch Mark und Bein gefahren, dass definitiv irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. Als wäre ihm ein Bein abgefallen und er verlöre das Blut eimerweise, leuchtete die Barriere bis hin zum Kokon rot auf und ließ Clarence bereits aus Reflex nach seinem Gewehr greifen, das er sich wieder über die Schulter gehängt hatte.
„Was ist los?!“, wollte er wissen und schaute sich panisch um, nicht wissend wohin mit sich - ganz im Gegenteil zum Dunkelhaarigen, der noch immer fluchtlos an Ort und Stelle stand und ihm ganz unbegründet einen Adrenalinschub verpasst hatte… mal abgesehen von dem tödlichen Monster weit hinter ihnen.
„Was? Was soll ich spüren?“, fragte er perplex nach und wusste selbst dann nicht wovon Cassie sprach, als er das Blut von dessen Finger tropfen sah. Hatte sie ihm den Finger mit der Macht ihrer dämonischen Gedanken explodieren lassen? Oder hatte einer der Hunde ihn aus Angst in die Hand gebissen?
Es dauerte einen Moment, bis der Jäger eins uns eins zusammen gezählt hatte, denn ihm selbst fehlte nichts trotz seinem waghalsigen Vordringen in die dunkle Masse. Es fühlte sich nicht seltsam an, außer dem offensichtlich beklemmenden Gefühl sich in unbekanntes Terrain begeben zu haben; nicht mal ein einziges Haar hatte es ihm gekrümmt und daher war es schwer zu begreifen, dass es Matthew damit anders ergangen sein sollte.
„Was hast du getan?“, Fragen über Fragen lagen in der Luft und schossen durch seinen Kopf und die erste war, ob der Kerl wohl was falsch gemacht hatte um so zu enden - immerhin kannte er diese Marotte von seinem Mann ja bereits seit dem Aufeinandertreffen mit den Spinnen. Schon da hatte er ihn angewiesen sich nicht zu bewegen und das was Cassie getan hatte, war schreien und rumrennen.
Es lang also nahe, dass der Jüngere irgendwas anders gemacht haben musste als er selbst. Oder hatte sein eigenes Eindringen eine Abwehrreaktion ausgelöst?
So viele Rätsel steckten in dem was hier vor sich ging und es gab weder Zeit, noch ausreichend Jäger, um sich mit dem Phänomen zu beschäftigen und Antworten auf die Fragen zu finden, die um sie herum herrschten - denn jene, die wie das Flüstern der Schatten in ihren Köpfen herrschten, waren für den anderen weit weniger offensichtlich.
Bevor sich Clarence weiter damit auseinander setzen konnte ob sie eine Kettenreaktion ausgelöst hatten, Matthews Berührung den Schaden an sich und an dem Kokon verursacht hatte oder der Ursprung der Verletzung im Zentrum der Kreatur lag, kam der einstige Söldner mit einer ganz neuen Idee zur Rettung ihrer unschuldigen Seelen an, die so dumm war, dass sie wirklich nur von dem Trottel kommen konnte, der sich sein Ehemann schimpfte.
Clarence wusste gar nicht was er sagen sollte und schaute sein Gegenüber fassungslos an, ihn von Kopf bis Fuß musternd, ob vielleicht die Kreatur von Cassie Besitz ergriffen haben konnte. Der Mist konnte ja wohl hoffentlich nicht sein Ernst sein und genau das wollte Claire auch von ihm bestätigt haben.
„Sag mal, hat dir das jetzt auch noch die letzten Synapsen durchgebrannt?!“, deutete er auf den blutenden Finger und in seiner Stimme war deutlich zu hören wie wütend er auf Cassie alleine schon deshalb war, weil er sich verletzt hatte. Alleine zurück zu bleiben wäre vergleichsweise deutlich schlimmer und womöglich konnte sich sein Mann deshalb vorstellen, wie wütend ihn das Szenario machen würde. „Was stimmt eigentlich nicht mit dir, du Torfkopf?“
Wütend schlug er ihm gegen dem Arm - der wohl einzig verbleibende Ort den Cassie sich beim Absturz nicht zertrümmert hatte und an dem man ihn noch rügen konnte.
„Das hier ist doch keine Liebesschnulze aus dem Theater, wo du mich voraus schicken und dich selbst opfern kannst. Hör ich nochmal so einen Scheiß von dir, schmeiße ich dich mit dem Kopf voraus in das beschissene Ding da hinten. Wirklich!“, fuhr er ihn wütend an und deutete zum Kokon hinüber, das ihm hoffentlich noch mehr schaden würde als die blöde Barriere vor ihnen.
„Du solltest gehen…“, äffte er Cassie gallig nach. „Über dein Verhalten reden wir, wenn wir wieder in Sicherheit sind. Darauf kannst du dich jetzt schon mal vorbereiten.“ - Garstig drückte er dem Trottel das Gewehr wieder in die Hand, denn Plan A war damit ja nun offiziell Geschichte.
Enttäuscht über so viel Dummheit schüttelte Clarence den Kopf, bevor er wieder die Stimme erhob: „Okay, neuer Plan. Das Teil bekommt offensichtlich Risse. Ich suche die Munition, dann schießen wir den Panzer kaputt. Das Vieh ist überrascht und bekommt in seinem Taumel die Kugel zwischen die Augen. Fall gelöst.“
Das mochte ein etwas überheblicher Plan und sehr optimistisch dahingehend sein nicht in den ersten fünf Sekunden nach dem ersten Schuss getötet zu werden, aber es war die beste Idee, die Clarence so schnell schmieden konnte - und das beste was er hin bekam, noch immer die bescheuerten Worte seines Mannes im Kopf.
Dass Clarence seinen Vorschlag nicht gutheißen konnte, war Matthew eigentlich klar gewesen.
Er kannte den Blonden besser als jeden anderen und bisher hatte es keine einzige Situation gegeben, in der Clarence ihn hatte hängen lassen.
Selbst als sie einander nicht mehr als Gefährten gewesen waren, hatten sie einander immer den Rücken freigehalten. Clarence hatte Matthew stets mit Argusaugen bewacht und Matthew hatte ebenfalls auf den Blonden geachtet, manchmal im Hintergrund, manchmal direkt an seiner Seite.
Egal wie schwierig, egal wie anstrengend oder gar aussichtslos: sie kamen entweder beide lebend hier raus oder keiner schaffte es.
Genau diese alles oder nichts Attitüde war Matthew von sich selbst sehr vertraut und gleichzeitig konnte er sie bei Clarence nicht leiden. Weil es gefährlich war hier zu bleiben, weil er nicht wollte, dass Clarence etwas passierte, weil er ihn in Sicherheit wissen wollte und doch nur eines sicher wusste: der bärtige Unhold würde nicht gehen, egal was kam. Und das obwohl allein der Gedanke daran, dass dem Anderen etwas passierte, Matthew fast schon körperliche Schmerzen bereitete.
Aber statt ihn zu überraschen und mit den Hunden zu gehen, blieb er wie erwartet stur und blaffte ihn an.
Der Blick seiner blau-grauen Augen richtete sich vernichtend auf ihn und strafte den Jüngeren ohne, dass es Worte brauchte.
Aber nur dabei blieb es nicht. Clarence ließ es sich nicht nehmen auch verbal zum Ausdruck zu bringen wie schlecht er Matthews Idee fand und wie wenig er vorhatte auch nur kurz darüber nachzudenken.
Einen Torfkopf nannte er ihn und stieß ihm gegen den Oberarm.
„Wenn mein Leben eine Liebesschnulze wäre, wäre ich ganz bestimmt nicht hier!“, erwiderte dieser gallig.
„Lass gut sein, Blondie. Reg dich ab bevor du noch eine Herzattacke kriegst. Es war nur eine Idee.“
Er selbst wäre auch nicht gegangen und er hatte auch nicht erwartet, dass Clarence ging - aber es wäre definitiv vernünftiger gewesen. Stattdessen erläuterte der Hüne ihm seinen neuen Plan, der derart dürftig war, dass sich selbst Clarence noch unterbot - und das war schon erstaunlich, weil der Kerl eigentlich nie einen vernünftigen Plan hatte.
„Oh ja, genialer neuer Plan. Hast du vorhin nicht noch gesagt, dass es riskant ist Ceyda zu töten weil das Ding in ihr dann freikommt?“ - er nahm das Gewehr, hob es kurz und zielte in Richtung der Kreatur.
Der Kokon war matt geworden, durchzogen von glimmenden Rissen.
„Ich bin Clarence Sky und mir zu fein um abzuhauen, aber ich habe noch irgendwo ein bisschen magische Munition rumliegen, damit möchte ich gern herumballern und sehen was passiert.“, stichelte er, das Gewehr wieder sinken lassend.
Sie waren beide dickköpfig wenn es darum ging für den anderen das Beste zu wollen.
Clarence hatte nicht vor Matthew allein zu lassen und Matthew wiederum hatte nicht vor Clarence Leben unnötig zu gefährden. Und in dieser Patt-Situation waren sie nun gefangen und mussten sich etwas überlegen, damit sie alle heil aus der Sache rauskamen.
„Wenn ich meine zwei Kupferlinge Meinung abgeben darf:
der Panzer sieht nicht gut aus. Kann natürlich sein, ich liege falsch aber für mich sieht es so aus, als wäre es dem Ding nicht gut bekommen als ich die Wand angefasst habe.“
Er wusste nicht warum, er wusste nicht ob es stimmte aber für ihn wirkte es so, als hätte seine Berührung ihnen beiden geschadet.
„Vielleicht…sollte ich es nochmal tun?“
Mit einem hörbaren Knacken brach der Kokon ein Stück auf und ein Brocken der schwarzen Kruste fiel zu Boden.
Darunter lag weiteres mattes Gewebe, es wirkte fleischig und verbrannt. Dünne Rauchschwaden stiegen von der Stelle empor und kräuselten sich deutlich sichtbar in der kalten Winterluft.
Angewidert verzog Matthew das Gesicht bei dem Anblick.
„Okay… ich bin nicht der Experte für widerliche Zauberwesen, aber das da sieht nicht gesund aus.“
Seitdem Ceyda heute auf ihn zugetorkelt war hatte sich ihr Zustand nicht verbessert und falls vorhin noch etwas Leben in ihr gewesen war, so war es mittlerweile erloschen.
Schwach pulsierte das Wesen, wie ein Herzschlag pumpte es in den Ausläufern die über den Boden gekrochen waren, nur dass das Klopfen sich beachtlich verlangsamt hatte im Vergleich zu vorhin.
Durch die schwarze Substanz die Ceyda vollständig überwuchert hatte und deren Kokon aufgeplatzt war, ging ein Zucken und es löste sich eine teerartige Tentakel heraus.
„Wenn du es erschießen willst… ist das jetzt… der richtige Moment…“, murmelte Cassie, der das Wesen mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu betrachtete.
Hatten sie überhaupt eine Chance gegen dieses…
was auch immer es war?
Ein weiteres Mal krachte die Kruste und darunter kam noch ein langer Arm zum Vorschein der sich wie eine augenlose Schlange gen Himmel reckte. Zu was auch immer Ceyda geworden war, es war nicht menschlich… und es erwachte.
Sie waren beide unheimlich dickköpfig und eigentlich nicht füreinander geschaffen. Sie hatten nichts in dem sie sich brauchbar ergänzten, keiner von ihnen war eher der devote Typ der sich einfügen und führen lassen konnte und weder Matthew, noch Clarence waren gut darin, bei Meinungsverschiedenheiten nachzugeben.
Die Alles oder Nichts-Attitüde, die sein Mann so sehr am Älteren hasste, hatte der Jüngere genauso wie er selbst. Sie stürzten sich gerne mit dem Kopf voran ins Unglück, immer ein wenig in dem Glauben sie wären unzerstörbar und unsterblich. So als gäbe es nichts was ihnen ein Haar krümmen konnte, opferten sie sich lieber selbst anstatt zuzulassen, dass dem jeweils anderen etwas geschah. Sie waren beide derart darauf fixiert einander zu schützen, dass sie einander nicht selten genau deshalb sauer machten. Keiner wollte sich deckeln lassen oder einander als Schutzschild haben - aber jeweils für sich zu kämpfen und am Ende auf das Beste zu hoffen, war auch nicht ihr Ding.
So wie Clarence alleine hinter sich aufs Feld rennen würde, dem Monster von Angesicht zu Angesicht, nur um es aus nächster Nähe sicher erschießen zu können - so war Matthew gewillt sich todesmutig in die Barriere zu werfen, nur um dem Blonden davor zu bewahren hier und jetzt zu sterben. Was dabei aus ihm werden würde, wussten sie beide nicht. Blieb es bei einem blutenden Finger? Würde ihm der Arm absterben oder er einfach in Millionen kleine Teile explodieren, wenn er das teerartige Schwarz ein weiteres Mal berührte?
„Wenn ich eine Herzattacke bekommen würde, hätte ich es wenigstens hinter mir und müsste mir deine dämlichen Vorschläge wenigstens nicht mehr anhören“, gab er biestig zurück während Cassie ihn nun seinerseits nachäffte, auf eine Weise wie sie sich immer stritten, wenn die Ideen des anderen absoluter Mist in ihren Ohren waren.
Cassie hielt nicht viel davon Es zu erschießen, aber die Hand des Jüngeren dafür zu opfern, war auch keine annehmbare Option um hier weg zu kommen.
„Sei froh, dass ich so gerne rumballere. Ansonsten wäre ich heute vermutlich gar nicht mehr hier und niemand würde sich deinen Quark anhören, du Torfkopf.“ - Angefressen warf er ihm abermals diese Beleidigung an den Kopf, wohl wissend wie sehr den Jüngeren das auf die Palme bringen konnte. Sie waren einfach nicht dafür geschaffen sich gemeinsam eine geradlinige Lösung zu überlegen, aber das machte nichts. Anders kannten sie sich ja auch gar nicht.
Scharf rief er mit einem Pfiff die Hunde zu ihnen zurück, die spürbar unruhig geworden waren und unwirsche Bahnen zwischen ihnen und dem Ding zogen. Nicht mal die Riesenspinnen oder die gefährlich klebenden Netze hatten ihnen als Welpen Angst bereitet. Dass nun ausgerechnet ein schwarzer Kokon die riesigen Junghunde aus der Fassung brachte, sagte bereits genug darüber aus, dass kein Mutant ihnen gegenüber stehen konnte, sondern etwas viel viel schlimmeres als das.
„Komm her“, zischte er Kain entgegen und griff nach seinem Halsband um ihn hinter sich zu ziehen und eine Barriere für ihn zu bilden, selbst wenn er nicht als der Fels in der Brandung fungieren konnte, der er gerne sein wollte.
Immer wieder drang das Geräusch von leisem Krachen und Knacken über das Areal hinweg und umgab sie wie Eis, das einem unter den Füßen langsam zerbrach, wenn man zu weit auf den gefrorenen See hinaus gelaufen war. Er konnte sich noch gut an damals erinnern, als er selbst noch ein Kind gewesen und mit den anderen Schlittschuh gelaufen war. Gerade im beginnenden Frühjahr hatte man gut daran getan seine Ohren dem dünner werdenden Eis dichter zu halten als seine Kufen und nicht selten hatten sie das Weite suchen müssen, wenn sie die Haltbarkeit überschätzt hatten. Bis auf ein Mal war das auch immer gut gegangen. Aber das machte das kleine Mädchen nicht mehr lebendig, das damals ertrunken und unter dem dicken Eis verschwunden war.
So wie damals fühlte es sich auch heute an. Alles was sie hatten tun wollen, war einen schönen Ausflug und einen tollen Tag zu haben. Doch statt Freude und Ausgelassenheit drang das leise Knarren an seine Ohren, das schon damals nichts gutes geheißen hatte und ähnlich wie die schwarzen Ausläufer des tiefen Sees waren es dieses Mal wahrhaftige schwarze Ausläufer, die sie in den sicheren Tod ziehen würden.
Mit einem dumpfen Schlag fiel ein Stück des aufgebrochenen Panzers zu Boden und zerschellte dort in grobe Scherben. Das Innere, kochendem Fleisch gleich, schlug dünn brennende Flammen am Panzer empor und ließ augenblicklich Schnee und Eis in einem schmalen Radius um den Kern herum zerschmelzen. Was auch immer in der Kammer vorhing - eine Metamorphose gleich einem Lebewesen, das sich selbst neu in dem Flammen schmiedete - es bedeutete nichts gutes und der unauslöschlich gläubige Teil in Clarence hätte seine Hand dafür ins Feuer legen können, dass sich im Kokon gerade die Pforten ins Fegefeuer und die Hölle öffnete.
Einen langen Moment war der Ältere nicht dazu in der Lage sich zu rühren. Wenn sie als Jäger dazu gerufen wurden, dann meistens, weil jemand begonnen hatte sich seltsam zu benehmen und es eine fachkundige Meinung brauchte, ob exorziert werden musste oder nicht. Sie bekämpften Mutanten, ganz gleich ob klein und Genger für nur einen Mann oder ob riesengroß und zu Zehnt zu bekämpfen. Er fing mit Vorliebe Hexen ein und konnte stundenlange Vorträge darüber halten, wie man Holzscheite am besten aufstapelte, damit man darüber so lange wie möglich gefoltert und am Ende möglichst heiß verbrannt wurde, damit nicht einmal mehr ein kleiner Knochen von dem- oder derjenigen übrig blieb.
Aber Clarence hatte noch nie das gesehen.
Weiteres Knacken wallte über den offenen Platz zu ihnen hinüber und mit drehendem Wind schlug Gestank zu ihnen hinüber, der von dem Ding ausgesondert und zu ihnen hinüber geweht wurde. Verrottenden Innereien gleich, schlugen die Flammen höher und ließen nichts zurück als verbrannte Erde, auf die schwarzrote Flüssigkeit von den Tentakeln hinab tropfte
Mehrmals zog Kain an seinem Arm, bis er schließlich los ließ und der dunkle Rüde zurück zu seinem Bruder torkelte; gemeinsam waren sie definitiv stärker und das gleiche galt auch für Matthew und ihn, ganz gleich welcher Plan nun der beste sein mochte.
„Okay okay… wir einigen uns auf folgendes: Du machst mit der Barriere was du willst und ich suche die Kugeln trotzdem. - Und war jetzt“, fügte er eindringlich hinzu, als sich das verbrennende Fleisch durch das neu entstandene Loch im Kokon hindurch quetschte und erste blutrote Blasen sichtbar wurden. An den scharfen Rändern des Kokons rissen einige von ihnen auf und noch während der Inhalt hinab lief, verätzte er auf seinem Weg alles was er berührte, selbst die teerartige Kapsel in der das Ding sich entwickelt hatte.
Lautstark leerte er einen Teil seines Rucksacks auf dem Boden aus, wühlte sich augenblicklich durch die Sachen und suchte nach einer kleine alten Blechdose, in der er Kram und allerlei Tand aufbewahrte.
„Nimm... tu' mir einen Gefallen und nimm deine verdammten kleinen Finger, wenn es schon sein muss. Glaub mir, die brauchst du am wenigsten, falls doch was von dir in die Luft fliegt!"