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Winterwanderung

18. August 2210


Matthew C. Sky

Ob es dazu kommen würde, dass sie stündlich eine Pause machten um einander auf diese schöne Art zu wärmen, dass wurde von einer Sekunde auf die nächste fraglich, denn mit Clarence‘ Sturz ging ein schrecklich endgültiges Knacken einher. 

Schon in dem Augenblick da sie beide in den Schnee plumpsten und er das Geräusch hörte war Matthew klar, dass sich der Blonde wehgetan hatte. Und zwar so richtig. 

Ein stechendes Gefühl stach in seiner Brust, nicht etwa weil er selbst den Schmerz spürte, sondern weil er sich vorstellte welche Schmerzen Clarence litt. 

Das Herz rutschte ihm in die die Hose, sein Lachen verstummte und Panik wallte in ihm auf.

Der Schrei des Hünen ging ihm durch Mark und Bein und sofort bereute Cassiel seine übermütige Attacke. 

„Oh Gott, oh Shit, oh verdammt!“, stammeltet er voller Panik und robbte von dem am Boden liegenden Wildling herunter damit er frei kam „… d-das wollte ich nicht. Tut mir leid oh f-fuck, es tut mir so leid!“, er krabbelte panisch von Clarence weg und blieb auf allen Vieren vor ihm hocken. 

„Oh verdammt, bleib ganz ruhig…. Nicht bewegen. Wir gehen zurück, ich hol Hilfe!“

Clarence‘ Stimme klang ganz zittrig und sein Versuch die Finger zu bewegen sah seltsam ungelenk aus. 

Da überlebte der Kerl einen Zeppelinabsturz ohne Knochenbrüche und dann brach Matthew ihm durch seinen Übermut den Arm. 

„Claire… ich… ich helfe d-dir…ich~“ - die Panik die er verspürte machte den sonst so aufmerksamen jungen Mann blind für die Scharade die der Blonde spielte und ebenso blind für den Schnee, den er zwischen seinen Fingern zusammenklaubte. 

Als der locker zusammengesammelte weiße Ball ihn ins Gesicht traf, da war Cassie im ersten Moment so perplex, dass er gar nicht begriff was los war. 

Clarence‘ gebrochener Arm sah plötzlich gar nicht mehr gebrochen aus und erst jetzt sickerte langsam die Bedeutung des Wortes ‚verarscht‘ in seinen Verstand. 

Eisig kalt rieselte der Schnee in seinen Kragen und schmolz auf seiner erhitzten Haut zu Rinnsalen die sich auf unangenehme Art ihren Weg suchten. 

Aber noch schlimmer war die Erkenntnis, dass er Clarence auf den Leim gegangen war. 

Das Knacken hatte nicht etwa von seinem Arm hergerührt, sondern von einem vermaledeiten Ast. 

„Verarscht?!“, rief Cassie überrascht und verärgert seinem Mann hinterher, welcher bereits auf der Flucht war. 

„Na warte! Das hast du nicht umsonst gemacht!“ fluchte Cassiel, dem noch immer Schneeflocken in seinem drei Tage Bart hingen. Er rappelte sich auf, klaubte dabei eine Hand voll Schnee zusammen und presste ihn mit der anderen zu einer Kugel zusammen. 

„Du kommst nicht davon!“ rief er dem Flüchtenden zu, der von beiden Hunden verfolgt wurde die mit dem zerborstenen Stock spielten.  

Endlich hatte er den Schock überwunden und setzte sich im Bewegung. Noch im Rennen warf er den Schneeball, welcher den Hünen knapp verfehlte. 

Cassie eilte weiter durch die Schneise die Clarence im Schnee schlug, raffte neues Weiß zusammen und warf auch diesen Ball nach dem Größeren. Dieses Mal traf das Geschoss seinen Ehemann am Hinterkopf und zerschellte in tausend Einzelstücke. 

„Nimm das!“ rief Matthew aus und formte bereits den nächsten Schneeball um auch diesen auf Clarence zu schleudern. Auch dieser Ball traf, aber Matthew kannte noch immer keine Gnade. 

So schnell wie er konnte rannte er dem Wildling nach, doch seine lädierten Rippen ließen nicht zu, dass er dem Blonden näher kam. Ohne, dass sich der Abstand nennenswert verringerte verfolgte er den Blonden so lange er konnte, bis er schließlich stehenblieb, sich mit den Händen auf die Knie stützte und keuchend um Atem rang. 

„He…he… warte!“, rief er außer Puste und blickte zu Clarence, der schließlich stehenblieb und sich zu ihm umdrehte. 

Er strahlte wie ein kleiner frecher Junge, die Mütze schief auf dem Kopf von den Treffern die Cassie gelandet hatte. Schnee auf den Schultern und der Jacke von seinem Sturz in das kalte Weiß. 

„Ich…ich  kann nicht mehr…!“, keuchte Matthew und setzte sich langsam wieder in Bewegung, einen Arm über seinen Bauch gelegt und die Hand auf seine Seite gedrückt um sich die Rippen zu halten. 

„Warte… auf… mich…“. Ungerechterweise hatte er aktuell keine Chance mitzuhalten, aber Clarence war gnädig genug um darauf Rücksicht zu nehmen und tatsächlich zu warten. 

„Das war… so… ein blöder… Scherz!“, tadelte er außer Puste und kam auf Clarence zu gewankt. 

„Du…kannst…froh sein, dass… ich… angeschlagen bin!“

Ohne noch einen bösen Hintergedanken zu haben überbrückte Matthew die letzten Meter und schmiegte sich an den Größeren, das Gesicht gegen die Halsbeuge des Hünen drängend. Sein Herz schlug schnell von der kurzen aber mittlerweile ungewohnten Belastung und er brauchte diese Moment der kleinen Pause. 

„Du hast mich… ziemlich erschreckt.“ - und das war eigentlich noch untertrieben. „Du musst… ab jetzt jederzeit… mit meiner… Rache rechnen.“

Aber vorerst hatte Clarence noch Glück, dass der Dunkelhaarige einem offenen Duell nicht gewachsen war. 


Clarence B. Sky

Erschrocken zuckte Clarence zusammen und hob die Hände an den Hinterkopf, so als könne er sein blondes Haupt noch vor dem Treffer schützen, der soeben gelandet worden war. Im Stick der Mütze pappte kalter Schnee, rieselte auf seine Schultern, aber vor allem in seinen Kragen hinab und machte ihn theatralisch schreiend - immerhin war sein Mann ein Söldner und wenn der wollte, würde er ihn zweifelsohne auch mit einem Schneeball umbringen können.

Hilfe, ich wurde getroffen! Getroffen!“, flehte er nach Hilfe, doch in der weißen Schneehölle ohne Erfolg. Bis auf das riesenhafte Monster in der Ferne und kleine abgemagerte Häschen im Nahen, hatten sie hier noch keine Lebewesen zu Gesicht bekommen und damit war es fraglich, ob heute denn jemand aus den verschneiten Büschen gesprungen kam um ihn zu retten.

Wild bellte Kain an seiner Seite, der es noch nie gut ertrug wenn man sich gegenüber einem seiner Herrchen nicht gut benahm und auch heute schlug er Alarm ob der plötzlichen Unruhe, die er so gar nicht gewohnt war. Die aufgedrehten Kinder waren für ihn schon eine Herausforderung, wenn sie draußen im Hof am Mittag kreischten und Schneemänner bauten; dass sich ihre beiden sonst sehr erwachsenen Besitzer nun fast noch schlechter benahmen als die kleinen Menschen auf dem Hof, schien für ihn kaum zu ertragen zu sein.

„Los Abel, geh zu Cassie. Zeig ihm deinen tollen Ast, ab zu Cassie mit dir!“, versuchte er den anderen dazu zu animieren, seinem Verfolger ruhig etwas um die Beine zu springen und ihn davon abzuhalten ihn hartnäckig zu verfolgen.

Doch wie immer wenn es um was ging, zeigte der helle Hund nur sehr wenig Engagement und Cassie unerwartetes Talent, aus seiner schlechten Lage noch das Beste rauszuholen.

Ein weiteres Mal traf ihn das scharfe Geschoss und wäre es eine Splittergranate anstelle eines splitternden Schneeballs gewesen, dann wäre Clarence schneller zu Boden gegangen als Cassie früher leichte Mädchen in Gasthäusern klar gemacht hatte. Doch heute war das Schicksal auf seiner Seite und wenigstens ein Mal konnte man ja gegen den schmalen Waldläufer mal gewinnen, so viel Glück durfte auch der Jäger mal haben.

„Was ist los? Schwächelst du?“, rief er über die Schulter nach hinten und wandte sich ihm schließlich zu, trotzdem noch immer auf das schlimmste gefasst. Statt so gut wie es ging durch den Schnee zu rennen, hatte er einen gemütlichen Rückwärtsgang angeschlagen - doch ganz stehen blieb er nicht, denn Matthew war nicht blöd und spielte aus Rache nun vielleicht ebenso die Karte des Verletzten.

Ganz genau behielt er die Flossen des Jüngeren im Blick. Wenngleich die Art wie Cassie sich die Seite hielt ihm Sorgen bereitete, durfte er sich nach seinem eigenen hinterlistigen Angriff nicht zu sehr in Sicherheit wiegen.

„Ich denke, das war ein ganz ausgezeichneter Scherz!“ - Das wusste der Ältere und so tückisch er auch gewesen sein mochte, war er mindestens genauso gut. Da brauchte sein Mann nichts gegenteiliges behaupten.

Clarence drosselte sein Tempo etwas, bis Matthew deutlich aufholen und ihn schließlich einholen konnte. Widerstandslos ließ er zu, dass der Kleinere sich erschöpft an ihn schmiegte und für einen Moment lauschte er einfach nur dem matten Schnaufen, das für den anderen ganz ungewöhnlich war.

„Ich hab das Gefühl du wirst alt, mein Guter“, neckte er ihn verliebt, wohl wissend dass seine lädierten Rippen daran schuld waren und nicht das zunehmend hohe Alter. „Heute Abend, wenn wir ein schönes warmes Feuer gemacht haben, schaue ich mal ob ich schon ein paar graue Haare bei dir finde.“

Als wolle er ihn behütend umarmen, regten sich seine Arme - doch anstatt ihn an sich zu drücken, schirmte er mit den Händen vorsichtig die Handgelenke des Jüngeren von sich ab, denn mit Rache musste er ab jetzt jederzeit rechnen.

Frech schmunzelnd, drückte er seinem verrückten Gefährten einen kurzen Kuss auf die Stirn und machte dabei keine Anstalten ihn von sich zu weisen oder sich allzu schnell wieder in Bewegung zu setzen.

„Was machen deine Augen und deine Hand, mh? Scheint ja wieder ganz gut zu sein, so wie du triffst.“ - Das war eine präzise Zusammenfassung des versuchten Mordes, der eben auf ihn stattgefunden hatte. Aber keine direkte Antwort auf seine Sorge, die er dann und wann noch immer hegte.

Schon vor der Entlassung aus Doktor Bennetts Haus war Matthew nervlich so überspannt gewesen, dass er es ihm verboten hatte ständig nachzufragen, wie es um sein Augenlicht und seine Motorik stand. Die verschwommene Sicht war nur sehr langsam besser geworden und erst seitdem Matthew mit Lucy Bogenschießen übte, sah Clarence zum ersten Mal, wie zielgerichtet der Jüngere wieder zielte und wie ruhig der Pfeil das Ziel traf… und wie präzise die Schneebälle auf seinem Hinterkopf zerschellten. Das war nicht das Werk von trüben Glotzkorken und unruhigen Griffeln.

„Wenn jetzt deine Rippen noch heilen würden, hätte ich dich das erste Mal seit Monaten fast wieder im Werkszustand. Ich glaub’s ja nicht.“


Matthew C. Sky

Erschöpft lehnte Cassiel an Clarence, das Gesicht an dessen Hals geschmiegt und seinen Duft einatmend. 

Ein charmanter Ehemann hätte ihn nun umarmt, statt seine Handgelenke abzuschirmen. Und er hätte ihm vielleicht gesagt, dass es eine grandiose Jagd gewesen war und er selbst auch nicht mehr konnte. 

Er hätte sich sicherlich für seinen fiesen und unangemessenen Scherz entschuldigt und Reue gezeigt.   

Aber sein Ehemann war so überhaupt gar nicht charmant. Er war ein frecher, ungehobelter Kerl ohne Anstand und tatsächlich… war das auch gut so. 

Matthew liebte diesen Zausel, auch wenn dessen These - Cassie wurde allmählich alt - an Dreistigkeit kaum zu überbieten ging. Seine freche Äußerung tat er auch noch mit einem Schmunzeln in der Stimme kund, ganz schamlos sein Amüsement zum Ausdruck bringend. 

Obgleich der Dunkelhaarige Clarence nicht lächeln sah, wusste er trotzdem ganz genau wie der Hüne nun aussah. 

In seinen Augen würde ein jungenhafter Glanz liegen und um sie herum winzige Lachfältchen. Er würde aussehen wie der Knabe der er einst gewesen wär, bevor das Schicksal ihn geprägt hatte. 

Ganz mit sich zufrieden war der Kerl und diese Zufriedenheit führte dazu, dass er leichtsinnig wurde und es übertrieb. 

Und die Behauptung, dass Matthew allmählich alt wurde, war so eine Leichtsinnigkeit, welche Cassiel mit einem Hieb gegen seinen Oberarm quittierte. 

„Hey! Du spinnst wohl!“, konterte er empört, sich aus der Halsbeuge gelöst habend und verärgert zu Clarence aufblickend.

„Wenn hier einer langsam alt wird, dann bist du das. Unter normalen Bedingungen hätte ich dich locker eingeholt.“, ob das nun stimmte blieb mal dahingestellt. 

Er war zwar schnell und wendig, aber Clarence war auch keine lahme Ente - wahrscheinlich hätte er ihn eingeholt, aber nur an einem guten Tag und auch dann nicht mühelos. Trotzdem unterstrich Matthew seine Behauptung vehement in dem er Clarence mit dem Zeigefinger gegen die Brust piekste und damit deutlich machte, dass er keinerlei Widerspruch duldete. 

Davon unbeeindruckt gab der Wildling ihm einen Kuss auf die Stirn und glättete durch diese simple Geste alle Wogen wieder einigermaßen. 

Während Kain und Abel mittlerweile um den Stock kämpften, war der Krieg zwischen den beiden jungen Männern nun mehr vorerst beendet. 

„Im Werkszustand, hm?“, wiederholte er und schmunzelte vage. Dieses Wort hatte Clarence vermutlich in einem der etlichen Auftragsbücher aus der Werkstatt gelesen und es sich aufgespart, um es im passenden Moment zum Besten zu geben. Amüsiert hob der Jüngere eine Hand an der von Clarence geschaffenen Barriere vorbei und zog selbigen an seinem Bart herunter zu sich um ihn kurz auf die Lippen zu küssen. 

Auf ihnen schmeckte er Wärme und Winter und Vertrauen. 

„Meine Augen sind okay soweit, schätze ich. Und meine Hand auch. Und die Rippen… sind so gut wie neu. Ich glaube, näher am Werkszustand wirst du mich nicht kriegen.“ - konterte er flachsend, obgleich er wusste, dass dieses Thema, schnitt er es denn an, Clarence stets ernst war. 

Sie waren beide schon immer mehr um das Wohl des anderen besorgt gewesen als um ihr eigenes und in diesem Punkt würde sich wahrscheinlich auch nie etwas ändern. 

Die Wahrheit war, er hatte sich mit allem arrangiert. 

Sein lädiertes Auge war nicht vollkommen verheilt, aber mittlerweile hatte Cassiel gelernt mit der leichten Einschränkung zu leben - und vielleicht würde mir der Zeit auch der letzte Schatten Unschärfe wieder verschwinden. 

Und was seine Hand betraf, so hatte der Hundebiss zwar Vernarbungen verursacht, aber dank Clarence‘ Versorgung waren diese nur minimal und behinderten den jungen Mann kaum. 

„Und was ist mit dir, hm? Was machen deine Schulter und Füße?“

Vielleicht hätten sie ihre Wehwehchen vorher miteinander besprechen sollen - bevor sie sich aufmachten um für die Gruppe jagen zu gehen. Aber wahrscheinlich hätte sie sowieso nichts davon abhalten können diesen Ausflug zu machen. 

„Wenn du mich heute Abend vorm Feuer ärgerst in dem du graue Haare suchst, dann wirst du die Nacht mit den zwei Verrückten da auskommen müssen, weil ich dann nämlich auf der anderen Seite des Lagers schlafe.“

Und das wollten sie beide nicht, auch wenn sie die Hunde liebten.  

Nochmals zog Matt Clarence behutsam zu sich herunter und gab ihm einen Kuss, die Lippen leicht öffnend und sich hauchzart mit der Zunge Einlass erbittend. Es war ein Kuss der nichts forderte aber alles versprach. 

Warm schmiegte sich der Jüngere an den Blonden, behutsam durch dessen Bart kämmend. Schon damals, Wochen bevor er sich zum ersten Mal getraut hatte den Schamanen zu küssen, hatte sich Matthew vorgestellt wie es wohl wäre es zutun, wie es sich anfühlen würde ihn an seinem Bart an sich zu ziehen und ihn daran bei sich zu halten. Die Fantasie hatte mit der Realität nicht mithalten können, wie sich mittlerweile gezeigt hatte und aus der Vorstellung war eine stille Vorliebe Matthews geworden. 

Vielleicht lag es daran, dass Clarence speziell war wenn es um seinen Schopf und Bart ging und Matthew wusste, dass nur er beides anfassen durfte. Vielleicht lag es auch daran, dass die Geste an sich sowohl etwas behütendes wie auch forderndes an sich hatte - ganz gleich weshalb, es machte Cassies Bauch immer kribbeln, küssten sie einander wie in jenem Moment. 

Fast tat es ihm leid, als er die Finger aus dem goldblonden Bart löste, stattdessen blitzschnell hoch nach Clarence‘ Mütze langte und ihm den Stoff vor die Augen zog. 

Die plötzliche Verdunklung von Clarence’ Welt nutze der Dunkelhaarige um sich zu bücken, eine Handvoll Schnee zusammen zu sammeln und sie dem Hünen ohne zu zögern ins Gesicht zu reiben. „HA!“ rief er triumphierend giggelnd aus. „Da hast du’s!“ - und aus Furcht vor der Rache seines Mannes, sprang er gleich darauf ein Stückchen nach hinten, sammelte einen neuen Schneeball zusammen und hielt diesen in der Hand. Abwartend was der Ältere tat, ging er noch einen Schritt zurück. Wohlwissend, dass die einzige Chance eines Böckchens es war, sich nicht von einem Bären überwältigen zu lassen. Und gleichsam wissend, ein Schneeball würde ihn nicht retten können. 


Clarence B. Sky

Zuck Glück war Clarence kein charmanter Ehemann. Dafür konnte man Gott dankbar sein und das wusste auch Cassie, selbst wenn er das natürlich niemals offen zugeben würde.

Der Blonde vertraute charmanten Menschen nicht, denn sie lebten in einer Zeit, da keiner an andere, sondern nur an sich selbst denken sollte. Leute die einem Honig ums Maul schmierten, mit einem netten Lächeln zu kokettieren wussten und andere auf Händen trugen, das waren Leute, die irgendetwas im Schilde führten. Leute wie Matthew Reed eben, der die Weiber auf charmante Art mit einem Wimpernklimpern um den Finger wickelte nur um sie später auf sein Zimmer zu entführen und abzuschleppen. Das ging ja sogar auch noch - denn noch schlimmer waren jene Leute, die einem nur deshalb ins Gesicht lächelten, um einem später von hinten das Messer in den Rücken zu stoßen.

Nein, Clarence Bartholomy Sky war kein charmanter Mensch und kein charmanter Ehemann. Aber er war aufrichtig und ehrlich. Was man vor sich hatte, das bekam man auch - und postwendend zurück kam deshalb ein fester Hieb gegen seinen unschuldigen Arm, was den Jäger erschrocken weg zucken ließ.

„Ich glaube eher du spinnst!“, rief er und schmetterte damit den Vorwurf was seine psychische Gesundheit anging zurück und rieb sich mit der anderen Hand über den schmerzenden Arm. „Du bist ein garstiges kleines Frettchen, mein Lieber. Ich hoffe du weißt das!“

Und alles nur, weil der Schönling vor ihm nicht akzeptieren konnte, dass die ewige Jugend nicht ausgerechnet für ihn bestimmt war.

Cassie hatte diese knackigen spitzen Knöchel an den Händen, die einem sofort ein Veilchen verpassten wenn man von ihm eine ins Gesicht bekam. Einer der vielen Gründe, warum er sich früher seltener mit Matthew geprügelt hatte als nötig gewesen wäre und warum sein Arm heute Abend sicher grün und blau geprügelt war, wenn er die Zeit bekam unter seinen Pullover zu schauen.

Doch anstatt ihren Zwist zu vertiefen, fing der Bär sich - als Retour für den Kuss auf die Stirn seines Mannes - einen noch viel besseren Kuss auf die Lippen ein, was ihn versöhnlich brummen ließ.

Aufmerksam lauschte er seinem Mann über dessen Zurücksetzung in den Werkszustand, von dem Cassie behauptete er sei abgeschlossen, obwohl er das ja ganz offensichtlich nicht war.

„Du pfeifst selbst bei dem kurzen Sprint hier schon aus dem letzten Loch und hältst dir die Rippen. Es wäre gelogen wenn ich so tun würde, als wäre das typisch für dich.“

Skeptisch verzog Claire deshalb die Augenbrauen und musterte den Dunkelhaarigen vielsagend.

„Wenn du es mir nicht sagen willst, okay. Aber ich hätte mehr von dir erwartet“, warf er ihm vor, nicht ganz ohne theatralischen Unterton in der Stimme. Matthew wusste hoffentlich, dass er vor ihm nur wenig verbergen konnte und zum Glück war das anders herum ganz genau so. „Meinen Füßen geht es gut genug um mit dir diesen schönen Ausflug zu machen und meiner Schulter gut genug, um dir heute Abend deine grauen Haare aus dem Haupt zu lausen. Reicht dir das als Einschätzung?“

Er hoffte ja, denn mehr würde der Kerl nach seiner frechen Antwort nicht mehr von ihm über seine geschundenen Zehen erfahren.

„Und auf meiner Seite des Lagers bleibst du auch, ansonsten binde ich dich fest und lasse dich dabei zusehen, wie ich mich an unserem saftigen Braten labe. - Ganz alleine“, fügte er an und rieb sich hungrig über den Bauch, denn es gab nichts besseres als hungrig und von der Jagd durchgefroren ein schönes Stück Fleisch auszuheben, mit Kräutern und Öl zu spicken und dabei zuzusehen, wie es in etwas Sud über dem Feuer vor sich hin köchelte.

Seinen rachsüchtigen Gedanken nur noch Kur nachhängend, versprach der innige Kuss seines Ehemannes schließlich doch eine Art kleiner Versöhnung, in der sie beide ihre sadistischen Gedanken für einen Moment ruhen ließen. Wenn Matthew ihn auf diese Weise zu sich hinab zog, war der Kopf des Blonden jedes Mal augenblicklich wie leer gefegt und keine anderen Gedanken wehten mehr hindurch außer jene, die sich um Cassie und seine warmen Lippen drehten, die sich so verführerisch für ihn öffneten.

Mit leisem Brummen in der Kehle, lehnte er sich dem Jüngeren wohlig entgegen und ließ dabei auch seine Abwehr sinken - ein schwerer Fehler, wie sich nur den Bruchteil einer Sekunde später schon zeigte. Wie ein Anfänger kam er sich vor, der auf die unlauteren Mittel des frechen Taugenichts hereinfiel - abgelenkt von seinen Trieben, die Cassie für sich zu nutzen wusste, als wäre es sein naturgegebener Spielball.

Plötzlich in Dunkelheit versunken, taumelte er ungebremst nach vorne als nichts mehr da war, gegen das er lehnen konnte und als wäre der erneut potentielle Fast-Sturz nicht schon schlimm genug, strafte das Leben ihn augenblicklich auch noch mit einem Ehemann, der ihm den eisigen Schnee direkt ins Gesicht rieb.

Hey!!“, versuchte er den Frechdachs mit Lautstärke zu vertreiben, wie man es sonst mit einem wilden Tier machte und zog sich ungeschickt die mit Schnee bedeckte Mütze wieder empor, wob ei ihm die kalten Flocken in die Augen rieselten… nur um verschwommen Cassie zu erkennen, der schon wieder die nächste Munition in der Hand hielt.

„Ist das dein ernst Mit solchen Mitteln spielst du?“

Dass Cassie seinen Körper einsetzen würde um ihn abzulenken und seinem eigenen Ehemann in den Rücken zu fallen, schockierte ihn tatsächlich ein wenig - selbst wenn er es hätte erwarten müssen.

„Pass bloß auf, Freundchen. Gleich sorge ich dafür, dass dir noch das ein oder andere graue Haar dazu kommt. Wart nur ab!“, drohte er ihm und versuchte gar nicht erst die Distanz zwischen ihnen aufzuholen. Denn das würde nur dazu führen, dass er den nächsten Schneeball noch ins Gesicht bekam, bevor er er nah genug dran war um ihn zu erwischen.

Sich etwas abwendend, damit Matthew ihn nicht erneut mitten in die Visage traf, stapfte er ein paar Schritte durch den Schnee bis hin zu einem der Hügel, unter denen die rostigen Automobile der Alten vor sich hin schliefen. Todesmutig raffte er etwas Schnee zusammen und schmiss ihn Cassie entgegen, jedoch ohne nennenswerten Erfolg - dafür aber mit einer guten Ablage vor sich, auf der er noch mehr Bälle formen konnte, ums ich ein ganzes Arsenal an Munition zu schaffen.

„Komm ruhig her, wenn du dich traust!“


Matthew C. Sky

Obwohl der Tag wirklich noch jung war, genoss Cassie ihn schon jetzt unglaublich sehr. 

Seit ihrer Ankunft in Rio Nosalida hatte es keinen Moment der Unbeschwertheit mehr gegeben. Eigentlich sogar noch früher, da Clarence’ Laune immer schlechter geworden war, je näher sie dem Hafen gekommen waren. 

Und erst jetzt, da sie zum ersten Mal allein und wieder sie selbst waren, merkte der Dunkelhaarige wie sehr er es vermisst hatte mit dem Blonden unbeschwerte Momente zu erleben. Die letzten Wochen waren geprägt gewesen von essenziellen Dingen. Beschaffung und Rationierung von Vorräten, Versorgung von Wunden und dem Finden geeigneter Unterschlüpfe. Jeder Schritt hatte geplant werden müssen und sie waren nicht nur für sich selbst verantwortlich gewesen. 

Auch jetzt hatten sie eigentlich eine Mission und dementsprechend keine Zeit den ganzen Tag herumzualbern. Aber auf der anderen Seite… vertrug ihr alberner Schneekrieg keinen Aufschub.

Der Wildling, seines Zeichens unverschämter und ungehobelter Kerl, musste in seine Schranken gewiesen werden, sonst gewöhnte er es sich vielleicht noch an Cassie derart aufzuziehen. 

Clarence brauchte sich über die fiese Racheaktion des Jüngeren überhaupt nicht beklagen, denn wer Matthew ein garstiges kleines Frettchen nannte, der hatte jede hinterlistige Attacke mehr als verdient. 

„Mit solchen Mitteln spiel‘ ich!“, erwiderte Matthew frech und vergnügt und schämte sich seiner Tat kein bisschen. 

Warum sollte er auch? Immerhin hatte der Blonde ihn zuerst hereingelegt und einen gebrochenen Arm vorgetäuscht. 

Würde der Kerl auch nur ahnen wie sehr er Cassie damit erschreckt hatte und welche Angst er ihm gemacht hatte, bestimmt würde sich der Wildling selbst ergeben und zum Abschuss freigeben. 

„Jedes graue Haar das ich jemals irgendwann haben werde, werde ich von dir haben!“  und mit diesem Ausruf warf Matthew den nächsten Schneeball auf den Blonden. 

Das Geschoss traf den armen Tropf am Nacken, wo es zerschellte und in großen Brocken in seinen Kragen rieselte. 

Scheinbar ungerührt - aber Cassie wusste es war nur Schein - raffte der Wildling neuen Schnee und türmte ihn auf der Motorhaube eines alten Autos auf. Sich einen Wall aus Munition errichtend der durchaus beeindruckend war. Doch Matthew hatte dann und wann durchaus einen Hang zu Kamikaze-Aktionen und heute war so ein Tag an dem er sich seiner sehr sicher war. 

Sinnlos und ohne Gefahr ihn zu treffen warf Clarence etwas Schnee nach ihm und bekam postwendend einen Schneeball des Jüngeren ab. 

„Du hast keine Chance!“, rief Cassie fröhlich wobei er langsam näher kam - unbeeindruckt von dem Schutzwall seines Ehemanns. 

Er warf einen weiteren Schneeball, traf den Bären an der Brust und setzte sofort mit einem weiteren Geschoss nach. Auch ihn selbst traf der ein oder andere Ball, aber es waren keine wirkungsvollen Treffer. 

„Du kannst auch aufgeben!“, bot der junge Mann großzügig an, einen Schneeball im Anschlag. Eigentlich glaubte er nicht so recht daran, auch wenn ihre Schlacht ganz schön kräftezehrend war und sie eigentlich wichtigeres zutun hatten. Auf sein Angebot folgte ein kurzer aber nochmal ziemlich heftiger Wurfabtausch, Schneestaub schwebte durch die klirrend kalte Luft und glitzerte friedliche darin.

Und schließlich war es Cassie, der darauf verzichtete sich nach neuer Munition zu bücken. 

Stattdessen hob er beide Hände und näherte sich lachend und außer Puste dem Wagen hinter dem der Hüne Stellung bezogen hatte. 

„Oh…man…“, keuchte er. 

„Ich kann… nicht… mehr. Lass uns… Frieden schließen.“

Frieden zu schließen, das war so eine Sache, wenn der eigene Ehemann einen für ein Frettchen hielt. 

Aber im Augenblick war Cassie bereit dazu Clarence zu verzeihen und den Schneekrieg wirklich zu beenden. 

Unbewaffnet und sich quasi selbst ausliefernd umrundete er das Auto und verharrte wenige Schritte vor dem Blonden. Würde Clarence nun wollen, er könnte sich gnadenlos an dem Kleineren rächen, aber Cassie war sich ziemlich sicher, dass es soweit nicht kommen würde. 

„Frieden?“, unschuldig und regelrecht unbescholten blickte er den Wildling an, ganz so als könne kein Wässerchen ihn trüben. Wenn er so dreinschaute, so konnte man sich kaum vorstellen, dass er ein gnadenloser Schneeballattentäter war. Die Hunde stoben derweil ungerührt über den Platz, schlugen Schneisen in den Schnee und kämpften noch immer um den Stock, der den Anstoß zu ihrer Schlacht gegeben hatte.


Clarence B. Sky

Cassie mochte der kleine Schabernack ärgern, doch Clarence freute sich unheimlich darauf mit seinem Mann alt zu werden und ihn irgendwann darauf hinzuweisen, dass er wahrlich ein erstes weißes Haar entdeckt hatte.

Er wusste jetzt schon wie das enden würde: Der kleine Frechdachs würde ihm erst nicht glauben, vielleicht sogar so tun, als interessiere es ihn nicht. Doch wenn der Keim des Zweifels erstmal in Matthew gesät war, würde er die nächstmögliche unauffällige Chance nutzen, um in einem Spiegel danach zu suchen - und ehe sich Claire versah, würde beim nächsten Treffen kein graues Härchen mehr zu finden sein. Weil Cassie es mutwillig heraus gerupft hatte.

Es waren dies und so viele andere kleine Macken, die er an seinem Mann genauso liebte wie den Rest von ihm. Bis es so weit war, dass Cassie sich um sein Haupthaar Gedanken machen musste, ging hoffentlich noch sehr viel Zeit ins Land. Zeit, in der sie gemeinsam Abenteuer erlebten, sich noch besser kennenlernten und sich nach ihren Errungenschaften hegten und pflegten, da wie immer keiner von ihnen ohne Kratzer aus den wilden Reisen hervor gehen würde.

„Aufgeben? Ich?“, rief er empört über seine Barrikade hinweg, denn Cassie sollte es eigentlich besser wissen. Der Jäger gab so selten auf wie der Jüngere ihn früher freiwillig bei der Nachtwache abgelöst hatte - also eigentlich fast nie, das war Fakt.

Trotzdem war es eigentlich auffällig wie oft Cassie ihn traf… oder zumindest wäre es für jeden Zuschauer sehr zweifelhaft. Nur nicht für Matthew.

Dieser genoss seine engmaschigen Siege gegen Clarence und dieser gönnte sie ihm, jedoch nicht ohne sich dann und wann lautstark darüber zu beschweren, damit sein Mann sich ihm deutlich überlegen fühlen konnte.

„Wie soll ich aufgeben wenn du noch scharfe Munition im Anschlag hast, mh? Das hier ist kein Suizidkommando!“, hinterfragte er berechtigt, immerhin nahm man kein Friedensangebot an, während man eine Waffe an die Stirn gedrückt bekam, die entsichert war. Das wäre ein allzu offensichtlicher Sieg den der Dunkelhaarige sich einforderte, auch wenn er es ihm als Gleichstand zu verkaufen versuchte.

Um ihn spüren zu lassen, dass er sich nicht verarschen ließ -ganz so wie er es zuvor noch mit dem Jüngeren gemacht hatte- forcierte er durch gezielte Würfe, dass Matthew seine Munition verfeuern musste - so lange, bis ein erneuter Kampf zwischen ihnen aufwallte. Dieses Mal noch härter als zuvor.

Kain und Abel, die sich zuvor noch mit dem stock beschäftigt hatten, legten ihre Aufmerksamkeit nun von und ganz auf die unbekannten Flugobjekte und versuchten ihrerseits ihnen nachzupreschen, dann und wann in die Höhe springend, um danach zu haschen. Schon bald war die schneebedeckte Straße so aufgewühlt, dass der glitzernde Staub in der Luft hing und man meinen konnte, das Ungetüm aus der Stadt hätte das Viertel halb verwüstet. Erst jetzt, als kaum noch lose Stellen vorhanden waren die man zusammenraffen konnte um daraus einen Ball zu formen und auch das Auto, hinter dem er sich verstecke fast zur Gänze abgedeckt war, hob sein Mann die Hände und gab endlich auf - zumindest war das Clarence‘ freie Interpretation des Geschehens, auch wenn die Realität natürlich eine andere war.

Erst jetzt, wo keine Munition im Anschlag mehr im Spiel war und sie beide sich fast gleichberechtigt gegenüber standen, war der Jäger bereit über das dargebotene Friedensangebot nachzudenken.

Völlig außer Atem, genau wie auch sein Mann, musterte er Cassie und versuchte dessen Ernsthaftigkeit abzuwägen.

„L-Lass uns… einen Friedensvertrag schließen. Ohne… vertraue ich dir nicht“, keuchte er erschöpft. Natürlich waren die täglichen Schneewanderungen und Fallenbauten auch anstrengend, doch so richtige körperliche Belastung hatten sie in den letzten Wochen kaum mehr erfahren. Sie liefen nicht meilenweit, sie brauchten keine Kraft um jeden Abend ein Lager auf- und morgens wieder abzuschlagen und sie trainierten auch nicht besonders, um stattdessen ihre vom Absturz geschundenen Körper zu schonen und ihnen Heilung zu gönnen. Die einfache Schneeschlacht fühlte sich in der Kälte des Winters so anstrengend an, wie ein 40-Meilen-Marsch damals im Hochsommer und genauso erschöpft fühlte er sich auch, obwohl kaum etwas geschehen war.

„Los. Gib mir einen Kuss und… und dann herrscht Frieden. Für heute war das… mehr als genug“, mit jedem Schnaufen schlug sein Atem kleine Kondenswolken vor seiner Nase und tatsächlich wollte er in diesem Moment nichts anderes mehr als eine warme Umarmung und die warmen Lippen des Jüngeren, die mit ihm den Vertrag besiegelten.

Sogar Clarence schlug sich artig den letzten Schnee von den Handschuhen, bevor er willig und naiv die letzten Meter zwischen ihnen überbrückte. Wenn sein Mann ihm jetzt doch in den Rücken fallen wollte, würde er das ungebremst tun können. Doch so wild und ausgelassen ihr Spaß war, so reichte er doch für diesen Moment schon wieder, bevor sie all ihre Kräfte für die Schneeballschlacht verbrauchten statt sie für die spätere Jagd nach Wild aufzusparen.

Mit vor Kälte roter Nase und roten Wangen langte er, kaum dass Cassie ihn Reichweite war, nach dessen Mantel und zog den Jüngeren zu sich heran, um ihm einen bestimmenden und endgültigen Kuss auf die Lippen zu drücken. Für heute sollte wieder Frieden herrschen, wenngleich er auch nicht die Hand dafür ins Feuer legte, dass sie morgen den Friedensvertrag nicht doch wieder für einen Moment aufhaben.

„Du hast dich ganz schön wacker geschlagen für ein kleines Frettchen. Das muss ich schon sagen“, gestand er ihm zu und hielt ihn für einen Moment bei sich, um Cassie einen erneuten Kuss aufzudrücken, bevor er ihn für die Beleidigung schon wieder schelten konnte. „Aber den Rest deiner Kraft musst du dir für heute Abend aufsparen. Wenn wir erstmal ein schönes warmes Fleckchen zum Übernachten gefunden haben… dann ist Wild nicht das einzige, das ich heute Nacht jage.“


Matthew C. Sky

Einen Friedensvertrag wollte der unverschämte Betrüger machen, wegen dem die Schlacht überhaupt erst ausgebrochen war. 

Matthew zog skeptisch die Brauen empor und taxierte den Blonden offen als dieser sich näherte. 

Du vertraust mir nicht?“, fragte er ungläubig. 

Du hast doch so getan als hättest du dir den Arm gebrochen!“, tadelte Cassiel und rief dem Blonden damit noch mal den Auslöser ihres kleinen Schneekrieges ins Gedächtnis. Nur für den Fall, dass er es schon wieder vergessen oder mutwillig ausgeblendet hatte. 

Vorsichtig wich Matthew einen Schritt nach hinten zurück und musterte seinen Gatten. War er wirklich gewillt Frieden zu schließen? Dem Keuchen nach war Clarence so außer Puste wie Matthew selbst und sein Angebot… wog schwer. Würde der Kerl einen Kuss ausnutzen um ihn mit Schnee einzuseifen? Matthew wog ab und musterte den sich nähernden Bären, der demonstrativ kooperativ den Schnee von seinen Handschuhen abklopfte. 

„Na schön… aber wehe du machst irgendwas…“ gab er skeptisch klein bei und ließ sich widerstandslos an Clarence ziehen. 

Schon wenige Augenblicke später spürte er die warmen Lippen des Wildlings auf seinen und er schmunzelte in den Kuss, schlang die Arme um Clarence‘ Nacken und drückte sich an ihn. 

Dank der körperlichen Betätigung war ihm nicht kalt, aber erst die Nähe zu Clarence machte, dass ihm richtig warm wurde. „Nenn du mich nicht Frettchen, dann nenn ich dich nicht Mäuschen.“, tadelnd knuffte er den Wildling gegen den Oberarm und legte dann die Arme wieder zurück um seinen Nacken um noch einen Moment länger die Nähe und Wärme zu genießen, die nur Clarence ihm schenken konnte. „Keine Ahnung ob du genug Ausdauer für diese Jagd haben wirst, aber vielleicht lasse ich dich gewinnen… wie jetzt auch.“ Süffisant blickte er zu dem Hünen empor und legte beide Hände an seine Wangen. 

Anders als vorhin hatte er dieses Mal keine Hintergedanken und statt ihn mit Schnee zu attackieren gab Matthew ihm nun einen kurzen aber innigen Kuss auf den Mund. 

„Frieden, hm?“ - und dieses Mal begruben sie das Kriegsbeil wirklich. Den Platz hatten sie trotzdem komplett verwüstet, überall hatten sie Schneisen in den Schnee geschlagen und die Hunde hatten noch ihr Übriges dazu getan damit es aussah als hätte hier ein Kampf auf Leben und Tod stattgefunden. 

„Los jetzt, sonst wird das heute nichts mehr mit der Jagd. Mit keiner davon.“,  

Ohne noch weitere Zeit verstreichen zu lassen, löste er sich von Clarence und ging voraus. Die Hunde umkreisten erst ihn, dann Clarence und liefen schließlich eilig an ihnen beiden vorbei. Sie hatten sich noch immer nicht ausgetobt und so wie die zwei drauf waren, war es offensichtlich höchste Zeit für einen richtigen Tagesmarsch. 

Nach ein paar Metern blickte sich Matthew nochmal über die Schulter zurück um. An dem kleinen Schlachtfeld war nichts anders als eben noch, die Stadt lag verlassen und friedlich da und doch huschte sein Blick zwischen den vereinzelt parkenden Autos umher, ohne recht zu wissen wonach er Ausschau hielt. 

Letztlich wandte sich der Dunkelhaarige wieder nach vorne und richtete seine Aufmerksamkeit auf das, was vor ihnen lag. Die meisten Geschäfte die den Gehweg säumten waren längst ausgeräumt worden, die Scheiben zertrümmert, die Läden verwüstet. Was geblieben war, das waren leere Hüllen einstmals voller Angebote und Tand.

„Damals als uns die Vetala hatten…“, setzte Matthew plötzlich an, während er vor einem Laden stehenblieb dessen Glasfront an einer Seite noch völlig intakt war, während auf der anderen Seite keinerlei Scheibe mehr vorhanden war. 

„…hab ich nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Auch nicht, als du mich darauf aufmerksam gemacht hast.“

In dem schmutzigen, schlierigen Glas spiegelten sich beide und Matthew betrachtete ihre Silhouetten. 

„Hier zu sein fühlt sich nicht anders an.“, stellte er fest und blickt zu Clarence hinauf. 

„Wir haben kaum Tote von den Alten gesehen, genau wie damals. Woher… woher wissen wir, dass das hier wirklich echt ist?“

Die Sorge die in dieser Frage steckte war offensichtlich und Matthew versuchte auch nicht sie irgendwie zu kaschieren. 

Ihr Ausflug nach Miami hatte in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden. Sie waren nie dort gewesen und ohne Clarence hätten sie das dunkle Loch in das man sie verschleppt hatte fast auch nicht mehr verlassen. Sein eigener Instinkt, auf den er sich sonst eigentlich verlassen konnte, hatte ihm herzlich wenig genützt. 

„Du bist wirklich sicher, dass es dieses Mal nicht genauso ist? Denn eigentlich kommt es mir wirklich unrealistisch vor, dass du freiwillig aufgibst.“, fügte er schmunzelnd an und musterte wieder ihre beiden Spiegelbilder im verdreckten Glas. Und was er sah, dass gefiel ihm ziemlich, sodass er schließlich nach Clarence’ Hand griff - und nun gefiel der Anblick ihm noch mehr. 

„Was glaubst du ist das für ein Vieh, dass wir manchmal nachts in der Stadt hören? Und glaubst du wir haben Zeit uns heute ein paar Ruinen anzusehen? Von innen mein ich…“, was er eigentlich meinte war grabräubern, aber so ungeniert wollte er es nicht formulieren.  


Clarence B. Sky

Wenn man ihn danach fragen würde, was damals draußen vor ihrem dritten großen Unterschlupf im Schnee passiert war, wäre Clarence sich seiner Geschichte sehr schnell sicher. Denn nie im Leben würde er - unschuldiges Bärchen und ehrlicher Jäger - jemals seinem Mann einen solch derben Scherz aufbürden. Ihm vormachen, er hätte sich den Arm gebrochen… tze! Nein, nein. Er war damals gestürzt auf einen Ast, darauf würde er beharren, und alles was danach kam, das hatte der Jüngere damals selbst in das Geschehen hinein interpretiert. In seiner Erinnerung würde Clarence völlig unschuldig sein und an dieser Einstellung arbeitete er schon jetzt hart, obwohl der wilde Schabernack gerade erst geschehen war.

Die Küsse seines Mannes kribbelten noch immer auf seinen Lippen nach, noch lange nachdem Cassie sich von ihm gelöst hatte und langsam weiter gewandert war. Es dauerte einen Moment bis auch Clarence sich wieder in Bewegung setzte und dem Jüngeren folgte, denn es war zu schön ihm noch einen Augenblick hinterher zu sehen. Wer hätte gedacht, dass aus dem einstmals egozentrischen und vorlauten jungen Typen, der jeden Abend eine andere vor seinen Augen abschleppte, jemals dieser liebevolle Ehemann werden würde, der Matthew heute geworden war? Es gab nichts schöneres als seine warmen Hände auf den Wangen zu spüren, von Cassies Blick gemustert und einfach nur von diesem Mann geliebt zu werden, den Claire vergötterte wie keinen zweiten. Er war so dankbar dafür wie sich die Dinge zwischen ihnen gefügt hatten - aber am dankbarsten war er natürlich dafür, dass sie selbst nach dem Absturz des Zeppelins noch immer zusammen sein durften.

Damit das auch so blieb und sie an ihrem heutigen Tag nicht länger voneinander getrennt waren als nötig, holte der Blonde nach kurzem Schwelgen die entstandene Distanz schnell wieder auf, dabei umkreist von Kain und Abel, die um sie herum ihre Haken wie wilde Hasen schlugen. Ausgelassen genossen sie die Zeit alleine mit ihren beiden Herrchen und das Wissen darum, dass ein Ausflug zu viert zumeist eine lange Wanderung und ausgelassenes Spielen bedeutete.

„Als uns damals die Vetala hatten…“, wiederholte er leise und musterte Cassie durch die Spiegelung im schlierigen Glas hinweg, vor dem er nun neben dem Kleineren zum Stehen gekommen war. Er mochte es nicht, wenn Matthew sich über dieses Erlebnis mehr Gedanken machte als nötig und dass er nicht viel davon hielt, hatte er ihm auch schon oft genug gesagt. Doch es brachte auch nichts wenn sie ihre Sorgen voreinander versteckten wenn sie denn welche hatten - denn das wäre nicht die Art von Beziehung, die sie miteinander führen wollten.

Schweigend lauschte er den bedenklichen Worten des anderen und als das Spiegelbild neben seinem schließlich nach seiner Hand griff, schaute Clarence an seinem Arm hinab und drückte sachte Cassies in seinen verwobene Finger, die perfekt in seine Hand passten.

„Wenn freiwillig aufgeben für dich schon eine Indikation für Vetala ist… dann darf ich das entweder nicht mehr machen oder muss in den nächsten Wochen verdammt gut auf dich aufpassen“, fasste er die daraus resultierenden Optionen zusammen und musterte Cassie für einen Moment kritisch. Bei solchen Äußerungen bekam man irgendwie Angst, dass der Knirps die Sache demnächst alleine in die Hand nehmen wollte und dann waren sie im schlimmsten Fall alle verloren, so viel war sicher.

„Ja... nein. Ich find das nicht lustig, Matthew.“

Fand er wirklich nicht und das hörte man ihm auch deutlich an. Es mochte nicht viel anders aussehen oder sich anfühlen als in Miami, außer dass hier Schnee lag und dort die Sonne geschienen hatte. Aber das hieß nicht, dass alles deshalb genauso war.

„Miami war anders. Anders als ich es bisher kannte. Aber das heißt nicht, dass es immer gleich sein muss. Mal versuchen sie dich glücklich zu machen und manchmal… da ernähren sie sich von deinen Ängsten. Je nachdem, auf welche Sorte du triffst.“

Erst jetzt blickte er wieder zurück auf ihre verschwommenen Spiegelbilder im Fensterglas - eines der wenigen Schaufenster, das in diesem Viertel noch voll erhalten war. In den meisten Metropolen hab es solch großes Glas nicht am Stück. Lediglich in Prism Shore musste es so ausgesehen haben, der sagenumwobenen Stadt aus Glas, die schon seit eineinhalb Jahren nicht mehr existierte. Sie beiden hatten nie die Chance gehabt sie zu erleben und sie würden nie die Chance bekommen, sich von dort eine Heiratsurkunde für die Sammlung zu holen, die sie zukünftig anlegen wollten.

„Wenn sie dich glücklich machen, dann hast du keine Sorgen mehr. Und wenn sie dich unglücklich machen, dann kennst du kein Glück mehr. Das ist der Unterschied zum hier und jetzt… die Nuancen und Facetten dessen, was du erlebst und fühlst“, versuchte er zusammenzufassen was sich einem nicht erklären ließ, wenn man es nicht selbst erlebt hatte.

„Außerdem - wenn das hier wie damals in Miami wäre, dann würden wir uns nicht den Arsch abfrieren, sondern ich würde mir irgendwo den Bauch voll schlagen, mich in der Sonne bräunen und den Saft frischer Kokosnüsse schlürfen. Ich wäre nicht hier“, fasste er mit seiner freien Hand und einer ausladenden Geste die Hölle aus Eis und Schnee zusammen, in der sie steckten. Ihre ganze Situation war viel zu komplex um von einer Horde Vetala verursacht worden zu sein, die sich außerdem nicht annähernd so viele unnütze Statisten ausdenken würden wie Constantin, Jeremy und jene, die sie schon vor Wochen zurück gelassen hatten.

„Komm schon, Miami liegt hinter uns und so viel Pech mit Vetala hat man auch wieder nicht“, immerhin kannte er von keiner Statistik, in denen jemand so kurz hintereinander zwei verschiedenen Horden in die Arme gelaufen wäre.

Auffordernd legte er die Hände um Cassies Handgelenk und zog ihn ein Stück weiter die Straße entlang, damit der Taugenichts nicht auf dumme Gedanken kam und sich weiter darin verlor.

„Lass uns lieber das Ungetüm jagen, das ist viel unterhaltsamer!“ - hoffentlich war das eine Aufforderung die Matthew derart entzürnte vor Sorge um seinen Mann, dass er die anderer Ungeheuer schnell wieder vergaß.

„Ich denke… es könnte ein riesiger Mutant sein. Oder noch besser“, hielt er inne und sinnierte über das Für und Wider eines Gedanken mit dem er schon länger spielte und der vielleicht sogar Matthew gefallen könnte. „Eine Kriegsmaschine der Alten. Ein Monstrum geschaffen aus Menschenhand, um Zerstörung und Angst über das Land zu bringen und die Feinde unter dem Gewicht der Maschine zu zerquetschen!“

Hörte man ihm an, dass er schon mit den Kindern darüber diskutiert hatte und mit ihnen allen vieren die Fantasie längst durchgegangen war? - Vielleicht.

„Mit einem Steuerpult oben im Kopf, in dem eine unsterbliche Hexe der Alten sitzt und die wir nur besiegen müssen, damit die Maschine endlich uns gehört.“

Was sie damit dann machen würden hatte er sich zwar noch nicht überlegt, aber das helle Köpfchen von ihnen beiden war ja auch Cassie. Der würde schon auf eine gute Idee kommen.

„Mit dem Teil unterm Arsch kannst du dann von mir aus die ganze Stadt leer räumen und deine erbeuteten Schätze zurück nach Hause tragen, um aus unserem Boot eine Yacht zu machen, wenn wir wieder in Rio Nosalida sind.“


Matthew C. Sky

Nichts, aber auch gar nichts würde dafür sorgen, dass Matthew das Ereignis mit den Vetala so schnell vergaß und abhakte. 

Es war eine einschneidende Erfahrung gewesen und auch, wenn er Clarence keine Vorwürfe mehr machte aufgrund des gewählten Ausweges aus ihrer Situation, so hatte ihn das Geschehen doch nachhaltig geprägt. 

„Die Nuancen… okay, klingt einleuchtend.“

Er war glücklich, aber er war nicht sorglos. Ihm war warm obwohl es kalt war und in einer perfekten Illusion der Vetala hätte Zoe nicht ihre Mutter verloren und Jeremy nicht seine Frau. Und Adrianna nicht ihren Arm. 

Es gab also Licht und Schatten zur gleichen Zeit und wenn man Clarence‘ Wissen Glauben schenken durfte, dann waren das alles Indikatoren dafür, dass sie nicht schon wieder in den Fängen der dämonischen Wesen waren. 

„Ich schlage vor, du gehst das Vieh alleine jagen und ich warte in unserem Lager auf dich.“,  konterte Matthew schließlich und klang weit mehr angezupft als er es beabsichtigt hatte. Die Bemerkung des Blonden war nichts weiter als eine dusselige Provokation um Matthew von dem Thema Vetala abzulenken. Dass war den Jüngeren durchaus klar. 

„Du schaffst das schon alleine, ich weiß du stehst auf diese Solo-Nummern.“ setzte er nach und schlug in eine Kerbe, die schon oft für Streit gesorgt hatte. 

„Niemals ist das eine Maschine der Alten. Wie sollte die nach so langer Zeit noch laufen? Es gibt keine unsterblichen Hexen, weder jetzt noch damals.“ 

Dass war völliger Unsinn und doch passte diese Theorie zu Clarence, der unter der Anwesenheit der vielen Kinder selbst zum größten Kindskopf mutiert war. 

Noch immer Hand in Hand schlenderten sie an den verlassenen Geschäften der ausgelöschtes Zivilisation entlang. Dieser Ort war, wenn auch verlassen, ein Massengrab da gab es keinen Zweifel. Vieles hatte sich die Natur zurückgeholt. Die Fassaden bröckelten an vielen Stellen, Moos wucherte über Mauern und Ziegel und bedeckte sie in grünen und grauen Tönen. Es war, als würde die Welt versuchen das Antlitz der Alten von den Landschaften zu tilgen. Und doch sah man auch hin und wieder Hinweise auf das Chaos, dass zuletzt hier geherrscht haben musste. Da lag ein rostiges Zweirad auf dem Boden, an dem bunte Bänder hingen die träge im Wind flatterten. Ausgeblichen zwar, aber noch immer bunter als alles was die Menschen heute fabrizieren konnten. 

Es gab Graffiti an den Wänden die einen aufriefen Widerstand zu leisten und es gab ganze Wände mit kleinen Löchern darin. Was dort passiert war? Massen-Exekutionen nannten die Alten sowas - das hatte Matthew mal in einem ihrer Bücher gelesen. 

Tote sah man auf offener Straße nicht. Wilde Tiere, Muties und die Gezeiten hatten dafür gesorgt, dass nichts übrig geblieben war. Aber es gab sie, die Skelette und mumifizierten Kadaver. Man musste nur etwas nach ihnen suchen. 

Warum suchst du den Tod, Matthew?‘

Cassiel blieb stehen und lauschte, aber außer dem Wind war da nichts. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel. Er war wolkenlos und blau und schlicht makellos. 

„Hmmm… wir sollten aufpassen wo wir lang gehen, hab keine Lust, dass wir nachher den Weg nicht mehr zurückfinden.“ - die Werkstatt befand sich auf der Edison Street so viel wussten sie schon. Und jetzt gerade waren sie auf der Spring Road. 

Vor ihnen lagen, soweit sie sehen konnten, nur Häuser, Geschäfte, Gehwege und Straßen. Ein Spinnennetz aus Avenues, Streets und Roads

Aber nirgends gab es Anzeichen für Wild. 

Gemeinsam stapften sie durch den Schnee, folgten dem Weg bis hin zu einer großen Kreuzung. Hier hatte der Wind die Straßen fast vollständig freigeweht, sodass sie die weißen und gelben Markierungen auf der Straße sehen konnten, es gab eine Bus Lane, eine Taxi Lane und Beteiche auf denen in verblassten Gelb NO PARKING stand. Einige Autos standen auf der Kreuzung herum, ebenfalls befreit vom Schnee, sodass man in das Innere der Kabinen schauen konnte. Matthew ließ die Hand von Clarence los und ging langsam an den Fahrzeugen entlang. 

„Verrückt, oder? Die waren so weit und trotzdem sind sie einfach weg.“

Wer die Stadt hatte verlassen können, der hatte das getan, aber viele waren wohl geblieben. Bis das passiert war, worüber kein Buch so wirklich Aufschluss geben konnte. Wie die Alten untergegangen waren, dass wusste bis heute niemand so richtig. 

„Wenn du drei Wünsche frei hättest…”, setzte Cassiel unvermittelt an und wandte den Blick kurz Clarence zu, ehe er weiter an den Autos entlang ging.  

„Was würdest du dir wünschen?“ 

Er hatte die Frage noch gar nicht richtig gestellt, da spiegelte sich im trüben Glas des Seitenfensters eine Gestalt die nicht Clarence war und die er im ersten Moment auch gar nicht erkannte. 

Lediglich der dunkle Umhang, zerlumpt und zerschlissen, ließ ihn Ceyda erkennen und hastig herumwirbeln. 

„Ceyda?“, fragte er irritiert. Ihr Gesicht war aufgedunsen und an einer Seite so matschig, dass ihr Auge aus der Höhle gequollen war. 

„Großer Gott, was ist dir passiert? Clarence! Clarence… Ceyda ist hier!“

Die Person die einstmals Ceyda gewesen war und nun anmutete wie ein Untoter, fixierte Matthew mit ihrem Blick. Die dunklen Augen wirkten klein und schwarz. 

Kain und Abel waren still geworden, sie schlichen geduckt und kehlig knurrend um Ceyda herum, die Nackenhaare bedrohlich aufgerichtet. 

„Ceyda? Du brauchst…Hilfe…“ , sagte er und ahnte doch:

Für die junge Frau kam jede Hilfe zu spät.  


Clarence B. Sky

Clarence machte sich oft Sorgen um Matthew. Seit dem Vorfall in Cascade Hill jedenfalls.

Der Vorfall damals, der wohl das für ihn war was die Vetala für Cassie waren, hatte ihm gezeigt wie schnell alles vorbei sein konnte und dass manchmal keine Achtsamkeit der Welt half, um Dinge abzuwenden, auf die man sowieso keinen Einfluss hatte. Er hatte weder die Kraft einen Zeppelin vor dem Absturz zu bewahren, noch die Hände von Irren sinken zu lassen, die mit Steinen bewaffnet waren; gerade dann, wenn Matthew mit Lucy ganz alleine draußen in ihrem Stadtviertel unterwegs war und aus seiner Reichweite entfleucht, fiel es dem Blonden schwer, mit seinen Gedanken von ihm abzulassen.

Dass seine Sorgen nicht weniger wurden, wenn sein Mann am Hier und Jetzt zu zweifeln drohte, versuchte er ihm nicht allzu deutlich zu zeigen. Trotzdem wusste Claire, dass er es wusste. Es war für sie beide keine Herausforderung mehr, im Blick des anderen dessen Gedanken erahnen zu können.

Manchmal gab es dann keine bessere Ablenkungstaktik mehr als jene, Matthew mit irgendwelchen Nichtigkeiten auf die Palme zu bringen und wie gut das funktionierte, zeigte sich auch heute wieder. Es war eine Kerbe, in die sie beide im Streit gerne schlugen und irgendwie hatte begonnen es Spaß zu machen, sich gegenseitig damit aufzuziehen.

Trotzdem, war ihm heute nicht nach Ärger und somit ließ Clarence es dabei bleiben, dass er angeblich der böse Buhmann war, der alleine durch die Welt zog wenn ihm danach war.

„Woher willst du wissen, dass es die nicht gibt? Ich lege für Hexen meine Hand nicht mehr ins Feuer. Da schmeiß ich die höchstens rein“, vertrat er seine Ansicht dazu deutlich, wie man mit ihnen umzugehen hatte. Die junge Hexe, die sie in Centenniel damals hoch genommen hatten, hatte er auch auf öffentlichem Platz anzünden lassen. Wenigstens konnte Matthew nicht behaupten, er habe vor der Ehe nicht gewusst, was für ein Typ Mann sein Mann war.

„Vielleicht ist es unwahrscheinlich. Aber denk mal nach - was wenn nicht? Wenn ich mit die hohen Häuser ansehe, die vor der Markthalle waren, und all die anderen Maschinen in den Büchern…“ - etwa wie dem über Alternative Energien der Alten, mit riesigen Windrädern, Unterwasserturbinen oder schwarzen Platten auf Hausdächern, das er Matthew von seinem Ausflug in die Bibliothek mitgebracht hatte - „…dann sag mir nicht, du fändest das unwahrscheinlich. Denn das ist es nicht.“

Auch wenn er für sie nicht so einen ausgeprägten Faible wie Matthew hatte, traute er ihren Vorfahren doch so einiges zu, selbst wenn wenig über sie bekannt war. Selbst sein Großvater, ein belesener und gebildeter Mann, hatte zu Lebzeiten nur wenig über die Alten zu erzählen gewusst. Außer eben, dass sie ihnen in Technologie und Wissen um Jahre voraus gewesen waren.

Schweigend drückte er Cassies Hand in seiner ein wenig und betrachtete sich dabei die Schaufenster, an denen sie immer mal wieder vorbei kamen. Von manchen Läden erkannte man noch, was früher darin gewesen war. Etwa ein Reisebüro - ein Ort, zu dem man gegangen war um seine Reisen zu planen oder ein Elektrofachgeschäft, in dem allerlei Tand verkauft wurde, um das sich die Hurenkönigin in ihrer von elektronischem Licht beleuchteten Villa sicher reißen würde, wäre es heute noch zu haben. Clarence selbst war all die Technik noch immer zuwider, die auch heute wieder in den Metropolen zunahm. Selbst die Straße vor dem Rathaus in Rio Nosalida war mit elektrischen Straßenlampen beleuchtet gewesen, ganz im Gegensatz zu den restlichen Wegen, auf denen Abends an den Hausfassaden Kerzenleuchter brannten, wenn man denn Glück hatte. Die Kirsche auf der Sahnetorte war über allem Luxus noch das Wasser in Jeynes Villabadezimmer gewesen, das nach kurzem Warten heiß aus der Wand gekommen war - ein Unding wegen dem sich Claire nicht nur ein Mal erschreckt hatte, so viel stand fest. 

Als würde die Geisterstadt ahnen, dass er sich zwischen all dem Unrat äußerst unwohl fühlte, erstreckte sich auf der nächsten Kreuzung vor ihnen ein großer Metallfriedhof, wie an so vielen Ecken dieser Stadt, die man scheinbar schlagartig verlassen hatte.

Eng an eng standen die Automobile aneinander gedrängt und formten sich zu einem seltsamen Labyrinth, dessen Wege zwischen offenen Türen hindurch führte. Was hier wohl geschehen sein mochte, fragte man sich augenblicklich, auch wenn man sich sonst nicht besonders für das Schicksal der Alten interessierte; was brachte eine so große Anzahl Menschen dazu, so plötzlich in Massenpanik zu verfallen, dass man seinen fahrbaren Untersatz einfach zurück ließ und zu Fuß weiter marschierte? Es gab kein Anzeichen von Zerstörung, von einem Mutant der Gewütet hatte oder einer Waffe, die in die Luft geflogen war und Panik hatte auslösen können.

Nachdem sich die Hand seines Mannes von ihm gelöst hatte, folgte Clarence der Abzweigung auf der anderen Seite der Autos und spähte vorsichtig durch die Fenster. Die meisten, das sah man ihnen an, waren im Innenraum lange von Moos und Schimmel überzogen gewesen, bis die Jahre auch diese Zeichen der Zeit einfach getilgt hatte. Irgendwann war das Material nichts anderes mehr gewesen als rostendes Metall und verrottendes Plastik, ähnlich wie jenem Material, wie man es heute eher selten noch fand.

„Naja. Vielleicht ist es wie mit den Zwergen, die im Berg zu gierig graben… vielleicht führt einen der immerwährende Fortschritt einfach irgendwann von alleine ins Verderben“, rief er in lauter Überlegung über die Dächer hinweg und musterte im nächsten Auto, dessen Türen geschlossen und Sitze von Moos und Schmutz überzogen waren, die Silhouette dessen, was vermutlich mal ein Mensch gewesen war.

„Wenn ich drei Wünsche frei hätte, dann hätte ich gerne kaltes Bier, heiße Sommertage und lauwarmes Meerwasser. Aber man kann nicht alles haben. - Ceyda gehört eindeutig nicht zu meinen drei Wünschen“, fügte er verdrießlich an. Denn wie Matthew nun auf die junge Frau kam, die sich gemeinsam mit den anderen beiden vor einigen Wochen von der Gruppe losgelöst hatte, erschloss sich ihm im ersten Moment nicht - bis sein Mann plötzlich nach ihm rief, was Clarence augenblicklich auffahren und mit dem Blick nach ihm suchen ließ.

Cassie? Was ist los?“, rief er und kämpfte sich durch zwei offen stehenden, verrosteten Türen hindurch und versuchte zwischen den Autoleichen seinen Mann zu erahnen, der irgendwo hinter einem größeren Wagen vor ihm verborgen war und besorgter klang als er es sein sollte, nur weil jemand den sie kannten unerwartet vor ihnen aufgetaucht war.

Das Blech schrie bedrohlich unter seinem Gewicht auf, als Clarence sich über die Motorhaube vor ihm hangelte. Obwohl die Kreuzung von Schnee frei geweht worden war, klangen die Töne seltsam gedämpft, als würde der Autofriedhof jeden Laut schlucken und sich einverleiben - nicht gewillt wieder herzugeben, was er in der einsamen Stadt unerwartet eingefangen hatte.

Es war quer durch die verschmierten Fenster eines Wagens, durch die Clarence die verschwommenen Umrisse der fremden Person erstmals erhaschte und wenige Schritte später offenbarte ihm unverschleiert, was seinen Mann zum Schweigen gebracht hatte.

Cassie.“ - Vorsichtig kam er zwei Schritte näher und musterte die ihnen eigentlich bekannte junge Frau, die furchtbar unbekannt anmutete. Ihr Gesicht sah aus, als wäre es zum Teil aufgekocht und ihr unmerklich von den Knochen hinab gelaufen und ihre Fingerspitzen waren schwarz wie jene übermütiger Bergsteiger, die sich in der Kälte der Nacht die Extremitäten verfroren hatten.

Matthew, ich will, dass du da weg kommst. - Sofort“, fügte er schneidend an und musterte die Konturen von Ceydas Umhang, die sie seltsam diffus von der Umgebung abhoben. Ihre Umrisse wirkten verschwommen und als würden sich die harten Kanten des schwarzen Stoffs langsam in zarten Staub auflösen, der gen Boden rieselte.

Egal was mit ihr geschehen war oder… was sie geschehen lassen hatte, es war nichts, mit dem man mutterseelenallein in einer toten Stadt konfrontiert werden wollte.

Abel und Kain fletschten ihre Zähne, das Fell spitz aufgestellt und auf eine Weise knurrend, die man nicht gegen sich selbst gerichtet erleben wollte. Doch Ceyda blieb davon gänzlich ungerührt und so schweigend wie der Metallfriedhof, auf dem sie standen.

Ich glaube nicht, dass das Ceyda ist.“

Die junge Frau zuerst nicht aus den Augen lassend, öffnete Clarence langsam seinen Mantel und legte eine Hand vorsichtig über eine der Waffen in seinem Holster. Doch schließlich, als er einen Schritt weiter auf sie zu machen wollte, eiferte etwas ganz anderes nach seiner Aufmerksamkeit, weil seine Beine sich wie Blei anfühlten.

„Was zur…“, fluchte er leise; doch noch bevor er verstanden hatte, was um seine Beine lag, zog es ihm selbige auch schon unter sich weg und ließ ihn in düsteres Schwarz starren, das ihm seine Sinne nahm.

Hilflos versuchte er nach dem schwarzen Nebel zu langen, der sich aus dem Boden ausgebreitet und um seine Beine gelegt hatte, nur um Clarence damit gewaltsam unter dem Auto hindurch zu zerren, das sie voneinander trennte. Mit einem lauten, dumpfen Knall prallte der Seitenschweller ihm in die Seite und fraß sich in seinen Rucksack, der den Blonden wie einen Anker unter dem Auto verhakte. Eisige Kälte überzog seine Flanke, bevor sich die Wärme seines eigenen Blutes darüber ergoss.

Abwehrend trat er in die Leere, die den Zug auf seine Beine losgelassen hatte; um ihn herum hatte sich der Nebel dünn über den Boden ergossen und machte es ihm unmöglich mit irgendetwas zu Schießen, weil er weder die Hunde, noch die Füße seines Mannes irgendwo erkennen konnte.


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