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Alte Werkstatt

18. August 2210


Clarence B. Sky

„Bist du sicher?“, wiederholte er und beäugte Matthew skeptisch, so als versuche er herauszufinden ob sein Mann das nicht nur sagte, um ihn zu beruhigen. „Wirklich sicher? Mh.“

Ein unzufriedener Laut, der ziemlich gut darauf schließen ließ, wie wenig ihm diese Antwort gefiel. Es wäre besser gewesen, wenn der Jüngere sich genauso den Kopf zerbrach wie er selbst, denn dann hätten sie das wenigstens gemeinsam tun nur ihre Angst miteinander teilen können. Aber stattdessen ließ Cassie ihn alleine als paranoiden Idioten dastehen, der sich verhielt wie eine irre Hausfrau die Angst hatte, sie könnten irgendwas wichtiges vergessen haben.

„Na gut. Na dann“, versuchte Claire seine anfängliche Panikmache zu relativieren, ganz so als hätte er nicht für zehn Minuten das halbe Lager aufgescheucht um herauszufinden, was liegen geblieben sein könnte.

Räuspernd zog er sich die Gurte seines Rucksacks enger an die Schultern, der ihm leichter vorkam als sonst. Aber was hieß das schon genau, dieses sonst?

Dass sie das letzte Mal draußen gewesen waren, laufend und wandernd, für sich ganz alleine sorgend anstelle einer ganzen Gruppe, war schon Ewigkeiten her. Zum letzten Mal in einem Zelt geschlafen hatten sie noch weit vor Coral Valley; denn die eine Nacht hinter Rio Nosalida zählte nicht, immerhin war es da so warm gewesen, dass sie sich einfach unter offenen Himmel hatten legen können und der Marsch zu kurz, um wirklich viel Werkzeug dafür zu brauchen.

Auch heute wollten sie nur eine Nacht raus in die Stadt, aber die Bedingungen waren völlig anders. Sie brauchten einen Berg an Material aus dem sie ein notdürftiges Zelt klöppeln konnten, sie brauchten Waffen und Messer für das Wild, das sie - mit etwas Glück - heute hoffentlich fingen und zerlegen konnten. Der Haseneintopf gestern war wohltuend gewesen, aber eben auch das erste Fleisch, welches sie seit fast einer Woche ins Netz bekommen hatten und die Trockenvorräte wurden auch eher weniger statt mehr. Wenn sie nicht langsam herausfanden wo ein gutes Gebiet zum Jagen war, würden sie früher oder später verhungern und das war ein Szenario das Clarence, aus eigener Erfahrung heraus, eher weniger für ihre Gruppe wollte.

Doch gerade weil alle so tatkräftig versuchten mitzuhelfen und für die Gruppe etwas beizutragen, waren ihre Sachen quer durch die Werkstatt verstreut worden. Wo der Blonde am Anfang noch versucht hatte seine eigenen Sachen beieinander zu halten, hatte er schnell einsehen müssen, dass das meiste auf dem imaginären Papier war ihm gehörte - ansonsten aber Eigentum aller geworden war. Es gab kein mein oder dein mehr, seitdem keiner außer ihm seine eigene Tasche oder den eigenen Koffer hatte und in den großen Fundus aus Brauchbarem waren auch seine Gegenstände gewandert, die er sicher wiederbekommen würde wenn er darum bitten würde, aber auf die es ihm gar nicht so genau ankam.

Seine Axt lag im Hof, damit Constantin mittags damit Holz hacken konnte. Seine Messer waren zum Teil auf der Arbeitsplatte verteilt, die sie zum Kochen verwendeten und von seinen Schusswaffen wollte er gar nicht denken, von denen selbst jetzt noch welche - gut verwahrt - in der Werkstatt lagen, damit Jeremy und Constantin etwas Brauchbares am Mann hatten, falls irgendwelche unvorhersehbaren Dinge geschahen.

Auf der anderen Seite aber hatte er auch neues Eigentum hinzu gewonnen, das vorher jemandem gehört hatte, der heute nicht mehr unter ihnen war. Ein leicht angebranntes aber dadurch nur umso charmanteres Backgammon-Spiel, dessen Regeln er fast allen schon erfolgreich beigebracht hatte um angemessene Gegner zu haben oder auch warme Winterkleidung, die sich Clarence in der Menge gar nicht in Coral Valley angeschafft hatte in der naiven Hoffnung, sie würden dem Winter mit dem Boot ewig entkommen.

Einen Teil davon hatte Claire heute an und deshalb angenehm warme Hände und warme Ohren dank einer groben Strickmütze, die so aussah, als hätte sie irgendjemand ohne Talent aber dafür sehr liebevoll hergestellt. Manche Maschen waren vernäht oder schief, aber sie hielt trotzdem warm und das war die Hauptsache.

Aufmerksam nickte er dem offenen Fenstern oben bei den Umkleiden entgegen und hob die Hand vom Gurt seines Rucksacks, um den Kindern zuzuwinken, die aufgeregt über den Fensterbänken hingen um ihnen hinterher zu sehen. Gabe und Zoe winkten natürlich wie zwei Wahnsinnige zurück, für die der Aufbruch der zwei Abenteurer wie eine Expedition zum Mittelpunkt der Erde war, von der sie vielleicht nie mehr zurück kommen würden. Es war für die ganze Gruppe ein Novum über Nacht in die Geisterstadt aufzubrechen um jagen zu gehen, aber das war es immerhin nicht für Matthew und ihn, weshalb die ganze Aufregung um ihr Aufbrechen auch eher anstrengend als wirklich schmeichelhaft gewesen war.

Okay, kommst du? Ich glaub sonst kommt gleich wieder jemand runter und heult“, murmelte er aus dem Mundwinkel seinem Mann zu, ohne dabei das Gesicht zu verziehen oder aufzuhören den Kindern aufmunternd entgegen zu Lächeln, damit sich keiner von seiner Ungeduld auf den Schlips getreten fühlte. Gabe war schon am Morgen zu ihrem Bett gekrochen und hatte geweint, weil er a) nicht mit durfte und b) Angst hatte, dass seine zwei Helden nicht mehr lebend zurück kamen - und Clarence hatte fast geheult, weil der Junge ihm kaum Decke gelassen hatte, um seinen von der Nacht noch nackten Körper ausreichend zu bedecken.

Kooomm jetzt bitte“, flehte er mit einem endgültigen Nicken und Winken gen Fenster, als Zoe plötzlich daraus verschwunden war und ihr Temperament es durchaus möglich machte, dass sie gleich hier stand und sie eingeholt hatte. Sein jahrelanges Meiden von Kindern hatte ihn vergessen lassen wie anstrengend die kleinen Quälgeister sein konnten und selbst Abel bellte Cassie nun ungeduldig an, so als konnte auch er es kaum erwarten, dass sie endlich aufbrachen.

„Kommt, wir gehen jetzt einfach. Wir lassen den elenden Taugenichts hier wenn er nicht will, ganz genau“, sprach er Abel und Kain aufmunternd zu und wuschelte letzterem kurz zwischen den Ohren durchs Fell, bevor er sich in Bewegung setzte. Mit Ach und Krach hatte Adrianna sich überreden lassen wenigstens für diese eine Nacht in die Werkstatt zurück zu ziehen, damit sie die Hunde mitnehmen und eine Hilfe sein lassen konnten beim Jagen, aber auch um endlich wieder einen Familienausflug machen zu können; denn nichts anderes war der Tag heute hoffentlich auch, selbst wenn sie dabei einen Auftrag zu erfüllen hatten.


Matthew C. Sky

Die Luft war kalt und roch nach Schnee, obwohl der Himmel wolkenlos war und es nicht danach aussah als würden demnächst neue Flocken zu denen hinzukommen, die die Stadt bereits eingehüllt hatten. 

Die Hunde bellten und sprangen aufgeregt umher, erzeugten kleine Fontänen von Schnee, die wie Diamantenstaub glitzerten. 

Es würde ein guter Tag werden. Matthew wusste es. 

Im Gegensatz zu Clarence, der bloß nichts vergessen wollte und den Morgen über ungewohnt aufgekratzt war, war Matthew gelassen. Weder die Aufregung der Kinder, noch die der anderen Erwachsenen hatte ihn angesteckt. 

Der bevorstehende Ausflug markierte das Ende einer wochenlangen Camp-Situation, in der es für den Einzelnen keine Pause von den jeweils anderen gegeben hatte. 

Bis auf Adrianna, die sich eigenwillig von der Gruppe distanziert hatte, hatten sie im Kollektiv Entscheidungen getroffen, im Sinne des Kollektivs abgewogen und als solches gehandelt. 

Der kommende Jagdausflug mit Clarence versprach - zumindest temporär - eine Rückkehr zum alten Leben. Ein Leben, in dem es nur sie und Kain und Abel gab. 

„Lächeln und winken Clair, immer schön lächeln und winken.“, bemerkte er zu dem angespannten Blondschopf und wandte sich dann wieder Lucy zu, die herunter gekommen war - aber nicht um zu heulen. 

„Du weißt noch was ich dir übers Zielen gesagt habe?“ -

„Niemals auf einen Menschen, wenn ich nicht vorhabe ihn zu treffen.“ gab Lucy die Antwort und blickte Matthew mit ernstem Ausdruck an. - „Genau. Auch nicht im Spaß. Ich kannte mal einen Jungen der -…“ - „… der hat einem anderen ein Auge weggeschlossen. Ich weiß.“

Cassiel nickte und klopfte ihr auf die Schulter. 

„Richtig. Und wenn du übst, dann denk daran, die Kraft kommt aus den Schultern und dem Rücken, nicht aus den Armen.“

Nun war es an dem Mädchen zu nicken. 

„Und nun ab mit dir. Pass auf Zoe und Gabe auf. Und auf dich natürlich.“, Matthew schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und Lucy, die bisher schon beinahe erwachsen gewirkt hatte, umarmte ihn plötzlich. Sie drückte ihr Gesicht an seine Schulte und drückte sich so fest an ihn, dass Matthew einen Ausfallschritt nach hinten machen musste um nicht umzufallen. 

„Hey…“, machte er leise, umarmte das Mädchen und strich ihr über den Schopf. „Wir kommen wieder. Versprochen.“ 

Lucy machte keine Anstalten ihn loszulassen und Cassie ließ ihr kurz die Zeit die sie brauchte. Sie musste ihre Ängste nicht aussprechen damit Matthew sie verstand und wie so oft in den letzten Wochen blieb Lucy verschwiegen. 

„Wir lassen euch nicht alleine.“, versicherte er abermals und schließlich ließ das Mädchen ihn wieder los und schaute zu ihm empor. „Wir würden nie abhauen. Das weißt du, hm?“ - „Ich schätze schon.“ erwiderte Lucy etwas zögernd. 

„Na und ich schätze, dass wir darüber reden müssen was du von Claire und mir hältst, wenn wir wieder da sind.“ 

Der scherzhafte Tadel Matthews verfehlte seine Wirkung nicht. Lucy lächelte vage, trat einen Schritt zurück und hob - beinah schüchtern - die Hand zur Verabschiedung. 

„Dann bis dann…denk ich.“, ihr Blick huschte zu Clarence der schon ein paar Schritte gegangen war, dann zurück zu Matthew. „Bis dann. Und pass mir auf die Anderen auf.“

Lucy nickte und Matthew wandte sich schließlich Clarence zu. Eilig trabte er zu ihm und den Hunden, die ihm freudig entgegenkamen und bellten. 

„Ja ja, ich bin ja da. Kann losgehen ihr zwei.“, er wuschelte erst Kain, dann Abel durchs Fell und scheuchte sie mit einer auffordernden Handbewegung vorwärts. 

„Ihr drei, mein ich natürlich.“, korrigierte er sich selbst und wuschelte nun auch Clarence frech über den bemützten Kopf. 

„Bereit, Prinzessin? Möchtest du, bevor wir starten, eine deiner legendären Wetterprognosen abgeben? Sowas wie ‚heute wird es nicht viel schneien.‘ ?“

Das letzte mal als sie kurz vor Coral Valley gewesen waren, hatte Clarence sich kolossal verschätzt. 

Und auch wenn er diesen Fehler mittlerweile schon ungezählte Male wieder wettgemacht und richtig prognostiziert hatte, so würde Cassie vermutlich niemals aufhören ihn damit aufzuziehen. 


Clarence B. Sky

Wären sie in einer Metropole, dann hätte er garantiert schon den Hauptpreis beim Schönheitswettbewerb gewonnen. Sein aufmunterndes Lächeln im Kombination mit dem Winken war ohne Zweifel die Geste eines Mannes, der in den Kindern nicht die Angst schüren wollte, sie könnten am nächsten Tag nicht zurück kehren - und Matthew ließ sich nicht lange darum bitten, seine Meinung zum gut gemeinten Abschied kund zu tun.

Ertappt räusperte sich der Blonde, doch weil er nicht so ein emotionaler Trampel wie sein Ehemann war, verkniff er sich einen ähnlichen Kommentar. Denn wo Clarence‘ Taktik aus Lächeln und Winken sehr gut funktionierte, waren es bei Cassie zunehmend die gut gemeinten Ratschläge und Erfahrungsberichte, mit denen er sich bei dem ältesten der Kinder mittlerweile geerdet hatte.

Mittlerweile wusste wirklich jeder im Camp noch, was sein Mann übers Zielen gesagt hatte und hätte er seine Frage etwas lauter gestellt, dann hätte ihm sicher die halbe Werkstatt auch lautstark geantwortet. Wenn Cassie abends das Feuer verließ um sich in den Waschräumen bettfertig zu machen, hörte man Zoe manchmal, wie sie ihn am Feuer amüsiert nachäffte und sich damit bei Lucy umso unbeliebter machte, die selbst die hundertste Wiederholung der Lektionen durchaus sehr ernst nahm.

Gerade deshalb betrachtete er die beiden aus gebührendem Abstand mit Wohlwollen. Es war schön zu beobachten wie sehr das Mädchen unter Cassie Zutun aufgeblüht war. Seine beständige aber nicht aufdringliche Aufmerksamkeit war es, unter der Lucy sich ihm gegenüber selbst hatte öffnen können, ohne sich zu etwas gedrängt zu fühlen. Es tat ihr gut nicht bevormundet zu werden und trotzdem war Matthew beständig genug um ihr klar zu machen, dass sie besonders bei ihren Übungsstunden dran bleiben musste, wenn sie den Dreh raus bekommen wollte. Und genau das tat sie zunehmend.

Den überschwänglichen Abschied, den Clarence bereits oben im Gemeinschaftsraum durch Zoe und Gabe hatte über sich ergehen lassen müssen, traf nun auch seinen Mann mit voller Breitseite und brachte ihn beinahe zu Fall, wie er mit einem amüsierten Lächeln feststellte. Lucy hatte den Erwachsenen hier im Lager noch nie so viel Zuneigung gezeigt wie in diesem Moment und auch weil er nicht wollte, dass dieser Anflug früher endete als nötig, kam es ihm ganz gelegten, sich schon mal ein Stück weit vom Gebäude zu entfernen.

Still fuhr er Kain durchs Fell, der ganz ungerührt an ihm vorbei tobte so als spielte sich hinter ihnen kein kleines Wunder ab und so schnell wie bei Lucy die Sentimentalität angeflogen war, war sie auch schon wieder vorbei. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie die Kleine septisch zu ihm hinüber schielte und als Zeichen dafür, dass auch er es wirklich nicht schlecht mit ihrem Aufbruch meinte, nickte er ihr respektvoll zum Abschied entgegen.

Es war wie Musik in seinen Ohren, als auch der Jüngere sich dann endlich hatte loseisen und aufholen können - wenigstens zu den beiden Hunden wie Cassie betonte, schließlich aber auch zu seinem Bären, der ähnlich ungestüm überfallen wurde wie Kain und Abel.

„Danke, sehr gnädig von ihnen, Mister Sky“, entgegnete er amüsiert darüber, dass sein eigener Ehemann ihn dann doch nicht vergessen hatte, und rückte dabei seine Mütze wieder zurecht, die ihm bei der gezielten Attacke fast vom Kopf gerutscht wäre. „Ja ja, lach du nur. Ich glaube wirklich, dass es heute nicht viel schneien wird.“

Das glaubte er so wirklich wirklich, auch wenn die Schneedecke anderes vermuten ließ. Die ganze Nacht über hatte es zwar wenig, aber dafür durchgehend geschneit; das war für ihren Ausflug nicht besonders von Nützen, aber dafür zur Freude der beiden Hunde umso besser. Immer wieder steckten die beiden die Schnauzen tief in den Schnee und schlugen springend ihre Schneisen durch den Hof, auch ohne es zu wissen beweisend, dass sie Gene von Mutter aus ewiges Eis hatten.

„Denkst du, dass uns der Schnee noch übermannt heute?“, wollte er ehrlich von Cassie wissen und deutete nach oben, denn der Himmel strahlte ihnen heute zum ersten Mal seit langem wieder strahlend Blau entgegen, nur dann und wann durchzogen von einer dicken Wolke. Das konnte sich natürlich auch schnell wieder ändern wie ihnen die letzten Wochen deutlich bewiesen hatten und Clarence wollte es auch nicht ganz ausschließen, immerhin stimmten seine Wettervorhersagen deutlich seltener im Winter, als es noch im Sommer der Fall gewesen war.

„Schon gut, ich lehne mich nicht weiter aus dem Fenster als nötig mit meinen Schneeprognosen. Aber ich hoffe nicht, dass es heute schneit. Ist das besser?“

Jedenfalls war es ein rhetorischer Kompromiss, den er gerne eingehen wollte, wenn er sich dafür den Rest des Tages die stichelnden Sprüche seines Mannes ersparen konnte.

„Wie macht sich Lucy?“, warf er schließlich das ein, was nun offensichtlich im Raum stand und mustere den Dunkelhaarigen dabei neugierig, der selbst genauso überrascht gewirkt hatte wie Claire es gewesen war. „Wirkt so, als wärt ihr langsam Freunde geworden. Das ist schön, wirklich“, gestand er den beiden zu, immerhin durfte sein Mann ja noch andere Freunde neben ihm haben - wenn es denn sein musste. Auffordernd reckte er ihm die Hand entgegen und forderte sich wortlos Cassies Hand ein, den wohl ersten Moment seit Wochen genießend, in dem er seinen Ehemann endlich mal wieder für sich alleine hatte, statt auf die Gefühle frisch gebackener Witwer Rücksicht nehmen zu müssen.


Matthew C. Sky

So blau wie der Himmel war, wollte auch Matthew daran glauben, dass es am heutigen Tag nicht schneien würde. Doch andrerseits hatte es das bisher so ziemlich jeden Tag getan. Sich festlegen wollte er deshalb nicht, da überließ er doch lieber Clarence die Prognosen und die Gefahr mit selbigen falsch zu liegen. 

Ich hoffe… ich werde heute nur noch von dir übermannt, so ganz ohne neuen Schnee.“, erwiderte er neckisch und gab Clarence wie aufgefordert seine Hand. Er trug Handschuh aus einem der gefundenen Koffer und eine Mütze von den Alten die sie in einem staubigen Karton gefunden hatten.  

Immerhin die Schuhe und die Hose waren noch von ihm selbst, beides hatte er am Morgen des Absturzes getragen. 

Der frisch gefallene Schnee würde ihr Vorankommen nicht gerade beschleunigen, aber es ging ihnen ohnehin nicht wirklich darum schnell weit weg zu gelangen. 

Ihr Ausflug war weniger ein Jagdausflug- auch wenn das die offizielle Bezeichnung für ihr Vorhaben war - sondern mehr eine Auszeit von den anderen. 

Leise knirschte der Schnee unter den Sohlen ihrer derben Stiefel als sie sich endlich gemeinsam in Bewegung setzten. Ein Geräusch an welches sie sich im Laufe der Wochen schon richtig gewöhnt hatten.  

„Lucy befürchtet, dass wir nicht zurückkommen. Ich glaube sie hat weniger Angst davor, dass uns was passiert als davor, dass wir einfach abhauen. Sie hat es nicht direkt gesagt, aber… ich hab’s im Gefühl.“

Sie hatten beide schon vor einer Weile Witze darüber gemacht sich aus dem Staub zu machen, in Wirklichkeit jedoch stand so etwas nicht zur Debatte. Weder Clarence noch Matthew würden die anderen einfach hilflos zurücklassen können, aber vielleicht steckte jene Angst ein bisschen in der gesamten Gruppe.

„Man kann es ihr nicht verübeln, schätz ich.“, er zuckte die Schultern, löste sich kurz von Clarence und schob das Tor zu, dass das Gelände der Werkstatt vom Rest der Stadt trennte. Später, so hatten sie es abgemacht, würde Constantin es verschließen sodass niemand das Gelände verlassen oder betreten konnte, zumindest bis zur Rückkehr beider Jäger am morgigen Tag. 

„Täusch ich mich oder war Adrianna heute ausnehmend gut gelaunt für ihre Verhältnisse? Sie hat mir sogar einen guten Morgen gewünscht.“ - tatsächlich hatte sie das ‚guten‘ weggelassen, aber wer wollte schon kleinlich sein. 

Mit dem klappern der rostigen Eisenkette welche Cassie um das Tor schlang, markierten sie ihren Aufbruch nun mehr endgültig. 

Jetzt waren sie hier draußen und die anderen da drinnen.

Ein bisschen war es so wie früher, als es nur sie beide gegeben hatte und doch würden sie ihre Verantwortung nicht vergessen. Die anderen brauchten sie und es kam nicht in Frage sie zu enttäuschen. 

Ein letztes Mal sah Matthew durch den Maschendrahtzaun und hin zu dem trostlos wirkendenden Gebäude. Es war ein Klotz aus grau und weiß, mit gerade Kanten und bröckelndem Putz - und dennoch war es ein sicherer Hort für ihre Gruppe geworden, die so wenig hatte und doch erstaunlich gut zusammenhielt. Trotz aller Ungleichheiten hatten sie sich zusammen gerauft und ein gutes Miteinander gefunden, eines bei dem jeder auch ein bisschen auf den anderen aufpasste. 

Und auch wenn Cassiel das wusste, konnte er seine Sorgen um die anderen nicht komplett bei Seite schieben.  

„Ich hoffe sie kommen klar. Ist ja eigentlich nur ein Tag…“, er atmete einmal durch, dann wandte er den Blick endlich von dem Gebäude ab und sich wieder Clarence zu. 

„Komm, bevor ich noch derjenige bin der einen Rückzieher macht.“, mit einem vagen Lächeln auf den Lippen setze sich der junge Mann in Bewegung und folgte an der Seite des Blonden der Straße für ein paar Meter. 

Erst jetzt waren sie wirklich aufgebrochen und außer Hör - und Sichtweite der anderen. Es war nicht so als würde Matthew nicht gehen wollen, er hatte einfach Bedenken, dass etwas passieren konnte womit die anderen alleine nicht fertig wurden. 

„Warte mal kurz.“, bat er schließlich und blieb stehen, doch nicht etwa um zurückzugehen weil er es sich anders überlegt hatte, sondern um ihre neue, zurückeroberte Freiheit zu nutzen. Er trat an Clarence heran welcher ihm nur wenige Schritte voraus war, und schob die Arme über seine Schultern um den Größeren bei sich zu halten. Clarence sah auf verwegene Weise gut aus wie er da so mitten auf einem Gehweg der Alten stand, bereit die Metropole und neue Jagdgebiete zu ergründen. Keine Angst vor nichts und so makellos als hätte es nie einen Zeppelinabsturz gegeben. 

Und das beste an diesem Kerl war eindeutig, dass er Matthew gehörte. 

Und weil das so war reckte sich der Dunkelhaarige zu dem Hünen empor und drückte ihm einen kurzen aber verliebten Kuss auf die warmen, weichen Lippen.

 „Los jetzt, Mister Sky. Gehen wir jagen.“


Clarence B. Sky

Kaum waren sie drei Meter den Innenhof hinab gegangen, da konnte Matthew schon an nichts anderes mehr denken, als sich an seinem adonisgleichen Körper gütig zu tun. Das konnte man ihm freilich nicht verdenken, immerhin war der blonde Bär ein fesches Kerlchen; aber dieser Umstände änderte nichts daran, dass sie noch nicht weit genug von der Werkstatt entfernt waren, um ihren Tarnmantel des Jagdausflugs schon abzuwerfen.

Stattdessen legte sich ein wissendes Grinsen über seine Lippen. Ein klein wenig Schnee wäre vielleicht also gar nicht so schlecht, wenigstens um sie von den Strapazen der kommenden Anstrengung abzukühlen. Denn das würden sie ganz sicher nötig haben, da war sich Clarence sicher. 

„Lucy…“, wiederholte er und blickte dabei nachdenklich den Hunden hinterher, deren geschlagene Schneisen es ihnen etwas leichter machten, durch den hohen Neuschnee zu kommen. „Lucy hat sicher mehr Angst als sie sich anmerken lässt. Sonst wäre sie eben nicht so gewesen. - Nicht, dass das schlecht wäre oder so.“

Er wollte nicht klein reden, mit welchen plötzlichen Emotionen sie sich eben vom Dunkelhaarigen verabschiedet hatte. Aber in ihr schlummerten definitiv mehr Sorgen und Grübeleien, als sie es die anderen der Gruppe wissen ließ.

„Hat sie mit dir mal darüber geredet, wieso die beiden zu ihrem Onkel müssen? Ich meine ich weiß, die Eltern der beiden sind tot und so“, fasste er die bereits bekannten Fakten zusammen, immerhin redeten die Kinder ja schon bis zu einem gewissen Grad darüber was geschehen war. Sogar Zoe tat das bei ihrer Mutter, aber die Details blieben zumindest Lucy und Gabe seit jeher schuldig. „Aber Gabriel lässt sich sonst nichts zu dem Thema aus der Nase ziehen und ich hab das Gefühl, wir bringen besser keine Schrammen mit nach Hause, wenn wir uns keinen Ärger mit einem oder gar beiden einhandeln wollen.“

Cassie mochte die Kleine mittlerweile besser kennen als er, aber das hieß nicht, dass ihm die Besorgnis in Lucy’s Blick entgangen wäre. Er wusste wie Kinder aussahen die Angst um Erwachsene hatten, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Immerhin war Clarence viele Jahre eines dieser Kinder gewesen.

Ebenso wie sein Mann, zuckte auch er schließlich mit den Schultern - denn ja, verübeln konnte man ihr es nicht.

Während hinter ihm das alte, rostige Tor kreischend ins Schloss gezogen wurde, wandte sich Clarence wieder dem Straßenverlauf zu. Die Werkstatt lag nicht ganz am äußeren Rand der Vorstadt, aber immer noch abseits genug, dass sich nicht mehr Gebäude an Hochhaus schmiegte, so wie es in der Innenstadt der Fall war. Quer hinter ihnen war sogar eine alte Parkanlage, in der sie Anfangs Wildwechsel vermutet und sich deshalb in der Gegend hier nieder gelassen hatten. Doch ihre Hoffnungen waren enttäuscht worden.

„Ausnehmend gut gelaunt ist ein wirklich sehr bedeutungsschwerer Begriff“, bemerkte er vorsichtig und schüttelte einen Moment amüsiert den Kopf, denn das letzte Mal als er Adrianna ausnehmend gut gelaunt gesehen hatte, waren sie noch in Falconry Gardens gewesen. „Sagen wir‘s so: Sie war heute morgen auf jeden Fall nicht auf Mord und Totschlag ausgerichtet.“

Mit der Umschreibung kam man ihrem Gemütszustand schon eher entgegen und machte ihr damit sogar noch ein Kompliment, das sie eigentlich gar nicht verdient hatte.

Gezielt folgte er den Hunden durch die Schneisen, die vor ihnen lagen, und lauschte dabei der idyllischen Hintergrundkulisse. Der Schnee knarrte vertraut unter ihren Stiefeln und war zu einem Geräusch geworden, das man sonst nur noch unterschwellig wahrnahm und selbst die wenigen Vögel, die sich hierher in die Geisterstadt verirrt hatten, zirpten munter in den kahlen Bäumen.

Manchmal - in Momenten wie diesen, wenn man weder das bislang unentdeckte Ungetüm in der Ferne poltern hörte, noch der Schnee so dicht fiel, dass sie Angst haben mussten am nächsten Morgen die Tür nicht mehr öffnen zu können - dann war es beinahe schön hier. Es hatte Charme zwischen den Ruinen der Alten hindurch zu schlendern, die teils noch so erhalten waren, als wäre es nur wenige Jahrzehnte her, dass sie hier gelebt hatten.

Clarence konnte sich gut vorstellen, wie die Menschen lange vor ihnen die Straße hinab spaziert waren, die an der Werkstatt vorbei etwas abschüssig zur alten Hauptstraße führte. Zu ihrer linken baute sich mit jedem Schritt hinab eine kleine Mauer auf, die Anfangs nicht mehr war als nur ein kleiner Vorsprung, unten an der Straße jedoch zu einer kleinen Brücke wurde, auf der dicke eiserne Schienen verliefen, um über die Kreuzung hinweg zu führen.

An manchen Tagen, wenn die dünnsten Schichten aus Schnee und Eis geschmolzen waren, konnte man auf den Wänden und Gebäuden der Stadt Farben erkennen, die größtenteils abgeblättert waren. Manche zeigten selbst heute noch grob seltsam abstrakte Bilder, andere nur noch fleckige Fitzel oder bröselige Flocken, die lautlos hinab gen Boden wehten, wenn man zu schnell an ihnen vorbei eilte.

„Du machst keinen Rückzieher, Cassie. Du bist doch der, der mich davon abhalten muss umzudrehen, um nach dem Rechten zu sehen“, korrigierte er seinen Mann wahrheitsgemäß und rief Abel und Kain schließlich mit einem scharfen Pfiff ab, damit sie ihre Erkundungstour nicht zu weit ausdehnten. Noch immer hörten die beiden ausgesprochen gut auf das was man ihnen sagte. Doch die Wochen im offenen Gelände, zuletzt auch auf dem Hof der ehemaligen Werkstatt, machte die beiden zunehmend denken, dass die Welt nur dazu da war um sie zu erkunden und wie das endete, hatten sie schon auf der Insel mit dem oft thematisierten Feld voller Spinnennetzen gesehen.

Anstatt nach ihm zu pfeifen, hielt Cassie ihn mir drei kurzen Worten auf und just in diesem Augenblick dachte der Jäger wirklich, dass sie umdrehen und zurück gehen mussten. Nochmal nachsehen, ob die Vorräte auch weiterhin gut rationiert waren oder noch mal bei den Kindern nach dem Rechten sehen, weil sich ihr Zustand plötzlich schlagartig verschlechtert haben könnte.

Doch Matthew ließ ihn all diese vielen kleinen Sorgen für einen Moment vergessen, als er sich dicht vor ihn hinstellte und seine armen Arme um ihn legte, anstatt ihn zu packen und zurück gen Tor zu ziehen. Es tat so gut einfach nur umarmt zu werden ohne überlegen zu müssen, ob Constantin oder Jeremy wohl in der Nähe waren und ohne dass der kleine Gabe ihnen einfach rein quakte - denn so gern er den Burschen auch hatte, seinen Mann hatte er eindeutig noch lieber.

Raunend lehnte er sich den vertrauten Lippen des Jüngeren entgegen und konnte dabei nicht verhindern, wie sich ein kleines Schmunzeln auf sein Gesicht stahl. Es war noch gar nicht so lange her, da hätten sie ihren Weg durch die schneebedeckten Straßen mit gebührendem Mindestabstand gemacht und vermutlich spätestens nach einer Stunde hätte irgendjemanden wieder etwas so sehr am anderen gestört, dass sie einander geschworen hätten sich mit Eiszapfen abzustechen, wenn der andere nicht endlich sein vorlautes Maul gehalten hätte.

„Nein nein, warte noch. Nur einen Moment“, fiel er Cassie ins Wort, der schon wieder weiter ziehen wollte, obwohl ihr Ausflug doch gerade erst angefangen hatte. Sie hatten noch den ganzen Tag Zeit zum Jagen, aber nicht immer Zeit hierfür, das wusste sein Mann doch genauso gut wie er selbst.

Es vergnügtes Brummen verließ seine Kehle, während dem er seine Hände an Cassies Flanken auflegte und ihn dabei sachte vor sich her und schließlich mit dem Rücken gen Mauer drängte, um sich sachte gegen ihn zu lehnen. Ein bisschen fühlte es sich wie damals in Coral Valley an, im allerersten Schnee den sie gemeinsam erlebt hatten - als sie dann und wann in den Seitengassen verschwunden waren, um wenigstens für den Bruchteil einer Minute ein wenig miteinander rumknutschen zu können.

„Mhh… kaum sind die anderen außer Sicht, kannst du gar nicht mehr deine Lippen von meinen lassen, hm?“, verübeln konnte man es ihm nicht, immerhin ging es Clarence mit ihm ja ganz genauso. Ähnlich wie eben noch, klaubte sich nun der Blonde einen verliebten Kuss von den Lippen seines Mannes, mit den es sich selbst nach all den Wochen und Monaten noch so anfühlte, als wäre alles ganz neu und frisch.

„Ist was ein bisschen als wären wir miteinander durchgebrannt, weil unsere heimliche Liebschaft nicht auffliegen soll. Oder?“

Mit verschmitztem Ausdruck in den blaugrauen Iriden musterte er Matthew, dem die dicke Winterkleidung und der Schnee genauso gut standen wie oberkörperfrei in der heißen Sommersonne. Für dieses Unterfangen konnte er sich wirklich keinen Besseren vorstellen, mit dem er lieber abgehauen wäre.


Matthew C. Sky

Irgendwann einmal, da waren sie schweigend ihrer Route gefolgt. Ab und an hatte Matthew sich beschwert - über das Wetter, über den Weg, über Clarence Schweigsamkeit. 

Oder er hatte ungefragt Erfahrungsberichte zum Besten gegeben - über Bekanntschaften aus der zuletzt besuchten Siedlung, über Pokerrunden die er gewonnen hatte nur um seine ganzen Einnahmen an die schöne Rothaarige hinter der Bar zu verlieren. Er erzählte dies und das und erntete von Clarence doch nur selten mehr als ein Schnaufen oder Brummen. Laute, die er im Laufe der Zeit genauestens zu deuten gelernt hatte. Da gab es das wohlwollende Brummen, das ablehnende Brummen, das nachdenkliche Brummen, eines das besagte ‚halt endlich deinen Rand‘ und jenes, welches Matthew signalisierte, dass Clarence gar nicht zuhörte und nur ab und an einen Laut von sich gab - der Höflichkeit wegen. 

Sein Schnaufen konnte missbilligend sein, unwirsch, desinteressiert, verurteilend und manchmal, wirklich ganz selten hatte es den Anflug von Amüsement gezeigt.

In jener Zeit, als Matthew gelernt hatte die feinen Unterschiede herauszuhören, hatte er auch damit begonnen sich immer mehr für das halbwegs amüsierte Schnaufen zu interessieren. Er hatte versucht es zu forcieren aber nicht allzu oft Glück damit gehabt. 

Heute hingegen waren die Dinge so viel einfacher und unkomplizierter. Zwar konnte der Dunkelhaarige sein Brummen und Schnaufen noch immer zuverlässig deuten, allerdings war es gar nicht mehr allzu oft nötig - zumindest nicht, wenn sie unter sich waren. 

Heute lachte Clarence oft, schmunzelte unbeschwert vor sich hin, zeigte offen wenn ihn etwas amüsierte und hatte keine Scheu davor Cassie an dem teilhaben zu lassen was in seinem Kopf vor sich ging. 

Egal ob Sorgen oder Begeisterung, es gab keine unsichtbare Wand mehr zwischen ihnen, die sie voneinander trennte und jeden von ihnen in eine separate Zelle eines Gefängnisses sperrte, das sie selbst errichtet hatten. 

Matthew hatte nicht vergessen wie es früher zwischen ihnen gewesen war, aber es kam ihm heute so vor als hätte jenes Damals zwei andere Versionen von ihnen betroffen. 

Wie sehr  Matthew es liebte mit Clarence zusammen zu sein, ihn lächeln zu sehen und nicht mehr auf das halbwegs amüsierte Schnaufen angewiesen zu sein… das würde Clarence wahrscheinlich nie erfahren.

„Lucy hat erwähnt, dass sie ihren Onkel beide nicht kennen. Warum er sie zu sich holen will… keine Ahnung. Ich hoffe aus Nächstenliebe…“, - das hoffte er wirklich, auch wenn er den wenigsten Menschen wahre Selbstlosigkeit zutraute. 

Irgendwann würden Lucy oder Gabe ihnen vielleicht mehr erzählen. Aber jetzt und hier war der Onkel der beiden Zukunftsmusik und es machte keinen Sinn sich über seine Motive den Kopf zu zerbrechen, weshalb der Themenwechsel durchaus berechtigt war. 

„Warten?“, wiederholte Cassie schließlich mit süffisantem Lächeln, ließ sich aber folgsam nach hinten dirigieren, bis er die Wand in seinem Rücken spürte. Hätte Clarence es nicht getan, so hätte Matthew ihn nun geküsst, doch der Bär nahm ihm diese Mühe ab. Warm und weich legten sich die Lippen des Blonden auf seine und Cassie erwiderte den Kuss voll inniger Zuneigung. Da standen sie nun inmitten einer verlassenen Stadt der Alten, umgeben von Ruinen und Schätzen einer längst ausgelöschten Zivilisation. 

Noch keine fünf Minuten Weg lag hinter ihnen und schon küssten sie einander wie verliebte Teenager und sie taten es an einem Ort, an dem bestimmt schon unzählige verliebte Burschen ihre Liebsten an die Wand gedrängt und übermannt hatten.  

Es war ein Wunder, dass sie einander damals getroffen hatten und das sie lange genug überlebt hatten einander wirklich  kennenzulernen. Ihre ganze Beziehung war so unwahrscheinlich in einer Welt wie der ihren, dass Matthews letzter Gedanke vorm Einschlafen manchmal war, dass er nur träumte. Es konnte nicht wirklich wahr sein, dass er seinen besten Freund geheiratet hatte. Es war unmöglich, dass ausgerechnet er einen Mann liebte und das jener Mann seine Liebe bedingungslos erwiderte. 

Die Abwärtsspirale in der sein Leben bis zu dem Tag ihres Kennenlernens verlaufen war konnte doch nicht wirklich vorbei sein. Es fühlte sich noch immer manchmal so an, als sei seine Beziehung zu dem Älteren schlicht zu schön um wahr zu sein. Und wenn aus dem schlaftrunkenen Gedanken dann manchmal eine Befürchtung wurde, dann schlug Matthew in der Finsternis der Nacht manchmal die Augen auf und suchte mit dem Blick jene Gestalt neben sich, die eng an ihm gekuschelt war. Und dann lag er da, allein mit sich und seinen Gedanken und erkannte erleichtert, dass Clarence wirklich da war. Jener Mann, der ihn so über die Maßen glücklich machte und ihm das Gefühl gab das wirklich alles gut war und werden würde. 

In diesen stillen Nächten brauchte Cassie meistens länger um wieder einzuschlafen, dann nutzte er die Zeit seinen Mann zu beobachten, ihn zu mustern und schweigsam zu bewundern. Er hatte unverschämtes Glück mit ihm - das war Matthew vollkommen klar. Und anders als es vielleicht bei den meisten anderen Paaren der Fall war, so vergaß Matthew sein Glück nie. Clarence war alles was er wirklich wollte, alles was er brauchte - und er würde sein Leben lang alles dafür tun um ihn zu beschützen und auf ihn aufzupassen. 

Dass der junge Mann einmal so fühlen würde, dass hätte er sich vor noch gar nicht allzu langer Zeit nicht träumen lassen. Und jetzt mit dem Blonden hier zu sein, einen Zeppelinabsturz zu überleben und nun eine Winterwanderung in einer Stadt der Alten zu unternehmen, machte Cassie ganz kribbelig vor Freude. 

Beflügelt von dem Gefühl überbordender Glückseligkeit schlang Matthew die Arme um Clarence‘ Hals und sprang an ihm empor, ihn noch immer küssend. Sein Gewicht brachte den Hünen zum Schwanken und Cassie löste den Kuss, ausgelassen auflachend und sich an dem schlingernden Bären festhaltend. Wenn sie fielen, dann geradewegs in den Schnee - und sie wussten beide, dass es wahrhaft schlimmere Abstürze gab als einen solchen. 


Clarence B.Sky

Es war bitterkalt im hohen Schnee und die Kleidung half auch nicht, die eisige Luft tatsächlich von der Haut fern zu halten. Immer wieder fand der Wind eine unbedeckte Ritze, um zwischen den schützenden Schichten hindurch auf empfindliche Haut zu treffen und einen frösteln zu machen. War die Kälte einem erstmal bis auf die Knochen gekrochen, gab es oft keine Möglichkeit mehr sich ohne ein heißes Feuer oder ein kochendes Bad wieder aufzuwärmen und wenn dem so war, war man verloren.

Hatte man weder das eine noch das andere, half nichts besser als ein wohlig warmer fremder Leib und heiße Küsse, die einem das Herz wärmten. Ihre Nasen waren schon rot geworden vom Schnee, doch die Kälte spürte Clarence nicht im geringsten, so lange Matthew bei ihm war.

Mhh… ich hoffe, wir warten heute öfter mal kurz und… vertiefen das Thema hier ein wenig“, murmelte er leise gegen die Lippen seines Liebsten und küsste ihn ein weiteres Mal; nun länger, aber nicht weniger verliebt. Wenn es nach ihm ging, dann konnte der ganze Ausflug nur aus Pausen bestehen, denn jagen konnten sie morgen früh in aller Herrgottsfrühe immer noch. Egal wie kalt es draußen war, Matthew würde schon dafür sorgen können, dass sie beide nicht erfroren. „Ich bin dafür… dass wir mindestens stündlich ein bisschen Rast machen. Das klingt machbar, finde ich…“

Zufrieden hielt er ihn vor sich an die Mauer gelehnt, machte es dem Jüngeren somit nicht leicht seiner Zuneigung zu entkommen und drängte sich mit wohligem Seufzen Cassies Lippen entgegen, die in der Winterlandschaft noch besser waren als ein heißer Wein - und ihm sowieso noch besser schmeckten.

Einzelne Schneeflocken, die sich auf der Mauer als weißer Verbund gesammelt hatten, rieselten die vereisten Backsteine hinab und bedeckten ihre Mützen wie feiner Puderzucker, der auf sie hinab gestreut wurde. Man sollte meinen, ein Absturz mitten in der Wildnis und ein Gefangen-Sein in einer tote Geisterstadt, die augenscheinlich nicht einmal wilde Tiere bewohnten, wäre ein Horror-Szenario das man sich nicht schlimmer vorstellen könnte. Doch selbst hier, auf der schneebedeckten Straße, fanden sie ihr Glück. Nicht, weil die Ruinen der Alten ein Abenteurer fürs Leben waren oder sie Schätze geplündert hatten, die von unbezahlbarem Wert waren.

Sondern weil sie ihr Zuhause immer dort hatten, wo sie zusammen waren.

Überrumpelt von so viel Glückseligkeit, die in Form eines ausgewachsenen Mannes daher kam, spürte er plötzlich das Gewicht des einstigen Söldners an sich hängen und geriet mit einem überraschten Laut ins straucheln. Unbeholfen versuchte er, das Gepäck an seinem Rücken als Gegengewicht zu benutzen, wobei Cassie mit seinem glücklichen Jauchzen keine große Hilfe dabei war sie unbeschädigt wenigstens auf zwei statt vier Beinen zu halten.

Schwankend taumelten sie ein Stück weit von der Mauer weg, hindurch durch den hohen Neuschnee und quer durch die Schneisen, die Abel und Kain geschlagen hatten, bis kein Ausweichmanöver mehr zu helfen schien. Schließlich sah Clarence, begleitet von aufgeregtem Bellen, den Untergrund langsam näher kommen und purzelte, mit seinem Mann im Schlepptau, rücklings zu Boden - wobei ein deutlich hörbares Knacken ertönte.

„Fuck, Cassie…! Scheiße…“, fluchte er stöhnend und rollte sich unter dem Gewicht, das auf ihm ruhte, etwas beiseite und langte nach seinem rechten Arm, mit dem er sie beide aufgefangen hatte. Vorsichtig versuchte er die Finger zu bewegen, wobei man ihm deutlich Schmerzen ansehen konnte, die ihm dabei durch den Arm schossen.

„Was hast du getan?!“

Umständlich versuchte er sich unter dem Jüngeren hervor zu robben. Er sah aus wie ein lebendiger Schneemann, so sehr hatte der Schnee ihn bedeckt und sich an seine Kleidung gepresst und in seinem Nacken spürte er das unangenehme Gefühl von Kälte, die einem langsam schmolz und den Rücken hinab lief.

„I-Ich glaube… wir müssen zurück. Ich h-hab…“

Unsicher versuchte er seine Finger zu bewegen, wobei sein Arm noch immer streif und schmerzhaft im Schnee lag. Es schien ihm schwer zu fallen in Worte zu fassen was geknackt hatte, doch das genaue Problem offenbarte sich schließlich selbst, als er es geschafft hatte mit der Hand etwas Schnee einzusammeln: „…dich verarscht!“

Es dauerte nur ein jungenhaftes Lachen lang, da hatte Matthew schon den ersten Schneeball im Gesicht und Clarence nutzte die Gunst der Schrecksekunde, um sich aufzurappeln und - dank des Rucksacks wankend - zurück in den Stand zu kommen. Im Schneeloch unter ihm, das sie geschlagen hatten, konnte man einen zerbrochenen Ast hervor lugen sehen, der zweifelsohne für das ominöse Knacken verantwortlich war, das der Jäger für seine unlauteren Zwecke genutzt hatte.

Doch kaum wieder auf den Beinen, wurde ihm auch eines klar:

Die Rache des Matthew Sky konnte unmenschlich sein und wenn er sich nun nicht beeilte, dann hatte ihn der Jüngere dran, noch bevor Claire wusste in welche Richtung er fliehen sollte.

„Lauft, schnell! Sonst kommt er uns alle holen!“, warnte er die Hunde und scheuchte sie mit einer eiligen Handbewegung vor sich die Straße hinab, in der Hoffnung durch ihren Windschatten seinem künftigen Peiniger besser entkommen zu können. Doch anstatt ihm behilflich zu sein, preschte Kain nur noch an ihm vorbei um eine Hälfte des Asts aus dem Schnee zu fischen, und ihm damit um die Beine zu irren. So ein Verräter!


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