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Alte Werkstatt

17. August 2210


Clarence B. Sky

Aus eigener Erfahrung wusste er wie schlimm es war, wenn den Menschen, die man liebte, etwas passierte. Dass seine Angst grundsätzlich größer war als die Hoffnung, hatte er kurz nach dem Absturz wieder zu spüren bekommen, als Matthew nicht an seiner Seite gewesen war. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass das, was er liebte, nur äußerst selten zu ihm zurück kam wenn etwas Schlimmes passiert war und beim Angesicht der Trümmer hatte er nicht erwartet Cassie lebend wiederzufinden, obwohl er die ganze Nacht durch den Schnee gewandert war um ihn zu suchen.

Die Angst alleine zu sein, den anderen zu verlieren und nie wieder zurück zu bekommen, war eine Sorge, die sie beide beim Anblick des jeweils anderen verspürten. Und doch konnten sie es nicht immer lassen, das Niveau ihrer Neckereien unter der Gürtellinie auszutragen.

Seine ebensolch geküsste Nasenspitze kribbelte noch immer gleißend vom unsanften Schnipsen des fremden Fingers, auch seine Seite nagte unsanft an ihm und schließlich biss sein Mann ihm auch noch in die Lippen, wie ein wildes Tier, das nicht zu bändigen war. Die Ehe hatte man ihm früher immer anders verkauft, etwas weniger schmerzhaft jedenfalls, aber da war es ja auch noch um die Bindung zu einer Frau gegangen.

Eines lerne Clarence jedenfalls gerade: Wie nah Liebe und häusliche Gewalt also beieinander liegen konnten…

„Du bist ein elender, fieser Piekser. Hab ich dir das schon mal gesagt?“, warf er dem Jüngeren vor und betrachtete ihn von oben herab skeptisch, beinahe als sei ihm diese Seite an seinem Mann gerade zum ersten Mal aufgefallen und als frage er sich, wieso das so lange gedauert hatte. „Mach ruhig so weiter, du wirst ja sehen, was du davon hast.“

Doch ihre Bestrafungen füreinander waren meist intimer oder sexueller Natur und sie wussten beide, dass die aktuelle Situation dies nicht zulassen würde.

Seine Drohung war also nichts weiter als heiße Luft und das schien auch Cassie zu merken, der demonstrativ die Arbeitsplatte frei räumte, um seinen süßen Arsch darauf zu platzieren.

„Pass auf den Monsterhasen auf, dass der nicht runter fällt. Der hat uns viel Mühe gekostet“, Clarence machte sich zuweilen mehr Sorgen um ihr Essen statt um seinen Mann - was aber auch gerechtfertigt war, immerhin ging es Cassie schon deutlich besser als noch vor zwei Wochen.

Sich nicht lange bitten lassend - immerhin war jede Sekunde zu zweit so wertvoll geworden wie Goldmünzen in einer Metropole - überbrückte er erneut die Distanz zwischen ihnen und brummte ganz leise, als sich die Schenkel des anderen um ihn schlossen.

Von Matthew derart eingenommen zu werden hatte ihm schon immer gut getan und ihn entspannt. Wie er es überhaupt all die Zeit ausgehalten hatte ohne auch nur einen Finger an den Dunkelhaarigen legen zu dürfen, war ihm bis heute ein Rätsel. Nachts schlafen, ohne ein Bein oder einen Arm von Cassie um sich zu haben? Morgens aufwachen, ohne ihn mit einem Kuss noch im Bett zu ärgern? Oder einfach nur nebeneinander her laufen, ohne dabei die Hand des anderen zu halten?

All das und noch mehr fühlte sich an, als wäre es Äonen von Jahren her. Es fiel ihm schwer sich an die Zeit ohne seinen Geliebten zu erinnern. Eine Zeit in der er alleine gewesen war - zumindest mit seinen Gedanken und seinen Gefühlen. Ohne jemanden den er lieben konnte und der ihn liebte. Was selbstverständlich war für andere, nämlich ihr Leben mit einem anderen Menschen zu teilen, war für ihn ein längst erloschener Traum gewesen.

Obwohl Cassie im Lager auf ihn gewartet hatte, fühlten sich auch die Ausflüge mit Gabriel ein bisschen an wie wieder alleine sein, ohne seinen Taugenichts. Umso schöner war es wieder zurückzukommen, noch immer ausgekühlt von Schnee und Eis, und von warmen Armen umfangen zu werden.

Ich fühl mich gleich viel sicherer, wenn du auf mich aufpasst…“, gestand er leise und drängte sich dem vertrauten Gefühl von Wärme und Geborgenheit entgegen, das Cassie bei ihm auslöste. Obwohl noch nichts weiter passiert war, kribbelte es schon jetzt wie wild in seinem Bauch.

Matthew schaffte es durch die einfachsten Gesten, ihn sich fühlen zu machen wie einen halbstarken Jüngling, der die Liebe zum ersten Mal erlebte. Egal wie oft sie sich bislang schon geküsst hatten, es fühlte sich noch immer aufregend und neu an, wenn die Lippen seines Mannes auf seine auftrafen und Cassie ihn dabei umwebte, als würde er ihn nie mehr gehen lassen wollen.

Noch immer drang das wohlige Brummen seine Kehle empor, während er den Kuss - für ihre Verhältnisse beinahe scheu - erwiderte. Es war weder die Zeit, noch der Ort um wild übereinander her zu fallen und selbst wenn er es gekonnt hätte, hätte Clarence es nicht gewollt.

Die Zärtlichkeit, die sie sich angewöhnt hatten um einander nach einem langen Tag voller Arbeit zu begrüßen, sprach von eben jener Innigkeit und Wertschätzung, die sie unausgesprochen füreinander empfanden. In der zarten Berührung ihrer Lippen schwang die Sehnsucht mit, mit der sie einander heute vermisst hatten und sie glich jenen Emotionen, die sie bei ihrem Wiedersehen nach dem Absturz gefühlt hatten.

Hauchzart und beinahe unmerklich stahl sich seine Zungenspitze zwischen den Lippen seines Geliebten hindurch und suchte ihren Gegenpart ohne sie dabei wild herauszufordern, während er die von der harten Arbeit rau gewordenen Hände auf Cassies Schenkeln ablegte.

Er wollte sich dicht in den Fängen des Jüngeren halten, wollte bei ihm bleiben und seine Nähe genießen als gäbe es in der gesamten Geisterstadt niemand anderen außer sie beide und vielleicht noch ihre Hunde.

Doch Zoe, die sich gemeinsam mit Gabriel aufgedreht hatte als gäbe es keine anderen Abenteuer in einer Stadt wie dieser, sah nicht mal halb so viel Notwendigkeit zur Zweisamkeit ein wie die beiden jungen Männer.

„Ei ei eiiii was seh‘ ich da, ein verliebtes Ehepaar!“, mit schallenden Schritten kam sie um die Ecke geprescht, düste sie an ihnen vorbei und einmal ums Feuer herum. Dass Cassie genau deshalb eben noch mit ihr geschimpft hatte, schien schon wieder völlig vergessen. „Noch ein Kuss, dann ist Schluss, weil Schatziii dann nach Hause muss!“

„Zoe, nicht so schnell!! Das ist unfair, wie soll ich dich so fangen?!“ - Gabe, zwar schmal und windig, hatte keine Chance gegen das Mädchen, das Laufen  zu ihrem Beruf machen sollte.

„Komm doch, beeil dich du lahme Ente!“

„Na warte!!!“

„Hey, ihr sollt doch mit deinem Dad Sachen anprobieren?“, versuchte Constantin die Lage wieder in den Griff zu bekommen und fing das Gespann mit offenen Armen ab, indem er ihnen den Ausgang zurück in den Eingangsbereich versperrte. Geduldig drängte er das durchgedrehte Duo zurück, in steter Hoffnung sie würden sich irgendwann wieder beruhigen, wenn man sie nur etwas einkesselte. „Außerdem braucht Gabriel etwas Ruhe, du warst stundenlang mit Clarence draußen in der Kälte und musst dich wieder aufwärmen.“

Trotzig verschränkte Gabe die arme vor der Brust. „Ich laufe mich warm!“

„Ja ja… und Zoe sich kalt wenn ihr so weiter macht. Auf, zu deinem Dad und du setzt dich ans Feuer und wärmst dir die Hände. - Sorry“, entschuldigte er sich bei… naja. Den Kindern fürs Trennen und vermutlich dem verliebten Ehepaar wegen der ganz offensichtlichen Störung. Bestimmend teilte er die Rabauken auf und schob sie auseinander, bis sie sich trotzig in Bewegung setzten.

Ich befürchte, ein bisschen Fummeln ist uns nicht gegönnt“, murmelte Clarence leise gegen die Lippen seines Mannes und klaute sich einen weiteren kleinen Kuss von ihnen, bevor er Cassie auch einen auf die Stirn drückte. „Schatzi und Mausi müssen sich wohl noch bis heute Abend gedulden… was denkst du?“

Was aber nicht bedeutete, dass er deshalb auch gleich wieder die Finger von ihm lassen würde.

Sanft rieb er seine Handinnenflächen über Matthews Schenkel hinweg um seine Finger damit aufzuwärmen, was zwar nicht so gut half wie das Feuer, sich dafür aber viel besser anfühlte.

„Interessant dass du keine weiteren Nachfragen stellst, wenn ich sage, dass ich für die Kinder unterwegs war. Sonst quetschst du mich viel mehr aus“, stichelte er amüsiert und musterte den anderen erstmals in Ruhe aus nächster Nähe, immer noch unsicher auf der Suche danach, ob sein Mann sich in seiner Abwesenheit wohl neue Schrammen zugezogen hatte. Bislang schien er aber Glück zu haben.

Was machst du, wenn ich geflunkert habe? Versohlst du mir dann den Hintern, statt mich nur in die Seite zu pieksen?“

Das war zwar keine heimliche Fantasie von ihm, aber wenn Cassie danach sein sollte, wäre der Blonde der Letzte, der sich dagegen sträubte. Das konnte man vielleicht eher noch umsetzen als all die anderen zweisamen Dinge, die momentan total flach fielen aufgrund viel zu vieler wachsamer Ohren  und Augen.


Matthew C. Sky

Dass Clarence sich gleich viel sicherer fühlte, wenn Matthew auf ihn aufpasste, das wagte der Dunkelhaarige irgendwie zu bezweifeln. 

Der Ältere war aus Prinzip und gerne leichtsinnig. Clarence hätte ihm da zweifellos widersprochen, aber in Matthews Augen gehörte Leichtsinn einfach zu dem Blonden dazu. Aber immerhin gab er sich Mühe nicht immerzu seinen Hals zu riskieren - und das rechnete Matthew ihm schon hoch an.

Und trotz diesem Wissen würde Cassie niemals damit aufhören den Größeren zu behüten und es war ein wunderbares Gefühl zu wissen, dass Clarence jene Innigkeit suchte und genoss. Sein leises Brummen, Ausdruck des Wohlbefindens, wurde von Matthew mit einem kleinen Schmunzeln quittiert. Trotz Kuss konnte er sich das Lächeln nicht verkneifen, einfach nur weil der Größere da war und weil er jeden Moment perfekt machte.  

Er flutete sein Herz mit so viel Wärme, dass die Kälte in seinen Knochen zur völligen Nebensache wurde. Und so war es nicht verwunderlich, dass der Monsterhasenzubereiter das zarte Vordringen der fremden Zunge genoss und das süße Umgarnen handzahm erwiderte. 

Der Augenblick war umso kostbarer, da sie beide wussten, dass er zeitlich begrenzt war. 

Und als hätte es sich Zoe insgeheim zur Aufgabe gemacht beide junge Männer in den Wahnsinn zu treiben kam sie herbeigeflitzt - und tadelte sie mit einem selten albernen Kinderreim - von dem sich der Dunkelhaarige augenblicklich wünschte er hätte ihn niemals gehört. 

Den Kuss beendend seufzte Matthew genervt und lehnte die Stirn einen Moment lang gegen Clarence‘ Brust. 

Er mochte die Kleine ja eigentlich ganz gerne, aber gerade jetzt in diesem Moment wünschte er sich, dass sie ebenso wenig da war wie alle anderen. 

Er vermisste die Zweisamkeit mit Clarence und doch biss er sich auf die Zunge um nichts zu sagen. 

Dieses Mal klärte Constantin die Situation, trennte beide Nervmonster und sorgte dafür, dass der eine sich still ans Feuer setzte und das Mädchen wieder zu ihrem Vater trottete dem sie ganz zweifellos ohne dessen Erlaubnis entwischt war. 

Erst jetzt nahm Cassie die Stirn wieder von Clarence‘ Brust und sah zu Constantin. 

„Nix für ungut. Die zwei in Kombination sind… anstrengend.“, fasste Cassie noch recht diplomatisch zusammen und lächelte vage. Constantin kratzte sich am Ohr, nickte und stimmte zu ohne den Blickkontakt aufrecht zu halten. „Das trifft es ziemlich genau.“

Der Andere schmunzelte flüchtig, dann verließ er den Raum wieder. Zurück blieben Gabriel am Feuer und Clarence, der vor Cassie stand und sein freches Mundwerk wiedergefunden hatte. 

„Und ich befürchte wir werden nie wieder Zeit nur für uns haben.“, zeichnete der Dunkelhaarige ein finsteres Bild ihrer Zukunft. Nie wieder war wahrscheinlich auch übertrieben, nicht übertrieben war jedoch die Annahme, dass es in dieser Stadt keine Aussicht auf Privatsphäre gab.

Ein trostloser Gedanke, der nur halbwegs erträglich wurde durch die liebevollen Küsse des Blonden. Warm kribbelten seine Lippen und seine Stirn, dort wo sein Bär ihn geküsst hatte - eine so unglaublich behütende Geste, dass Matthew nichts weiter brauchte um sich Zuhause und heil zu fühlen. 

Auch in seine Oberschenkel kehrte allmählich wieder das Gefühl zurück während der Bär über sie hinweg rieb und Cassie hob schließlich wieder den Blick hinauf zu ihm. Ihm entging nicht wie der Ältere ihn musterte und ebensowenig wie wenig dieser sich um die Gesellschaft der anderen scherte. Der Mann von früher hätte nie so offen seine Nähe gesucht. Der Mann von früher hätte noch nicht einmal gewagt seine Hand zu nehmen… geschweige denn ihn zu küssen. Wenn er Clarence so ansah… dann war er noch immer der Gleiche und dennoch ein Anderer. 

Ob das auch für ihn selbst galt? 

Matthew neigte abwägend den Kopf, verengte seine Augen skeptisch und hielt dem forschenden Blick seines Mannes stand. 

„Ich… bin mir ziemlich sicher, dass du geflunkert hast.“ entgegnete er gelassen. 

„Und weißt du auch warum ich so sicher bin?“

Sein Flüstern klang verschwörerisch und ein geradezu amüsierter, herausfordernder Ausdruck hatte sich in sein Gesicht geschlichen. 

„Weil du immer anfängst zu plappern, wenn du dich ertappt fühlst.“ - jetzt grinste der Jüngere wissend und nickte um das Gesagte noch zu unterstreichen. Noch bevor Clarence irgendetwas erwidern konnte, fiel er ihm auch schon ins Wort. 

„Oh doch. Du plapperst. Und wie!“, er kicherte albern und unbeschwert. 

„Wie ein Wasserfall…“, aber wenn er ehrlich war, so liebte er dieses Geplapper seines einst so stillen Gefährten. 

Statt sich auch nun wieder anzuhören wie sich der Blonde um Kopf und Kragen redete und damit nur wieder beweisen würde, dass er recht hatte, vergrub Matthew seine Finger im Pullover des Hünen und zog ihn daran zu sich herunter. 

Mit einem zarten Kuss schnitt er Clarence jedes Wort ab, tauchte behutsam hinter die Lippen seines Liebsten und stupste liebevoll mit der Zungenspitze gegen die des Blonden. Wie tausende kleine Nadelstiche kribbelte seine Haut und sein Bauch und ließ sich Matthew fühlen wie einen Fünfzehnjährigen, der gerade zum allerersten Mal seinem Schwarm nahe war. 

„Gibt es schon bald etwas zu essen?“, durchbrach die unschuldige Kinderstimme von Gabriel die Ruhe… und beendete auch den flüchtigen Augenblick der Zweisamkeit. 

Matthew löste den Kuss mit einem kurzen und ungläubigen Auflachen. Gabriel hatte wirklich Nerven…

„Du, junger Mann, weißt was Prioritäten sind.“, ließ er den Jungen wissen und glitt wieder von der Anrichte herunter. 

„Und du…“, er sah in Clarence’ markantes, schönes Gesicht „Du solltest dich nützlich machen bevor ich auf die Idee komme dir wirklich deinen süßen Knackarsch zu versohlen.“ - behutsam schob er Clarence ein Stückchen von sich damit er sich umdrehen und sich wieder der Zubereitung des allergrößten unter den kleinen Hasen widmen konnte.  

Prioritäten waren Prioritäten… 


Clarence B. Sky

Wenn Cassie da war und ihn anlächelte, dann war alles in Ordnung. Dann konnten sie in einem Spinnenfeld oder den Trümmern eines Zeppelins fast gestorben sein - nichts davon konnte ihm in jenem Moment Angst machen. Zu wissen und zu spüren, dass sein Mann bei ihm war, machte alles vergessen.

Wo war der Unterschied zwischen einem Zelt irgendwo im Wald und einem verlassenen Gebäude mitten in einer Geisterstadt?

Es gab keinen.

Sie hatten an beiden Orten kein richtiges Dach über dem Kopf. Das einzige, was auf ihren Reisen beständig gewesen war, war der andere an ihrer Seite. Ihr Zuhause war dort, wo sie zusammen waren und wo sie sich darum kümmern konnten zu überleben.

Die Werkstatt war genauso gut wie jeder andere Ort auf dieser Welt und gerade das war der Grund, warum sie hier ebenso verzaubert vom anderen waren wie in einer sicheren Metropole oder auf ihrem Boot.

„Ich plappere überhaupt nicht“, versuchte er sich trotz dem Dementieren Cassies zu verteidigen und beäugte ihn mit Argwohn ob seines albernen Kicherns. „Weißt du, wer plappert? Das bist eindeutig du, vor allem dann, wenn-…“

Doch weiter kam er nicht, da wurde er schon am Pullover hinab gezogen und zum Schweigen gebracht.

Schöner hatte man ihn wohl nie verstummen lassen.

Die Momente, in denen sie miteinander intim werden konnten, gingen gegen Null und selbst zwei einfache Minuten für einen innigen Kuss waren oft nicht gegeben. Ständig war irgendjemand um sie herum, ein Umstand den sie beide so überhaupt nicht gewohnt waren, und der es neben der offensichtlichen Pietätlosigkeit zusätzlich schwer machte, für einen Augenblick lang alles zu vergessen.

Aber das sollte jetzt endlich anders sein, wo jeder sich zurückgezogen hatte.

Sachte lehnte er sich Matthew entgegen und öffnete seine Lippen bereitwillig, den Griff um die definierten Schenkel des Jüngeren verstärkend. Man sollte meinen, dass sie mittlerweile ein gewisses Maß an Enthaltsamkeit gewohnt waren und es schaffen sollten, die Finger ohne Probleme für ein Paar Tage voneinander zu lassen. Doch nur weil sie dazu gezwungen waren, bedeutete das nicht, dass es das leichter machte.

Schließlich war ausgerechnet Gabriel es, der sie wieder ein bisschen Zucht und Ordnung lehrte, indem er sie an das Wesentliche erinnerte.

Matthews ungläubiges Lachen brachte Claire zum Schmunzeln und kurz lehnte er seine Stirn an die des Sitzenden. Die Laune seines Mannes war wirklich mit beiden Händen greifbar und es war unterhaltsam zu sehen, dass nicht nur ihm selbst ihre Zweisamkeit fehlte, sondern das Ganze auch an Cassies Gemütszustand nagte.

Es war betrüblich und unterhaltsam zugleich, mit welch negativem Elan der Dunkelhaarige von der Arbeitsplatte rutschte und ihn von sich schob so als könne er befürchten, dass sie ansonsten vor den Augen des Kindes übereinander her fielen.

„Wieso will Matthew dir den Hintern verhauen? Warst du böse?“, wollte Gabriel wissen und schaute fragend zu ihm rauf. Dieses Kind hatte verboten gute Lauscher, das hatte er gerade nicht zum ersten Mal bewiesen.

„Oh Gabe… ich wünschte es. Ich wünschte es wirklich.“

„Waaas… wieso solltest du dir den Po verhauen lassen? Sowas will doch keiner.“

Amüsiert lachte Clarence ob des verwirrten Blick des Kleinen auf. „Ich erklär dir das wann anders. Lass uns lieber brauchbare Sachen lernen. Wie man Suppe macht, zum Beispiel.“

Obwohl er das sicher auch alleine geschafft hätte, nahm er den Jungen unter den Armen und half ihm damit auf die Arbeitsfläche herauf, auf die er neugierig gespäht hatte. Cassie hätte sonst sicher mit ihm geschimpft, dass er keinen Unsinn veranstalten soll - und man musste den Dunkelhaarigen ja nicht mehr reizen als nötig, sonst bekam hinterher noch der Flasche was auf den Hintern.

„Ich finde, ähm… dass wir nach dem Essen… darüber reden sollten… ähm… wohin wir als nächstes ziehen?“, rutschte Gabe mit dem Po nach hinten, um so besten Blick auf die Zerlegung des Hasen zu haben.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Na weil ich weiß, was Prioritäten sind!“ - vielsagend deutete er auf Matthew, der ihm genau das eben bescheinigt hatte. Seit Wochen mussten sich die Kinder was von Prioritäten anhören, vor allem wenn es um Essen oder einen Unterschlupf ging. Zweifelsohne hatte das enge Zusammenleben mit den Erwachsenen ihren Wortschatz ungemein erweitert und genau das war das Problem:

Die kleinen Teufel begannen sie mit ihren eigenen Worten auszustechen und das mit einer Geschwindigkeit, dass man einfach staunen musste.

„So so. Willst du dann nachher die Gesprächsrunde moderieren?“, schlug er dem Neunmalklugen vor und lehnte sich neben ihm auf der Anrichte ab, um über den Schoß des Jungen hinweg die Arbeit seines Mannes zu beobachten. Es war schön Cassie bei so einfachen Dingen wie Kochen zuzusehen, das hatte ihn schon immer beruhig. Selbst damals, als sie sich noch nicht ganz koscher und noch keine Freunde gewesen waren.

„Hm nee. Aber ich will einen Vorschlag machen!“ Ganz genau beobachtete er während er sprach jeden Handgriff Matthews und ließ sich von Clarence nicht ablenken. „Ich hab nämlich nachgedacht und ich glaube, ich hab einen guten Ort gefunden.“

„Du alleine? Aha“, skeptisch zog er die hellen Brauen etwas empor und musterte den Knaben. War er ihnen etwa irgendwann des Nachts entwischt und hatte sich alleine auf den Weg gemacht, draußen herum zu stromern? Claire glaubte nicht, aber bei Gabes Einfallsreichtum, durfte man keine Möglichkeit außer Acht lassen.

„Was machst du mit den Knochen?“, wollte der Junge schließlich ungerührt ob der Skepsis des Hünen wissen und deutete auf Matthews Werk. „Bekommen Kain und Abel die? Oder kochen wir die mit ein?“


Matthew C. Sky

Wäre Matthew der Vater des Jungen… zweifellos hätte er um dessen Fähigkeiten alles Verbotene zu belauschen gewusst. Dann hätte er niemals davon gesprochen Clarence seinen Knackarsch zu versohlen. 

Es waren Momente wie diese in denen sich zeigte, dass der Dunkelhaarige keine Erfahrung mit Kindern hatte. 

Er gab sich Mühe, aber dann und wann unterliefen ihm das, was man als typische Anfängerfehler bezeichnen konnte. 

Etwas peinlich berührt von der direkten Frage des Jungen tat er so als wäre er schon vollends in seine Arbeit vertieft, während er zuhörte wie gelassen und souverän Clarence die Situation bereinigte und das Thema wechselte. 

Er lachte sogar - und wann immer Cassie den Älteren lachen hörte, erfüllte es ihn mit einem warmen Gefühl des Glücks und der Erleichterung. 

Schon mehr als einmal hatte Matthew den Größeren im Umgang mit den Kindern aus der Distanz beobachtet und bei sich gedacht, dass dieser Mann ein wunderbarer Vater wäre. Er war gelassen, geduldig und er sorgte sich um das Wohlergehen der Kinder. Gleichzeitig hatte er ein Händchen dafür jedem das zu geben was es brauchte. 

Gabe war er eine Bezugsperson die ihn einband in wichtige Vorhaben, ihn motivierte sich Dinge zuzutrauen vor denen er eigentlich Angst hatte. 

Für Zoe war er ein Zuhörer und er hatte einen Weg gefunden ihr das Gefühl zu geben genauso wichtig zu sein wie die anderen. Und Lucy gegenüber wahrte er eine gewisse Distanz - sie konnte jederzeit mit ihm reden, aber er drängte sich ihr nicht auf. Weder mit ungebetenen Gesprächen oder Ratschlägen, noch in dem er versuchte sie mit kleinen Aufgaben bei Laune zu halten. 

Was Matthew anging so hatte er manchmal Mühe mit der aufgezogenen Zoe und ihrem mitunter knatschigen Verhalten, wenn sie sich mal wieder ungleich behandelt fühlte.

Und Gabriel neigte er zu unterschätzen, besonders seine vielen Fragen und seine Auffassungsgabe. 

Zu Lucy hingegen hatte er unbestreitbar einen Draht, wenngleich das Mädchen auch ihm gegenüber manchmal schwierig war. 

„Um zu lernen wie man Suppe macht hält man schön Abstand zum Koch, sonst kommt man selbst in die Suppe.“, er sah kurz tadelnd zu Clarence, der ganz genau wusste, dass Matthew es nicht mochte wenn man auf der Arbeitsfläche saß. Es sei denn… er war es selbst. 

Der Tadel ließ Gabriel kichern und sich die Hand vor den Mund legen als würde man ihn dann nicht hören. 

„Das wird dann eine Menge Suppe, wenn Clarence mit drin ist!“, merkte er giggelnd an und schielte zu dem Blonden. Die ganze Gruppe hatte Respekt vor ihm und bestimmt war niemand frech zu ihm - nur Matthew war das unentwegt zu allen. 

„Yeah und du kommst auch gleich mit rein, dann haben wir anderen den ganzen Winter genug zu Essen. An euch ist auch mehr dran als an eurer nackten Ratte.“ 

„Das ist ein Hase!“ - konterte der Junge und Matt streckte ihm kurz die Zunge heraus, was Gabriel prompt erwiderte. 

Noch schmunzelnd ob dem Jungen löste Cassie nun mehr vorsichtig die größten Knochen aus dem Fleisch und schob sie erstmal zur Seite. 

Das knochenlose Fleisch warf er zurück in die Schale ehe er sich drei Karotten und eine Zwiebel aus ihren Vorräten nahm. 

Der Zeppelin hatte über üppige Vorräte verfügt, doch ein Großteil war verschüttet oder verloren gegangen und somit taten sie gut daran sorgsam mit dem umzugehen was sie hatten. Kartoffeln nahm er keine, dafür hatte er schon den Reis. 

Sorgsam schälte er das Wurzelgemüse, wobei er die Schalen neben die Knochen legte und ein Stück der Zwiebel ebenso. 

Den Rest schnitt er klein und legte ihn zu den Filets in die Schale. Gabriel indes bewies einmal mehr seinen Sinn für Prioritäten - was Cassie ziemlich amüsierte. 

„Aus den Knochen mache ich einen Sud. Den nehmen wir mit und machen ihn warm, wenn uns kalt ist. Schmeckt besser als warmes Wasser.“ - „Wie Tee?“ - Cassie zögerte kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Eher wie eine Suppe ohne Einlage. Aber all das gute Zeug das in den Knochen und im Gemüse drin ist, ist dann in der Brühe.“

Gabe nickte verstehend. 

„Also, wo würdest du unser nächstes Lager aufschlagen wollen, hm?“ - wollte Matthew schließlich wissen während er    damit fortfuhr das Gemüse in nahezu perfekte kleine Würfel zu schneiden. 

„In der Bibliothek!“, kam die Antwort prompt aus Gabriels Mund. „Ah… weil du heute dort mit Clarence warst?“, der Dunkelhaarige schaute vielsagend zu dem Anderen. 

„Ja, es war cool. Wir haben…“, nun zögerte er, sah zu Clarence hin und machte dann die ultimative Geste der Verschwiegenheit: er presste die Lippen aufeinander, tat so als würde er mit zwei Fingern einen imaginären Reißverschluss vor seinem Mund zuziehen, einmal abschließen und schließlich den Schlüssel wegwerfen. 

Matthew betrachtete das Schauspiel mit hochgezogenen Brauen und nickte nachdenklich. 

„Ah verstehe… das geht mich nichts an. Ihr habt da ein geheimes Abkommen am Laufen.“, warf er unschuldig ein, im Versuch den Jungen aus der Reserve zu locken. Aber dieser nickte nur. 

„Also willst du in die Bibliothek weil es dir da gefallen hat.“ fasste Cassie zusammen, mit einem vielsagenden Blick gen Clarence der besagte, dass er ihn überführt hatte. 

„Nein nicht deshalb. Die Bibliothek ist ein guter Ort. Dort gibt es jede Menge Tische die fast wie Betten sein könnten. Wir könnten die Regale wieder so hinschieben wie in dem Supermarkt.“ - mit ernster Mine erklärte er den beiden jungen Männern seinen Plan. 

„Und wir können ein Feuer in der Mitte machen. Und Constantin muss kein Holz mehr draußen hacken weil da so viele Bücher sind! Die Seiten sind furztrocken hat Clarence gesagt! Das heißt…“ - nun zögerte er kurz nachdenklich ehe er seinen Rückschluss kundtat „…die brennen bestimmt gut, oder?“ - hatte Matthew dem Kind bisher noch interessiert und ein wenig amüsiert zugehört, wandelte sich seine Aufgeschlossenheit jäh. 

„Was? Nein, nein, nein Gabe - wir verbrennen keine Bücher.“, intervenierte er schockiert. 

Das Messer weglegend stützte er sich auf der Arbeitsplatte ab und betrachtete den Jungen ernst. 

„In diesen Büchern steht das Wissen der Alten geschrieben.“ Verständnislos schaute Gabriel ihn an und Cassie seufzte schwer. „Sie waren große Baumeister und Erfinder, sie haben diese Stadt und noch viel größere errichtet. Alles was du hier siehst haben sie erschaffen.“ - aber das schien den Jungen nicht zu beeindrucken. 

„Sie sind zu den Sternen geflogen.“ entgeistert schaute Gabriel ihn an, ob nun weil ihn dieses letzte Beispiel faszinierte oder weil er noch immer nicht begriff. 

„Und all ihr Wissen und alles was sie waren… alles was sie ausgemacht hat, steckt in diesen Büchern. Nur ein Dummkopf würde sie verbrennen und die Chance vertun sie zu lesen. Und du bist doch kein Dummkopf, oder?“ 


Clarence B. Sky

Obwohl es zu Beginn einen ganz anderen Anschein gemacht hatte, war Gabriel wirklich hart im nehmen. Der eine wollte ihm die Beine lang ziehen, der andere ihn verhackstücken und zu Suppe kochen - und alles was der Junge dazu zu sagen hatte, war giggeln und kichern.

Dass er zu Beginn, im Supermarkt nach dem Absturz, kaum ein Wort geredet und die meiste Zeit geweint hatte, war ihm mittlerweile kaum mehr anzumerken. Er schreckte nicht mehr vor all den anderen Leuten zurück und am wenigsten musste er sich hinter Lucys Rockzipfel verstecken, um sich sicher zu fühlen. Aus ihm war ein frecher kleiner Kerl geworden mit Humor und einem Selbstbewusstsein, das zwar noch nicht voll ausgeprägt war, sich aber mit etwas Geduld aufbauen ließ.

Ganz wachsam und neugierig bemerkte er selbst kleinste Details und scheute sich nicht nachzuhaken. Manchmal waren seine Fragen naheliegend und unüberlegt, viel öfter aber sehr pfiffig und vorausgedacht. Zweifelsohne würde aus ihm mal ein aufgeweckter junger Mann werden und wenn er nicht aufpasste, dann warfen sich ihm die jungen Mädels eher früher als später um den Hals.

Der Diskussion um die Suppeneinlage und die nackte Ratte kam er nicht so recht hinterher. Erst jener Punkt, an dem sich beide wie die kleinen Kinder, die sie waren, die Zungen gegenseitig raus streckten, ließ den Blonden sachte den Kopf schütteln.

Es war süß wenn wenn Matthew bei Lucy der strenge Lehrer war, bei Zoe auf eine genervte Weise geduldig und bei Gabriel eine Mischung aus Kumpel und Erzieher. Clarence war es nicht entgangen wie störrisch sich sein Mann raus gehalten hatte als es um das Versohlen seines Hinterns gegangen war und wenn er genau hinsah, dann konnte er schwören, dass er noch immer eine zarte Schamesröte auf Cassies Wangen erkannte.

Sie waren schon so lange zusammen und doch lernte er immer wieder neue Seiten an Matthew kennen, vor allem auch geschuldet den Kindern, die sie sonst nie um sich hatten.

Mahnend hob Claire die Brauen als Gabe begann von ihrem plötzlich coolen Ausflug zu erzählen, den er auf dem Rückweg noch völlig langweilig genannt hatte. Aber da hatte sicher auch die Enttäuschung aus ihm gesprochen, weil sie nicht noch länger hatten miteinander auf Abenteuer gehen können. Doch statt sich zu verplappern, bekam der Junge noch rechtzeitig die Kurve - eine Sache die Clarence mit einem lobenden Nicken und zwei halb heimlichen Daumen hoch quittierte.

Das mit der Verschwiegenheit bekam Zoe schon viel besser hin, aber die war auch älter und wusste eher, was sie ausplappern durfte und was sie verheimlichen musste. Gabriel suchte nicht selten noch seinen Blick um sich Rückmeldung zu holen. Doch eins hatten die Kinder alle gemeinsam: Sie waren furchtbar gut darin seine Komplizen zu sein und mit jedem der drei würde er Pferde stehlen gehen.

Sie sind zu den Sternen geflogen, sie haben Bücher geschrieben!“, lehnte der Blonde sich zurück gegen die Arbeitsplatte und machte dabei seinen Mann nach. „Sie haben das alles mit Farbe auf Papier geschmiert! Uhh!! - - - Krieg dich ein.“ Nur weil er mittlerweile das Alphabet in einer halbwegs annehmbaren Zeit auswendig konnte, hieß das nicht, dass er deshalb auch automatisch ein Herz für Bücher bekommen hatte. Den Enthusiasmus des Jüngeren teilte er immer noch nicht und daraus machte er keinen Hehl, denn ansonsten hätte er sicher auch schon ein anderes Buch angefangen zu lesen außer Moby Dick, das er nun schon auswendig kannte.

„Nein, ich bin kein Dummkopf. Lucy sagt, ich bin richtig schlau“, antwortete er wahrheitsgemäß auf Matthews energische Ansprache und zeigte daraufhin mit einem Daumen über seine Schulter gen Jäger. „Ist Clarence ein Dummkopf? Er hat Seiten raus gerissen und angezündet, um uns eine Fackel zu machen für die dunklen Gänge. Da waren überall Spinnweben, die haben vielleicht gebrannt! Das war richtig eklig!“

„Mach mich nicht unbeliebter bei Matthew als ich schon bin. Ich hab irgendwelche unwichtigen Bücher genommen“, untermalte er mit einer beschwichtigenden Geste und und rutschte unmerklich an der Tischplatte etwas weiter weg von den beiden um einen überlebenswichtigen Puffer zu schaffen. „Irgendwas mit Bewegungsübungen oder so, ich konnte das komische Wort nicht lesen. Iehogah? Und Irgendwas, wo so Trottel die ganze Zeit mit ‘nem gespaltenen Holzscheit nach einem Ball schlagen. Wir werden auch überleben, ohne diese bahnbrechenden Dinge der Alten jemals in Erfahrung zu bringen.“

Tonlos rollte er mit den Augen.

„Du willst die alle lesen?! Wie lange sollen wir denn hier bleiben??“, hatte auch Gabe mittlerweile eins und eins zusammen gezählt und wollte gerade die Füße zum Schneidersitz heben, als Clarence wortlos dazwischen ging und ihn davon anhielt. Sonst waren sie zeitnah beide eine. Kopf kürzer.

„Ich meine ähh… wie schnell tust du denn bitte lesen? Also entweder du bist mega schnell oder wir sind noch dann hier, wenn du deinen hundertsten Geburtstag feierst. Wenn du mir sagst, dass das bald ist, dann ist das okay. Aber wenn nicht, dann würde ich lieber ein Feuer daraus machen? Dann haben wir wenigstens alle was davon… oder nicht?“

„Ach Gabe… du weißt wirklich, was Prioritäten sind. Ich hätte auch lieber ein warmes Feuer“, bekräftigte Clarence ihn. Abgesehen davon, konnte außer Cassie niemand lesen und sein Mann konnte ja wohl kaum ernsthaft von ihm erwarten, all diese Bücher mitzunehmen, damit der sich die irgendwann zu Gemüte führen konnte…

„Was denkst du, könnten wir damit Geld machen? Wenn wir im Sommer wieder hierher kommen und die guten Teile dann in der Stadt verticken?“ - Klar, das würde eine schwere Ladung bedeuten, aber mit einem Planwagen müsste das durchaus möglich sein. Abgesehen davon würden sie die Stadt bis dahin einigermaßen kennen und wissen, wo sie hin mussten, um das gute Zeug zu plündern. In einer Metropole wie Runty Crowd oder Avanzamento ließen sich Bücher mit Wissen und Anleitungen der Alten sicher gut verkaufen, zumindest wenn es um Themen ging, die man gebrauchen konnte.

„Uhh ja! Und dann kaufen wir in der Stadt mehr Bonbons und Schokolade. Können wir das machen, Matthew? Und für Lucy einen richtigen Bogen und Pfeile? Ich helfe auch die Bücher tragen, die wir nicht verbrannt haben!“


Matthew C. Sky

Offensichtlich war Gabriel ein Dummkopf. Aber der noch größere Dummkopf war eindeutige Clarence, der ihn nachäffte und keinerlei Geheimnis daraus machte, dass ihm die Alten vollkommen Schnuppe waren. 

Er interessierte sich nicht besonders für die Vergangenheit dieser Menschen und auch nicht für das, was sie einstmals erreicht hatten. 

Irritiert und verärgert ob so viel Ignoranz sah Matthew zu dem Blonden herüber welcher bereits einen kleinen Sicherheitsabstand geschaffen hatte. 

Aber Matthew hatte gar keine Lust ihn zu knuffen oder zu pieksen, denn wenn er wirklich sauer war dann konnte er das sehr gut mit seinen Augen zum Ausdruck bringen. 

„Clarence ist sogar ein riesiger Dummkopf, Gabe.“, erwiderte er humorlos auf die Frage des Kindes und nahm endlich die Schüssel mit dem Fleisch und dem gewürfelten Gemüse wieder an sich. 

Er füllte sie mit ein wenig abgekochtem Wasser, sodass nur der Boden etwas bedeckt war und trug den Behälter rüber zum Feuer wo er ihn an einer Kette befestigte. Der Konstruktion einen leichten Dreh versetzend schwang sie über die Flammen - nicht mittig, um den Inhalt nicht zu brennen - sondern nur an den Rand, damit Gemüse und Fleisch langsam garten und das Wasser schonend verkochte. 

Währenddessen malten sich die beiden Barbaren derweil aus irgendwann in die Stadt zurückzukommen um Bücher zu holen die sich verkaufen ließen. 

Als wäre dieser Ort hier nichts weiter als eine Goldgrube und als würde es ein Spaziergang sein hierher zurückzukommen. 

„Sicherlich könnten wir damit Geld machen. Ich weiß nur nicht was wir mit noch mehr Geld wollen. Sobald wir in einer Metropole sind haben wir Zugriff auf das Gold in Coral Valley.“ - aber das brachte sie auch nicht aus dem Knebelschwur heraus, den Clarence damals seinem Clan geleistet hatte.

„Gold? Seid ihr etwa reich oder sowas?“, Gabriel schaute ungläubig drein. „Ein bisschen.“, entgegnete Cassie, dem es gerade nicht darum ging. 

„Wie kann man ein bisschen reich sein?“ wollte der Junge wissen dem das zu recht reichlich unlogisch vorkam. 

„Genauso wie man clever sein kann und gleichzeitig Bücher verbrennt.” - “Hääää?“ - „Gar nicht. Es geht nicht. Man ist entweder reich oder nicht. Und man ist entweder klug oder man verbrennt Bücher.“

Matthew nahm die Knochen und legte sie flach in einen dritten Topf, und bedeckte sie nach und nach mit den Schalen der Karotten und den Resten der Zwiebel. 

„Du kannst die sowieso niemals nicht alle lesen. Und Clarence hat gesagt das dieses Iehogah nichts wichtiges ist. Er hat nachgesehen. Da waren fast nur Bilder von verdrehten Menschen drin.“ - „Mag schon sein. Bestimmt gibt es auch Bücher die nicht nützlich sind.“ - „Und dann ist es okay die zu verbrennen?“

Matthew, der mit seinem Latein am Ende war, zuckte die Schultern. „Ich verrate dir jetzt mal was, Gabriel.“, er ging zu dem Jungen, ging vor der Anrichte in die Hocke und sah zu Gabriel empor. 

„Es wird immer Dinge geben die für einen selbst nicht interessant sind, die einen langweilen oder die man unnötig findet. Aber für einen anderen sind genau diese Sachen vielleicht aufregend oder wichtig. Du findest ein Feuer zu haben ist wichtiger als Bücher zu haben - und wenn einem kalt ist, dann stimmt das sogar. Prioritäten zu kennen heißt auch, zu wissen wann etwas wichtiger ist als die eigenen Interessen. Würden wir jetzt also am Erfrieren sein oder die Bücher würden uns den Weg zu irgendetwas wichtigem versperren… Ich würde sie selbst anzünden ohne zu zögern.“ - „Aber du wärst dann traurig?“ - „Nicht sehr. Weil ich wüsste, dass es richtig ist. Und weil das Überleben immer oberste Priorität hat. Aber so lange wir nicht erfrieren und uns die Bücher keinen Weg versperren…“ -

 „So lange möchtest du nicht, dass wir sie verbrennen.“, führte Gabriel den Satz des Dunkelhaarigen zu Ende. 

Cassie schmunzelte sacht und nickte. 

„Ich werde sie nie alle lesen können, da hast du schon recht. Aber irgendwann war es für irgendjemanden wichtig sie zu schreiben. Und ich finde man muss nichts zerstören, dass anderen mal wichtig war und auch in Zukunft für irgendwen wieder etwas bedeuten könnte.“

Gabriel schwieg einen Moment still und Matthew rechnete schon damit, dass er Widerworte geben oder weitere Fragen stellen würde. Doch stattdessen nickte er schließlich nachdenklich und sagte: „Sowas Ähnliches hat Clarence mir auch schon erklärt.“, er seufzte schwer, so als habe er es nicht leicht mit den Erwachsenen. 

„Wenn du die Bücher wichtig findest, dann brennen wir sie nicht an. Außer wir sind am Erfrieren.“, verkündete Gabriel nun mehr beinahe feierlich. 

„Danke. Das ist echt nett von dir.“ Matthew stand wieder auf und kniff dem Jungen kurz in den Oberschenkel was diesen überrascht aufquieken und schließlich in Gelächter ausbrechen ließ. 

Matthew ging zurück zu seiner Arbeitsfläche, nahm den Topf mit den Knochen und hängte auch diesen über das Feuer. 

„Da ist kein Wasser drin!“, bemerkte Gabriel aufmerksam und Matthew nickte. „Gut beobachtet. Es ist Speck dran, die Hitze macht, dass das Fett aus dem Speck flüssig wird. Darin braten dann die Knochen und das Gemüse. Das gibt Geschmack. Später dann gieß ich Wasser dazu.“

„Woher weißt du das alles?“ - für gewöhnlich warf man einfach alles in einen Topf, wartete bis es gar war und das war auch schon der ganze Zauber. „Tja, Kleiner was denkst du, hm? Ich hab es gelesen.“ - „Jetzt schwindelst du!“

Matthew zuckte grinsend die Schultern. 

„Vielleicht vielleicht no.“


Clarence B. Sky

Clarence war nicht mal halbwegs so geschickt darin zu kochen wie sein Mann es war. Mit Raffinesse verteilte er die einzelnen Zutaten auf verschiedene Gefäße, schnitt kleine Scheibchen oder grobe Würfel zurecht und machte sich Gedanken, wie man das Meiste aus allem heraus holen konnte.

Es wäre gelogen zu behaupten dass es beim Blonden nicht schmeckte, aber er verstand sich besser darin alles so zu würzen damit es schmeckte oder es durch Pökeln und Räuchern haltbar zu machen. Einen Braten oder ein paar Steaks mit Beilagen, wahlweise Trockenfleisch, das bekam er hin - eben solche Sachen, die man in einem ein bis zwei Tage andauernden Lager hinbekam und mit denen Matthew sich lange hatte abfinden müssen, so lange er selbst noch nichts zu ihrem gemeinsamen Leben beigetragen hatte.

Lange Zeit war es nicht seine Aufgabe gewesen sich um sowas wie den Haushalt zu kümmern oder sich Gedanken darüber zu machen, wie all diese Dinge gemacht wurden die man brauchte, um nicht zu verhungern oder bis zum Himmel zu stinken. Waschen, Kochen oder den Abwasch machen, für all solche Dinge waren in seiner Heimat - ganz klassisch - eben die Frauen zuständig gewesen und ab einem gewissen Alter hatte Harper dabei helfen müssen. Natürlich hatte er sonntags auch mal mit angepackt, aber es war nie so gewesen, dass er sich wirklich damit auseinander setzten musste.

Gelernt wie man solche Sachen verrichtete, hatte er erst während der Reisen mit seinem Lehrmeister Nagi Tanka, aber das hatte ihm auch nicht beigebracht wie man Ordnung hielt. Zum Glück konnte das Matthew auch nicht so gut, sodass es auf ihrem Boot, aber auch in den Lagern, schon nach zwei Stunden aussah als hätte dort in ihrer Abwesenheit ein wildes Tier gewütet.

Nichtsdestotrotz trug er zu den alltäglichen Erledigungen ohne zu Murren das bei, was von ihm erwartet wurde und was eben nötig war.

Seinem Mann dabei zuzusehen wie er den gefrorenen Speck zurecht schnitt, Knochen und Karottenschalen aufeinander schichtete und Gabriel erklärte was es mit alldem auf sich hatte, erinnerte den früheren Fanatiker der er gewesen war nicht etwa daran, wie er sich als einstiges Familienoberhaupt hatte versorgen lassen. 

Es erinnerte ihn daran dass es seine Art war ihm zu zeigen, wie sehr er ihn heute liebte - sich genauso um ihn sorgend, wie auch Claire es für den Dunkelhaarigen tat. Die Zeiten, in denen sein Böckchen dickköpfig gewesen war und das Kochen oder die Nachtwache verweigert hatte, waren endgültig vorbei und das nicht erst seit ihrem Ausflug ins Feld der Spinnen, wo die meiste Arbeit an Cassie hängen geblieben war.

Obwohl sein Mann ihn für den Dummkopf von ihnen beiden hielt, zögerte Matthew schließlich keine Sekunde zum aktuellen Thema völlig unnötig etwas von ihrem unnötig vielen Gold im wunderschönen Coral Valley zu erzählen - eine Information die völlig unnötig war, selbst wenn sie nur Gabe galt. Welche Ohren noch mithörten, konnte man niemals sagen und so sehr sie in einem Boot saßen, so wenig würde Clarence für Jeremy oder diesen Constantin die Hand ins Feuer legen.

Und im schlimmsten Fall waren sie jetzt die beiden Männer, die sich gegenseitig die Hintern versohlten und dabei Goldmünzen in die Luft warfen.

So schön wie Matthew auch war, so fleißig und unüberlegt konnte er plappern, wenn er das denn wollte. Manchmal fragte Clarence sich, wie dieser Trottel überhaupt so alt geworden war ohne vorher drauf zu gehen und dann fiel ihm ein, dass er die Antwort ja wusste:

Der Typ hatte einfach mehr Glück als Verstand und den Blonden der ihn regelmäßig rettete, auch wenn Cassie natürlich das Gegenteil behaupten würde.

Vielleicht war wenigstens das der Grund warum Cassie sich in ihn verliebt und schließlich geheiratet hatte, denn an seinem ausgeprägten Intellekt konnte es kaum liegen, so ausgeprägt wie Matthew darauf bestand, dass er definitiv ein Dummkopf war.

Das schallende Lachen Gabriels klang noch immer in seinen Ohren nach, als die beiden schon wieder übers Essen statt über Gold und Ethik diskutierten und Matthew dem Kleinen zu verkaufen versuchte, dass er alles, aber auch wirklich alles Wissen aus Büchern gezogen hatte.

„Vielleicht quizá, wir werden es beide nie erfahren, Gabe“, Clarence zuckte ahnungslos die Schultern, denn im Zweifelsfall hatte Cassie das Kochen am Ende in seiner Ausbildung als Söldner gelernt, wie so vieles andere auch, das allerdings besser nie an die Ohren eines Kindes drang. „Willst du zeigen, was wir zum Lesen für Bücher ausgesucht haben?“

„Ja, aber da ist nichts übers Essen dabei. Also nichts für dich zum Lernen“, ließ der Junge Matthew wissen und schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal mitleidig. Vermutlich dachte er nun, dass der Ältere ausschließlich Bücher übers Kochen und Braten las und was man halt so brauchte, um in einer Geisterstadt nicht zu verhungern oder draufzugehen.

Geduldig wartete er, bis sein großer Freund einen Teil des erbeuteten Schatzes aus seiner Tasche der endlosen Gefahren hervor gezogen hatte, drückte sie fest an seine Brust und lief wieder gen Matthew los - nur um schließlich zu bremsen und ganz langsam bei ihm anzukommen, immerhin rannte man ja am Feuer nicht.

„Also das hier, das ist meins, das hat Clarence mir ausgesucht“, hielt er ihm Der Löwe in Dir entgegen, ein reines Bilderbuch, das in früher sicher strahlenden Farben die Geschichte einer kleinen Maus erzählte, die von einem mutigen und emphatischen Löwen gerettet wurde. Es gab keinen Text, aber das brauchte und musste es auch nicht, damit Gabriel sich damit alleine beschäftigen konnte.

Wie in allen anderen Büchern, waren die Seiten schon lange vergilbt und zweifelsfrei mussten sie alle erst entstauben, bevor sie damit richtig Spaß haben konnten. Aber das würde sie nicht davon abhalten, damit gemütliche Abende zu füllen.

„Und daaaann… haben wir das hier, da sind Sachen drin von Leuten, die noch ganz lange vor den Alten gelebt haben. Die haben so komische Häuser gebaut, die hatten gar keine geraden Wände sondern nur spitze Dächer und-“, übermütig zog er den größer werdenden Bücherstapel und Matthews Arme tiefer, damit er es aufschlagen und falsch herum die Seite raus suchen konnte, um Matthew das Beste zu Zeiten: „Und so runde Gebäude mit Treppen wo die alle drauf gesessen haben und in der Mitte haben Leute mit riesige Tieren und Kriegern gekämpft! Grooaaaaar!!!“

Wild riss er die Arme in die Luft und versuchte auf wenig furchteinflößende Dinge nachzumachen, wie es damals sicher geklungen hatte.

„Das hier haben wir auch noch, aber das muss Clarence uns vorlesen oder du musst uns vorlesen, weil das hat keine Bilder“, stapelte er auf das offene Buch noch Jugendliteratur auf, auf dem ein großer Fuchs abgebildet war und von dem er vergessen hatte worum es ging und schließlich ein Buch mit Gruselgeschichten - denn anscheinend war die große Geisterstadt mit Riesenmonster noch nicht aufregend genug für die Kinder.

„Was meinst du, wie lange brauchst du um das alles zu lesen? Wenn du das nur für dich machst und nicht vorlesen musst, bist du dann noch schneller?“, wollte er wissen und deutete, eine Hand noch auf den Büchern im Griff des Dunkelhaarigen liegend damit er ihm gleich noch etwas zeigen konnte, zurück auf die Umhängetasche seines blonden Begleiters. „Du kannst uns vorlesen, dachte ich, wenn Clarence schreiben übt. Wir haben Hefte gefunden wo man Buchstaben und Zahlen üben kann und dann will er das Buch lesen von dem er sagt, du willst davon nichts hören weil mpfhm mppfthhh!!!“

Der Rest seiner Rede ging in dumpfen Geräuschen unter, da Clarence die Distanz zu ihnen überbrückt hatte und dem vorlauten Jungen den Mund zuhielt: „Ja, und das war unser Abenteuer heute, schön dass du das so toll zusammengefasst hast. Mehr haben wir auch nicht gefunden.“

Strampelnd hörte man ihn unter Claires Griff jauchzen. Gabe hatte echt Nerven es auch noch lustig zu finden, andere Leute in die Pfanne zu hauen.

„Mhmmpf— Clarence sagt, du hältst es für Humbug und du haust ihn wenn du- mppffg!“


Matthew C. Sky

Ob er die Zubereitung von Essen nun aus Büchern gelernt oder auf seinen Reisen mit Rouge gesehen hatte, dass war am Ende egal. 

Und gerade was seine Vergangenheit anging musste niemand näheres erfahren, schon gar nicht Gabriel. 

Der Junge wurde indes von Clarence ermuntert die Bücherausbeute zu präsentieren welche er heute errungen hatte. Mit Eifer war er dabei, flitzte zunächst in Richtung Rucksack und verlangsamte dann artig in Nähe des Feuers. 

Clarence folgte ihm und Cassie sah den beiden interessiert zu. Wenn man den kleinen Lockenkopf mit dem bärtigen Dummkopf so sah, dann könnte man wirklich meinen, die beiden würden schon immer zusammengehören. Sie waren eingespielt und nichts erinnerte mehr an den schweigsamen, misstrauischen und ängstlichen kleinen Jungen der Gabe noch vor einigen Wochen gewesen war. Unter der Fürsorge und Geduld von Clarence, war der Kleine unbestreitbar aufgeblüht. 

Diese Erkenntnis hatte Matthew wahrlich nicht zum ersten Mal und trotzdem konnte er sich dem verliebten Schmunzeln welches Clarence galt, nicht erwehren. 

Er war der geborene Dad. 

Darüber hinaus war der Dunkelhaarige auch neugierig darauf, was Clarence für die Kinder herausgesucht hatte - und Gabriel ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er mit der Auswahl sehr zufrieden war. 

„Man lernt immer, wenn man liest. Das Thema ist fast egal.“, entgegnete er dem Kind seiner Überzeugung nach wahrheitsgemäß. Dümmer wurde man nicht, selbst dann nicht, wenn das Buch nur einen unterhaltsamen und nicht bildenden Inhalt hatte. 

Mit einer ganzen Reihe an Lektüre kam der Junge schließlich zurück und präsentierte ihm selbige der Reihe nach. 

„Der Löwe in dir, soso.“, prüfend musterte er Gabriel so als müsse er erst überlegen ob dieses Buch wohl das Richtige für ihn war. Schließlich nickte er. 

„Klingt perfekt für dich.“, er schenkte dem Jungen ein warmes Lächeln und ging schließlich vor ihm im die Hocke um halbwegs auf Augenhöhe mit dem Wuschelkopf zu sein. Dieser überragte ihn nun zwar ein bisschen, aber das war in Ordnung so. 

Ganz aufgeregt wurden ihm nacheinander die unterschiedlichsten Bücher präsentiert und in die Hände gedrückt. Aufzeichnungen über die alten Ägypter, Römer, Griechen und Sumerer. 

Es war kein besonders dicker Wälzer und noch dazu reich bebildert, dennoch war es nicht gerade typische Kinderlektüre. Interessiert ob dieses Buches und vertieft in die Betrachtung der Seiten, zuckte Matthew tatsächlich überrascht zusammen als Gabriel die Gladiatorenkämpfe geräuschvoll nachahmte. 

Es folgte ein weiteres Buch mit dem Titel Fox Craft - das Geheimnis der Ältesten und auf dieses Buch folgte ein weiteres - Geisterstunde Band 3. 

„Das ist eine ganze Menge!“, staunte Cassie nicht schlecht und betrachtete den Einband des letzten Buches. 

Was er hier in den Händen hatte war… ein unermesslicher Schatz. Nicht nur weil man die Bücher irgendwann später sicher verticken konnte, sondern weil es Relikte der Alten waren und Matthew für alles einen Faible hatte, was auch nur in irgendeinem Bezug zu dieser Zeit in der Vergangenheit besaß. Ob es Schriftstücke, technisches Equipment, Musik oder Architektur war, war völlig egal. 

Und die Vielzahl an mitgebrachten Büchern war bestimmt nicht zufällig… Clarence würde eine kleine Ewigkeit brauchen alle zu lesen, die Kinder konnten ohne Vorleser mit den Büchern nichts anfangen und so galt die üppige Auswahl sicherlich… ihm. 

Clarence war vielleicht doch kein Dummkopf. 

Cassie hob den Blick zu dem Blonden und schmunzelte versöhnlich. 

„Nun… wenn ich die alle lesen würde, bräuchte ich ein Weilchen, so viel ist sicher. Wenn ich nichts tun müsste und nur lesen könnte… wäre ich vermutlich in einer Woche durch. Aber dann müsste sich Clarence ganz allein um euch kümmern… und dann… wird er vermutlich an Tag drei verrückt.“, - oder auch nicht, da war sich Matthew gar nicht mal so sicher. Immerhin war der Blonde ziemlich geduldig und gelassen im Umgang mit den Plagegeistern. 

Zum Glück für ihn ging der Junge nicht auf Matthews Scherz ein, sondern erzählte weiter. 

Plappernd wie ein Wasserfall. 

Von Schreibübungsheften, vom Vorlesen und von einem geheimen Buch, von dem Matthew nichts hören wollte. 

Interessiert zog Cassie die Brauen empor, da war Clarence auch schon blitzschnell zur Stelle um Gabriel den Mund zuzuhalten. 

„Heeeey, lass das! Lass den Jungen reden!“ protestierte Matthew amüsiert während Gabriel giggelnd und jauchzend unter Clarence’ Hand lachte. 

Ihn so heiter und fröhlich zu erleben war auf erfrischende Weise ansteckend. 

Irgendwie schaffte es Gabriel noch ein paar Wortfetzen zu artikulieren und weil der Größere noch damit beschäftigt war ihn zum Schweigen zu bringen, legte Matthew die Bücher vor sich auf den Boden, erhob sich und Nutze für Gunst des Augenblicks um zu Clarence‘ Rucksack zu huschen. 

Er hob das gute Stück auf und drückte es an seine Brust - allerdings ohne vorwitzig hineinzulangen. Nicht etwa weil er Angst hatte sich die Finger zu verletzen - diese Mahnung hatte ihre Berechtigung aber definitiv den Kindern gegenüber. 

Sondern weil er Clarence die Chance geben wollte von selbst mit der Sprache rauszurücken. 

„Ein Buch das ich für Humbug halte, hm?“, er sah zu Clarence, ein schelmisches Schmunzeln auf den Lippen und in den Augen. „Was soll das für ein Buch sein? Ich hab ehrlich keine Ahnung… meinst du deine Bibel?“, den Inhalt dieses Buches hielt er wirklich für Unsinn, aber eher aus persönlichen Gründen und weil er mit dem Glauben an ein höheres Wesen schon längst gebrochen hatte. 

„Sag schon!“


Clarence B. Sky

Egal ob sie sich mit Feinseligkeiten neckten, miteinander stritten oder manchmal einfach nur aus schlechter Laune heraus nicht miteinander sprachen - wenn Matthew ihm am Ende sein verschmitztes Lächeln schenkte, dann war in der Regel alles wieder in Ordnung.

Kein Disput konnte schlimm genug sein, um sie am Abend im Streit ins Bett gehen zu lassen und kein übler Scherz konnte zu sehr ausarten, um sie wirklich zu entzweien.

Clarence liebte es, wenn Cassie ihn aus einem Gespräch mit anderen heraus so verliebt ansah, ihn anlächelte während er die Hunde streichelte oder einfach nur vor Wonne seufzte, während der Blonde ihn küsste. Ihre Liebe lebte nicht von großen Bekundungen, Liebesschwüren oder öffentlichen Ansprachen… es waren die kleinen unscheinbaren Gesten, in denen man ihre Gefühle füreinander still ablesen konnte. Und auch jetzt kam Clarence nicht umhin seinen Mann mit warmen Blicken zu bedenken, während dieser vor Gabriel in die Hocke ging um sich von dessen Begeisterung anstecken zu lassen.

„Wir haben vielleicht ein bisschen übertrieben beim Einpacken, nächstes Mal bringen wir etwas weniger mit“, stellte der Jäger fest und nickte gen Stapel in Gabes Händen, immerhin hatte er auch noch einiges im Rucksack und beim Rückweg war das Tragen übertrieben schwer gewesen. So war das wohl, wenn man mit zu viel Langeweile in eine Bibliothek ging: Ähnlich, wie wenn man mit zu viel Hunger essen bestellte und sich am Ende fragte, wer das alles noch verputzen sollte.

Waaas?! Neee… die brauchen wir wirklich alle! Wir lesen auch alle durch, versprochen!“, hakte der Junge entsetzt nach; dass für das fleißige Durcharbeiten aller Wälzer jedoch ein Erwachsener nötig war, schien er dabei wieder halb vergessen zu haben.

Letztlich war das aber auch nicht wichtig, denn neben fleißigen Vorlesern und tapferen Geschichten-Erzählern gab es noch ganz andere Dinge, die mindestens genauso wichtig waren. Geheime Lektüre zum Beispiel, die niemanden etwas anging und das helle Jauchzen Gabriels, das Constantin für einen Moment erschrocken durch die Tür spähen ließ, aus Angst, der Junge habe sich vielleicht was getan.

Schneller als Clarence gucken konnte, hatte sich das Blatt gewendet und wo eben noch tapfere Abenteurer mit erfahrenen Reisenden exotische Bücher durchgeschaut hatten, fiel ihm nun sein eigener Gefährte in den Rücken, ihn an Cassie verratend.

„Hey! Ich hab dir nichts getan, leg den Rucksack wieder hin“, Gabe und seinen plappernden Mund noch im einen Arm, versuchte er mit den anderen beschwichtigend anzudeuten was er forderte. Matthew musste keine Geiseln nehmen um zu erfahren was er wissen wollte, aber er musste auch nicht immer genau das laut aussprechen, was für ihn am naheliegendsten war. „Und red nicht schlecht über die Bibel, die hast du schon genug durch den Dreck gezogen.“

Das stimmte tatsächlich - und Matthew tat gut daran so sehr von seinem Mann geliebt zu werden, den jeder andere mit Clarence‘ Herkunft, hätte ihn für derartige Äußerungen womöglich schon einen Kopf kürzer gemacht.

Missmutig sah er drein und musterte Cassie, bis er schließlich seinen Arm vollends um Gabriel legte und seinerseits seine Geisel fest an sich drückte.

„Leg den Rucksack hin und keiner kommt zu Schaden.“

Zu Schaden?“, quiekte der Lockenkopf und versuchte sich aus dem kräftigen Arm zu winden, ohne Erfolg.

„Ja, zu Schaden. Los, gib ihn her und ich werde Gabe nicht durchkitzeln, bis er keine Luft mehr bekommt. Aber wenn du nicht kooperierst, kann ich für nichts garantieren!“

Hilfe!! Luuuucy, hilf mir!“, strampelte er mit seinen kurzen Beinen wild in die Luft, doch brachte sich damit keinen Zentimeter aus Gefangenschaft heraus. „Matthew, das kannst du nicht zulassen! Nein!“

Schon jetzt japste Gabriel nach Luft, gefangen zwischen Angst vor dem Unabwendbaren und schallendem Lachen. Man sollte meinen, in ihrem tristen Unterschlupf mit den grauen Wänden und dem Feuer als einzigem Farbklecks ging es traurig und still zu, doch die Kinder sorgten die meiste Zeit des Tages dafür, dass ihr Lager von lautem Krach und zufriedenem Kinderschreien erfüllt war. Hoffentlich blieb das noch eine Weile so, denn wenn ihre Vorräte immer weniger statt mehr wurden, würde die Ausgelassenheit nicht mehr lange anhalten.

„Los, ein Mann wird ja noch seine Geheimnisse haben dürfen. Aber wenn du ihn nicht raus rückst, können wir dir auch nicht deine Überraschung geben!“ - beschwichtigend gestikulierte er noch immer gen Cassie, was aber nur dazu führte, dass dieser die Tasche noch fester an sich drückte.

Es war noch nie einfach gewesen mit diesem Kerl und auch jetzt stellte sich wieder heraus, dass die nächsten Jahrzehnte mit dem Dickkopf sicher nicht besser wurden.

„Himmelherrgott!“, schimpfte der Blonde und ließ Gabriel los - doch nur, um ihn kurz darauf zu packen und ihn sich über die Schulter zu werfen wie einen Sack Getreide, den sie leider hier schmerzlich vermissten.

Der ausgelassenen Laune des Jungen tat dies jedoch keinen Abbruch, der immer wieder unterbrochen schallend Lachte und dabei Laut nach Gnade bettelte, damit Cassies Einlenken ihn endlich aus seiner Haft befreien möge.

G-Gib… gib ihm endlich den R-Rucksack! - Himmelherrgott“, äffte er seinen Peiniger nach und fing sich damit einen tadelnden Knuff in sein Knie ein, bevor Clarence nach dem Rucksack zu langen versuchte: „Los, gib her! Du wolltest in Miami nicht mit mir suchen, also braucht es dich jetzt auch nichts anzugehen, was ich gefunden habe!“


Matthew C. Sky

Den Rucksack an sich gedrückt, betrachtete Matthew den Blonden und dessen kleine Geisel. 

„Ich rede nicht schlecht über deine Bibel. Du kannst lesen was du willst… sogar Unfug.“ - er verdrehte genervt die Augen, so als wäre er der Diskussion um jenes Buch längst überdrüssig. Er hielt nichts mehr vom christlichen Glauben, nichts von der Idee, dass es ein überordnetes Wesen gab. 

Aber wenn Clarence daran glauben konnte oder wollte, dann war das in Ordnung. 

Gabriel erntete nun jedenfalls die sauren Früchte seines Verrats an Clarence, aber Matthew hatte den Verdacht, dass der Junge seine Strafe nicht als abschreckend empfand. 

Sein Gekicher steigerte sich zu einem wilden und vergnügten schreien und glucksen und es war unmöglich sich von der freudigen Hysterie nicht anstecken zu lassen. 

Als wäre er nicht schwerer als ein kleiner Sack Kartoffeln wurde er von Clarence über dem Boden gehalten und alles zappeln brachte ihn der Freiheit nicht näher. 

Matthew indes schien einen Moment lang irritiert von der Ruchlosigkeit des Hünen. 

Er machte eine betroffene Miene, schnalzte tadelnd mit der Zunge und schüttelte den Kopf. 

„Clarence, Clarence, Clarence…“ - an seinem Tonfall hörte man die Erheiterung aber auch eine Art… Kampflustigkeit.

Er würde den Rucksack nicht hergeben, wahrscheinlich war das dem Blonden nun auch klargeworden.

Lucy war durch das Geschrei ihres Bruders nur kurz im Türrahmen erschienen, neugierig aber nicht wirklich in Sorge um das Wohlergehen ihres Bruders. 

„Ach Gabe…“, seufzte Cassie. „Du hast dir den falschen Partner ausgesucht um ihn zu hintergehen. Clarence ist wahnsinnig empfindlich bei sowas.“ 

Die Erklärung kam ein bisschen zu spät für den kleinen Kerl, aber Matthews Mitleid mit ihm hielt sich in Grenzen. 

Clarence‘ Versuch, ihn zu beschwichtigen und dazu zu bringen den Rucksack herzugeben war amüsant aber nicht von Erfolg gekrönt. 

„Ein Mann darf seine Geheimnisse haben, aber nicht mein Mann.“ - konterte Matthew. „Und schon gar nicht vor mir. Lass den Jungen runter und ich überlege mir, dir den Rucksack zurückzugeben.“, alles an Matthew verriet, dass er den Rucksack nicht herausrücken würde, aber das Scheinangebot würde ihn später besser bei Gabriel dastehen lassen. 

Miami?“, wiederholte Matthew unerwartet und sein Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich. 

Das Lachen in seinen Augen wich sofort einer durchdringenden Ernsthaftigkeit. Was in Miami passiert war, war weit mehr gewesen als Matthew hatte ertragen können und Clarence wusste das eigentlich. 

Selbst Gabriel schien zu spüren, dass sich mit einem Mal die Stimmung gedreht hatte, denn sein fröhliches Giggeln verstummte. Die Wärme war gewichen. 

„Du hast das Buch dieser Steen geholt. Das aus…“, er schwieg, biss die Zähne aufeinander und sprach schließlich düster weiter. „…Gang fünf, Regal 3C.“

Die Bibliothekarin hatte sofort gewusst welches Buch Clarence suchte und wo er es finden würde.

Aber sie hatten das Buch nie geholt. Nicht in Miami. 

In Miami hatte Clarence sich vor Matthews Augen erschossen. 

Clarence brauchte nicht bejahen - sie kannten einander gut genug um zu wissen, dass die Katze nun aus dem Sack war. 

„Scheiße verflucht, Claire was denkst du dir?“

Matthew ließ den Rucksack auf den Boden sinken, einen Träger locker in der Hand behaltend. 

Die Vorkommnisse in Miami - die in Wahrheit nie stattgefunden hatten und sie dennoch beinahe getötet hätten - waren noch immer präsent in den Erinnerungen des Dunkelhaarigen. Er dachte nicht jeden Tag daran und er träumte nicht jede Nacht schlecht davon, aber hatten die Erlebnisse Spuren hinterlassen?

Definitiv. 

„Du schleppst dieses Buch hier an…dieses…dieses verdammte Scheißbuch!“ 

In den Nebenzimmern verstummten die Geräusche weil jeder mit dem innehielt was er gerade tat. Und Clarence… der ließ Gabriel schließlich wieder herunter. 

Der Junge blieb dicht bei seinem Geißelnehmer und sah mit großen Augen zu Matthew. Niemand, nicht einmal Zoe, machte einen Mucks. 

Cassie war bewusst, dass das Buch nicht schuld an ihrer Lage gehabt hatte, aber er verknüpfte jenes Werk untrennbar mit dem Selbstmord des Blonden.

Ein Selbstmord, der darin gegipfelt hatte, dass er sich selbst auch erschossen hatte… aber den Schmerz…hatte es nicht geändert. Es war nicht nur ein Alptraum gewesen, es war real. Ein Selbstmord als Ausweg. 

Am Liebsten hätte Matthew seinen Mann nun daran erinnert, dass sie nach diesem verfluchten Buch gesucht hatten… und zwar unmittelbar bevor Clarence sich das Hirn weggeschossen hatte. Ohne Vorwarnung. Ohne… es Matthew zu erklären, der plötzlich dagestanden hatte und das warme Blut seines Liebsten im Gesicht gespürt hatte. 

„Miami…“, wiederholte er abermals und schnaubte verächtlich. „Hier…nimm… ich kümmere mich weiter ums Essen.“

Erst jetzt ließ er den Träger fallen, wischte sich nervös die Hände an den Oberschenkeln ab und ging dann zurück zur Anrichte. 

Dieses Buch war nicht verantwortlich dafür, dass die Vetala sie beide geschnappt hatten und doch stand es wie kaum ein Gegenstand sonst für den Freitod des Blonden. 

Und für unerträglichen, unbeschreiblichen Schmerz. 


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