Alte Werkstatt
17. August 2210
„Komm schon, Gabe. Die machen sich alle Sorgen wenn wir weiter so trödeln!“, rief er dem Jungen zu und bemühte sich dabei ruhig und verständnisvoll zu klingen, denn seit zwei Stunden stellte sich der kleine Dickkopf sowas von quer, dass es kaum noch zu ertragen war.
Mit motzig verzogener Mine trat er den Schnee vor sich her und ließ aus kleinen Klumpen kleine Schneebälle werden, bis er schließlich wütend auf sie drauf sprang, um sie zu vermanschen.
„Das war der langweiligste Tag, seit... seit überhaupt! Wieso mussten wir da überhaupt hingehen?“, wollte er wissen und schüttelte sich, um die Kapuze von seinem Kopf zu bekommen. Ganz wirr standen seine braunen Haare zu allen Seiten ab und ließen letztlich auch an den Kindern erkennen, was die Zeit in der Geisterstadt aus ihnen gemacht hatte: Eine Horde Wilde, die nichts mehr mit jenen gepflegten Menschen zu tun hatten, die in Rio Nosalida eingestiegen waren.
„Weil man manchmal auch Sachen zu erledigen hat, die einen langweilen“, entgegnete Clarence ihm geduldig und blieb so lange stehen, bis Gabriel zu ihm aufgeholt hatte. „Weißt du noch vorgestern, als du dem hässlichen Käfer ein Labyrinth gebaut hast?“ - „Der war nicht hässlich!! Der war mega cool!“ - „Naja, du fandest ihn mega cool. Und deshalb sind auch Lucy und Constantin und Matthew und ich zu dir gekommen um sich alles zeigen zu lassen.“ - „Und Zoe!“
„Ja, und Zoe“, pflichtete er dem Jungen bei. „Nur Jeremy hat Glück gehabt und musste sich das nicht antun.“
„Das ist total gemein“, platze es aus Gabe hinaus, woraufhin er beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte und versuchte, den Hünen mit seinen Blicken wenigstens ein kleines bisschen zu töten.
„Ja, genau. Das ist gemein. Und genauso gemein ist es für mich, wenn du mir sagst, dass du es doof und langweilig findest.“
Auffordernd winkte er sich den Jungen heran, damit er sich abgewöhnte ständig nach zwei Worten stehen zu bleiben, und legte ihm eine Hand auf die Schulter in der Hoffnung, dass sie sich so langsam aber sicher ein gleiches Gangtempo angewöhnten.
„Manchmal ist es einfach besser man sagt nichts und freut sich, wenn seine Freunde an etwas Spaß haben. Und danach macht man zusammen wieder das, was einem selbst gut gefällt. Weißt du, was ich meine?“
Ein beleidigtes Grummeln wehte zu ihm empor und ließ Clarence schließlich grinsen, denn dieses Geräusch hieß unbestreitbar, dass Gabe verstanden hatte, aber es nur ungern zugeben würde. Genau wie letzte Woche, als er hatte einsehen müssen, dass es keine gute Idee war, ihren Unterschlupf ganz alleine zu räumen.
Eine Weile legte sich lediglich das dumpfe Krachen des Schnees unter ihren Stiefeln zwischen sie beide, während dem sein kleiner Gefährte immer wieder lautstark die Nase hoch zog. Vor ein paar Tagen hatte es immer mal wieder angefangen zu schneien und damit einher war ein Temperatureinbruch jener Sorte gegangen, der einem die Rotze in das Nase gefrieren ließ - weshalb Clarence ihm nicht mal besonders böse sein konnte wegen der Geräusche, die Gabe von sich gab.
„Was denkst du, was machen Miguel und die anderen gerade...?“
Mit schwerem seufzen schaute Claire an sich hinab zu den großen Augen, die ihn fragend ansahen.
Im vorletzten Camp hatten sie den Mexikaner, seine Landsmännin Ximena und Ceyda zurück gelassen und das auf eine Art und Weise, die so nicht geplant gewesen war.
Nicht alle sahen einen Vorteil darin in tiefsten Schnee zu versuchen die Geisterstadt zu verlassen. Ihnen war die Gefahr viel zu groß, auf offenem Gelände zu erfrieren, zu verhungern oder von wilden Bestien zerfleischt zu werden und beinahe hätte Clarence laut losgelacht als er das gehört hatte. Einerseits wirkte Miguel nicht wie jemand, der vor so etwas Angst hatte, andererseits fragte er was die dachten, wie lange der Schnee sie noch einkreiste. Der letzte Winter hatte mehrere Jahre gedauert und Clarence hatte keine Lust, die nächsten fünf hier in diesen Ruinen mit den ganzen Pappnasen zu verbringen... doch allem voran hatte er keinen Nerv mehr gehabt, noch länger mit Miguel unter einem Dach zu verbringen.
Nicht etwa, weil er nicht umgänglich war, ihre Meinungen zu verschieden oder weil der Kerl sich zu viel raus genommen hatte.
Sondern weil er zunehmend weniger seine offensichtlich gaffenden Blicke gen Lucy und Zoe unterbunden hatte.
Schon von Anfang an war Claire an dem Kerl was seltsam vorgekommen, jedoch ohne es direkt benennen zu können. Er hatte sich nicht aufdringlich benommen, keine Kommentare von sich gegeben oder zwielichtige Vorschläge gemacht, um mit ihnen alleine sein zu können... und doch waren die Momente, in denen er sich unbeobachtete gefühlt hatte, so präsent für Clarence geworden, dass er es nicht länger hatte verantworten können, ihn länger in ihrer Nähe zu belassen.
Jeremy, der aufgrund seiner Verletzung erst nicht hatte mitkommen wollen, hatten sie mitten in der Nacht stillschweigend wach gemacht um ihn vom Gegenteil zu überzeugen, während Miguel seinen - von der Gruppe induzierten - Alkoholrausch ausgeschlafen hatte. Vermutlich war die Aussicht darauf, nur noch die Frauen und den Krüppel übermannen zu müssen, ihm Anreiz genug gewesen um freiwillig zurück zu bleiben und nur zu gerne stellte der Jäger sich das verdutzte Gesicht des Typen vor, wie er mit dröhnendem Schädel wach wurde und feststellte, wie die kleine Zoe auf nimmer wiedersehen aus seinen Fängen verschwunden war.
„Oh, ich denke denen geht es ganz gut“, versuchte er Gabriel also aufzumuntern, denn die Frauen hatten sich für ihr eigenes Schicksal entschieden und am Ende waren sie unterm Strich nicht für das Glück der anderen her zuständig. Jeder konnte seine eigenen Entscheidungen treffen und wem es näher lag an die Hoffnung und einen baldigen Sommer zu glauben, den würde der Blonde nicht davon abhalten. „Genau wie uns, wir können uns ja auch nicht beklagen.“
„Mhh... na gut. Und Clarence?“
„Hm?“, entgegnete er und zog dem Kleinen dabei im Gehen die Kapuze wieder über die Ohren, damit er sich selbige nicht abfror.
„Wann erzählst du Matthew von deinem Geheimnis? Wegen den Büchern und so?“
„Ich hab dir gesagt, wenn du Matthew was davon sagst, dann zieh ich dir die Beine lang und hänge dich kopfüber aus dem Fenster!“
Nicht besonders von der Ernsthaftigkeit der Worte des Hünen überzeugt, kicherte Gabe glucksend und sah aufgeweckt zu ihm empor. „Nee, nein... machst du nicht!“ - „Doch, das siehst du dann, wie ich das mache“, drohte Claire ihm amüsiert über so viel Frechheit und schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Sieben Tage und sieben Nächte hänge ich dich da oben auf und schaue dir beim Baumeln zu. Und wenn du dann immer noch frech bist, teile ich kein einziges Bonbon mehr mit dir, falls wir noch welche haben.“
„Das hast du gar nicht zu entschieden, die verteilt Matthew!“
Kurz überlegte er, ob er darauf noch einen Konter zu erwidern hatte, doch letztlich hatte Gabe ja recht: Cassie war über den Herrscher der verbliebenen Bonbons geworden und wer nicht brav war, der bekam auch keins. Nicht mal sein eigener Mann.
„So, jetzt ist gut, sonst hört der uns noch“, unterband er schließlich das Thema, lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand zu der sie gekommen waren und hielt dem Jungen eine Räuberleiter hin, um ihm zu dem Absatz über ihnen zu helfen. Erst dann folgte Clarence ihm hinauf, eben jene geheime Abkürzung nehmend die er mit ihm erkundet hatte seitdem die gestiegene Schneedecke ihnen diesen Weg eröffnet hatte, und kaum oben angekommen, war Gabe sowieso nicht mehr zu halten.
„CONSTNATIN! MATTHEW!! JEREMYYY!!!“, plärrte er über den schneebedeckten Hof hinweg, in dem verwaist die Axt und das Holz lag, das ersterer gestern Abend noch gehackt hatte.
„Ich und Clarence haben einen Hasen gefangen!! Einen richtigen Hasen!!! Ich- WOAH—“, sprang er erschrocken zurück nachdem er beinahe in ihren fleißigen Holzfäller gerannt war, der die Tür aufriss mit einem Gesicht, als dachte er bei dem Geschreie, was wäre etwas schlimmes passiert.
„Einen Hasen haben wir gefangen! Fürs Abendessen!“, legte Gabe den Kopf zurück um Constantin anzusehen und drängte dich schließlich unter seinem Arm vorbei, um ins warme Innere zu entschwinden, während Claire hilflos mit den Schultern zuckte.
„Naja... so ein mageres, kleines Ding. Nicht besonders viel, aber besser als nichts.“
„Schultern zurück. Steh gerade. Die Kraft kommt nicht aus deinen Armen, sie kommt aus deinem Rücken.“
Das Mädchen verzog das Gesicht und verengte die Augen.
„Atme... tief und ruhig.“ - „Wie soll ich ruhig atmen, wenn mir alles wehtut?“, fragte das Mädchen angespannt und mit Trotz in der Stimme.
„Konzentrier dich nicht auf den Schmerz. Konzentrier dich auf das Ziel.“, erwiderte Matthew gelassen.
Das Ziel, dass war ein mit Lumpen gestopfter Dummy mit halbwegs menschlichen Proportionen. Sie stand etwa fünfzehn Meter von Lucy entfernt im Schnee.
Um die Puppe herum war die weiße Decke mit Pfeilen gespickt und auch das nächste Geschoss verfehlte den rudimentären Körper..
„So eine Scheiße! Das geht nicht!“ sie schrie frustriert und pfefferte den Bogen vor sich auf den festgetretenen Schnee.
Matthew nahm seinen Bogen von der Schulter, zog einen Pfeil aus dem Köcher und schoss - scheinbar ohne richtig hinzusehen - im Gehen auf den Dummy, der eine Sekunde später mit einem dumpfen Geräusch von dem Projektil getroffen wurde.
Lucy wischte sich über die Stirn und betrachtete den Dummy verärgert, so als sei es dessen alleiniger Verrat, dass er nun durchbohrt worden war.
Mitten in die Stirn auch noch.
„Toll, dass du es kannst. Ich kann es aber nicht!“
„Nein... du kannst es nicht.“, stimmte Matthew ihr zu, woraufhin Lucy ihn patzig ansah.
„Aber ich weiß, dass du es lernen kannst. Wenn du nicht aufgibst jedenfalls.“ - er bückte sich nach Lucys Bogen um ihn aufzuheben und dem Mädchen wieder entgegenzuhalten.
Er wusste, dass sie frustriert war und er wusste auch, dass es durchaus möglich war, dass sie nun davon stapfte und die nächsten zwei Tage den Bogen nicht mehr anrührte.
Das Mädchen betrachtete die Waffe die der Größere ihr hinhielt mit einer Mischung aus Ablehnung, Trotz und Wut. Fast den ganzen Nachmittag hatte sie hier draußen gestanden, hatte versucht den Anweisungen des Dunkelhaarigen zu folgen. Ihre Fingerspitzen waren taub, ihre Nase eiskalt und auf ihren rötlich braunen Haaren hatte sich Frost niedergelassen.
Ihr Rücken und ihre Arme taten höllisch weh und Matthew sah ihr an, dass sie kurz überlegte es einfach sein zu lassen.
Dann verschwand jener Augenblick. Sie griff nach der Waffe und nahm sie wieder an sich.
Verglichen mit den Bögen, welche Matthew in seinem bisherigen Leben schon gesehen und benutzt hatte, waren die beiden die sie vor etwa eineinhalb Wochen gebaut hatten, äußert simpel. Sie waren nicht optimal ausbalanciert und auch nicht aufwändig verziert - aber sie waren zweckdienlich und nur darauf kam es an. Letztlich waren Pfeil und Bogen auch deshalb Matthews Lieblingswaffen, weil man sie selbst bauen konnte und weil sie - beachtete man ein paar Dinge bei der Fertigung - ebenso genau und ebenso tödlich sein konnten wie die, die man bei Waffenbauern erwerben konnte.
„Versuch es noch einmal.“
Dieses Mal stellte er sich hinter Lucy und als sie den Pfeil auflegte und die Arme hob um die Sehne zu spannen, legte er eine Hand zwischen ihre Schulterblätter und die andere vorn an ihren Brustkorb.
„Gerade stehen.“, sagte er leise und geduldig, obgleich er das bei fast jedem ihrer Schüsse sagte. Mit sanftem Druck korrigierte Matthew ihre Haltung, machte, dass Lucy sich aufrichtete und hob dann ihre Oberarme noch etwas an.
„Du weißt was ich dir übers Zielen gesagt habe?“
Lucy schnaubte. „Ich ziele nicht mit der Hand, ich ziele mit dem Herzen.“, gebrauchte sie Matthews Worte und dieser nickte.
„Ganz recht. Also… atmen, zielen, fühlen, loslassen.“
Angespannt fixierte das Mädchen die Figur, atmete bemüht ruhig, versuchte das Zittern ihrer Arme zu kontrollieren…und als sie glaubte, den richtigen Moment zu fühlen, ließ sie den gespannten Pfeil von der Sehne fliegen. Er sirrte durch die Luft, durchschnitt den kalten Nachmittag und in der Sekunde zwischen Schuss und Treffer, schien die ganze Welt den Atem anzuhalten.
Zumindest bis zu dem Moment als plötzlich Gabriels aufgeregte Stimme ertönte.
„CONSTNATIN! MATTHEW!! JEREMYYY!!!“
Der Pfeil traf ungeachtet der Unterbrechung in den Dummy, in etwa in den Magen, sofern die Puppe denn einen solchen besessen hätte.
„Yeah!!! Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft!“ Lucy machte einen Sprung nach oben und Matthew hob die Hand zu einer High-Five die sie sofort abklatschte.
„Ich wusste es! Sehr guter Schuss!“, fand er Worte des Lobes. „Jetzt aber rein mit uns, für heute reicht es mit dem Training.“ - „Aber morgen machen wir weiter!“ - Lucy schien wieder entflammt zu sein. Keine Spur mehr von ihrer trotzigen Anwandlung.
Matthew betrachtete sie wohlwollend und nickte.
„Klar, morgen geht’s weiter. Aber wenn ich das gerade richtig gehört hab, sind dein Bruder und Clarence zurück.“ - „Ja…du hast recht.“ sie sah an Matthew vorbei, zur Hintertür der Werkstatt. „Geh ruhig schon, ich räum auf.“
Lucy blickte wieder zu ihrem auf und noch ehe sie widersprechen konnte, wiederholte Matthew sich.
„Geh schon, sieh nach deinem Bruder.“
Ein fröhliches Lächeln machte sich in ihrem Gesicht breit und sie lief an ihm vorbei.
Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und sah nochmal zurück.
„Das war ein klasse Schuss.“, stellte sie nochmal fest und Cassie lachte. „War es wirklich. Du kannst stolz auf dich sein. Ich jedenfalls bin es.“
Das Kompliment tat ihr gut, auch wenn sie noch immer nicht richtig wusste wie man mit Lob umging.
„Matthew?“ -„Mh?“ - „Danke!“
Der Dunkelhaarige winkte ab und machte sich auf den Weg, die verschossenen Pfeile einzusammeln, während Lucy zurück ins Innere des Gebäudes lief um sich die Geschichte der erfolgreichen Jagd - des wohl größten und verschlagensten Kaninchen der Welt - anzuhören.
Nicht zum letzten Mal am heutigen Tag.
Es war für Clarence nicht verwunderlich, wie schnell sich ein einfacher Unterschlupf zu einem Ort der Erholung verwandeln konnte, wenn sich nur eine Horde Kinder darin wohl fühlte. Je mehr sie ihre Angst vor dem neuen Versteck verloren, umso mehr Kinderlachen und -schreien durch die wenigen Räume schallte, fühlte man sich hier immer sicherer und als würde man an einen Ort zurück kommen, an dem man es getrost eine Weile aushielt.
Gabriel, der am Anfang so schweigsam gewesen war wie Clarence damals Matthew gegenüber, war einige Tage nach dem Verbrennen der letzten Leichen aus ihrem Wrackteil langsam aufgetaut und mittlerweile regelrecht aufgedreht, wenn mal etwas anderes passierte außer dem typischen Lageralltag. Es war fast schon schwierig ihn wieder zur Ruhe zu bekommen damit er sich auf das konzentrierte was sie miteinander vor hatten und nicht selten fragte Claire sich, wie die kleine Lucy das nur mit dem frechen Zwerg aushielt. Zweifelsohne musste er sie mehr auf Trab gehalten haben, als ihre Erzählungen von ihrem einstigen Zuhause durchscheinen ließen und so wohl wie sie sich bei den Ausflügen und dem Training mit Cassie fühlte, war es ein offenes Geheimnis, dass sie alleinige Aufmerksamkeit auf ihre Art und Weise sehr zu schätzen wusste.
Mit von stolz geschwollener Brust, sprang unterdessen Gabriel von Raum zu Raum und schien alles zusammentrommeln zu wollen, was sich hier in der alten Werkstatt nieder gelassen hatte oder auch nicht. Wenn er nichts aufpasste, lockte er sogar noch den großen Mutanten an dessen Spuren sie gefunden und Grollen sie gehört hatten, ohne es ganz zu erblicken; aber vielleicht war auch genau das seine Absicht - in der Hoffnung, nach dem größten Kaninchen der Stadt auch dieses zu ergattern.
„Lucy! Luuuuuucy!!!“, hörte er es durch Nachbarzimmer schallen und schüttelte dabei den Kopf während er sich die schneebedeckten Schuhe neben dem Eingang an der Wand abklopfte, bevor er hinter Constantin eintrat. Es dauerte nicht lange, da ließ sich auch Zoe anlocken - jedenfalls musste das dritte Paar sehr kurze und eilige Schritte eindeutig zu ihr gehören - und nicht weniger leise wie Gabe tat sie ihr Erstaunen über das kund, was geschehen war. In dreistimmigem Schnattern ließen sie die Werkstatt erschallen und selbst Gabe vergaß unter der Aufmerksamkeit die Kälte, die ihm bis eben noch die kleine Nase und die Öhrchen rot gefroren hatte.
„Wie geht es ihr? Ist alles okay bei ihr?“, wollte Constantin leise von ihm wissen, obwohl der Blonde eigentlich nichts von dieser Diskretion hielt, nachdem er Adrianna vor ein paar Tagen explosionsartig zum Ausbruch gebracht hatte. Es war zweifelsohne nett von ihm gemeint gewesen ihr helfen zu wollen und doch waren seine Versuche etwas zu aufdringlich gewesen, jedenfalls dann, wenn man so ein Gemüt besaß wie die Rothaarige.
„Wie soll es ihr gehen? Den Umständen entsprechend, denke ich“, weihte er den anderen knapp in seinen Eindruck ein, den er von Addy und ihrem spärlichen Lager bekommen hatte. Man durfte ihr nicht sagen, dass sie etwas nicht konnte, weil sie es sonst erst recht versuchte... und ihr zu sagen, sie käme alleine doch nicht zurecht, war keine optimale Taktik, wenn man sie zur Freundin haben wollte.
„Ich hab ihre Wunde verbunden, sieht okay aus. Ansonsten wirkt sie etwas überfordert. Falls sie in den nächsten Tagen zurück kommen will, dann verkneif dir deine Kommentare besserr. Sonst kannst du in ihrem Bunker einziehen, dafür sorgt sie schon.“
Das war kein Schmerz von ihm, sondern ein ernst gemeinter Rat. Was Adrianna sich in den Kopf setzte, das ließ sie so schnell nicht mehr los und obwohl sie es noch immer kaum schaffte sich alleine die Schuhe zuzubinden, hatte sie sich trotzig von der Gruppe getrennt, ganz so als müsse sie Constantin etwas beweisen anstatt sich selbst.
„Clarence! Du musst ihnen den Hasen zeigen, zeig ihnen den Hasen!“, platzte Gabriel von hinten in ihn rein und versuchte ihn an der Hand von dem zweifelsohne der langweiligen Gespräch hinfort zu ziehen, immerhin konnte kein Gespräch unter Erwachsenen so spannend sein wie ein frisch gefangenes Abendessen.
Gerade noch so konnte Claire um sich zu halten in das Geländer greifen, das ein paar Meter weiter in den Keller führte, denn ansonsten wäre er in hohem Bogen quer durch den Flur gefallen, so aufgeregt war der Junge allen endlich seine Trophäe zu zeigen.
„Zoe, nein! Finger weg“, hob er den Finger und unterbrach er den Lockenschopf harsch - in einem Tonfall, von dem sie gelernt hatte, dass sie keinen schritt weiter gehen sollte.
„Ich hab dir gesagt, du gehst nicht einfach an meine Taschen. Wenn du in ein Messer greifst, sind die Finger ab“, dabei hob er vielsagend die Augen, denn an Addys Beispiel hatte sie hoffentlich gelernt, dass es sich mit nur noch einer Hand nicht besonders gut lebte.
„Clarence? Hast du Da draußen auch noch ein Bonbon gefunden?“, wollte sie wissen und stierte neugierig in seine Tasche, kaum dass diese geöffnet war, ganz so als könne sie vielleicht von dort aus was erspähen, wenn sie die Augen nur weit genug aufriss.
„Ich hab eben gelernt, dass Matthew die Bonbons für alle rationiert und ich keine mehr verteilen darf.“ - „Waaas... aber der ist doch immer weg wenn du uns vorliest. Wie sollen wir dann danach ein Bonbon bekommen?“
Hilflos zuckte Clarence mit der Schulter.
„Ich hab wohl nichts mehr zu melden hier, genau wie ihr. Ich darf nur noch Jagen, gerade so.“
„Aber ich hab den Hasen gefangen!“, rief Gabe von der Seite und krallte sich in den Schultergurt seiner Tasche, die Öffnung so zu sich ziehend, dass er nach seinem Kaninchen gucken konnte.
„Ja, das hast du. Ganz alleine sogar.“ - Jedenfalls fast, denn das Ausnehmen und Abziehen war ihm dann doch etwas zu eklig gewesen. Trotzdem hatte er tapfer zugesehen und die Inneren in Leder eingepackt, damit Abel und Kain auch einen hohlen Zahn voll ab bekamen.
„Und ich hab das erste Mal getroffen!“
Lucy kam gerade um die Ecke, als Clarence Gabriel den Hasen an den zusammen gebundenen Hinterläufen aus seiner Tasche ziehen ließ und an ihrem plötzlich fahlen Gesichtsausdruck konnte er erkennen, wie wenig sich das Mädchen noch immer mit dem Jagen anfreunden konnte, wenngleich das Fleisch ihr keine Übelkeit bereitete. Ganz im Gegenteil.
„Das ist toll, Lucy. Wenn du so weiter machst, dann fängst du uns bestimmt bald ein Reh. Oder ein Wildschwein“, davon hatte er zwar noch keines in der Stadt gesehen, aber hoffen konnte man ja.
„Wo ist Matthew? Los, den solltet ihr suchen, wenn ihr was zu Essen haben wollt. Der macht uns die weltbeste Suppe, wenn wir ihn lieb fragen.“
Das Stichwort Essen ließ die Augen des Jungen groß aufleuchten - kein Wunder, denn ihm hing der Magen nach ihrem Ausflug genauso tief in den Knien wie Clarence selbst.
„Maaattheeew!“, folgte er dem Nicken seiner Schwester gen Hinterhof und rannte dabei so unkontrolliert los, dass das Kaninchen in seiner Hand so sehr wackelte, als wäre es noch am leben.
Draußen wehte ihm der kalte Wind um die Nase und der frisch eingesetzte Schneefall wurde immer dichter.
Matthew, der nicht nur der Herrscher über die Bonbons geworden war, sondern zusammen mit Clarence ihren kleinen Trupp unbestreitbar anführte, zog gerade den letzten Pfeil aus einer Schneewehe als die Tür aufschlug und Gabriel herausstürmte.
Die Kapuze flog ihm von seinem ungebändigten Lockenkopf und in der Hand schlenkerte wild der erlegte Hase.
„Maaattheeew!“, rief er so laut er konnte gegen das Schneetreiben und rannte auf Besagten zu.
Cassie verstaute den Pfeil im Köcher und kam dem Jungen ein Stück entgegen.
„Matthew! Sieh mal was ich gefangen habe!“ er riss den Arm empor wodurch ein Ruck durch den gehäuteten Hasen ging.
„Eine kleine nackte Ratte?“ fragte der Dunkelhaarige frech und ging vor dem Jungen in die Hocke. Gabriel schüttelte heftig den Kopf.
„Ein Hase! Schau doch nur wie groß er ist!“
Matthew neigte den Kopf und machte mit der Hand eine wage Bewegung. „Sicher, dass das ein Hase ist und keine Ratte?“
Nun verzog Gabriel das Gesicht. „Du bist gemein!“ trötete er, woraufhin Matthew seufzte, ihm beiläufig die Kapuze wieder über den Kopf zog und aufstand.
„Bin ich nicht, ich wollte dich nur aufziehen. Hast du den alleine gefangen?“ - nun strahlte der Junge wieder. „Ja! Ganz alleine! Clarence hat gesagt, dass ich nun für die Fallen verantwortlich bin!“ - „Das sieht ihm ähnlich. Er ist ein richtiger Faulpelz. Wenn wir nicht aufpassen, dann schläft er bald den ganzen Tag im Warmen und lässt sich von uns bemuttern.“ Gabriel kicherte leise darüber. „Würdest du ihn trotzdem mitnehmen, wenn du die Fallen kontrollieren gehst? Du kannst ihn ja die leichten Arbeiten machen lassen.“ - abermals kicherte Gabe und nickte. „Das krieg ich hin! Auch wenn wir Adrianna besuchen gehen... das kann er nächstes Mal auch gerne alleine machen. Die ist gruselig.“
In der Tat konnte Matthew den Kleinen in der Hinsicht verstehen.
„Na das sagst du ihr besser nicht.“ - „Neee.“, mit der freien Hand wischte sich der Junge über die Nase und schniefte.
„Clarence hat gesagt du kannst uns Suppe kochen.“ - „Ach ja? Hat er das? Hast du denn überhaupt Hunger?“ - „Und wie!“ - „Na dann bring die nackte Ratte mal rein.“ - „Das ist ein Hase!“ - „Jaja....“, Cassie streckte ihm die Zunge raus und der Junge erwiderte den Schabernack ehe er wieder los flitzte.
Matthew sah ihm hinterher und folgte ihm langsamer. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln und trotz der dicken Socken die er trug hatte er das Gefühl, dass seine Zehen abgefroren waren.
Sehr zu seinem Leidwesen erwartete ihn kein Appartement mit eigenem Kamin und Badewanne mehr, sondern lediglich eine verlassene Werkstatt in der die Alten früher ihre Autos und Motorräder repariert hatten.
Das Gelände war eingezäunt und das Tor, welches bei ihrer Ankunft aufgerissen gewesen war, hatten sie mit einer dicken Kette wieder gesichert. In der eigentlichen Werkstatt hatte es allerhand zu entdecken gegeben. Werkzeuge und futuristisch anmutende Gegenstände, Arbeitsbekleidung für ehemalige Angestellte und Mr. Dave Pellham - der sich irgendwann vor unzähligen Jahren in den Kopf geschossen hatte. Das legte das Loch in seiner Schädeldecke und die Schrotflinte neben ihm zumindest nahe.
Seine Leiche hatten sie in einem abgeschlossenen Büro gefunden weshalb Dave noch ganz gut erhalten gewesen war.
Das Lager und die Umkleiden der Mitarbeiter waren über zwei Seiten via Treppen zu erreichen. Einmal in dem man vorne die Werkstatt durchquerte und zum Zweiten über den rückwärtigen Hof.
Letzteren Weg nahm nun Gabriel zurück, er sauste die Treppe hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal und rief schon auf halber Höhe: „Matthew macht uns Suppe! Ich hab ihn gefragt!“
Letzterer schloss die Tür gerade hinter sich und pustete sich einmal in die Hände um sie halbwegs wieder aufzuwärmen. Er rieb sie aneinander und setzte sich in Bewegung nach unten.
Die Kinder hatten sich in den zurückliegenden Wochen in richtige Wirbelwinde verwandelt, aus den stillen und verschreckten Mäuschen waren aufgeweckte und neugierige Wiesel geworden die überall herumwuselten und so laut waren, dass man sie unmöglich verfehlen konnte.
„Und was sagt er zu dem Hasen?“ wollte Constantin wissen woraufhin der Junge ihn ansah und einigermaßen empört kundtat was der Dunkelhaarige gesagt hatte. „Er meint, er sieht aus wie eine kleine Ratte! Dabei ist es ein Riesenhase...“
Constantin, der sich mit den Kindern große Mühe gab und nie auf die Idee gekommen wäre den schmächtigen Fang als etwas anderes zu bezeichnen als ein gigantisches Karnickel, blickte vollkommen perplex drein und kratzte sich am Hinterkopf.
„Was ist los, Constantin? Gefällt dir mein Vergleich nicht?“, Matthew kam die Treppe heruntergeschlendert als hätte er sich nicht die Füße abgefroren. „Was? Ich..nein?“ - er sah zu den Kindern und sagte dann leise, damit sie es nicht hörten: „Ich hätte das nie gesagt, er ist so stolz auf seinen Fang!“
„Jepp ist er... aber ich hab schon größere Ratten gesehen.“, entgegnete Matthew in normaler Lautstärke woraufhin Gabriel verzweifelt und empört nach Clarence rief.
„Clareeeeence! Matthew sagt, mein Hase ist klein!“
Cassie hatte sich das Karnickel mittlerweile genommen und zum Feuer gebracht, wo Jeremy saß und ihre gewaschenen Sachen sortierte und zum Trocknen aufhängte. Matthew nickte ihm zu und lächelte vor sich hin in dem Wissen, dass die Diskussion um den Hasen noch nicht vorbei war. Es war laut im Nebenraum wo die Kinder krakelten aber genauso sollten Kinder auch sein. Ausgelassen, fröhlich, sich sicher fühlend.
„Hab ich nicht!“, rief er in das andere Zimmer ohne das er Clarence seit dessen Wiederkehr schon gesehen hatte.
„Ich hab gesagt, dass ich schon größere Ratten gesehen habe als dieses Karnickel!“ - eine Bemerkung die Jeremy zum Lachen brachte.
In der Werkstatt Unterkunft gefunden zu haben, bedeutete gleichfalls weniger Privatsphäre. Es gab nicht genügend gut isolierte Räume um sich aufzuteilen und dadurch war es darin geendet, sich ums Feuer herum im größten Raum Schlafplätze zu errichten, ähnlich wie damals im Supermarkt.
Mit Fremden so eng auf eng zu sein fühlte sich noch immer komisch an und trotzdem war es unumgänglich um sich kennenzulernen und Vertrauen zueinander zu fassen. Das hier waren die Menschen, mit denen sie die nächsten Wochen - und im schlimmsten Fall sogar Monate - verbringen würden. Es war essentiell wichtig sich aufeinander verlassen zu können, dass jeder wusste wo sein Platz in der Gruppe war und wie er auf welche Weise zu funktionieren hatte, damit ihre Expedition durch den Schnee hinaus aus der Geisterstadt nicht im Tod endete.
Constantin, der als Angestellter gewohnt war Anweisungen Folge zu leisten, hatte sehr schnell begriffen seine Überlebenschancen stiegen mit erfahrenen Leuten, die wussten was sie taten. Er war gut darin Tätigkeiten umzusetzen, sich Handgriffe beibringen zu lassen und eine Grundstruktur in ihren Alltag zu bringen, auf die man sich verlassen konnte. Er kümmerte sich ums Feuer, um Jeremy, ums Abkochen des Wassers oder manchmal auch einfach nur um Ordnung, nachdem die Kinder alles durcheinander geworfen hatten.
Und Jeremy, dessen Bein von Clarence fachmännisch geschient worden war damit er es bald wenigstens teilbelasten konnte, hatte die Aufgaben für sich entdeckt, die man im Sitzen machen konnte. Kochen, Waschen, das flicken von Kleidung und reparieren von Gegensänden war dabei nur ein geringer Teil der Kleinigkeiten, die er zu erledigen versuchte, um ein wertvolles Teil der Gruppe zu sein.
Ein Teil, das man nicht einfach zurück lies, weil man ohne es schneller voran kam oder besser dran war.
„Clarence? Wann nimmst du mich wieder mit?“, wollte der wirre Lockenkopf wissen, der noch immer an seiner Tasche hing, obwohl sie nicht mehr mit Gabe darum kämpfen musste.
„Bald, Zoe. Dein Dad ist glaube ich noch etwas sauer auf mich, weil du letztes Mal mit der Schramme am Knie wieder zurück gekommen bist.“
„Aber die war nicht vom Monster!!“, zirpte sie empört und versuchte ihn an der Tasche etwas weiter zu sich herunter zu ziehen, da das Gespräch etwas unter vier Augen war. „Die war doch vom Klettern! Als du mir den Schubs gegeben hast und ich hängen geblieben bin!“
Verschwörerisch legte Claire den Finger auf seine Lippen und gab ihr ein leises Pssst! zu hören, wobei er sich tatsächlich zu ihr runter beugte.
„Das dürfen wir deinem Dad nicht verraten so lange er nicht nochmal danach fragt, sonst schimpft er mich. Er macht sich nur Sorgen um dich, du bist doch das Wertvollste das er hat.“
Besonders nachdem seine Frau und Zoes Mutter den Absturz des Zeppelins nicht überlebt hatte. Clarence konnte nicht, noch wollte er Jeremy wegen seiner Besorgnis um sein einziges Kind solche Vorwürfe machen. Doch die Kleine jedes Mal auf wann anders zu vertrösten, wurde zunehmend schwerer - vor allem weil Gabe und Lucy besser darin wurden in dem neu Gelernten, während Zoe immer weiter hinterher hing.
„Okay, ich schlag dir was vor. Komm her“, lockte er sie mit einer auffordernden Geste zu sich und senkte die Stimme weiter, immerhin waren sie in geheimer Mission unterwegs und vor allem sie war von den drei Kindern dasjenige, das etwaige Geheimnisse am besten für sich behalten konnte.
„Wenn du dich heute und morgen gut um Abel und Kain kümmerst und deinen Dad verlässlich fütterst, dann darfst du mir morgen Abend wieder beim Putzen helfen. Ist das was?“
„Was?!“, quietschte sie spitz und giggelte amüsiert auf, wobei sie sich die Hände theatralisch vor den Mund schlug. „Das hast du falsch rum gesagt!“
„Ich hab was?“, wollte Claire unwissend von ihr wissen und zuckte ratlos die Schultern.
„Na ich soll Abel und Kain füttern und mich um Daddy kümmern heute und morgen!! So rum muss es heißen.“
„Aha“, hob er die blonden Brauen wenig überrascht und nickte, um sie zu bekräftigen. „Dann weißt du ja also ganz genau, was du zu tun hast. Denkst du, das schafft du?“ - „Klar schaff ich das!“
Stolz schwellte sie die Brust, stellte dich etwas auf die Zehenspitzen um sich größer zu machen - so als hätte das tatsächlich etwas mit der Verantwortung zu tun die man übertragen bekam - und ließ sich nicht von Gabriels Geschreie ablenken, der die Treppe zurück hinab gerannt kam.
„Matthew macht uns Suppe! Ich hab ihn gefragt!“
„Ich hab heute auch schon gefüttert. Dein Schatzi hat mir was gegeben für die beiden“, neckend war sie feuchte Küsschen in die Luft und bewies damit mal wieder eindeutig, dass sie trotz ähnlichen Alters nicht halb so reif war wie Lucy. Es schien Zoe manchmal schwer zu fallen zu wissen was sie wollte, denn einerseits war Lucy als gleichaltriges Mädchen ein starker Punkt an dem sie sich orientieren wollte, andererseits tendierte sie sich noch sehr zum Kind. Oft saß sie mit Gabe einfach nur da und spielte oder jagte sich mit ihm durch die Werkstatt, ganz weit entfernt von dem jungen Fräulein das sie mimen wollte, wenn sie mal mit Lucy alleine war.
Und dann, wie wohl jedes andere Kind in ihrem Alter, fand sie zusammen mit Gabriel unheimliche Freude daran die Erwachsenen aufzuziehen wenn sie Zeichen der Zuneigung tauschten und ließ sich nicht lange bitten, Schatzi und Mausi verbal zu untermalen.
„Mein Schatzi werd ich nie mehr zu Gesicht bekommen, wenn ihr mich weiter so belagert.“
Damit sollte er wohl recht behalten, denn kaum ausgesprochen preschte der Junge wieder aus dem Gemeinschaftsraum heraus, dieses Mal mit leeren Händen: „Clareeeeence! Matthew sagt, mein Hase ist klein!“
„Lass dich nicht von dem ärgern, Gabe. Das ist der allerallergrößte unter den kleinen Hasen, das hab ich dir schon draußen im Feld gesagt“, wuschelte er ihm durchs Haar als er an ihm vorbei rannte und konnte nichts anderes tun als ihm tatenlos zuzusehen, wie der Junge sofort einen Haken schlug um zurück ans Feuer zu rennen.
„Clarence sagt, es ist der allerallergrößte Hase im ganzen Feld! Es gibt keinen größeren Monsterhasen in der ganzen Stadt! Grooaaaaar!!“
Ehe er sich versah, löste Zoe sich von seiner Tasche um Gabe zu folgen. Mit lautem Groaaar und Uhhhrrggh jagten sie sich die Treppe hinauf und in die oberen Räumlichkeiten, sodass sie sicher auf der anderen Treppe bald wieder raus kommen würden.
„Verrückte Bande…“, murmelte Clarence und schaffte es endlich, sich die Schnürung seiner Stiefel etwas zu lösen. Unter ihm hatte sich schon eine kleine Pfütze gebildet weil die Kinder ihm nicht mal eine Chance gelassen hatten den Schnee auszuklopfen, doch dafür war es nun wohl ganz zu spät.
Es war überflüssig geworden nach Cassie zu rufen und ihn wissen zu lassen wieder da zu sein, den Überraschungseffekt hatte Gabriel ihnen ja verdorben. Also hing er lediglich seinen Mantel über eine provisorische Latte die sie zur Garderobe gemacht hatten und schüttelte sich kurz heftig, denn die Kälte da draußen kroch einem so sehr in die Knochen, dass es eklig wurde.
Der Jäger des allergrößten Monsterhasen stob eine Runde um das Feuer, gefolgt von Zoe die ihn jagte.
„Nicht um das Feuer rennen! Wie oft noch?“ - erinnerte Matthew die beiden in strengerem
Tonfall. Beide flitzten auf und davon und ließen Matthew ebenso kopfschüttelnd zurück wie schon Clarence zuvor.
Die Kinder waren in ihrer Unbeschwertheit der Kitt der ihre Gruppe zusammenhielt.
Sicherlich litten sie unter den Umständen, auch wenn sie alle drei tapfer waren. Und dennoch war es gut, dass besonders Gabriel viel von Clarence eingespannt wurde. Er war der Jüngste der Kinder und er war so schüchtern und ängstlich gewesen, dass es nun umso schöner zu sehen war, wie sehr er an der Zuwendung durch den Blonden wuchs.
Matthew warf das abgezogene Kaninchen in eine Metallschüssel und füllte diese mit abgekochtem Wasser aus ihrem Vorrat.
Dann erst machte er sich daran sich die Jacke auszuziehen und sie über einen der Stühle am Feuer zu hängen damit sie trocknete und muckelig warm war, wenn er sie später wieder anzog.
„Wenn ich Zoe so sehe, dann könnte man glauben… es sei nichts passiert.“, sagte Jeremy plötzlich.
Er hatte schwer an dem Verlust seiner Frau zu knabbern und doch war er überglücklich, dass ihm seine Tochter geblieben war.
„Sie hat dich und sie weiß, dass du auf sie aufpasst und dass sie sicher ist.” erwiderte Matthew und schaute den Älteren an. Dieser nickte nachdenklich.
„Ich wünschte nur…wir wären nicht in dieses verdammte Luftschiff gestiegen.“ - „Damit bist du nicht allein. Aber es war nicht deine Schuld, es war niemandes Schuld. Ich weiß es ist hart aber…“, Matthew unterbrach sich kurz um die richtigen Worte zu finden, dann sagte er schließlich:
„…Zoe wird es überstehen. Sie ist nicht allein und das ist das wichtigste. Sie hat ihren Vater, sie hat Spielkameraden und wir passen auf sie auf. Sie packt das.“
Davon war er überzeugt. Jeremy seufzte und nickte bestätigend. „Wahrscheinlich hast du recht.“, erwiderte er und nickte nochmal bekräftigend.
„Hey Monsterhasenjäger!“, begrüßte Matthew seinen Mann mit einem Lächeln, als dieser den Raum betrat.
Sie hatten sich heute nur kurz gesehen denn ihre Aufgaben ließen sich besser und zügiger erledigen, teilten sie sich auf.
So war Clarence mit Gabe losgezogen um Tierfallen aufzustellen und die vom Vortag zu kontrollieren und falls nötig zu reparieren und Matthew hatte in den umliegenden Ruinen nach neuen brauchbaren Dingen gesucht. Zuerst allein und später mit Lucy, Kain und Abel.
Was sie gefunden hatten, brachten sie mithilfe eines provisorischen Hundeschlittens ins Lager wo Jeremy sich darum kümmerte die Dinge zu ordnen, zu verstauen oder auszusortieren.
Matthew wischte sich die vom Wasser feuchten Hände an seiner Jeans ab und kam auf den Größeren zu. Ungefragt und ungeniert legte er beide Hände an seine Wangen und reckte sich zu ihm empor um sich einen kurzen Kuss zu stehlen. Mehr war nicht drin, immerhin waren sie nicht alleine. Die Sache mit dem Allein-sein hatte sich seit ihrem Aufbruch aus den Appartements ohnehin weitestgehend erledigt, was die Sache zwar nicht leichter machte, aber dafür gesorgt hatte, dass sie eine gewisse Routine in Enthaltsamkeit gewonnen hatten.
„Du bist eiskalt…“, flüsterte er besorgt uns drückte kurz die Hände seines Mannes, ehe er sich löste und wieder auf Distanz ging.
Es war nicht leicht so wenig Zeit füreinander zu haben, aber aktuell konnten sie sich keine Liebeleien oder Sonderwünsche leisten. Ihr Vorankommen hing maßgeblich von ihrer Teamarbeit ab und ihr Team bestand eben nicht mehr nur aus ihnen. Insofern war Rücksichtnahme und Diskretion angezeigt, erst recht gegenüber Jeremy.
Also ging Cassie wieder zu der Arbeitsfläche und dem Behälter in dem das Kaninchen schwamm.
„Ich hab gehört ihr wart wieder bei Adrianna?“, die junge Frau hatte sich in der Nähe - aber natürlich außerhalb des Zauns - ein neues Lager „errichtet“. Nachdem Constantin ihr zum wiederholten Male bei etwas helfen wollte weil er glaubte, sie könne es nicht alleine, war die Rothaarige ausgeflippt. Nun lebte sie allein - um allen und vor allem sich selbst zu beweisen, dass ein halber Arm weniger kein Problem darstellte.
Matthew hatte die Auseinandersetzung und den Auszug nicht mitbekommen, aber er war danach einmal bei ihr gewesen um nach ihr zu sehen. Ein wenig erquicklicher Besuch, wenngleich sie ihn zumindest nicht zum Teufel gewünscht hatte.
„Wie geht’s ihr?“, erkundigte er sich dennoch nach der jungen Frau, während er das Kaninchen wusch und schließlich aus der Schüssel hob um es auf der Arbeitsplatte abzulegen.
In einem offenen Regal wo früher Bücher gestanden hatten, hatten sie ihre Vorräte aufgereiht und Cassie langte nach dem Säckchen mit Salz und einem zweiten mit Kräutern darin.
Das Wasser aus der Schale kippte er ins Feuer, was dieses mit einem garstigen Zischen kommentierte um sogleich weiter zu lodern. Den Hasen nun mit dem Messer zerlegend, balsamierte Matthew die einzelnen Stücke anschließend mit Salz und Kräutern und ließ sie zurück in die Schale gleiten.
Dann langte er nach einem Glas mit Schraubverschluss und ließ in einen zweiten Behälter etwas von ihrem Reis rieseln. Ein kostbares Gut von dem sie zum Glück einiges hatten - was nichts daran änderte, dass sie es streng rationierten.
„Nimm nicht zu viel.“, mahnte Jeremy und Cassie nickte, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Geht klar, Chef.“
In der oberen Etage holperte und polterte es, ein untrügliches Zeichen dafür, dass Zoe und Gabriel mal wieder die Bänke der Umkleiden verschoben, um sich daraus einen Schützengraben zu bauen. Vorgestern hatten sie Schneebälle in die Werkstatt geschmuggelt um sich dort oben zu bewerfen und nicht nur die verschobenen Bänke hatten gewirkt wie in einem Kriegsschauplatz, sondern auch der Boden, nachdem alles geschmolzen war.
Es stimmte, wenn es plötzlich leise im Haus war, dann heckten Kinder in der Regel die unmöglichsten Dinge aus und auch die eisigen Wurfgeschosse waren in aller Heimlichkeit in dieses Gebäude gebracht worden.
Umso lieber hörte Clarence die Rabauken schreien und poltern, denn wer tobte, der tuschelte nicht mit jemand anderem um geheime Pläne miteinander auszutauschen - und wer tobte, der ließ den Erwachsenen auch fünf Minuten Zeit, umeinander zu begrüßen.
Kaum hörte er die Stimme seines Mannes für ihn ertönen und sah, wie Cassie alles stehen und liegen ließ um zu ihm hinüber zu kommen, legte sich ein glückliches Lächeln über seine Lippen, die mir nichts dir nichts auch schon vereinnahmt wurden.
Die fremden Finger auf seinen Wangen sollten sich warm und vertraut anfühlen, doch die Kälte in den Fingerspitzen des Dunkelhaarigen sagten ihm, dass wohl auch Matthew bis eben noch draußen in der Kälte gewesen war. Er fühlte sich wie eine Eisbeule die die andere küsste, als ihre Lippen das einzige an ihnen war das sich nicht verfroren anfühlte und obwohl es ihn nicht wärmte, schmiegte er seine Wangen für einen Moment zufrieden in die Hände des anderen, der ihn vertraut und herzlich empfing.
„Hey Monsterhasenzubereiter“, neckte er seinen Wohltäter schmunzelnd, im Wissen wie kitschig sich das Ganze anhören musste. Doch das war okay, genauso wie der Kuss und die zärtliche Begrüßung zwischen ihnen, die sich schon seit dem Absturz eingebürgert hatten. Wenn man sich den ganzen Tag nicht sah, dann war jede Sekunde miteinander wichtig und von denen hatten sie nur noch so wenig, dass es definitiv verboten gehörte.
Nur selten konnten sie morgens noch ein paar Minuten beieinander liegen bleiben, weil die Kinder so viel Radau machten, dass man es gar nicht aushielt die Augen noch mal zu zu machen. Frühstück und auch die anderen Mahlzeiten wurde mehr in der Gruppe geredet und diskutiert als sich süße Liebeleien ins Ohr zu flüstern und selbst am Rest des Tages waren sie oft so weit verstreut, dass Clarence sich manchmal fragte, ob sein Mann denn tatsächlich den Zeppelin überlebt hatte und noch bei ihm war.
Er vermisste Matthew und das auf eine so essentielle Weise, wie er es das letzte Mal hatte in Coral Valley tun müssen, als der Goldjunge ausgezogen war, um den ganzen Tag lang für die Hurenkönigin zu arbeiten.
„Du bist auch eiskalt. Hat Lucy dir wieder draußen gezeigt wo’s langgeht?“, wollte er wissen und schmiegte seine eiskalte Nasenspitze kurz gegen die des Jüngeren, bevor sie sich auch schon wieder voneinander lösten. Es war seltsam sich vor Jeremy nah zu sein, wenn auch nicht immer. Besonders bei einem Kuss fühlte er sich manchmal, als würden die Blicke von Zoes Vater ihm den Rücken durchbohren und ihn aufspießen wollen und an anderen Tagen wirkte der Mann beinahe wohlwollend, so als gönnte er ihnen jede Minute zu zweit, wo er selbst doch keine mehr mit seiner Frau hatte.
Welcher dieser Tage heute war, das wusste Claire noch nicht ganz sicher zu sagen, weshalb er widerwillig die Hände des anderen aus seinen gleiten ließ, nachdem Cassie sie ihm gedrückt hatte.
Das letzte Mal hatte er sich mit Zärtlichkeiten so zurück halten müssen, als er noch Zuhause gelebt hatte und für einen Kuss mit einem anderen Mann auf dem Scheiterhaufen oder wenigstens dem Pranger geendet wäre. So schnell holte einen also die Vergangenheit ein.
Müde legte er seine Tasche am Feuer ab, rieb sich die Hände darüber und versuchte sich für einen Moment aufzuwärmen, so gut es eben ging. Gabe hatte sein Frieren schon vergessen, sobald er seine Freundin Zoe erblickt hatte und auch Clarence würde sein rot gefrorenes Näschen sicher überleben, nun wo er wieder bei Matthew war.
„Es geht ihr den Umständen entsprechend. So gut, wie es einem Dickkopf eben geht, der sein Feuer nicht mal für vierundzwanzig Stunden am brennen halten kann.“
Nein, das war noch nie Adriannas Stärke gewesen und sie würde es jetzt noch weniger werden, wo sie eine Hand weniger zur Verfügung hatte um das Feuerholz aufzulegen. Sie war ein alter sturer Besen und wenn sie sich in den kommenden Jahren nicht änderte, würde sie vermutlich alleine und verbittert irgendwo in der Wildnis sterben, einfach weil sie zu eitel war um nach Hilfe zu fragen.
„Ich soll dir ausrichten, das Essen gestern war fad und auf den Klamotten die du ihr raus gesucht hast, waren Flecken. Wenn das ihre größten Probleme sind, sollten wir uns um sie wirklich keine Sorgen machen, sondern unsere Energie für etwas sinnigeres sparen…“, er warf Cassie einen vielsagenden Blick zu, in den Jeremy sich missgestimmt einmischte.
„Wenn ihr das Essen nicht schmeckt sollte sie einfach still sein, wenn sie es schon annimmt. Ich finde wir geben ihr keinen Grund um sich jedes Mal zu beschweren, wenn einer von uns bei ihr ist“, stellte er seine Meinung klar. Claire musste für einen Moment überlegen, ob er mit einer von uns jemand anderen außer Matthew und ihn meinte, doch er konnte sich nicht daran erinnern, wer von ihnen sonst bei Addy gewesen war um sie zu beschwichtigen.
„Ich weiß, sie trägt nicht viel zur Gruppe bei…“ - das war zwar nicht seine Meinung sondern einzig die Jeremys, aber vielleicht half es, dessen Worte von vor ihrem heutigen Aufbruch aufzugreifen. „Aber gib ihr noch etwas Zeit. Sie muss sich neu sortieren und das musstest du auch, niemand sollte hier irgendjemanden drängen.“
Es gab genug Tage, an denen der Verletzte noch um seine Frau trauerte, unfähig an diesen Tagen mehr zu erledigen als sich um sich selbst und seine Tochter zu kümmern. Adrianna hatte auch etwas verloren und verarbeitete ihre Trauer auf ihre eigene Weise, so wie sie es immer tat, wenn sie etwas beschäftigte.
„Jeder von uns geht mit der Situation anders um. Wenn sie so weit ist, trägt sie mehr bei als wir alle zusammen. Glaub mir, ich kenne das Miststück.“
„Clarence hat Miststück gesagt!“, platzte es aus Zoe heraus, die augenblicklich von Gabe hinter dem Türrahmen hervor gestoßen wurde, um sich zu erkennen zu geben. Offensichtlich hatten die Kleinen gelauscht und zwar gut genug, um sich Claires loses Mundwerk abzuhören - wofür er sich später sicher noch die passende Schelle von Jeremy abholen durfte.
„Das ist kein Grund, ihm alles nachzuäffen“, erhob sich der Älteste der Truppe schwerfällig von seinem Platz, klemmte sich die eigens für ihn gebauten Gehhilfen unter die Arme und versuchte seinen geschienten Fuß vom Boden fern zu halten, was ihm nicht immer gut gelang. „Ich glaube, das junge Fräulein hat noch ein paar Sachen auszusortieren, die Matthew ihm mitgebracht hat.“
„Waaas, jetzt?!“
„Ja, jetzt“, befahl er sie zu ihren Sachen und somit aus dem Gespräch weg, noch bevor sich der obszöne Begriff allzu sehr einbrannte.
Mit Gabe im Schlepptau, der von Modenschau am allerwenigsten verstand, blickte Clarence den dreien irritiert hinterher. Man sollte ja meinen, er selbst als braver Christenjunge habe schon ein Problem wenn die Kinder unangebrachte Wörter in den Mund nahmen, doch Jeremy war bei dem Thema oft noch mal einen ganzen Zacken strenger, was selbst Clarence verwunderte.
Letztlich aber war es ihm nur recht das Spielfeld geräumt zu sehen, denn so bot sich genug Raum für ihn und Matthew, um sich ein wenig besser zu begrüßen als eben noch.
Es dauerte keine Sekunde, da hatte der Blonde die Gunst der Stunde ergriffen und die kurzen Distanz zwischen ihnen überbrückt, um seine Arme von hinten um den Jüngeren zu schmiegen. Ihm war noch immer kalt und er war ein Braunbär, kein Polarbär, was es umso dringender machte gehegt und gepflegt zu werden.
„Ich befürchte, du musst mich wärmen“, erkannte er in gespielt bekümmertem Tonfall und legte das Kinn auf Cassies Schulter ab, um an ihm vorbei zum eingelegten Reis und deprimiert zu den Monsterhasenstücken zu schauen.
„Wir gehen seit Tagen raus und alles was wir bekommen, ist eine nackte Ratte. Ich glaube, die Stadt ist verflucht“, murmelte er leise und zurrte die Arme etwas enger um Cassie. „Ich meine… es sollte hier verwildert sein und vor Tieren wimmeln. Aber man findet nicht mal großartig Spuren draußen. Findest du das nicht seltsam?“
Und das was man fand, war klein und wirkte elendig. Das konnte am plötzlich eingebrochenen Winter liegen, der den Tieren die Nahrung geraubt hatte, oder aber einfach an der schlechten Aura, die über diesem Ort lag. Eine größere Strecke konnte man mit so wenig Proviant kaum zurücklegen.
Aber darüber wollte er sich momentan noch keine Gedanken machen, immerhin waren sie noch gar nicht so weit. Stattdessen drückte er einen warmen Kuss auf die Wange seines Mannes und brummte leise, glücklich wieder bei ihm zu sein.
„Wie war dein Tag? Ich hab gehört, dein Unterricht trägt endlich Früchte?“
Mit Lucy und den Hunden unterwegs gewesen zu sein, war nicht schlecht gewesen. Der Tag hätte wahrlich übler sein können und auch das Mädchen beim Schießen zu unterrichten hatte er durchaus gern gemacht.
Doch als er Clarence‘ Lächeln sah und ihn hörte wie er ihn Monsterhasenzubereiter nannte, war der Tag zum ersten Mal perfekt.
Jetzt würden sie mit ein bisschen Glück die restliche Zeit bis zum Abend zusammen sein können, zwar nicht alleine aber immerhin besser als getrennter Wege zu gehen.
Es war erstaunlich wie wenig es für Matthew brauchte um ihn glücklich zu machen. Es reichte, wenn er seinen Frostbären lächeln sah und wusste, dass dieses Schmunzeln nur ihm alleine galt.
Nur zu gerne hätte er den Moment länger ausgekostet, hätte ein Weilchen länger bei ihm gestanden, ihn umarmt, geküsst, den zarten Stupser mit der Nase erwidert, den Clarence ihm gab.
Aber dieser Ort war nicht der richtige dafür und manchmal fragte sich Matthew resigniert, ob es je wieder anders wurde. So lange sie in dieser Stadt festsaßen wahrscheinlich nicht und was auf sie wartete wenn sie einmal jenen Ort hinter sich gelassen hatten… das wusste niemand.
Eine Eiswüste? Offenes, eingeschneites Land? Wälder?
Egal was es war, wenn der Schnee nicht nachließ, dann würden sie kaum vorankommen und jeder einzelne Schritt würde zur Kraftprobe werden. Für sie beide würde es irgendwie vorangehen - zumindest eine Weile. Aber für die Kinder? Für Jeremy und Adrianna?
Matthew hatte seine Zweifel - die er aber nur mit Clarence besprach, nicht mit dem Rest und die er folglich jetzt nicht zum Ausdruck brachte.
„Lucy hat sich gut angestellt, wie immer.“ - das Mädchen im Nebenraum rief daraufhin zu ihnen herüber:
„Du musst das nicht sagen, nur weil du weißt ich höre zu!“
Matthew, der tatsächlich wusste, dass sie sie beide hören konnte, unterdrückte ein Seufzen und erwiderte:
„Ich sage es, weil es wahr ist. Nicht weil du uns hörst!“
Das stimmte zumindest halb - und halb war gut genug für diesen Tag.
Lucy war ein ernstes, stilles Mädchen. Sie war aufmerksam und misstrauisch und sie erinnerte Matthew an sich selbst.
Als er in ihrem Alter gewesen war, hatte er an nichts und niemanden mehr geglaubt, nur daran, dass es keine Gerechtigkeit gab. Es war nicht das selbe Maß an Misstrauen und Verbitterung bei Lucy und doch gab es Momente in denen sie alle Erwachsenen von sich wies, jedes Angebot ausschlug, jeden Versuch sich ihr irgendwie anzunähern abblockte und alles anzweifelte was geschah.
Einen wirklichen Draht zu ihr zu bekommen war etwas, dass Matthew in den letzten Wochen noch immer nicht gelungen war.
Mit halbem Ohr verfolgte Matthew im nachfolgenden das Gespräch zwischen Clarence und Jeremy während er heimlich noch etwas Reis in die Schüssel kippte.
Erst dann füllte er diese mit Wasser auf und stellte sie zur Seite. Lucy erwiderte nichts mehr und somit beteiligte sich Matthew schließlich wieder am Gespräch beider Männer.
Jeremy kam mit Adriannas aufbrausender Art nicht gut klar und er neigte dazu, damit auch nicht hinterm Berg zu halten.
„Dass sie überhaupt noch lebt verdankt sie Matthew. Sie hat kein Recht sich so aufzuführen. Wir alle sitzen im selben Boot.“, verkündete Jeremy grantig.
„Wenn sie sagt, dass das Essen fad war dann ist das eigentlich ein Kompliment.“, mischte sich Matthew ein, im Versuch die Wogen wieder etwas zu glätten.
„Sie kann nicht sagen ‚hat geschmeckt und danke für die Sachen.‘ - das ist nicht ihre Art…schätze ich.“, schulterzuckend wandte er sich wieder dem Karnickel zu und verließ kurz den Raum um nach oben zu gehen und dort - vom Fensterbrett, bedeckt von Frost- ein Stück in Papier eingeschlagenen Speck zu holen.
Das Bauchfett stammte von einem der exotischen, hirschartigen Tiere die an Board des Zeppelins gewesen waren und es nicht geschafft hatten.
Mit einem Messer schnitt er einen Streifen von dem weißlich-rosigen Stück ab und verpackte den Rest wieder ordentlich. Gabe und Zoe flitzten derweil die Treppe vor ihm herunter und machten dabei einen solchen Radau, dass es an ein Wunder grenzte, dass die Toten der Stadt nicht wieder erwachten um sich zu beschweren.
Wieder unten angekommen wurden die zwei dann gerade Zeuge wie Clarence das unflätige Wort Miststück gebrauchte und zwar auch noch im Zusammenhang mit Adrianna.
Cassie manövrierte sich an beiden Kindern vorbei und blickte zu Clarence, ihm wortlos sagend ‚Das gibt noch Ärger von Jeremy‘ - nicht das Miststück ein ernstzunehmendes Schimpfwort war laut seiner Definition, aber der Älteste der Gruppe sah das garantiert anders.
Ohne sich nochmal in das Gespräch einzumischen, machte er sich daran den Streifen Speck in kleine Würfel zu schneiden, die er dann zu dem Kaninchen in den Behälter warf als sich plötzlich Clarence‘ Arme von hinten um ihn legten.
Sofort und völlig unwillkürlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht und in seinem Bauch setzte ein warmes Kribbeln ein.
„Und ich befürchte, du kannst dir später noch was anhören für deine unflätige Sprache.“, er drehte den Kopf ein Stück zur Seite und stippte dem Wildling ein Küsschen auf die Nase. „Mein armes Eisbärchen…sogar deine Nase ist kalt.“
Wenn es nach ihm ginge, dann würden sie sich nun einen großen Topf Wasser überm Feuer erhitzen, sich so etwas wie einen Zuber suchen und sich ein wohlig warmes Bad einlassen. Aber auch diesen Luxus hatten sie in ihrer letzten Unterkunft zurückgelassen.
Nachdenklich schnitt er den Rest von dem gefrorenen Speck klein und warf ihn mit Hilfe der Messerkante zu der nackten Ratte.
„Verflucht…tze… hör auf mit diesem abergläubischen Quatsch. Wir wissen was da draußen ist… und ein so großes Ding…“, dass er zögerte lag nicht etwa daran, dass er Scheu hatte vor Clarence offen zu reden, sondern daran, dass er sichergehen wollte keine kleinen Zuhörer zu haben.
Aber im Nebenraum hörte er Constantin mit Lucy reden, weshalb er schließlich den Satz leiser sprechend beendete.
„…das hat sicher einen verdammten Riesenhunger. So lange das Ding da draußen ist, werden wir hier kein größeres Tier zu Gesicht bekommen als diesen Hasen.“
Was mau war und sie über kurz oder lang in Schwierigkeiten bringen würde.
„Lucy und ich haben Spuren von dem Vieh gesehen. Auf dem Dach der Shopping Island - wir wollten eigentlich rein, aber irgendwie… hatte ich kein gutes Gefühl dabei reinzugehen. Zu unübersichtlich…“
Die Shopping Island - Hier findest Du alles! - war ein riesiger Einkaufstempel mit dutzenden Geschäften darin. Die Glastüren waren größtenteils alle noch intakt und Matthew war einmal allein in das Foyer eingedrungen.
Dort hatte ein riesiger verwahrloster Springbrunnen gestanden unter einer gigantischen Glaskuppel auf dem Dach durch die Sonnenlicht gefallen war. Ein Baum hatte sich zur Lichtquelle gereckt und mehrere Schlingpflanzen hatten sattgrün von einem Loch im Glas hinunter gehangen. Die Öffnung selbst war fast vollständig überwuchert, sodass es im Inneren des Gebäudes ungewöhnlich warm gewesen war, da die Witterung keine Chance gehabt hatte an diesem Ort zu wüten.
Es war ein magischer, faszinierender Moment gewesen und die unzähligen Läden hatten ihn gelockt sich umzusehen. Aber gleichzeitig hatte ihn sein Instinkt davor gewarnt weiterzugehen. Weil irgendetwas nicht richtig war. Und so war es auch heute mit Lucy gewesen, weshalb sie über eine der äußeren Feuertreppen nach oben geklettert waren statt hineinzugehen.
„Richtung Osten… da ist irgendetwas. Eine komische…Metallschlange oder so. Und ein Ding, das aussieht wie ein Wasserrad. Keine Ahnung… aber dort ringsherum waren alle Gebäude eingerissen und auf der breiten Straße war eine richtige Schneise im Schnee… den Ort sollten wir unbedingt meiden.“
Er wischte sich die Hände an einem Baumwolltuch ab und drehte sich in der Umarmung seines Bären zu diesem um, ihn nun seinerseits auch umarmend.
„Wenn ihr da draußen seid müsst ihr auf euch aufpassen. Ich weiß, dass du das tust, aber ich mach mir trotzdem Sorgen. Wir müssen aus dieser Stadt raus, aber gleichzeitig wissen wir nicht was danach kommt.“
Missmutig sah er zu Clarence empor und betrachtete seinen schönen Mann, den er in den letzten zwei Wochen viel zu selten zu Gesicht bekam.
„Ich bin ziemlich sicher, dass Lucy ahnt, dass wir Schwierigkeiten bekommen könnten, wenn wir nicht bald neue Vorräte finden.“ Sie war klug und aufmerksam und ließ sich nicht so leicht vom Wesentlichen ablenken wie es bei Gabriel und Zoe klappte.
„Sie gibt sich Mühe beim Bogenschießen. Hat heute zum ersten Mal getroffen… aber davor wollte sie heute schon zweimal aufgeben.“, er lächelte schief. „Sie ist hitzköpfig.“
Und ihr fehlte der Fokus und der Wille es wirklich unbedingt zu können - zumindest noch. Beides ließ sich trainieren.
„Erzähl mir was du mit Gabe angestellt hast. Ihr wart Fallen kontrollieren und bei Adrianna… das dauert für gewöhnlich zwei bis drei Stunden. Höchstens vier. Aber das erklärt nicht wo ihr den restlichen Nachmittag wart.“, nun lächelte er eines seiner gewinnenden ich weiß das ich Recht habe Lächeln, welches ihn ein bisschen eingebildet und dennoch auf charmante Weise frech aussehen ließ.
„Na los… raus damit. Versuch‘ mich mit einer zweifellos ausgedachten Geschichte zu überzeugen.“, forderte er grinsend in dem Wissen, dass Clarence irgendetwas vor ihm verbergen wollte.
Auf die Lippen des Blonden hatte sich ein kontinuierliches Schmunzeln gelegt. Er mochte es zwar vor sich hin zu sinnieren oder manchmal fernab der Wege zu gehen um seine Ruhe zu haben - aber er mochte es eben auch zu schweigen und dabei dem Leben um sich herum zu lauschen.
In Lucy, die gescheit und erst sein konnte, tobte scheinbar unbemerkt die Pubertät. Sie versuchte ihre Gefühlsschwankungen oft unter Kontrolle zur halten und am Besteng gelang ihr das dann wenn ihr Bruder bei ihr war, für den sie selbstverständlich die Verantwortung übernahm. Manchmal wirkte sie fast wie eine kleine Glucke, so sehr hatte sie Gabe vor allem zu Beginn unter ihre Fittiche genommen, doch wirklich verübeln konnte man ihr das nicht. Er war alles was sie im Moment noch besaß und deshalb hing sie genauso an dem Kleinen, wie Clarence an seinem Kleinen Hang.
Trotzdem, je sicherer und wohler sie sich in der kleiner gewordenen Gruppe fühlte, umso beinahe schnippische Seiten zeigte sie dann und wann. Sie gab Widerworte aus einem anderen Raum heraus, tat ihre Meinung kund wenn ihr ein Plan nicht zu hundert Prozent gefiel und zeigte zunehmend ein anderes Gesicht außer der behütenden großen Schwester, die sie war.
Und Clarence liebte, wie sie sich langsam aus ihrer stillen Deckung traute.
Völlig ungeahnt brachte das Mädchen in Gesprächen den fehlenden Pfeffer mit ein den es brauchte, um daraus eine hitzige Diskussion entstehen zu lassen. Sie war gewieft, aufmerksam und schlau, das hörte man an ihren blitzgescheiten Einwänden. Der Christ hatte damals - zumindest im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten - immer versucht, aus seinen Mädchen selbstbewusste Charaktere mit eigener Meinung zu formen. Sie hatten junge Frauen werden sollen, die zwar das letzte Wort ihres künftigen Mannes respektierten, trotzdem aber auf konstruktiven Konfrontationskurs mit ihm gingen. Manchmal erkannte er in Lucy‘s wohldosiert frechen Antworten seine kleine Harper wieder, wie sie altklug ihre Grenzen auslotete um zu erproben, wie weit sie bei ihrem Vater gehen konnte. Am Ende hatte sie aber niemals falsch gelegen und an manchen Tagen war es Claire sogar schwer gefallen, seine Tochter für das zu rügen, was sie ganz richtig erkannt hatte.
Er verstand Lucy‘s teils abwehrende Art, mit der sie alle Erwachsenen von sich stieß und nicht mal Matthew so richtig an sich heran lassen wollte, obwohl er die meisten Zeit mit ihr verbrachte. Von fremden erwachsenen Männern umgeben zu sein und dabei im Zweifelsfall den Bruder und sich selbst vor diesen schützen zu müssen, war ein Gefühl, das sie sicher selbst nach den vielen Tagen miteinander nicht losließ und nun noch weniger, falls sie Miguels offensichtliche Blicke mitbekommen hatte.
Doch so sehr ihn diese Sache noch immer beschäftigte, so wenig wollte er im Moment darüber nachdenken, nun wo er endlich wieder im Warmen und bei Matthew war.
Wohlig und vertraut schmiegte sich der Leib des Kleineren in seine Arme und der kleine Kuss ließ seine Nasenspitze sachte kitzeln. Egal wo sie waren, wenn er ein oder zwei Minuten mit Cassie hatte, war die Welt wieder in Ordnung. Sein Zuhause war da, wo sein Mann war und wenn das in einer alten staubigen Werkstatt war, dann sollte es eben so sein.
Die Finger seiner Hände hinter dem Rücken des Jüngeren verschränkt, damit er ihn nicht so schnell wieder gehen lassen musste, lauschte er dem leisen Flüstern seines Böckchens und versuchte sich angestrengt auf dessen Worte zu konzentrieren.
Stimme es, was Cassie da sagte?
So lange das Ding da draußen ist… - werden wir… - Spuren von dem Vieh…sehen… - irgendwie… hatte ich… gutes Gefühl dabei. - Richtung Osten… - Den Ort sollten wir unbedingt… - finden!
Ja, das machte Sinn.
„Das Monster ist im Osten und hinterlässt Spuren? Meinst du, Adrianna und ich sollten uns das mal anschauen?“, setzte er die für ihn wichtigen Worte frei zusammen und verstand Lucy‘s und Matthews Erkundung so, wie sie ganz sehr eventuell vielleicht sicher gemeint war: Nämlich genau richtig.
„Die freut sich sicher, wenn wir das Ding jagen gehen. Ich hatte mir auch schon überlegt, dass das eine gute Gelegenheit ist um-… Schon gut, schon gut…!“ - Seufzend intervenierte er, denn Cassies Blick zu folge, fand der seine freie Interpretation nicht mal annähernd so lustig wie Claire selbst, dessen unüberlegter Ausflug ins Spinnenparadies doch auch ein unheimlicher Geniestreich gewesen war… wobei die Betonung hier eher auf unheimlich lag statt auf Genie.
„War nur ein Scherz. Keine unnötigen Abenteuer für den guten alten Clarence. Ich versteh schon“, missbilligend zog er eine Schnute, die ihm die Gunst der Stunde eröffnete, seinem Mann einen kurzen Kuss zu klauben - ob der nun wollte oder nicht. Er war nicht umsonst stundenlang so tapfer durch die Eiswüste gewandert, seine Belohnung für diesen anstrengenden Akt hatte er sich ja wohl redlich verdient.
„Ich hab mich bewusst mit Gabe von der Zone weg gehalten. Der Kleine kann seinen Schnabel nur so lange dicht halten, wie es ihm von Nutzen ist. Wenn er Spuren von dem Vieh sieht, erzählt er garantiert seiner Schwester davon und dann bekommen wir die Kinder nie mehr hier raus.“
Er sah sie schon jetzt voller Angst irgendwo unter einer Treppe kauern, unfähig sich auch nur einen Zentimeter weiter zu bewegen. Dann konnten sie hier ansiedeln bis sie grau waren oder das Ding erlegten, mehr Optionen standen nicht zur Auswahl.
Für einen Moment mustere er Cassie und suchte seinen Mann auf bislang unbekannte Schrammen ab, denn für den Bruchteil einer Sekunde befürchtete Claire, als könne sein Taugenichts eigenständig versucht haben, sich um das Problem zu kümmern. Doch bis auf die bekannten Macken war keine neue hinzu gekommen, was ihn sich wieder etwas in der Umarmung entspannen ließ.
„Falls du willst, trainiere ich das nächste Mal mit. Wenn sie sieht wie miserabel ich bin, spornt sie das vielleicht an“, schlug er uneigennützig dem Lehrmeister vor, immerhin hatte der Blonde das mit Pfeil und Bogen schon nach deutlich kürzerer Zeit als das Mädchen aufgegeben. Natürlich wäre es ratsam gewesen es von Cassie zu lernen, immerhin ließ sich verloren in der Pampa noch eher ein Pfeil aus einem Ast schnitzen als eine Kugel aus dem Boden stampfen. Doch Clarence‘ Interesse daran hatte nicht mal bis zum ersten richtigen Treffer ausgereicht und sein Abbruch des Trainings war womöglich ganz gut so, ansonsten würde er vermutlich heute noch üben - denn mit dem Lesenlernen tat er sich genauso schwer.
Viel leichter fiel es hingegen Cassie ihm alles an der Nasenspitze abzulesen, was der Jäger auszuhecken versuchte… vorausgesetzt, er heckte denn tatsächlich etwas aus. Das war bislang noch nichts weiter als üble Nachrede mit der Cassie versuchte ihn wissentlich zu diffamieren, denn beweisen konnte er ihm kaum etwas, das wusste Clarence.
„Aha. Gut zu wissen, dass du weißt, wie lange ich für irgendwas brauche. Führst du auch noch Buch über andere Sachen von mir?“, Ablenkung durch Angriff würde nicht funktionieren, das wusste der Blonde aus Erfahrung. Aber im Gegenzug zu Matthew stoppte er selbst nicht die Zeit wenn sein Mann los ging.
„Vielleicht musste Gabe ja austreten? Und ich hab ihm ein geeignetes Fleckchen gesucht, damit er sich mitten im Schnee nicht den Hintern abfriert?“ - Oder noch Schlimmeres, jedenfalls Claire hätte davor Angst?
„Aber falls es dich beruhigt, Mister Hinterherspionierer, wir haben die Städtische Bibliothek gesucht und gefunden, damit die Kinder sich langsam mal etwas anderes anhören können als Captain Ahab und seinen dicken Wal. Ich kann das halbe Buch langsam auswendig und Fische die anderen die Beine abreißen, sind keine passende Abendlektüre für Gabe und Zoe. Wenn du brav bist, bringe ich dir nächstes Mal ein Buch übers Klöppeln mit, dann kannst du dir endlich neue Hobbys anschaffen statt Spionage und dem Schlechtreden deines fleißigen Manns.“
Nicht, dass er sich Cassie tatsächlich mit Handarbeiten vorstellen könnte, aber lustig war die Vorstellung schon.
„Sei nicht immer so neugierig, das bekommt dir nicht gut und macht Falten“, zog Claire ihn auf und kämmte dem Jüngeren mit den Fingern gegen die Wuchsrichtung durchs Haar, was Matthew schlagartig ungewohnt zottelig und zerzaust aussehen ließ. „Wenn du mir nicht glaubst, dann guck in meiner Tasche nach. Ich hab nur das Beste aus der Abteilung für Sieben- bis Zehnjährige mitgenommen.“
Das hatte zumindest das Schild über dem Grabbeltisch gesagt, auf dem genau das draufgestanden hatte.
Man konnte von den beiden jungen Männern behaupten was man wollte, aber seit ihrer Hochzeit und den darauffolgenden Wochen hatten sie etwas immer mehr abgelegt: ihre Ernsthaftigkeit im Umgang miteinander.
Es verging kaum ein Tag an dem sie sich nicht gegenseitig aufzogen, herumflachsten, den anderen neckten.
Und zweifellos wollte Clarence mit seiner Bemerkung auch jetzt nichts weiter als Matthew aufziehen und ein bisschen aus der Reserve locken.
Aber bei diesem Thema verstand der Jüngere ausnahmsweise keinen Spaß.
Der Ausflug in das Spinnenfeld mochte Monate zurückliegen und ihre Blessuren waren längst verheilt, aber Matthew hatte den Moment nicht vergessen, in dem ihm unumstößlich klar geworden war, dass sein Bär gestorben war. Einfach so. Unwiederbringlich.
All ihre Pläne, alberner Wünsche und Träume waren ausgeträumt gewesen - und auch wenn er sich letztlich geirrt hatte und Clarence noch am Leben gewesen war, so ließ sich die Angst nicht vergessen.
Zumal es nicht das letzte Mal gewesen war da Matthew mit dem Tod des Blonden konfrontiert worden war.
Dass er auf den Vorschlag das Monster zu töten - mithilfe der einarmigen Adrianna- dementsprechend angefressen reagierte, dass hätte man leicht absehen können.
Tadelnd stach Matthew dem dämlichen Kauz vor sich mit dem Zeigefinger in die Seite und als dieser intuitiv nach unten sah und zuckte, schnippte Cassie ihm gleich noch mit zwei Fingern gegen die Nase.
„Klar, zieh los und erledige das Vieh. Adrianna fehlt ein Arm und dir fehlt gesunder Menschenverstand. Ihr wärt sicher ein Traumpaar.“ - setzte er gallig nach, obwohl Clarence schon eingelenkt hatte.
Manchmal musste sich Cassie unwillkürlich fragen, ob dieser Kerl noch bei Trost war.
Sie kannten sich noch kein halbes Leben, nicht einmal annähernd. Und doch hatten sie einander schon so oft fast verloren, dass es ein Unding war darüber zu scherzen sich sinnlos in neue Gefahr zu stürzen.
Mit garstigem Funkeln in den Augen sah er zu Clarence hinauf und schickte sich an, sich in der Umarmung wieder von ihm wegzudrehen. Doch die verschränkten Finger hinter seinem Rücken vereitelten sein Vorhaben. Clarence hatte diese Reaktion offenbar kommen sehen. Cassie seufzte, gab auf und blickte mit verärgertem Funkeln in den Augen zu dem Wildling auf. Und dieser erdreistete sich tatsächlich auch noch einen Kuss von ihm zu stehlen.
Clarence lenkte zwar ein, doch Cassie ließ es sich nicht nehmen nach den Lippen des Größeren zu haschen um - wie ein verärgertes kleines Tier - hineinzubeißen.
Auf das der Hüne seinen blöden Scherz hoffentlich bereute.
Ob er das tat oder nicht blieb unausgesprochen, denn der Größere wechselte schließlich das Thema und schlug den Bogen zurück zu Lucy und letztlich zu seinem Ausflug.
Skeptisch betrachtete Cassie seinen Mann, welcher in den letzten Wochen regelmäßig für die Kinder aus Moby Dick vorlas.
„Ich glaube nicht, dass Lucy motiviert wäre, wenn sie sieht wie ungeschickt du dich anstellst. Und was deinen Ausflug mit Gabe zur Bibliothek betrifft…“ - er neigte den Kopf etwas zur Seite und musterte Clarence forschend.
“… ich lass das vorerst mal so stehen. Und außerdem ist es keine Spioniererei, wenn mir Ungereimtheiten in den zeitlichen Abläufen deiner Tagesgestaltung auffallen.“, nun grinste er wieder, wissend, dass er doch irgendwie spioniert hatte. Aber er würde es niemals so nennen.
„Außerdem…“… Cassie löste seine Hände von Clarence‘ Rücken, blickte in der Umarmung des Blonden über die Schulter zurück zur Arbeitsfläche und langte nach dem Baumwolltuch. Damit schob er alle Schüsseln und Zutaten zur Seite und wischte gleich das Wasser von der Fläche. Dann ging er einen halben Schritt rückwärts, stemmte beide Hände auf die Kante und nahm auf der Werkbank Platz.
Die Beine etwas nach Clarence ausstreckend verstand jener die Aufforderung und kam näher.
Cassie verschränkte sofort die Beine hinter ihm und nahm ihn auf diese Weise gefangen. Wären sie nun zuhause gewesen… garantiert hätte diese Position dafür gesorgt, dass sie unanständig geworden wären… doch hier, nur ein Zimmer von den anderen getrennt, war dafür kein Raum.
„Außerdem… muss ich dich ja im Auge behalten und auf dich aufpassen.“, vollendete er den Satz schließlich und zog Clarence an seinem Pullover dichter zu sich.
Gleichzeitig reckte er den Kopf hinauf zu ihm und gab dem Größeren den ersten innigen Kuss des Tages.
Erst jetzt ließ er sein Oberteil los und legte beide Arme um Clarence‘ Hals, sich dabei sehnsüchtig für einen Moment an ihn schmiegend.
Sie hatten nicht viel Zeit, dass wusste er. Und doch war für diesen Moment da sie einander innig küssten alles in Ordnung. Und zuhause war Cassie sowieso da wo Clarence ihn umarmte.