Eiswüste
13. Juli 2210

Wie schön wäre es, wenn es ihnen tatsächlich schon zu lange zu gut ging. Dann lägen sie jetzt mit Kain und Abel auf dem Deck der Harper Cordelia, sie würden sich die vollen Bäuche bräunen lassen und mit keinem einzigen Gedanken Poison Ivy, den American Kestrel oder sonstigen Sorgen nachhängen. Dann und wann würden sie sich mit verliebten Worten darüber aufziehen wie fett sie in ihrem Wohlstand geworden waren und am Ende allen Pölsterchen zum Trotz übereinander herfallen, so wie es sich gehörte und immer sein würde zwischen ihnen.
Stattdessen fand er sich in längst verkommenen Ruinen der Alten wieder und musste sich derartige Hirngespinste von Cassie reinziehen, dass er sich für einen Moment sogar fragte, ob sein Mann Scherze machte.
In alter Manier, die er zum größten Teil seit ihrer Beziehung abgelegt und doch nie ganz verloren hatte, überhörte er das fragwürdige Geschwafel des Jüngeren gekonnt. Das Talent Menschen zu Luft werden zu lassen, hatte Clarence Sky schon in der Jungend gekonnt perfektioniert und nicht selten war Matthew in das fragwürdige Vergnügen gekommen, dass man an ihm ein Exempel statuierte. Was den Dunkelhaarigen anfangs noch auf die Palme gebracht hatte, hatte er irgendwann zum größten Teil hingenommen – wohl wissend, dass der Jäger trotzdem ganz genau mitbekam, was man von ihm wollte.
Erst seit ihrer Ehe hatte er recht schnell herausgefunden, welche Knöpfe man drücken musste um den Blonden zum Reden zu bewegen, selbst wenn das Thema noch immer so enttäuschend war, dass Clarence es kaum fassen konnte, was sein Mann da eben gesagt hatte. Ihm waren alle möglichen Szenarien durch den Kopf gegangen, wer wieso einen Grund hatte zum Wrack zurück zu gehen und wer sich weigern würde vor Ort zu bleiben.
Doch er selbst?
Nein… dieser Gedanke war ihm zu keiner Sekunde gekommen und deshalb desillusionierte es ihn umso mehr, dass Cassie ausgerechnet das vorschlug.
Die Arme des Kleineren fühlten sich unglaublich schwer an und lasteten auf seinen Schultern wie eine Schuld, die sich nicht gerecht anfühlte. Er war kein Mann, der der sich darum riss in einem Lager zu bleiben und irgendetwas zu bewachen. Arbeit hatte er nie gescheut, ganz gleich ob er gesund war oder nicht und die Aussicht darauf die anderen alleine losziehen zu lassen obwohl er aus seiner Sicht nicht mehr verletzt war als der Rest von ihnen, stieß ihm sauer auf.
Das Gesicht des Älteren wirkte verknittert vor Müdigkeit und der Ungläubigkeit über das von ihm Verlangte, während er unwillig den Kopf in den Nacken legte um dem Zug auf seinen Knoten nachzugeben. Wie auch er selbst, war auch Matthew nicht besonders gut darin einen Einstieg zu finden wenn es darum ging, unangenehme Dinge anzusprechen. Oftmals traten sie sich dabei anfangs gegenseitig auf die Füße, bevor sie einigermaßen die Kurve bekamen; der Dunkelhaarige mochte zwar denken er sei geschickt, in Wahrheit war er jedoch nicht so viel besser wie sein grummelnder Bär.
Die warmen Küsse waren es schließlich, die das widerwillige Brummen des Blonden erstickten und ihn seine Stirn an die des Kleineren lehnen ließ, als Cassie fragte, was er dachte. Eine Antwort blieb er ihm einen stillen Moment lang schuldig, während dem er die Arme um den Rücken seines Mannes legte und ihn ein bisschen enger an sich heran zog, so wie er es gerne hatte.
„Meine Füße und mein Arm… solltest du dir als Argument tunlichst verkneifen. Du hast eine Fleischwunde an der Schulter und deine Rippen bringen dich sicher um, auch wenn du so tust, als wäre nichts…“ – Letzteres tat er selbst auch, einerseits um die Gruppe nicht mehr zu belasten als nötig, andererseits aber auch weil Matthew ja auch so schon genug Sorgen um ihn hatte.
„Ich glaube du hast nicht alle Latten am Zaun wenn du denkst, ich lasse dich da draußen alleine herum springen.“
Das waren, kompakt zusammen gefasst, die Hauptgedanken die er derzeit pflegte und die Cassie hatte von ihm hören wollen. Er würde lügen, würde er etwas anderes behaupten.
„Du machst dir Sorgen um meine Wunden an den Füßen, dabei kann dir genauso viel passieren. Du… könntest dich falsch bewegen oder zu schwer heben… und dann? Was glaubst du, was deine gebrochenen Rippen dann mit dir machen, mh?“
Im schlimmsten Fall würden sie ihn dann nämlich von innen aufspießen, genauso wie es von außen mit Cassies Schulter passiert war.
Bevor er ihm widersprechen konnte, haschte Claire nach den Lippen des Jüngeren. Es war ein strafender Kuss - mahnend, dass Cassie bloß nicht vergessen sollte seine Vorwürfe auch mal umzumünzen und daran zu denken, Clarence hatte nicht weniger Sorgen als er um seinen Bären.
„Ich bin… die ganze Nacht lang auf der Suche gewesen nach dir… und nach nicht mal vier? Fünf? Stunden… willst du mich wieder verlassen?“, wisperte er leise gegen Cassies Lippen, die Stirn noch immer an die des Kleineren gelehnt und die Augen mittlerweile geschlossen.
Er war schon immer gerne mit dem vorlauten Taugenichts zusammen gewesen, damals schon, und heute erst recht seitdem sie zusammen waren. Jede Minute in der sie getrennt waren, tat den Blonden weh und es wurde nicht besser, wenn es Grund zur Besorgnis gab.
„Du hast… einerseits recht, was die Versorgung angeht. Wenn ihr da draußen noch mehr wie Addy findet… muss jemand hier bleiben, der sich um sie kümmert und der weiß, was zu tun ist. Aber ich werde mich nicht darauf konzentrieren können, wenn ich mir ständig Gedanken um dich mache. Außerdem…“, zögerlich schwieg er für einen Moment, bevor er die Stimme wieder etwas leiser erhob: „Außerdem hab ich Angst, mit den Kindern alleine zu bleiben. Was, wenn denen was passiert? Wenn sie von einem Regal erschlagen werden oder eines ins Feuer fällt?“
Der Gedanke war grausam, aber als er das letzte Mal für zwei Kinder verantwortlich gewesen war, hatte er nicht die beste Entscheidung getroffen und eben jene beiden Kinder waren heute nicht mehr da. Wie schnell sowas gehen konnte, wusste er also aus Erfahrung.
„Ceyda muss draußen helfen, sie ist am wenigsten verletzt und Jeremy wird den Kindern nur Angst machen, wenn er ständig weint. Aber du… du kannst gut mit ihnen. Und du weißt, wie du Adrianna versorgen musst, wenn sie wieder blutet. Außerdem muss ich mir dann keine Sorgen um dich machen, wenn du hier im Warmen und in Sicherheit bist. Was mache ich aus meinem Leben, wenn sich dir da draußen eine Rippe in die Lunge bohrt, mh? Diese Gefahr… ist wesentlich größer als die Wahrscheinlichkeit, dass sich meine Füße entzünden. Also… scheint mit die Lösung recht offensichtlich, dass du nicht so stur sein und selbst hier bleiben solltest, wie es sich gehört.“
Es hätte ein schöner Morgen sein können... und auf gewisse Weise war er es auch, sah man einmal davon ab, dass die ganze Stadt ein riesiges Massengrab war.
Das war schon so gewesen bevor der Zeppelin abgestürzt war, doch seit gestern waren noch mehr Tote hinzugekommen.
Grau-weiße Steinriesen reckten sich zu einem Himmel empor, der so blau war wie das weite Meer.
Keine einzige Wolke wagte es, die Makellosigkeit des Firmaments zu entstellen, nur die Sonne thronte wie ein blank poliertes Goldstück inmitten des satten Blaus.
Die Fenster der alten Gebäude waren größtenteils schwarze, leere Höhlen. Einst blank poliertes Glas war gebrochen oder trüb geworden. Zum Teil waren die Häuser überwuchert von Pflanzen und obgleich sie zerrüttet aussahen, so hatten sie noch immer etwas von ihrer einstigen Glorie behalten.
Trat man heute hinaus aus ihrem Unterschlupf, konnte man in der eisigen, klaren Luft das Feuer riechen welches gestern die zerspellten Teile des Zeppelins zerfressen hatte.
Man konnte die Trümmerteile sehen, die wie faulige Zähne aus dem weißen Pulverschnee ragten und natürlich konnte man die wirren Spuren erkennen, die die Überlebenden gestern verursacht hatten.
Schon der kurze Moment den Matthew draußen gewesen war hatte ausgereicht um ihm klar zu machen, dass sie ihre Suche nach Überlebenden nur noch heute fortführen brauchten - und wahrscheinlich war selbst das vergebens.
Es war so bitterkalt, dass niemand zwei Nächte überleben würde, nicht ungeschützt in diesem Monster von Wrack.
Wen die Explosionen und das Feuer nicht verschlungen hatte, wen der Absturz nicht getötet hatte und wer im Anschluss nicht seinen Wunden erlegen war... der war vermutlich in der letzten Nacht erfroren.
Cassie dachte an all die Toten, während er sich bereitwillig in Clarence‘ Arme schmiegte.
Er dachte an all die Menschen, die nie mehr irgendwo ankommen würden, die man nie mehr finden würde und deren Namen auf keiner Liste mehr standen. Jene, die nicht mal mehr ein Grab bekommen würden.
Er hatte nicht vor in dieser Stadt zu sterben und erst recht hatte er nicht vor das Leben seines Mannes zu gefährden.
Dass sie beide überlebt hatten war nichts weiter als unverschämtes Glück gewesen und sie würden es vermutlich kein zweites Mal haben.
Clarence hatte nicht zuletzt deshalb spürbar Angst um ihn und nichts was Matthew ihm sagen oder versprechen könnte würde daran etwas ändern.
Aber was blieb, wenn er nicht ging und Ceyda half?
Wollten sie ihr Überleben in die Hände einer Fremden legen? Sich darauf verlassen, dass sie Nützliches von Unnützem unterschied? Darauf vertrauen, dass sie Risiken richtig abwog und da draußen nicht das eigene Leben verlor?
Nein.
Vertrauen in andere lag ihnen beiden nicht.
Sie verließen sich nur auf einander, auf keinen sonst.
„Wenn wir alleine wären...hmm...dann könnten wir einfach warten, unsere Wunden pflegen und erst weiterziehen wenn wir beide bereit sind. Aber wir sind nicht allein.“
Und sie konnten die anderen nicht ignorieren. Sie hatten alle überlebt und sollte das so bleiben, dann mussten sie an einem Strang ziehen. Und das hieß, dass Matthew Ceyda helfen musste auch wenn er selbst verletzt war.
Es hieß aber nicht, dass er sich aufopfern würde. Nicht für sie, nicht für Jeremy, noch nicht einmal für die Kinder.
Wenige Meter von ihnen entfernt, verborgen hinter dem Tresen und einem Regal, lag Adrianna und kämpfte mit dem Tod um ihr Leben. Sie war gekommen um Clarence zurück zu einem Clan zu bringen, der nicht mehr der seine war - aber das hatte sie nicht wissen können.
Sie und Barclay waren gekommen, weil das ihr Deal gewesen war. Und wenn sie beide überhaupt irgendwem etwas schuldig waren, dann waren sie es Adrianna und Cameron - falls dieser noch lebte. Denn die beiden wären sonst nie nach Rio Nosalida gekommen, wenn es ihnen nicht der Anstand und die Ehre geboten hätten.
Insofern würde Matthew auch nach dem Dunkelhaarigen Ausschau halten und nach allem was es Adrianna erträglicher machte am Leben zu bleiben. Eine Aufgabe, die sie beide keinen Fremden überlassen würden.
Natürlich wollte Clarence ihn dennoch nicht gehen lassen und natürlich stand ihm die Rolle des Lager-Hüters nicht.
Für gewöhnlich war er derjenigen, der draußen umherstreifte, der jagte, der Ausschau hielt, der Fallen installierte. Clarence war ein Macher, keiner der sich gern die Zügel aus der Hand nehmen ließ, sich zurücklehnte und anderen die Dinge überließ, die getan werden mussten.
Und genau darin lag die Krux, denn diesmal musste er es tun. Er war schlicht und ergreifend zu verletzt um da draußen irgendetwas tun zu können ohne sich zu gefährden und Matthew würde nicht zulassen, dass er sich verausgabte. Auch dann nicht, wenn er den Blonden verärgerte.
Cassie schlug ergeben die Augenlider nieder als Clarence ihn barsch auf die Lippen küsste, eine Geste so energisch und zugleich behütend und voller Liebe, dass der Jüngere die Wärme seines Mannes in jeder Faser seines Körpers spüren konnte.
Natürlich war es unfair von ihm die verletzten Füße und die kaputte Schulter seines Mannes ins Felde zu führen, die eigenen Wunden aber nicht zu erwähnen.
Trotzdem wollte Matthew nicht einsehen, dass der Blondschopf gar nicht mal Unrecht hatte.
Es war verrückt welche große Bedeutung in den scheinbar kleinen Gesten steckte und es war auch verrückt, wie sehr sie offen umeinander fürchteten, betrachtete man, wie sie einst miteinander umgegangen waren.
Der Absturz hatte ihnen beiden mehr als überdeutlich vor Augen geführt, wie schnell all ihre gemeinsamen Träume und Wünsche ausgeträumt sein konnten.
Es gab keine garantierte Zukunft, nichts war in Stein gemeißelt und es war verständlich, dass ihre Angst umeinander nur noch größer geworden war.
„Meine Rippen werden gar nichts tun, weil ich nicht schwer heben werde. Aber du kannst nicht nur ,ein bisschen laufen’.“ konterte Cassie als er wieder konnte und schaute verdrossen zu seinem Mann empor.
Seufzend lauschte er ihm, zupfte an Clarence’ Kragen herum und spürte das schlechte Gewissen in sich aufwallen - obwohl das eigentlich unsinnig war. Er wollte ja nicht gehen aus einer Laune heraus, sondern weil es rational gesehen vernünftig war.
Und noch etwas machte dem Älteren zu schaffen, nämlich die Verantwortung zu übernehmen für Lucy und Gabriel.
Cassie löste die eine Hand vom Kragen und legte sie flach auf Clarence‘ Brust, auf Herzhöhe.
Ein paar Schläge lang schwieg und fühlte er nur, sah auf seine Hand und schließlich wieder hinauf in das vertraute, geliebte Antlitz.
„Du bist der aufmerksamste Kerl den ich kenne. Dir entgeht nichts und Lucy und Gabriel sind keine Kleinkinder. Ihnen wird nichts passieren während du auf sie aufpasst.“
Den Rest der fraglichen Schlussfolgerung des Größeren ignorierte Cassie für den Moment. Er hob die Hand, legte sie an Clarence‘ Wange und zog ihn mit sanfter Bestimmtheit zu sich herunter, haschte nach den Lippen seines Mannes und fing sie ein zu einem zarten, unschuldigen Kuss.
Natürlich wollte Clarence am Liebsten, dass Matthew im Lager blieb und natürlich hatte er dafür das ein oder andere scheinbar triftige Argument. Etwa, dass Matthew gut mit Kindern konnte und auch wusste wie er Adrianna zu versorgen hatte.
All das mochte stimmen, aber es änderte eben nichts daran, dass Clarence da draußen nicht richtig helfen konnte.
Nicht weil er schwach war, nicht weil er feige war, nicht weil er faul war. Sondern weil er schwer verletzt war.
„Du...willst also da draußen arbeiten. Mit Ceyda in das Wrack einsteigen, Trümmer bewegen, nützliche Dinge finden und Menschen bergen. Und ich soll hier warten und mich schonen.“ fasste er zusammen.
Hörte Clarence, wie absurd das war? Offenbar nicht.
Nun erst zogen sich Matthews Augenbrauen mürrisch zusammen und er langte wieder nach dem Haarband, löste den Knoten und sah ärgerlich zu dem Blonden auf.
„Du schaffst es nicht mal, dir vernünftig die Haare zusammen zu binden. Wie willst du da draußen arbeiten, hm? Du hast weder die Kraft im Arm, noch bist du fit genug um dich sicher in dem Wrack bewegen zu können.
Und bevor du mir sagst, dass das nicht stimmt...hier...mach dir einen neuen Knoten.“
Auffordernd hielt er dem eigensinnigen Bären die flache Hand mit dem Haarband entgegen. Ihn auffordernd zutun was er nicht tun konnte, aber genau das wollte Clarence von seinem Körper ja auch verlangen, wenn er da raus ging um mit Ceyda die Trümmer zu erkunden.
Woher wollte Cassie das eigentlich alles wissen?
Ob er heben konnte oder nicht, schieben oder ziehen konnte? Woher wollte sein Mann wissen, ob der Blonde nicht vielleicht sogar dazu in der Lage war nur ein bisschen zu laufen??
Beinahe giftig lagen Clarence diese Fragen auf der Zunge – doch nicht etwa weil er Matthew tatsächlich etwas böses wollte, sondern weil er noch nie gut darauf zu sprechen gewesen war wenn man ihm vorhielt, was er nicht konnte. Diesen Dickkopf hatte er nicht etwa erst seit gerade eben, so hatte Matthew ihn kennengelernt und irgendwie auch lieben, ganz gleich wie er das unter diesen Umständen geschafft hatte.
Schon als Kind war Clarence bockig gewesen, zumindest wenn er etwas mehr darüber nachdachte und ehrlich zu sich selbst war, was leicht gesagt und für ihn schwer umzusetzen war. Rückblickend war dieses Verhalten wohl auch die Grundlage für viele Streitereien mit seinem Großvater gewesen und nicht zuletzt auch mit Matthew… zumindest in jener Zeit, in denen sie es schwer miteinander gehabt hatten, auf einen Nenner zu kommen.
Seitdem sie damals auf dem Marktplatz in Coral Valley ein ehrliches Gespräch über die Möglichkeit für Jeyne zu arbeiten geführt hatten, war es etwas einfacher geworden miteinander Diskussionen auszufechten. Sie hatten gelernt aufeinander zuzugehen anstatt ihre eigenen Ideen durchzuprügeln, gingen Kompromisse ein und schluckten Unmut hinunter, wenn er sich ungerechtfertigt gegen den anderen richtete.
Auch heute schaffte Clarence es seine schlechten Angewohnheiten zu unterdrücken, immerhin meinte sein Mann es nicht böse, so unsicher wie er am Kragen des Älteren zupfte und ihn aus wehmütigen Augen betrachtete. Es war die Gesamtsituation die sich zusammensetzte aus Angst um Cassie, der Schmerzen und der ungemütlichen Nacht, des fehlenden Schlafs und der Sorge um ihre Hunde, die sicher nicht nur seine Nerven, sondern auch die des Jüngeren dünner machten. Zu hören, dass er keine Hilfe war und Cassie sich alleine den Gefahren aussetzen wollte die zweifelsohne beim einsturzgefährdeten Wrack auf sie warteten, machte die Sache nicht besser.
Dass er seinen Bären für unfähig hielt, auch nicht.
„Ja, will ich und ja, sollst du“, antwortete er mit noch immer krächzender Stimme auf Cassies exzellente Zusammenfassung und fragte sich, ob der Jüngere ihn vielleicht nicht richtig verstanden hatte. Dass Matthews Aufzählung eher ironisch gemeint war und das für unmöglich hielt, entging Clarence im ersten Augenblick.
Dementsprechend konnte er gar nicht so schnell reagieren wie der Stoff wieder aus seinem Haar hinaus gefunden hatte.
Verdutzt blickte er hinab auf das abgegriffene Haarband in Cassies Hand und verstand gar nicht, was seine Haare jetzt damit zu tun hatten, immerhin hatte er sich eben noch über die verwundeten Fußsohlen beklagt. Erst als er dem Dunkelhaarigen das Band abnahm und sich dabei daran erinnerte welche Verrenkungen er vorhin hatte anstellen müssen um überhaupt einigermaßen an seinen oberen Hinterkopf zu kommen, fiel ihm die Finte seines Mannes wie Schuppen von den Augen.
Verdrießlich hob er seinen Blick und wenn er damit hätte umbringen können, hätten dem Jüngeren hoffentlich wenigstens ordentlich die Ohren geklingelt. Es brauchte keine Worte um dem Jäger anzusehen, dass das hier unter normalen Umständen einer jener Momente gewesen wäre, an dem Claire sich auf der Stelle umgedreht hätte um irgendwo im Unterholz zu verschwinden.
Aber weder waren das hier normale Umstände, noch gab es eine Möglichkeit, im ebenen Schneefeld jemand anderem aus dem Weg zu gehen.
Hinter seiner Stirn ratterte es und für einen Moment dachte Clarence sogar darüber nach, den verletzten Arm ausgestreckt an eines der Regale anzulehnen, um sich die Hand mit dem eigenen Körpergewicht irgendwie näher ins Haar zu bringen. Einerseits war die Gefahr dabei aber ziemlich groß, dass er sich das Gelenk womöglich ein zweites Mal auskugelte, andererseits würde Matthew ihn höchstwahrscheinlich disqualifizieren noch bevor er den Ellenbogen oberhalb der Schulter hatte.
Viel zu lange stierte er den Kleineren an, unfähig von seinem Dickkopf abzulassen, bevor er sich schließlich kommentarlos wie schon am Morgen versuchte kopfüber einigermaßen anschaulich zu machen. Dabei spürte er bereits einen Kramp im Nacken aufziehen, so weit musste er sich der linken Hand entgegen beugen, um überhaupt einigermaßen mittig zu arbeiten.
Es dauerte eine Weil – nämlich in etwa so lang, dass ihn alleine schon die Dauer ins Aus beförderte – bis er es geschafft hatte und sich wieder aufrichtete. Zu spüren, wie sich die erste Haarsträhne bereits wieder zu lösen begann und das Knötchen lustlos an seinem Hinterkopf hinab purzelte, half seinem Dickschädel nicht im Geringsten.
„Ich weiß gar nicht was du von mir willst. Es ist arschkalt draußen, da mache ich die Haare sowieso nicht zusammen, damit ich mir die Ohren nicht abfriere!“, mit einem heiseren Grollen zog er sich das Band wieder aus dem Haar und stülpte es über sein Handgelenk, bevor er sich schließlich aus der Diskussion löste und Anstalten machte, zu ihrem Lager zurück zu gehen. Weit kam er jedoch nicht, denn keine zwei Schritte später wendete er sich wieder zum Dunkelhaarigen um.
„Ich schwöre dir, wenn du mit mehr Verletzungen wiederkommst als du gegangen bist oder dich kaum noch bewegen kannst vor Schmerzen, schlag ich dich grün und blau bevor ich dich verarzte. Ich mein’s ernst“, keifte er seinen Mann an und warf zum Zeichen wie ernst er es meinte mit dem Haarband nach Matthew, um ihm damit einen Vorgeschmack zu geben. Es war nicht so, als wären sie sich damals nicht ein oder zwei Mal gegenseitig an den Hals gegangen und wenn Clarence wollte, war er Cassie haushoch überlegen – das wusste der vorlaute Trottel hoffentlich noch und erinnerte sich daran, wenn er draußen auf dumme Gedanken kam.
„Höre ich auch nur von einem einzigen, dass du es da draußen übertrieben hast, binde ich dich an einen der Schränke und dann siehst du die nächsten sieben Tage kein Tageslicht mehr. Dann sperre ich dich nämlich hinten im Lager ein, aber nicht im sauberen!“ – sondern in dem, wo sie sich erleichtern gingen.
Es mochte nach den gestrigen Sorgen unangebracht scheinen so mit seinem Mann zu reden, doch Clarence‘ schnell aufzubringende Art war lediglich eins: Zeuge seiner Angst um Matthew, Zeichen seiner Sorge dass der Jüngere sein Wort zwar halten wollte, aber es angesichts dessen was es da draußen noch zu retten gab, einfach nicht halten konnte.
Seufzend rieb er sich mit den Händen durchs Gesicht, versuchte damit auch seine Ängste hinfort zu waschen und aufzuhören sich vorzustellen, wie Matthew unter einem instabilen Stahlträger stand, der kreischend auf den Jüngern hinab fiel um ihn unter sich zu zerquetschen. Claire wusste noch zu gut wie er aussah mit einer Platzwunde am Kopf, wie verzweifelt und am Ende sein Mann gewesen war nach dem ersten Erwachen, als er weder seinen Anblick, noch seine Einschränkungen hatte ertragen können.
Würde Cassie es ein zweites Mal ertragen, wenn ihm so etwas wiederfuhr? Würde Clarence es ertragen können, den Mann den er liebte, nochmals so am Boden zu sehen?
„Lass uns jetzt… was essen und mit den anderen beiden reden. Bevor ihr geht, müssen wir noch… dieses Mädchen raus schaffen das letzte Nacht gestorben ist… bevor die Kinder sie finden.“
War es unfair was er machte?
War es gemein Clarence anhand des Haarbandes zu zeigen, dass er aktuell viel zu eingeschränkt war um draußen rumzulaufen?
Vermutlich ja, aber der Zweck heiligte nun mal die Mittel.
Der Blonde war ein sturer Kerl und obendrein ließ er sich nur ungern etwas sagen. Er wollte nicht nachgeben und sein mürrischer Blick der geradezu etwas herausforderndes an sich hatte, machte dem Dunkelhaarigen klar, dass sein Schachzug fies aber wirkungsvoll gewesen war.
Denn wer den Arm nicht mal weit genug heben konnte um sich einen verfluchten Knoten ins Haar zu machen, der brauchte nicht so tun als könne er Verletzte aus einem zertrümmerten Flugschiff bergen.
Er würde nicht mal vernünftig in dieses Flugschiff kommen und für den Fall, dass er stolperte wäre er nicht in der Lage sich abzufangen sondern würde der Länge nach hinknallen. Vielleicht mit dem Kopf voran.
Matthew hätte gern auf diese Demonstration verzichtet aber auf der anderen Seite hatte er nicht damit gerechnet, dass Clarence sofort vernünftig war und seinen Vorschlag einfach annahm.
Widerborstig zu sein lag nämlich ebenso in der Natur des Hünen wie sein Hang zur Waghalsigkeit.
Beides Attribute, die der Blonde vermutlich nie ablegen würde und die zu ihm gehörten wie sein mürrisches Brummen von Zeit zu Zeit. Mit einem verärgerten Funkeln im Blick starrte Clarence ihn an, als er das Haarband nahm. Cassie, der derartige Blicke von dem Blonden kannte, zeigte sich unberührt davon und wartete.
Das Ergebnis der ganzen Demonstration war, dass Clarence versuchen musste seine Haare über Kopf zu bändigen. Ein Versuch der nicht nur kläglich aussah sondern auch noch vom Resultat her wenig hergab.
Der traurige Knoten sackte binnen Sekunden schon wieder von seinem Platz und es lösten sich der Reihe nach immer mehr blonde Strähnen.
Schweigend sah Matthew zu dem Blonden. Er wusste, dass er nichts sagen brauchte, Clarence hatte auch so verstanden was los war. Nicht da draußen herumzulaufen bedeutete aber nicht, keinen Nutzen zu haben. Jedenfalls nicht für Matthew. Der Größere allerdings sah das anders.
In einem Lager zu warten, bei den Kindern und einer Bewusstlosen, war in den Augen des Jägers sicherlich eine Erfahrung auf die er gern verzichtet hätte. Und wäre er einigermaßen heil, so hätte Matthew es niemals geschafft ihn von dem Wrack fernzuhalten.
Wie sehr es seinen Mann frustrierte nicht tun zu können was er als seinen Job ansah, erfuhr Cassie schließlich am eigenen Leib.
Die Drohung seitens Clarence ihn windelweich zu schlagen, sollte er nicht auf sich aufpassen, war harsch und entbehrte der sonstigen Fürsorge völlig. Es wäre gelogen zu behaupten, dass dieser Ausbruch den Jüngeren nicht ein bisschen verunsicherte - nicht weil er Angst hatte vor ihm, sondern weil sie in den letzten Monaten Scheindrohungen nicht mehr nötig gehabt hatten.
Ihre früheren Streitereien hatten durchaus schon mehrmals in Prügeleien ausgeartet, was nie dazu geführt hatte, dass Matthew anschließend Angst gehabt hatte. Und auch nun war das nicht der Fall. Der Grund weshalb er getroffen dreinblickte und für einen Moment gar nichts sagen konnte war, dass er in dem Wutausbruch seines Mannes dessen Verzweiflung und Angst um ihn erkannte, von der er nicht wusste wie er sie bändigen sollte.
Ebenso wie seine Haare, war Clarence- sonst mehrheitlich sehr kontrolliert- nicht in der Lage Herr seiner Angst zu werden. Und das machte ihn wütend.
Cassie fing das Haarband mit einer Hand welches zu ihm geschleudert wurde und schaute auf das abgegriffene Teil hinab, während er darauf wartete, dass Clarence entweder noch etwas anfügte oder aber die Situation verließ.
Es tat weh sich so zu streiten, es tat weh sich trennen zu müssen nachdem sie gestern so verzweifelt nacheinander gesucht hatten und es tat auch weh, Clarence so verzweifelt zu sehen. Also schaute Matthew ihn nicht mehr an, sondern wartete darauf, dass die Situation verstrich.
Denn auch wenn es vielleicht so aussah: dem Dunkelhaarigen ging es nicht besser.
Auch er hatte Angst, dass sie einander an den Tod verlieren konnten und er wollte sich ebenso wenig aufteilen wie Clarence. Aber wenn es da draußen noch Überlebende gab, wenn Kain und Abel noch irgendwo da draußen waren... dann brauchten sie Hilfe. Und dann konnte Cassie diese Bürde nicht allein Ceyda auf die Schultern laden.
Verdrossen wickelte er sich schließlich das Haarband mehrmals ums Handgelenk, noch immer schweigsam, weil er nichts zu sagen wusste.
Clarence‘ Wut war verständlich, seine Angst ebenso und wenn Matthew ehrlich zu sich selbst war, dann wünschte er sich im Augenblick nichts mehr als dass sein Mann zu ihm kam, ihn umarmte und ihm sagte, dass er ihn verstand.
Ihn verstand obwohl er sich wünschte es wäre anders. Ihn verstand und wusste, dass Matthews Entscheidung richtig war. Aber so kam es nicht, nicht dieses Mal und als Clarence meinte, dass es an der Zeit war zum Feuer zurückzukehren um mit den anderen zu essen, da stimmte Matthew ihm knapp zu.
Um das Feuer herum saßen Ceyda und die Kinder, Jeremy kam gerade angehumpelt und nahm - mit schmerzverzerrtem Gesicht - Platz auf einem Koffer den Ceyda gefunden hatte.
Die junge Frau hatte die durchgebratenen Fleischstücke auf längere Holzspieße gesteckt, von denen Jeremy sich einen nahm. Lucy und Gabriel hielten ihren noch über die Flammen, aber ihre glänzenden Lippen verrieten, dass sie bereits eine erste Portion gegessen hatten.
„Na.“, sagte Jeremy in die Richtung der beiden jungen Männer und Matthew hob die Hand um ihm flüchtig zu winken. „Du bist also Clarence, nach dir wurde sehr verzweifelt gesucht.", begrüßte er den Blonden, dessen Erscheinen ihm Hoffnung für seine eigene Familie machte. "Hey. Ja, das ist er. Clarence, das ist Jeremy." Stellte er kurz und knapp beide einander vor.
"Wie war es draußen...irgendwelche guten Nachrichten?“ - schlechte Nachrichten wollte er nicht hören so lange die Kinder in der Nähe waren. Etwas, dass Ceyda sofort verstand.
Sie saß im Schneidersitz vor dem Feuer, auf einem Wust aus Stoffen. Sie hatte drei Spieße in den Händen, Fett tropfte von ihnen zischend in die Flammen und als Cassie näher kam, reichte sie ihm einen Spieß und den anderen Clarence.
„Die guten Neuigkeiten sind... wir waren bei den Tierkäfigen und konnten noch mehr Fleisch besorgen, haben es draußen vergraben, wie du gestern. Wir werden in absehbarer Zeit also nicht verhungern. Außerdem haben wir eine Stelle gefunden, von der aus wir in das Wrack gelangen können, dass auf der anderen Seite des Gebäudes liegt. Wir müssen von oben rein, ich hab’s mir angesehen, sieht vielversprechend aus.“
Sie biss in ihr Frühstück. „Jeremy, wo hast du deine Familie zuletzt gesehen? Ich würde sagen, wir suchen zuerst gezielt nach bekannten Gesichtern. Also wäre es gut, wir wissen wie sie heißen und wie sie aussehen.“ - „Könnt ihr auch nach Mister Teds suchen?“, fragte Gabriel noch ehe Jeremy antworten konnte.
„Er ist ein Bär! Etwa so groß, braun mit einer weißen Nase. Er hat braune Augen und weiße Tatzen!“
„Hattest du ihn bei dir als...na ja...der Absturz passiert ist?“ der Junge nickte. „Okay, wir suchen auch nach Mister Teds.“ Cassie lächelte Gabriel zu und dieser erwiderte es zögerlich. Dann sah er wieder zu Jeremy.
„Zoe...meine kleine Zoe. Sie ist elf, sie hat...braune Locken, wie ihre Mutter. Und sie trug ein...ein hellgrünes Kleid als es passiert ist. Meine Frau, Mary, sie trug Jeans und einen blauen Pullover. Wir waren beim Essen.“
- Wir suchen sie.“, bestätigte Ceyda und Jeremy schluckte schwer. Er sah abgekämpft und hoffnungslos aus, aber zumindest schaffte er es, nicht erneut in Tränen auszubrechen.
„Mhm gut, und dann müssen wir uns noch...um Ellen kümmern.“ - Ceyda presste die Lippen aufeinander und schwieg nachdenklich, der Tod der jungen Frau ging ihr nahe, aber deshalb wurde das Mädchen nicht wieder lebendig. „Machen wir.“, sagte sie schließlich, woraufhin eine Weile Schweigen einkehrte.
Nicht viel später redeten sie über den Tagesplan, wer was machte, wann sie planten zurückzukommen und was Prioritäten waren. Und nachdem all das geklärt war, sie gegessen und getrunken hatten und jeder nochmal ein bisschen Zeit für sich bekommen hatte, wartete der Aufbruch auf sie.
Wie zu erwarten gewesen war, war Jeremy nicht bereit gewesen drinnen zu warten, er humpelte als erster los, während Ceyda sich noch einen weiteren Pullover überzog.
„Hey...du hältst hier die Stellung und ich pass draußen auf mich auf.“, Cassie stand neben Clarence und sah ihn schuldbewusst an. Er wollte sich auf keinen Fall im Streit von ihm trennen. Nicht heute und niemals mehr.
Ohne eine Reaktion abzuwarten, umarmte er Clarence in einem Impuls und drückte seine Wange an die des Anderen, in dem er sich etwas auf die Zehenspitzen stellte.
„Und wenn ich wiederkomme, dann...mach ich dir einen neuen Knoten. Versprochen.“, flüsterte er. „Versprochen...ich komme wieder.“
Das besondere an ihrer Beziehung war, dass sie wirklich ernst gemeint war. Es war kein kurzes Vergnügen mit dem man ein paar Wochen oder Monate überbrücken wollte. Auch war ihre Ehe keine Bindung, die nur auf die Sonnenseiten des Lebens abzielte und bröckelig wurde, sobald die ersten Schatten aufzogen.
Zusammen zu sein bis dass der Tod sie schied, war ein Versprechen das sie beide ernst gemeint hatten und somit war es für sie keine Option dem Unangenehmen aus dem Weg zu gehen, nur weil es womöglich einfacher gewesen wäre. Sie trennten sich nicht, nur weil sie keine Lust hatten zu streiten oder die Launen des anderen zu ertragen und doch waren sie erwachsen genug geworden, um nicht auf jede Laus einzugehen, die dem anderen über die Leber lief.
Es war kein schöner Moment um böse oder laut zu werden – metaphorisch zumindest, denn mehr als ein krächzendes Flüstern bekam Clarence noch immer nicht hin - und somit war es gut, dass Cassie es einfach dabei bleiben ließ, ohne weiter darauf einzugehen. Ihre Nerven waren beide dünn geworden nach dem gestrigen Tag, doch so ging es nicht nur ihnen, sondern auch den anderen. Jeder trug das Päckchen des Traumas, das sie überlebt hatten, auf eine Art und Weise. Die Tränen die sie letzte Nacht und die Jeremy auch noch am Morgen geweint hatten, würden nicht die letzten sein und genauso würde es immer wieder Gründe geben für laute, emotionale Ausbrüche. Angst, Kälte, Hunger, Schmerzen… sie hatten genug Gründe dazu und viel zu wenig Argumente, um ihre Situation schön zu reden.
Die banalen und wenig auf Gefühlen basierenden Diskussionen am Feuer halfen, den einseitigen Streit wieder zum Teil vergessen zu machen. Der Appetit war Clarence gehörig vergangen und eigentlich hatte er nichts essen wollen, doch die mahnenden Blicke seines Mannes waren ausreichend, um sich lustlos wenigstens einen der Spieße einzuverleiben.
Das heiße Fleisch mochte das Loch in seinem Magen füllen, es konnte aber nicht die Lücke ersetzen die blieb, wenn Matthew erst mal hinaus in die weiße Wüste losgezogen war.
Verhältnismäßig schweigend – ob nun aufgrund seines Ausbruchs oder seiner Angst um den anderen, blieb offen – hatte er Matthew in ein paar mehr Schichten wärmende Kleidung eingepackt. Anfangs hatte er noch überlegt ihn in den dicken Wintermantel einzupacken den Clarence zum Glück in seinem Rucksack gehabt hatte für den Moment wo sie im kalten Poison Ivy aussteigen würden, doch im Vergleich zu seinen Pullovern würde der Mantel dem Kleineren noch viel größer sein und er würde sich wahrlich nicht mehr ausreichend bewegen können um im Wrack nach Vorräten und Überlebenden zu suchen, wenigstens da hatte Clarence ihm nach einer kurzen Diskussion Recht geben müssen.
Einige Lagen Unterwäsche und Oberbekleidung später, sah Cassie trotzdem nicht mehr besonders wendig aus, dafür aber einigermaßen gewappnet gegen die klirrende Kälte, die draußen trotz des blauen Himmels und der stahlenden Sonne herrschte.
Kristallen kondensierten ihre Atemzüge vor den Gesichtern der kleinen Gruppe, als sie vor dem Zugang zum Markt standen. Lucy und Gabriel hatten es sich nicht nehmen lassen mit nach draußen zu kommen, wobei es ihnen aber auch niemand wirklich versucht hatte zu verbieten. Das Wrack würde auch noch in einer Woche dort liegen, unverblümt vor den Augen der Kinder, und ein bisschen frische Luft hatten sie alle nötig, wo ihnen als Alternative nur die muffigen Stoffe blieben, die sie Lager nannten.
Ellen lag einige Meter entfernt vom Eingang provisorisch im Schnee begraben; der Boden war so sehr zugefroren, dass nicht daran zu denken war ein Grab auszuheben und die Wahrscheinlichkeit, mitten in der Stadt unter einer dicken Schneedecke ausreichend Steine zu finden, war ebenfalls sehr gering. Wenn sie das Wrack so gut es ging ausgeschlachtet und genug Holz hatten, würde sie eine Feuerbestattung erhalten müssen, das war das höchste der Gefühle – vermutlich zusammen mit einigen anderen Menschen, je nachdem, wie viele Leichen sie noch fanden und gewillt waren zu bergen.
Der Gedanke daran, dass Matthew einer dieser Menschen sein könnte, war noch immer präsent in seiner Vorstellung.
Er zögerte keinen Moment die Umarmung seines Mannes zu erwidern und seine Wut von vorhin zu vergessen, wenn er Cassie dafür nur einen Moment länger bei sich behalten konnte. Dass es nur ein Ausflug in den Schnee war, war eine völlig untertriebene Bezeichnung, denn da war so viel mehr in das sein Mann zusammen mit den beiden anderen aufbrach. Kälte, instabile Wrackteile, metallische Ecken und Kanten an denen man sich schwer verletzen konnte…
Selbst wenn es nur ein Suchtrupp war, es konnte so viel geschehen, das nicht mehr rückgängig zu machen war. Das Versprechen des Jüngeren tat deshalb umso mehr weh, denn er sollte ihm seine Rückkehr nicht versprechen müssen. Sie sollte selbstverständlich sein.
„Natürlich… kommst du wieder. Bis dahin hab ich uns… eine bequeme Höhle gebaut und… ich wärme dich auf, wenn du zurück bist“, seine Stimme klang erstickt und beherrscht darum, nicht die Fassung zu verlieren.
Warm küsste er Cassie auf die Stirn, erst ein Mal, dann noch ein weiteres Mal, bevor er ihm einen kurzen Kuss abnahm, der seinen Mann hoffentlich auf dem Weg in der Kälte noch etwas nachwärmte.
Als er sich von ihm löste, glänzten die Augen des Blonden verräterisch, weshalb er so wenig Zeit vergeuden wollte wie nötig.
„Jetzt geh, s-sonst überleg ich’s mir anders und du bleibst mit deinem süßen Arsch hier“, wisperte er leise und küsste Cassie erneut, bevor er ihm das Halstuch aus seinem Rucksack etwas enger um den Hals zog. „Los…“
Als Ceyda über die Schulter zurück blickte, sah sie Matthew endlich von hinten aufholen. Wohlweißlich war sie mit Jeremy vorgegangen, einerseits weil er mit dem wohl gebrochenen Fuß sowieso länger brauchte, andererseits damit er sich den berechtigten Abschied des verheirateten Paars nicht antun musste.
„Erzähl mir ein bisschen von deiner Mary. Wo habt ihr euch kennengelernt, warum wart ihr in dem Zeppelin?“, wollte sie von ihm wissen, denn bei dem Aufbruch am Morgen war die Stille zwischen ihnen so greifbar gewesen, dass man sie beinahe hätte schneiden können. Vielleicht half es ihm von seiner Frau zu erzählen, damit er nicht begriff wie viel Zeit seit dem Absturz gestern schon vergangen war und damit ihm der letzte Funke Hoffnung nicht abhandenkam, bevor er endgültig Gewissheit hatte.
„Geschäftlich, ich muss...te… geschäftlich nach Poison Ivy und die beiden wollten mich begleiten, weil wir in letzter Zeit so wenig Zeit miteinander verbracht haben.“
„Viel zu tun in deinem Job? Was machst du?“
„Wir stellen Farben aus Wein und anderen Materialien her. Um Kleidung einzufärben, aber auch zum Malen… ein kleiner Familienbetrieb. Es wirft nicht viel ab, aber man kommt viel herum und lernt Menschen kennen?“
„Deine Frau auch?“, wollte Ceyda von ihm wissen und machte einen Ausfallschritt zur Seite, um ihn aufzufangen und zu stützen. Seine provisorische Krücke war auf einem Stück Fels oder Holz unterhalb der Schneedecke aufgekommen und ihm zur Seite gerutscht.
In seinem Gesicht sah sie, dass er sich für einen Moment zu fragen schien wie er je mit ihnen hier raus kommen wollte, wenn er es nicht mal alleine bis zum Wrack zurück schaffte – aber das war eine Frage, auf die sie noch keine Antwort finden mussten. Nicht heute und morgen auch nicht.
„Ja, die auch. Sie hat Farbe gesucht um… ihr Hochzeitskleid einzufärben, damit sie es nicht umsonst bezahlt hat ohne es tragen zu können. Ihr damaliger Verlobter… hab sie eine Woche vor der Hochzeit sitzen gelassen – zu meinem Glück. Ich hab ihr gesagt, sie… soll es lassen wie es ist, weil eine die so ein hübsches Lächeln hat wie sie, bald einen neuen zum Heiraten finden wird. Anscheinend… hat ihr das Kompliment gefallen.“
Bestimmt, denn sonst stände er heute nicht hier und wäre auf der Suche nach eben jener Frau, die schließlich doch noch Farbe bei ihm gekauft hatte.
Warm prickelten die Küsse seines Mannes auf seinen Lippen nach, als Matthew sich schließlich daran machte die anderen einzuholen.
Die Luft war klar und kalt und stach in seinen Lungen, aber sie war auch belebend und wohltuend.
Die weiße Landschaft sah aus, als wäre sie mit Sternenstaub überpudert. Die winzigen Kristalle funkelten im Sonnenlicht um die Wette. Ein friedliches Bild, wären da nicht die dunklen Wrackteile des Zeppelins.
Dank der Fürsorge seines Liebsten hatten die nagenden Zähne der Kälte vorerst keine Chance bei Mathhew. Eingemummelt in mehrere Lagen Stoff fühlte Cassie sich warm und sicher.
Natürlich würde er wieder zurückkommen.
Natürlich würde er sich später von Clarence wärmen lassen.
Natürlich würde alles gut werden.
Das sagte er sich, während er ging und sich auch nicht nochmal umdrehte. Ihm war der Glanz in den Augen des Blonden nicht entgangen... und er war selbst nicht besser.
Eilig und so zügig wie er es konnte holte er zu den anderen auf. Zu zögern hieße, der Furcht in sich nachzugeben - und das wollte er nicht.
Ceyda und Jeremy blieben A schließlich stehen und warteten auf ihn, vermutlich einerseits um dem Humpelnden einen Moment Pause zu gönnen und auch um es Cassie leichter zu machen sie einzuholen.
„Ein Wunder, dass dein Mann dich hat gehen lassen.“, kommentierte Ceyda ungefragt den langen Abschied und Matthew lächelte vage. Er konnte die junge Frau schlecht einschätzen und daher nicht ganz einordnen ob sie es als Scherz meinte oder nicht.
„Naja...wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre nicht ich hier sondern er würde euch begleiten.“
Ceyda schüttelte den Kopf.
„Männer...alle irgendwie gleich. Denken immer sie müssen an forderster Front stehen, sonst halten sie sich für Waschlappen.“
So etwas zu behaupten verriet so einiges über ihr Männerbild, aber es war vermutlich auch nicht ganz falsch.
Die meisten Männer suchten in der Schlacht die Bestätigung ihres eigenen Egos. Ganze Kriege wurden ausgefochten mit Männern die sich einreden ließen es sei ihre Bestimmung.
Aber der Grund weshalb Clarence ihn nicht hatte gehen lassen wollen, war nicht Stolz. Da irrte sich Ceyda.
Er war besorgt um ihn, wirklich besorgt. So sehr liebte Clarence ihn, dass er lieber sich selbst gefährden wollte als Matthew Gefahr zuzumuten.
Es ging Clarence nicht um ihn selbst, nicht darum was er darstellte oder auch nicht. Es ging ihm um Cassie.
Und dieser wusste das.
„Na so einfach ist das nicht immer.“ widersprach der Dunkelhaarige ihr und bekam unerwarteten Zuspruch von Jeremy. „Jeder hat eine Aufgabe und die Aufgabe eines Mannes ist es... zu b-beschützen w-was ihm heilig ist.“
Das Gesagte erinnerte Jeremy schmerzlich an sein scheinbares Versagen, denn er war nicht in der Lage gewesen seine Familie zu beschützen.
„Ich würde sagen... wir teilen uns auf, hm? Jeremy du kommst nicht mit ins Wrack, aber Ceyda und ich können an unterschiedlichen Stellen suchen. So schaffen wir mehr in kürzerer Zeit.“ - „Ich kann mit in das Flugschiff, sag mir nicht was ich darf oder nicht!“ Jeremy, der eben noch gestolpert war blickte wütend zu dem Jüngeren.
„Er hat Recht. Du wirst da drin nicht zurechtkommen.“ Eine Wahrheit die Jeremy nicht hören oder begreifen wollte.
Entschlossen stapfte er weiter durch den Schnee, bis er vor einem der Wrackteile zum Stehen kam. Dort fanden sich noch die Spuren von gestern, denn eben aus jenen Trümmern war er selbst geborgen worden.
„Wart ihr...zusammen als es passiert ist?“, wollte Cassie wissen und Jeremy nickte. Er war ganz blass geworden und in seinen Augen lag eben jene Angst wie Matthew sie nur zu genau kannte. Die Angst... nein die Gewissheit, dass alles zu spät war.
„Okay...wir gehen hier rein und suchen. Ceyda...“ er spähte in die aufgerissene Öffnung des Wracks. Sie war dunkel, dahinter lag Chaos. Bretter und Streben aus Stahl ragten hervor, darüber wehte ein zerschlissener Vorhang - einstmals Verzierung, heute eine nützliche Decke.
„W-wenn wir jemanden finden... g-geben wir einander Bescheid, okay? Und wir bleiben immer...immer in Kontakt. Keine...Alleingänge, auch w-wenn wir uns aufteilen.
Und du, Jeremy... bleibst auf jeden Fall draußen. Wenn irgendeinem von uns was passiert...gehst du zurück und informierst Clarence. Wir können es uns nicht leisten...d-dass wir alle drei verschüttet werden.“
Im Idealfall würde keiner verschüttet werden und bei Gott er hatte es sich nicht vor.
Aber wenn irgendetwas schiefging, dann musste jemand zurückgehen und Hilfe holen.
Diese Erklärung schien dem Verletzten wichtig genug um einzuwilligen und so wartete er schließlich draußen.
Kaum da Ceyda und Matthew sich an den aufgerissenen Planken vorbeigedrängt hatten fing er wieder zu weinen an.
Cassie hörte sein Schluchzen.
„Ich hoffe wir finden sie.“, sagte er leise zu Ceyda. Die junge Frau ging vor ihm. Sie war ein elegantes Mädchen, schlank und wendig. Sie duckte sich unter einem Stahlträger hindurch, mühelos wie es schien während Cassie selbst einige Mühe hatte. Seine Rippen machten ihm zu schaffen, etwas das abzusehen gewesen war und würde Clarence nun sehen können wie er sich die schmerzende Seite hielt, würde er ihn eigenhändig aus dem Wrack tragen.
„Ich hoffe es auch. Aber....“, sie blieb stehen und blickte sich um, der Hohlraum erstreckte sich über mehrere Meter, jedoch war die Decke beziehungsweise das, was die Decke sein sollte an mehreren Stellen eingebrochen oder von Stahlträgern durchbohrt. Geröll welches mitunter so deformiert war, dass man es nicht einmal mehr als einen Gegenstand erkennen konnte, lag verstreut. Überall türmten sich Holzberge, Scherben lagen herum. Einiges war zu schwarzen Klumpen verbrannt, anderes kaum von Flammen berührt worden. „...ich weiß nicht wie wir hier drinnen überhaupt irgendjemanden finden wollen.“
Matthew kam zu einer ihr und blickte sich um. Wahrscheinlich war ihnen allen klar, dass es keine Überlebenden mehr gab, aber sie mussten es versuchen.
„Wir müssen das Wrack verbrennen, sonst locken die Toten Muties an. Und bevor wir das machen können, müssen wir sicher sein, dass hier drinnen niemand mehr lebt.“ entgegnete Cassie ernst. Es war egal wie die es anstellten, aber sie mussten das Wrack durchforsten.
„Zoe!!Zoeee!“ brüllte Jeremy draußen und für einen Moment sahen sich Matthew und Ceyda an, bevor auch sie die Namen der Vermissten riefen.
Zoe. Mary. Und nach einer Weile fügte Matthew einen dritten Namen hinzu. Cameron.
Von dem ersten großen Raum gelangten Ceyda und Matt in weitere Kammern, krochen unter Geröll hindurch, quetschten sich vorbei an Engstellen ins scharfen Kanten. Nicht immer nahmen sie den gleichen Weg, aber immer blieben sie halbwegs parallel und in Rufweite zueinander.
Begraben unter Trümmern konnte man immer wieder menschliche Überreste erkennen. Passagiere die erschlagen oder aufgespießt worden waren.
Ein junger Mann in der Uniform eines Pagen hing in luftiger Höhe. Ein Stahlrohr hatte ihn durchbohrt und hielt ihn an Ort und Stelle, gefangen in einem endlosen Fall.
Cassie blickte an ihm vorbei und hinauf zum blauen Himmel, der vom Wrack aus wie ein Fetzen blauen Papiers aussah.
Wieder rief er die drei Namen. Zoe, Mary, Cameron und wie auch schon die ganze Zeit zuvor erhielt er keine Antwort von niemandem. Es war trostlos hier drinnen und das Gefühl zu spät zu sein wurde mit jeder verstreichenden Minute mehr zur Gewissheit. Jeremys Stimme, die sie vorher noch laut und klar gehört hatten war mittlerweile ein fernes Rufen geworden und während er so auf die Stimme des Anderen lauschte, fiel ihm auf, dass er das Rufen Ceydas seit ein paar Minuten vermisste.
„Ceyda! Ceyda, alles okay bei dir? Brauchst du Hilfe?“
Der Zeppelin, der seit gestern ein Wrack war, war in seiner Quintessenz nichts anderes mehr als ein Massengrab.
Der Aufprall hatte Holz und Stahl zerstört, hatte Wertgegenstände zertrümmert oder unter sich begraben, sodass man nicht mal davon reden konnte, die Zeit wäre im Luftschiff zum Stillstand gekommen – auf dass man es in hunderten Jahren als eine Ruine der „Jungen Alten“ wiederfand.
An die Muties, wie der Dunkelhaarige sie genannt und sich dafür einen wertenden Blick Ceydas eingefangen hatte – Sprach man so seltsam, da, wo der Typ herkam?? – wollte sie gar nicht erst denken. Sie war mit einem großen Jägerclan mitten in der Großstadt aufgewachsen und wenn wirklich jemals ein Mutant in der Nähe der Stadt gewesen sein sollte, dann hatten sie das dank der Jäger alle nicht mitbekommen.
Ihr Leben war ziemlich ereignislos verlaufen abgesehen von den alltäglichen Zwischenfällen die in einer Stadt wie Poison Ivy nun mal ihren Lauf nahmen und je mehr sie mit ihren Gedanken dem Thema Monster nachhing, umso mehr brannte es ihr in den Fingern, schon jetzt das Wrack in Brand zu stecken.
Wer den Absturz sonst noch überlebt hatte, war spätestens in der Nacht erfroren, an etwas anderes war kaum zu denken. Jeder der einigermaßen wieder das Bewusstsein erlangt hatte, hätte doch versucht aus dem metallischen Kadaver zu flüchten und wer das nicht geschafft hatte… nun, der war entweder schwer verletzt oder, was noch wahrscheinlicher war, so schlimm eingeklemmt, dass ihm sowieso niemand helfen konnte.
Was das wohl für ein Gefühl sein mochte? Eingesperrt zu sein in einer der kleinen Kammern die es sicher überall in diesem Wrack geben musste, und aus denen es kein Entkommen gab?
„Zoe! Mary!!“, rief sie bei diesem Gedanken in eine der schmalen Lücken hinter denen sie einen Hohlraum vermutete, auch wenn sie keine Hoffnung hatte, dort jemals jemanden heraus bekommen zu können, ohne dass der ganze Zeppelin über ihnen zusammen brach.
Die Teile waren so schwer und teils überdimensioniert, dass sie in großen Werkstätten zusammengesetzt worden waren. Wie sollten sie das mit vier bloßen Händen schaffen?
Vor ihren Füßen ragte derweil eines solcher Teile über den Boden auf. Vom Ruß des Brandes geschwärzt, spannte sich ein Stahlträger quer über eben jenen Weg, der gerade noch mehr oder weniger gut begehbar vor ihr gelegen hatte und der just unter ihr weg brach dort, wo der Balken begann.
Einem grollenden Ungeheuer gleich, kreischte das Geröll unter ihren Füßen auf und ein spitzer Schrei verließ ihren Mund, noch bevor sie mit den Füßen wieder auf selbigem Geröll aufkam.
Heftige Atemzüge erschütterten ihre schmale Gestalt, denn wenngleich der Sturz nicht weiter gewesen war als etwa zwanzig Zentimeter und der Balken zwischen ihren Beinen noch nicht mal auf Kniehöhe gelandet war, hätte die Sache ganz anders enden können, wenn sie auf dem Rücken des Zeppelinkadavers oder vorher in die Höhe geklettert wäre in einer der Kammern.
„Beruhig dich, Ceyda… beruhig dich“, murmelte sie sich mit einer Hand auf der Brust selbst Mut zu. Wie wild spürte sie ihr Herz schlagen und musste sich in der Dunkelheit für einen Moment an der Wand abstützen, um wieder Gleichgewicht zu finden.
Wie vieles in den unwegsamen Gängen, hatten sich unzählige Materialien zusammengefunden um mal mehr, mal weniger und mal gar keine Möglichkeit zu schaffen, voran zu kommen. Kaum ein Lichtstrahl fiel durch einen Spalt hindurch um ihr die Erleichterung zu schaffen besser zu sehen, doch das kalte wie auch weiche Gefühl von Leder würde sie auch ohne Augenlicht wiedererkennen. Womöglich ein ausgebeulter Koffer, der vielleicht ein paar Kostbarkeiten barg oder weitere warme Kleidung für die Kälte… oder ein einfaches weiches Kissen.
Bei Gott, was sie nicht alles für ein Kissen geben würde nach dieser unbequemen Nacht!
Mit den Fingerkuppen spürte sie dem glatt aufgerissenen Leder nach und spürte etwas Hartes hinter der Öffnung, womöglich… eine verbogene Brosche oder eine Haarspange. Doch so sehr sie auch versuchte es hervor zu ziehen, wollte das Stück nicht nachgeben – bis sie dem Koffer etwas näher kam und die Augen verengte, um das wenige bisschen Licht auszukosten, das ihr blieb.
Hätte sie es mal besser sein lassen…
Panisch zog sie ihre Finger aus dem Mund der Leiche zurück, die in die Trümmerwand eingepflegt war wie eine Fliese, und machte ein paar Schritte zurück um von ihr weg zu kommen. Dabei vergaß Ceyda völlig, dass sie noch immer den Stahlbalken zwischen den Beinen hatte.
Die Arme von sich gestreckt um irgendwo Halt zu finden, taumelte sie zur anderen Seite des schmalen Trampelpfades, prallte mit der Schulter gegen eine dumpf klingende Holzplatte und spürte, wie das Material unter ihr nachgab. Knarrend und schneidend rissen die Nägel, die die Platte aufrecht gehalten hatten, aus einem der Balken und ließen die junge Frau in einen größeren Hohlraum dahinter stürzen, dessen Wände aus den zerbrochenen Streben des einstigen Ballons bestanden und zum Teil das Tageslicht hinein ließen.
Uneben kam die Platte auf und ließ Ceyda wie eine Murmel hinab rollen.
Alles was sie vernahm, war das laute Rumoren von Geröll und Wrackteilen; ihrer intuitiven Art war es geschuldet, dass sie aus einem Impuls heraus von der geschaffenen Öffnung weg robbte so schnell sie konnte, bevor das laute Rumoren plötzlich erstarb.
Keuchend wandte sie sich um und drückte sich mit den Fersen ein Stückchen weiter fort, wobei ihre Hacken in Schnee trafen, der den Boden des Gerippebauches bildete. Unter der Holzplatte ragte eine kunstvoll mit Schnitzereien verzierte Holzsäule hervor, die sie unzweifelhaft als Teile der Bar im kleinen Bistro erkannte – und die eben jene Teile gestützt hatte, welche zittrig begann sich wieder in Bewegung zu setzen.
Obwohl offensichtlich war es nicht mehr zu schaffen, wog Ceyda ab ob sie es versuchen sollte durch die geschaffene Öffnung zurück in ihren Gang zu kommen, doch die Trümmern waren schneller als die junge Frau und gaben ihr eine Antwort, noch bevor sie sie selbst fand.
Ruß und Staub stiegen aus dem Trümmern auf, die in der zweiten Phase erstaunlich leise hinab sackten, sich geräuschvoll ineinander verkanteten und den Rückweg versperrten – zum Glück sie jedoch nicht im Wrack gefangen hielten, wie sie erleichtert an den Öffnungen feststellte, die den Raum erhellten.
„Hallo? Ist hier jemand, kann sich wer bemerkbar machen?“, wollte sie wissen und hustete kräftig, um den Staub loszuwerden, der sich mittlerweile in ihre Richtung niederlegte.
Ächzend rappelte sie sich erst auf die Knie, dann wieder in den Stand und sah sich um.
Und sah sich dann nochmal genauer um, denn in den Löchern, die sie im Schnee erkannte, waren nicht etwa Steine oder Wrackteile zu erkennen, die hinab gestürzt waren… sondern das Profil von Schuhen, die der Größe nach nicht ihre eigenen waren. Nicht frisch, zumindest wirkte es ihrer bescheidenen Ahnung nach so, aber wenigstens frisch genug, dass sie sicher nicht vor dem Absturz hier gewesen waren.
„Hallo? Hallo, ist da wer??“
Darauf bedacht, nicht noch mehr einzureißen als schon geschehen, versuchte sie zu ihrem versperrten Herweg durchzudringen und so laut sie konnte zu rufen.
„Matthew, hier! Ich hab was gefunden!!
Die Frage danach ob Ceyda Hilfe gebrauchen konnte erübrigte sich, als Matthew das unheilvolle Geräusch von berstenden Brettern vernahm.
Sie waren nicht weit voneinander entfernt und die einstürzenden Teile des Zeppelins ließen auch in seinem Teil des Wracks Staub hinab rieseln und Stahlträger warnend ächzen.
Verunsichert sah Cassie zu einer der vibrierenden Wände, Schutt fiel herab und der Balken, welcher den Pagen durchbohrt hatte, neigte sich ein Stück hinunter, woraufhin der Leichnam zu zucken und zu zappeln anfing. Wie eine Marionette aus einem Alptraum.
Es war eine irrsinnige Idee gewesen hierher zu kommen und Matthew spürte zum ersten Mal seit gestern wieder Panik in sich aufkommen.
Was hatte er sich gedacht Clarence zu verlassen um Leute zu suchen, die wahrscheinlich schon tot waren?
Mit ein bisschen Pech würden Ceyda und er hier drinnen verrecken. Dann konnte Jeremy zurück ins Lager humpeln und seinem Mann erklären, dass es das gewesen war.
Aus der Traum, vorbei alles Glück. Und wessen Schuld wäre das dann? Seine ganz allein.
Mit wild klopfendem Herzen presste Cassie sich an die Wand hinter ihm und lauschte.
„Ceyda!“ schrie er den Namen der jungen Frau, doch er erhielt keine Antwort. „Scheiße, Scheiße, Scheiße…“ Matthew wischte sich über die Lippen auf denen Staub lag, dann drehte er sich um, um wieder auf den Hauptgang zu gelangen. Er musste nach Ceyda sehen auch wenn die wahrscheinlich erschlagen worden war.
Doch noch bevor sich dieser Gedanke festsetzen konnte, drangen die lauten Worte „Matthew, hier!“, zu ihm empor und der Dunkelhaarige seufzte erleichtert auf.
Er hatte nicht damit gerechnet sie nochmal zu hören, aber wie es schien war ihre Glückssträhne noch nicht zu Ende.
„Wo bist du? Was siehst du? Ich versuche…zu dir zu kommen.“ - aber war das klug? Für diese Frage war es zu spät, denn klug wäre es gewesen nicht wieder hier hinein zu gehen. „Fuck…“, sagte er zu sich selbst und kletterte ungeschickt über einen Balken hinweg um in eben jenen Hohlraum zu gelangen in dem Ceyda zuvor gewesen war. Das Licht, welches in der anderen Kammer noch vorgeherrscht hatte, hatte in diesem Teil des Wracks keinerlei Macht mehr. Es war dunkel und stickig und es roch…irgendwie nach geräuchertem Fleisch.
Angewidert von dieser Assoziation tastete er sich an der Wand entlang.
„Ceyda! Wo bist du?“ - sie könnte drei Meter entfernt sein, er würde sie nicht sehen, so finster war es hier.
„Unten! Ich bin irgendwie… durch die Wand gebrochen!“ Nun klang ihre Stimme wieder näher als noch vorhin und Matthew scannte angestrengt den Raum ab, doch er sah keinen Durchbruch in der Wand. Hier war alles chaotisch durcheinander.
„Ich seh nichts… du musst… reden. Ich folge deiner Stimme.“ Die junge Frau zögerte einen Moment - warum auch immer - dann hörte Cassie sie wieder sprechen.
Sie lotste ihn an die gegenüberliegende Wand, welche zu einem Großteil nur aus einem einzigen Stück Holz bestand und durch das es kein Durchkommen gab. Lediglich an einer Stelle schien es einen Durchbruch zu geben, aber dieser war verstopft mit anderem Zeug. Kisten, zertrümmerten Möbeln und undefinierbaren Gegenständen. Durch einen winzigen Spalt konnte Cassie Tageslicht sehen und einen kalten Luftzug spüren.
„Ich hab’s gefunden denk ich. Aber ich komm nicht durch hier. Keine Chance.“ trotzdem stemmte er sich gegen eines der Teile, was die Konstruktion mit einem warnenden Ächzen quittierte.
„Kannst du bleiben wo du bist? Ich such einen anderen Weg.“ - „Ja, kann ich. Ist sicher hier…dem Anschein nach.“
Das war genau das, was Cassie hatte hören wollen. Er nickte im Dunkeln einmal, dann folgte er der Wand, sich mit einer Hand an ihr entlangtastend. Soweit er den kleinen Raum überblicken konnte, ging es nirgends nach unten und nirgends auf die andere Seite. Aber er konnte hinauf klettern, denn nur etwa drei Meter über ihm hatte ein Stahlträger ein Loch in die Wand gerissen und dahinter lag - zumindest von unten gesehen - nur Schwärze. Ob sich dort ein Weg ergab, dass würde er erst erkennen wenn er oben war. An der unebenen Wand versuchte Cassie Halt zu finden und musste dabei feststellen, dass er kaum in der Lage war genug Körperspannung aufzubauen um sich hochzuziehen. Er gab einen unterdrückten Schrei von sich als er sich nach oben stemmte und mit der linken Hand nach dem Balken langte, sich festhielt und umständlich unter höllischen Schmerzen hinaufzog.
Seine Rippen protestierten überdeutlich gegen die Anstrengung und die Wunde seiner Schulter fing wieder zu bluten an. Keuchend schaffte er es, sich über den Balken zu ziehen und auf ihm durch die durchbohrte Wand zu gelangen. Während er die wenigen Meter robbend zurücklegte, hörte er sein eigenes Blut in den Ohren rauschen und versuchte sich zu konzentrieren.
Er dachte nicht an Ceyda, nicht daran was sie gefunden haben mochte oder nicht… er dachte an Clarence und daran, dass er auf sich aufpassen musste. Er hatte es ihm versprochen und er hatte nicht vor dieses Versprechen zu brechen.
Angespannt ließ er sich schließlich auf der anderen Seite des Balkens herunter und sich die letzen Meter fallen. Statt Dunkelheit fiel hier zaghaftes Tageslicht in die Kammer, doch was sich an Anblick bot, dass war wenig tröstlich. Zwei Frauen lagen tot am Boden. Eine eingequetscht, die andere hielt ihre Hand. Sie war frei gewesen, aber hatte ihre Freundin, Mutter oder Schwester nicht verlassen wollen. Nun war sie so tot wie diejenige bei der sie ausgeharrt hatte. In ihren leeren Augen lag keinerlei Ausdruck mehr. Alles menschliche war fort, sogar der Schmerz und die Angst.
„Ceyda?… Bist du noch da? Hörst du mich?“, seine Stimme war leiser, er klang erschöpfter und außer Atem, aber die junge Frau brauchte keine Sekunde um zu antworten.
„Ich bin hier! Ganz in der Nähe.“
Cassie wandte sich von den Toten ab, beide gehörten nicht zu Jeremy - wofür er ausgesprochen dankbar war.
Durch eine verzogene Türöffnung - die Tür selbst war herausgerissen - quetschte Cassie sich an einem Stück Geländer vorbei, ging in die Hocke und kroch ein paar Meter voran, ehe seine Hände plötzlich in Schnee langten und die beengte Dunkelheit des Gerölltunnels sich lichtete.
Schwer atmend rollte er sich auf den Rücken, stellte locker die Beine auf und blinzelte dem Tageslicht entgegen.
Leichtfüßige Schritte knirschten leise im Schnee als die junge Frau zu ihm gelaufen kam und auf ihn herunterblickte.
„Alles okay bei dir?“, erkundigte sie sich woraufhin Matthew nickte.
„Ich denke schon… ich…brauch nur… nur einen Moment Pause.“ Das Atmen fiel ihm sichtlich schwer, er holte in flachen Zügen Luft die viel zu hektisch waren um ihn ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen.
Es dauerte mehrere Minuten bis Matthew wieder einigermaßen bei Kräften war und sich wieder aufrappelte. Zeit, die Ceyda ihm ließ ohne zu drängen. Erst als der Dunkelhaarige sich wieder in die Senkrechte begeben hatte, machte sie sich daran ihm zu zeigen was sie gefunden hatte.
„Schuhabdrücke.“ benannte sie das Offensichtliche als sie beide vor den Spuren standen die nicht zu ihren eigenen passten. „Und hier... laufen noch weitere zusammen.“, sie deutete auf weitere Abdrücke.
„Jemand war verletzt. Hier ist Blut. Aber wenn sie laufen konnten... dann haben sie es vielleicht raus geschafft.“ fasste Cassie seine Gedanken zusammen, blickte zu Ceyda und erkannte in ihrem Gesicht unerwartet so etwas wie Hoffnung.
„Oder sie sind noch hier irgendwo. Auf jeden Fall... sind wir nicht die einzigen die überlebt haben“, die Freude in ihrer Stimme war fast schon absurd, immerhin hatten sie noch niemanden gefunden. Aber Matthew verstand sie trotzdem. Es war gut, Hoffnung zu haben und diese Fußspuren gaben ihnen Anlass genug dafür.
Vielleicht war es doch nicht idiotisch gewesen herzukommen. Vielleicht konnten sie doch noch anderen helfen.
Angespannt hatte Ceyda auf der anderen Seite der Trümmerwand dem dumpfen Rauschen und klappern zugehört, das der junge Mann verursachte. Seine Worte klangen dumpf und waren nur dann verständlich wenn er laut rief, doch was sie trotzdem verstanden hatte war, dass er dumme Ideen in die Tat umsetzen wollte um zu ihr zu gelangen.
Ob er gehört hatte, dass er auf sich aufpassen und nicht übermütig werden sollte weil sie auch anderweitig hier raus kommen würde, wagte sie zu bezweifeln, so wenig wie sie selbst hörte.
Das Wrack knarrte und beschwerte sich donnernd bei ihrer Erkundungstour, einer stillen Warnung gleich, nicht zu viel auf einmal zu wagen. Es fühlte sich an, als habe der Zeppelin die Menschen unter sich begraben wie ein Raubtier seine Beute und jeder, der ihm diese zu stehlen wagte, wurde bedroht und im Zweifelsfall ebenso zum Opfer gemacht.
Bereit zu jeder Zeit die Flucht zu ergreifen wenn es nötig sein sollte, hatte Ceyda eine Habachtstellung eingenommen und beobachtete das leise Rieseln von Staub und kleinem Schutt, während sie weiter weg die Wände gequält knarren hörte.
In diesem Augenblick war sie so dankbar dafür, es gestern rechtzeitig hier heraus geschafft zu haben. Über Nacht eingesperrt, in diesem grollenden Monster, in völliger Dunkelheit und alleine? Nicht auszudenken welche Angst einem das wohl machen musste, wenn man keinen Weg hinaus fand… oder noch schlimmer: Wenn man schon draußen gewesen war, nur um bei Rückkehr hier drin alleine eingesperrt zu werden.
Dementsprechend erleichtert war sie, als Matthew es tatsächlich schaffte zu ihr zu kommen, auch wenn er danach noch verletzter wirkte als vorher. Woher dieser Typ die Kraft nahm diese Anstrengungen auf sich zu nehmen obwohl seine Schulter aussah wie von einem Wildtier zerfetzt und er sicher auch andere Beschwerden hatte über die er nicht sprach, würde ihr vermutlich auch noch in den kommenden Tagen ein Rätsel bleiben.
Sorgsam half sie ihm auf und gab ihm etwas Zeit wieder zu Atem zu kommen, was in der besser belüfteten Kammer schon deutlich besser ging als in den stickigen, dunklen Gängen.
„Ich finde, die Spuren… also ich habe sicher nicht so viel Ahnung wie du oder den Mann, aber wenn die Spuren schon älter wären, wären sie doch bestimmt mehr eingefroren. Oder? Die hier sehen aber frisch aus und lassen sich auch ganz leicht verwischen“, fasste sie ihre Überlegungen zusammen die sie angestellt hatte, während Matthew die Zeit genutzt hatte um zu ihr zu gelangen.
Um ihm zu demonstrieren was sie meinte, wischte sie mit einem Fuß quer durch die Spur die sich dabei verwehen ließ, wie frischer Puderschnee.
Ceyda brauchte einen Moment um sich zu orientieren und anhand des schlurfend aussehenden Gangs zu erkennen in welche Richtung die Abdrücke führten.
Sie folgte den Spuren und wenn man genau hinsah, erkannte man zwei kleinere Abdrücke, die dann und wann aus den größeren heraus brachen.
„Siehst du das?“, deutete sie auf besagte Stellen und folgte sorgsam den fremden Spuren, ohne diese mit den eigenen Schritten zu zerstören.
Ceyda war keine von den besonders naiven oder optimistischen Mädchen und sie wusste, dass die Wahrscheinlichkeit Jeremys Familie könnte nach einer Nacht in der Kälte noch leben, mehr als gering war. Trotzdem hatte sie während der zwei Tage an Board nicht übermäßig viele Kinder zu Gesicht bekommen und wenn sich hier irgendwo kleine Schuhabdrücke finden ließen, gab es auch nicht übermäßig viele Optionen.
Aufmerksam hing ihr Blick im Schnee, bis sie die nächsten sich auftürmenden Trümmer erreicht hatte. Die Spur endete nicht, sondern führte wieder tiefer in das Wrack hinein – hindurch durch einen viel zu schmalen Spalt, durch den weder Matthew, noch sie passen würden.
„Bestimmt standen sie unter Schock und haben den erstbesten Weg genommen, den sie finden konnten. Vielleicht ist der Weg hinter ihnen eingestürzt und sie sind irgendwo da drin eingeschlossen“, fasste sie das offensichtliche in Worte. Umgekehrt hieß das aber auch, die beiden waren die Nacht über – tief drin im Bauch der Trümmer – vor der eisigen Kälte der Nacht geschützt gewesen und waren womöglich dem Erfrierungstod entkommen.
Vorsichtig legte sie ihre Hände an einen großen Klumpen Metall der für sie aussah, als wären Teile des Maschinenraums zusammengeschmolzen oder mit was auch immer man so einen Zeppelin in der Luft behielt. Der Klumpen war stabil und rührte sich auch bei leichtem Rütteln nicht, ein gutes Zeichen dafür, dass der Spalt mit hoher Wahrscheinlichkeit stabil bleiben und sie heil auf die andere Seite hindurch lassen würde, wenn sie versuchte sich zu quetschen.
„Zoe? Mary??“ – Totenstille herrschte auf der anderen Seite, ein grauser Gedanke der weh tat angesichts der Hoffnung, welche die Fußspuren eben noch verheißen hatten.
Als sie ihre Hände wieder von den Trümmern nahm, waren sie geschwärzt von Ruß, was auch den Gestank von verkohltem Holz und angebranntem Fleisch verriet. Sicher waren hinter diesem Spalt Bereiche, die beim Absturz gebrannt hatten und wenn dort noch Leichen lagen, die Feuer gefangen hatten… sicher hatten die beiden Frauen dann unheimlich Angst oder waren so verstört, dass sie die Orientierung verloren hatten.
Bemüht ihr Gesicht nicht an das verrußte Metall zu drücken, reckte sie den Kopf durch den Spalt und versuchte etwas in der Dunkelheit dahinter zu erhaschen. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an die Schwärze gewöhnt hatten, doch in der Entfernung konnte sie durch Trümmer, Träger und Splitter ein schwaches Licht erkennen, das sicher den Ausgang des engen Tunnels markierte.
„W-Warte, ich… schaffe das hier durch. Mary? Zoe!!“
Dass sie sich in solch einer Situation mal so sehr um zwei Fremde kümmern würde, hätte sie selbst niemals gedacht. Doch der Reiz der Suche hatte sie mit dem Fund der Spuren ergriffen und das Adrenalin, das sie bei dem Gedanken daran durchflutete die beiden oder wenigstens andere Überlebende tatsächlich zu finden, ließ sie ihre eigene Angst völlig vergessen.
Schneller als sie tatsächlich ausgeatmet hatte um sich hindurch zu zwängen, war Ceyda schon durch den engen Spalt geschlüpft und zog den Bauch weit ein, um nirgendwo hängen zu bleiben. Wie der dunkle Schlund eines Fabelwesens aus düsteren Zeiten verschluckte der schmale Gang die junge Frau, bis auch ihr Arm und schließlich ihre Hand in der Dunkelheit verschwunden war, um sie mit sich zu reißen.
„Matthew? Hier entlang, der Gang wird… wird wieder breiter, sodass man ihm folgen kann. Hörst du mich?“, schallte ihre stimm dumpf und erstickt aus der Dunkelheit, gefolgt von einem stählernen klirren, als sie eine Metallstrebe aus der Wand riss und diese klackernd auf andere Trümmer traf.
„Hier ist ein Licht, ich wette… ich wette sie sind hier entlang!“
Dumpf schallten ihre unvorsichtigen Tritte durch die Dunkelheit hindurch und wurden leiser, während sich Ceyda weiter entfernte und dem schmalen Pfad tiefer hinein in den Bauch des Monsters folgte, das sie jederzeit verschlingen konnte, wenn es das wollte… falls es nicht schon damit begonnen hatte.

In kleinen weißen Wölkchen kondensierte der Atem des jungen Mannes vor dessen Lippen.
Seine dunklen Augen blickten skeptisch und angespannt auf die Spuren und in seinen Ohren spürte er sein Blut pulsieren. Ceyda war aufgeregt und hoffnungsvoll, sie musste nicht aussprechen wen zu finden sie sich ausmalte, Cassiel wusste es auch so. Die Vorstellung, dass die kleineren Fußabdrücke zu Zoe passten und die Größeren zu ihrer Mutter, war verlockend.
Aber anders als die junge Frau, war der Dunkelhaarige verhaltener was seine Hoffnung anbelangte. Matthew hielt sich mit einer Hand seine lädierte Seite, während er mit der anderen nach einem seiner Messer langte.
Das Licht, welches von oben hereinfiel war weiß und kühl und verlieh der Umgebung einen surrealen Kontrast.
Die gesamte Szenerie wirkte auf Matthew merkwürdig.
Bedrückend.
Gestellt.
Falsch.
Die Spuren im Schnee, die vielleicht zu Zoe und Mary gehörten, vielleicht aber auch zu anderen Überlebenden, führten wieder tiefer in das Wrack hinein und während er Ceyda und den Fußabdrücken der Fremden folgte wurde sein Widerstreben immer größer.
Matthew blieb stehen und sah an Ceyda vorbei in den schwarzen Spalt. Wie ein zahnloses Maul gähnte die Dunkelheit dahinter. Ebenso gut hätte zwischen dem geschmolzenen Metall und den verkohlten Balken das Nichts selbst liegen können.
„Ceyda, warte.“ - hörte er sich sagen, als die junge Frau den Kopf in den vermeintlichen Gang steckte und nach Zoe und Mary rief.
„Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache. Wir sollten…“ - aber Ceyda hörte ihm nicht zu. Sie quetschte sich zwischen den rußschwarzen Teilen hindurch, ohne auch nur einen nennenswerten Moment zu zögern.
„Scheiße! Was machst du da?! Komm zurück. Irgendwas stimmt nicht. Warum zum Teufel sollte irgendjemand dort entlang gehen? Geschweige denn mit einem Kind?“
Man blieb im Hellen, man versuchte hinaus zu kommen. Doch der Weg den die Spuren im Schnee wiesen und den auch die junge Frau nahm, führte eindeutig hinein.
War das zu erklären mit Verwirrung und Schock?
Vielleicht. Aber Matthew glaubte es nicht.
Dieser Ort war ein Grab und niemand übernachtete freiwillig auf einem Friedhof aus Stahl und Holz.
Cassie steckte das Messer zurück in die lederne Scheide, setzte sich zügig wieder in Bewegung und schob die Hand in den dunklen Spalt in dem Ceyda verschwunden war.
Er streckte den Arm nach ihr aus, bekam sie am Handgelenk zu fassen und hielt sie fest.
„Komm zurück. Wir finden einen anderen Weg.“
Einen Augenblick lang schien es, als würde sie überlegen. Sie verharrte an Ort und Stelle, dann schüttelte sie seine Hand ab und entzog sich ihm.
„Sie sind hier entlang. Ich kann ihre Spuren sehen.“ erwiderte Ceyda entschlossen, wobei Matthew bezweifelte, dass sie da drin überhaupt irgendwas sehen konnte.
„Fuck, Ceyda!“ rief Cassie verärgert, erhielt jedoch keine Antwort mehr. Die knirschenden Schritte, die er bis vor wenigen Sekunden noch vernommen hatte waren plötzlich fort, ebenso jedes andere Geräusch und mit einem Mal war es Matthew, als sei er völlig allein.
„Ceyda!“ rief er, dieses Mal lauter und energischer, doch die Stimme der jungen Frau meldete sich nicht zu Wort.
Einzig das Knarren und Ächzen des Wracks antwortete ihm.
Unsicher zog Matt seinen Arm wieder aus dem Spalt und blickte hinein in das Nichts.
Es lud ihn ein und stieß ihn ab, beides zur gleichen Zeit.
Er hatte Angst und das Gefühl, dass er schleunigst verschwinden sollte und gleichzeitig die ambivalente Hoffnung, dass dahinter vielleicht Überlebende warteten. Zoe und Mary, Cameron, Kain und Abel.
Sie alle konnten dort sein. Sie alle konnten auf ihn warten.
Und wenn er auch ging, dann würde er bei ihnen sein.
In Sicherheit.
In Sicherheit.
In Sicherheit.
In Sicherheit.
In Sicherheit.
Er wich hektisch einen Schritt zurück und trat wieder hinaus aus dem Gang, in den er unbewusst schon einen Schritt hineingetan hatte. Seine Atmung ging schneller als noch vorhin und trotz der Kälte stand ihm Schweiß auf der Stirn.
Gerade wollte er sich abwenden als in dem Gang etwas klirrte, das Geräusch war weiter hinten und ihm folgte ein leises Schluchzen.
„Ceyda!“, rief er in die Düsternis hinein ohne eine Antwort zu bekommen. Doch das Weinen wurde etwas lauter.
Ohne Frage gehörte es zu einem Kind.
„Hilfe! B-Bitte…i-ist da j-jemand?“, die verzweifelte Stimme eines kleinen Mädchens. Matthew, der drauf und dran gewesen war zu gehen, blieb wie vom Donner gerührt stehen und starrte reglos in den Gang.
„Ich bin hier! Kannst du mich hören? K-Kannst du…meiner Stimme folgen?“, er wartete auf eine Antwort, aber es schien kurz so als würde er keine bekommen. Doch schließlich reagierte das Mädchen doch.
„Ich w-weiß nicht wo ich bin. Hier ist es so dunkel. Ich h-habe Angst….“, sie schluchzte wieder.
„Kannst du k-kommen und m-mich h-holen? B-bitte…“ flehte sie kläglich. Und Matthew, der bis dahin gezögert hatte sich durch den Spalt zu quetschen, setzte sich nun in Bewegung um genau das zutun.
„Ich komme…. B-bleib wo du bist. Ich hol dich.“ , versprach er dem Kind dessen Stimme so schrecklich aufgelöst und ängstlich geklungen hatte. Er schob sich an dem geschmolzenen Metallklumpen vorbei, wobei er vor Schmerzen stöhnte weil sich harte Kanten in seinen Rücken bohrten und die Haut an seiner ohnehin verletzten Schulter weiter aufrissen. Die ersten Meter in der Dunkelheit blieb es so eng, dass er kaum atmen konnte, dann wurde der Druck ein bisschen weniger und Cassie erkannte am Ende des Gangs ein kleines weißes Licht.
Wie magisch wurde von diesem angezogen, setzte Schritt um Schritt vorwärts und lauschte auf das Weinen.
Es klang wieder leiser, weiter weg… obgleich das unmöglich war, war der Weg doch ohne Abzweige.
Das letzte Mal, dass er in solch beengter Finsternis gewesen war, war im Tunnelsystem der Riesenspinnen. Noch zu gut erinnerte er sich an die Schwärze, die nasskalten Steine, die Enge und die Panik. Er erinnerte sich daran wie er ein kleines Licht entzündet und sich umgedreht hatte… um hinter sich eine Spinne zu erblicken die so hoch wie der gesamte Gang gewesen war, die sich lautlos an ihn herangeschlichen hatte um ihn zu packen…
Mit schwarzen Augen hatte sie ihn angeglotzt.
Mit Augen wie Löchern.
Die Erinnerung an dieses Erlebnis ließ Matthew schneller gehen, ihn beinahe schon in Panik ausbrechen. Er sah hinter sich zurück, doch da war nichts mehr. Kein Licht, kein Schemen, keine Andeutung von irgendwas.
Nur Schwärze.
Er lief über den unebenen Untergrund, hörte Holz knirschen und Metall ächzen. Die Geräusche des Wracks waren zu einer Symphonie der Verdammnis geworden, der Wind pfiff durch zerklüftete Konstruktionen, ließ das zerschmetterte Luftschiff jaulen wie einen geprügelten Hund.
Und das Mädchen?
„Hey… hey Kleine. Wo bist du?“, Matthew duckte sich unter einer herabhängenden Strebe hindurch, das Licht dabei immer im Blick. In seinen Ohren hallte seine Stimme wider.
Die Stimme des Mädchens war verstummt. Ihr Weinen ebenso. Es gab nur Matthew, das Wrack und das Licht. Ceyda war fort - vielleicht hatte sie das Kind gefunden und mitgenommen. Mit nach vorne. Mit zum Licht.
Und gerade als Matthew wieder nach ihr rufen wollte hörte er sie wieder. Das kleine Mädchen.
Doch dieses Mal hörte er sie nicht weinen und schluchzen. Dieses Mal… hörte er sie lachen.