Supermarkt - Eiswüste
13. Juli 2210
Es war weit nach Mitternacht als Matthew zurückkehrte.
Er hatte draußen in den Trümmern gesucht, doch niemanden mehr gefunden der noch lebte.
Statt Überlebender, zog er hinter sich ein Stück Ballonfetzen her, darauf hatte er jenes Zeug geworfen, von dem er glaubte es könnte noch nützlich für sie sein.
Darunter waren zwei Koffer, einer war voller Wintersachen, in dem anderen Mitbringsel aus Rio Nosalida.
Wein, getrocknete Wurst und eingelegter Seefisch. Wie durch ein Wunder war nichts davon zerbrochen, anders als der Mann, der unter dem Gepäckstück gelegen hatte.
Auch ein kleines ledernes Säckchen mit Splittern von Edelsteinen befand sich in dem Reisekoffer. Diese waren so klein, dass sie nahezu wertlos waren - aber derjenige der sie eingepackt hatte um sie Freunden oder Verwandten zu zeigen, wäre sicherlich trotzdem ein kleiner Held gewesen, weil er diese Kostbarkeiten aus der Ferne mitgebracht hatte.
Aber nun würde jene Person nichts mehr mitbringen und wer auch immer auf jenen Menschen wartete, würde umsonst warten.
Neben den zwei Koffern hatte Matthew den Leichen dreier Jäger der Golden Cross ihre Waffen abgenommen.
Zwei Sicheln und eine machetenartige Hiebwaffe gehörte nun zu ihrem Equipment.
Alles in allem hatte er durchaus Dinge gefunden, die nützlich waren, aber das worauf es ankam hatte sich ihm nicht offenbart.
Clarence blieb verschwunden.
Matthew hatte in der Nähe der Gebäude gesucht, hatte gerufen, hatte in den Trümmern gesucht und war mehr als einmal auch in das Wrack geklettert, immer von der Vorstellung getrieben, dass sein Bär irgendwo dort liegen würde und Hilfe brauchte.
Bei seiner Suche hatte er Teile des Frachtraums gefunden, tote Tiere, zerstörte Boxen und Käfige und noch mehr Koffer waren dort verstreut gewesen, viele zerfetzt, viele verbrannt.
Vielleicht waren einige von ihnen noch brauchbar, bei Tageslicht würden sie nochmal einen Blick darauf werfen.
Von Kain und Abel indes fehlte jede Spur.
Als Matthew sich zurück zum Lager schleppte, lagen auf seinem provisorischen Schlitten auch Teile zerlegter Tiere.
Das Fleisch war gefroren und damit das so blieb, vergrub er sie halb im Schnee neben dem Gebäudeeingang.
Mürbe und kraftlos klopfte er sich die Hosenbeine ab und betrat schließlich den Laden.
Er lauschte in die Dunkelheit, hörte leises Schnarchen und das Knistern des Feuers.
Über den Regalen, die den abgetrennten Bereich schufen, flackerte der Schein der Flammen während der Rest des Raumes finster vor ihm lag.
Er zog die Plane hinter sich her, das scharrende und raschelnde Geräusch kam ihm in der Stille aber selbst so laut vor, dass er schließlich innehielt und die Sachen nur etwas an den Rand schob wo er sie schließlich zurückließ.
Den Rucksack seines Mannes auf dem Rücken und Eiskristalle in Wimpern, Brauen und Bart orientierte er sich in der Halle und steuere die Regale an.
Zu dem Geruch von brennendem Holz, gesellte sich schon wenige Meter später der unverkennbare Geruch von Tabakqualm.
Im Dunkel, neben der zugestellten Fensterfront, glomm rot eine Zigarette auf als an ihr gezogen wurde.
‚Claire...das ist er.‘ der irrationale Gedanke, der als Überzeugung daherkam, ließ sein Herz schneller schlagen und seine Schritte sich beschleunigen.
Dort würde der Kerl stehen, auf ihn warten und rauchen und wenn sie sich dann gegenüberstanden, würde der Blonde ihn fest in die Arme nehmen, ihn drücken und fragen ob er okay war.
Und Matthew würde wissen, dass alles gut war.
Clarence ging es gut und nichts war wichtiger als das.
Die Vorstellung, dass es so sein würde war so real, dass Cassie sich buchstäblich in sie verrannte und Ceyda erst erkannte als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war.
Und als er begriff, dass sie es war und nicht Clarence, blieb er stehen.
„Ceyda...?“, wie konnte es sein, dass Clarence nicht da war? Er hätte hier sein müssen, er hätte warten sollen.
Aber der Blonde war aus dem Zeppelin gestürzt und Matthew musste erkennen, dass er wahrscheinlich nicht mehr lebte.
Clarence würde nie wieder irgendwo stehen und auf ihn warten.
Cassies Herz brach zum unzähligsten Mal an diesem Tag und er spürte, wie alle Kraft ihn verließ.
„Ellen ist tot.“
Die Worte waren wie ein Schlag in sein Gesicht und Matthew war sich einen Moment lang sicher, dass er sich verhört hatte. Bestimmt hatte sie das nicht gesagt.
Ellen war okay gewesen als er gegangen war.
„Hast du gehört?“, sie klang ungeduldig, die glimmende Zigarettenspitze zitterte in der Dunkelheit.
Matthew sagte nichts, er hatte sie gehört und er hatte sie verstanden, aber er konnte das Gesagte nicht begreifen.
„Sie lag einfach tot da. Sie hat sich schlafen gelegt und jetzt ist sie tot.“, sie sagte es nicht, aber Matthew erkannte einen unterschwelligen Vorwurf wenn er ihn hörte.
Er schwieg noch immer und rührte sich nicht, stand einfach nur da und fühlte sich wie betäubt.
„Wo warst du?!“ - als täte es etwas zur Sache, wo er gewesen war. Als würde Ellen wieder aufwachen, wenn er nun das richtige sagte.
„Beim Wrack. Ich war...beim Wrack.“
Schweigen.
Sie musterte ihn, Matthew spürte ihren Blick auf sich.
„Bist du sicher, dass...Ellen...?“ - „Dass sie tot ist?“, schnitt sie ihm schrill das Wort ab und Matt nickte, wahrscheinlich ohne das Ceyda es sehen konnte.
„Ich habe etwa eine Stunde gewartet ob sie nochmal aufwacht. Also ja verdammt, ich bin sicher.“
Sie nestelte in ihrer Tasche, fummelte eine neue Zigarette heraus und steckte sie an, in dem sie die Spitze des Stummels an den Tabak hielt und zog.
Stumm musterte Matthew sie, er wusste, dass sie darauf wartete, dass er antwortete aber er fand keine Worte. Er wusste nicht was er sagen sollte, er wusste noch nicht einmal was er fühlte.
In ihm war so viel Platz, weil er so leer war...aber er konnte nichts empfinden.
„Ich hab sie weg geschafft. Nach hinten.“ - nun klang ihre Stimme brüchig, als würde sie gleich beginnen zu weinen.
„Okay...morgen begraben wir sie. Zusammen mit ihrem Bruder.“ Die Worte fühlten sich tonlos und schal an.
War er das, der hier war? War er das, der sich so fremd fühlte?
„Das ist alles was dir einfällt? Dass wir sie begraben werden?“ die Wut in ihrer Stimme war nun offen zur Schau gestellt und Matthew reagierte unvermittelt dünnhäutig - „Was willst du hören? Was zum Teufel willst du hören?
Ich hab diesen verdammten Zeppelin nicht zum Absturz gebracht, ich hab nicht ihr Leben und das duzender anderer genommen.“
Ceyda senkte den Blick, kaute auf ihrer Unterlippe und rang um Fassung.
Der Tod der jungen Frau nahm sie mehr mit als gut für sie war. „Tut mir leid...tut mir leid.“, er wischte sich über das Gesicht. Fahrig, unsicher, überfordert.
„Du solltest dich hinlegen...ein bisschen schlafen.“
Jetzt war es an Ceyda zu schweigen, weshalb Matthew nach einer kurzen Pause weitersprach.
„Ceyda...du hilfst ihr nicht, wenn du kein Auge zu machst. Morgen müssen wir...uns überlegen wie es weitergeht.“
Sie würden morgen vermutlich noch hier bleiben, vielleicht aber auch nochmal umziehen, sie brauchten mehr Nahrung und Adrianna brauchte medizinische Versorgung.
Sie würden sich um die Kinder kümmern müssen und um Jeremy.
„Der Absturz hat... sie schlimmer verletzt als wir sehen konnten, sie war tapfer und unter Schock, sie hat dich und mich gerettet.... du wirst das nicht wegschmeißen in dem du irrationale Entscheidungen triffst.“ -
„So irrational wie du? Wie deine Suche nach deinem Mann? - diese Bemerkung traf ihn, dass spürte sie sofort auch wenn sie das Gesicht des jungen Mannes nicht sah.
Mit einem Mal herrschte wieder Stille zwischen ihnen, Zeit in der sie wieder an ihrer Zigarette zog und Matthew einen Schritt zurückwich.
„Ich suche so lange nach ihm wie ich will, verstanden? Ich bin nicht...für das hier verantwortlich...“, er deutete auf den Raum hinter den Regalen, der vom flackernden Feuer gewärmt wurde.
„Nach wem ich suche...ist nicht dein Problem, nichts von dem was ich mache ist dein Problem. Kümmere dich um dich.“
Er wollte das alles nicht, er wollte nicht hier sein, er wollte nicht über Tote reden, wollte nicht darüber nachdenken woran Ellen gestorben war und ob er es hätte verhindern können, hätte er sie zur Ruhe gezwungen.
Aber es ging nicht danach was er wollte.
Leider tat es das selten.
Die Nacht war lang gewesen und bitter. Kalt, auch wenn sie ein Feuer hatten. Doch bis auf den Grund ihrer frierenden Seele drangen selbst die kräftig tanzenden Flammen nicht mehr.
Ceyda fühlte sich ausgebrannt und leer. Ebene jene Verzweiflung, die der fremde Typ schon beim Erwachen in den Trümmern gehabt haben musste und seitdem er seinen Mann suche, fing langsam an in der jungen Frau zu wachsen. Sie vermisste hier keinen, immerhin war sie alleine gewesen, und trotzdem war Ellen mit fortschreitendem Verstreichen des Tages so etwas… wie ihr Gegenstück gewesen. Die Geschwister hatten einander, Matthew hatte wenigstens seine Freundin gefunden. Jeremy hatte die Trauer, er brauchte und wollte derzeit sowieso keinen anderen und sie, sie hatte Ellen gehabt um in diesem Chaos nicht alleine zu sein. Hatte.
Jetzt teilte keiner mehr die Arbeit mit ihr, die Matthew ihr aufgebürdet hatte. Keiner hatte ihr geholfen Ellen fortzuschleifen, den kleinen Jungen erst zu beruhigen und dann zu begleiten wenn er Pinkeln musste oder darauf zu achten, ob Lucy noch atmete oder nicht doch wieder selbiges einstellte.
Keiner nahm ihr die unerträgliche Verantwortung die der Kerl ihr aufgetragen hatte, indem er ihr die Tussi mit dem abgehakten Arm hier gelassen hatte. Ihr Verband hatte einmalig durchgeblutet nachdem er weg gewesen war, Grund genug um die Stoffsteifen zu wechseln und sich danach zu übergeben angesichts dessen, was Matthew mit dem Arm angestellt hatte. Selbst Vieh erlöste man wenn es so sehr verletzt war, doch der Typ behandelte seine Freundin respektloser als jedes kranke Tier. Hakte ihr den Arm ab, tat das Nötigste damit sie nicht verreckte – und lies sie dann alleine mit zwei halbstarken Mädchen, die keinerlei Ahnung hatten von den Dingen, die er an ihr begonnen hatte.
Zu guter Letzt stellte er sie noch als dumm hin, als wäre sie nach diesem beschissenen Tag hier noch immer nicht in der Lage einen Toten von einem Lebenden zu unterscheiden. Nur um im Anschluss schon wieder den Ansager raushängen zu lassen und ihr zu sagen, was sie zu tun hatte.
Sie sollte sich jetzt schlafen legen, weil sie so keinem helfen würde und man sich ja morgen Gedanken machen müsse, wie es weiter ging.
Was dachte der Vollidiot eigentlich, wem er half wenn er nicht schlief, sondern irgendwo draußen in der Pampa herum rannte?!
Zunehmend zitterte Ceydas rote Glut im Dunklen wann immer sie an der Zigarette zog. Sie konnte gar nicht mehr genau sagen ob sie so aufgebracht war, nur weil sie auf den Älteren wütend war, ob es die Müdigkeit und die Kälte waren die sie so dünnhäutig gemacht hatten oder ob alles nur auf die Verzweiflung zu schieben war, die letztlich auch sie ergriffen hatte. Vermutlich ein wenig von allem.
„Nichts von dem was du machst ist mein Problem, mh? Das heißt die Kinder und deine dank dir einarmige Freundin versorgen sich jetzt selbst, während du draußen herum rennst?“
Verbittert blickte sie in die Ferne, suchte mit unruhigen Augen zwischen den Gebäuden am Ende der Straße nach einem Flecken Horizont. Anscheinend war Matthew gar nicht aufgefallen wie lange er schon unterwegs gewesen war; der Himmel mochte sich noch lange nicht wieder heller färben, immerhin waren sie hier im Winter angekommen, doch ihre den Absturz überlebte Armbanduhr teilte ihr unmissverständlich mit, dass es schon weit nach fünf Uhr morgens war.
„…und Ellen rollt sich auch alleine raus vor die Tür, sobald es hell ist? – Ich glaube nicht. Ich glaube aber auch noch weniger, dass du nach deiner anstrengenden Nachtwanderung jetzt auch noch den Tag dran hängen und dich um die ganze Scheiße hier kümmern wirst. Jeremy wird das mit seinem kaputten Bein und seinem Rumgeheule sicher auch nicht machen. Also sag mir, was von all dem hier ist nicht mein Problem und wann soll ich mich um mich kümmern?“
Sie wollte dem Kerl nicht mal absprechen dass er fleißig war, dass auch er Leute gerettet hatte und dass er alles dafür tat um Sachen für sie zu besorgen, die ihnen den scheiß Arsch retteten, insofern es überhaupt was zu retten gab.
Aber hier gab es kein ich oder du mehr. Kein mein, dein, seines oder ihres.
„Wir alle stecken hier in dem gleichen beschissenen Kahn, aber nicht alle können die gleiche Scheiße erledigen, damit nicht alle hier verrecken. Raffst du das nicht? Du kannst nicht einfach Leute und vor allem Verletzte anschleppen wenn du der einzige bist der Ahnung hat und dich dann verpissen, um deinen beschissenen Ehemann zu suchen. Du kommst vielleicht mit vollen Händen hier an“, deutete sie mit der freien Hand in die Richtung in der sie eben noch seinen raschelnden Radau gehört hatte bevor er auf die Bildfläche getreten war, „aber du bist der egoistischste, dreckigste Wichser von allen hier. Hast du Jeremy mal nach seiner Familie gefragt? Wen er vermisst?!“
Das hatte Matthew nicht, was wusste Ceyda, denn sie hatte den armen Tropf danach gefragt, der selbst im Schlaf heulte und aufgrund seiner Verletzung nicht nach seinen Leuten suchen konnte.
„Während du deinen Mann gesucht hast, hättest du auch Ausschau nach seiner Frau und seinen Kindern halten können, und wenn du nur ihre Leichen gefunden hättest. Wahrscheinlich bist du heute Nacht fünf Mal an ihnen vorbei gerannt, während du an nichts anderes gedacht hast als deinen bekloppten Stecher und nicht daran, wer hier gerade verreckt oder genauso wie du noch jemanden vermisst.
Wenigstens hast du ihn nicht gefunden, scheint noch etwas Gerechtigkeit zu geben auf der Welt.“
Es würde Ceyda nicht wundern wenn das Arschloch Lucy, Gabriel und die Rothaarige nur deshalb aus den Trümmern gezogen hatte um sein eigenes Gewissen zu erleichtern, ansonsten waren ihm die drei vermutlich völlig egal.
Genauso, wie Ellen ihm völlig egal war.
Schniefend wischte sie sich in der Dunkelheit mit dem Daumen über die feucht gewordenen Wangen, zog eine weitere Zigarette aus ihrer Jacke hervor und entzündete auch diese an der noch vorhandenen Glut des Stummels. Wenn sie so weiter machte, dann war die Packung endlich leer bevor die Sonne aufgegangen war.
Die ganze Nacht hatte sie so verbringen und Kette rauchen wollen, bis zu jenem Moment als sie – noch draußen vorm Laden paffend - den Mann in einiger Entfernung als Schatten im dunkelgrauen Schnee hatte ausmachen können. Seine Statur war größer und breiter gewesen als die ihres verschollenen Axt-Arschlochs, doch anhand seines Ganges hatte sie schnell erkannt dass er weniger Bedrohung war, als ihrer Hilfe bedürftig.
„Hab mir deinen Macker anders vorgestellt, dachte nicht, dass du die Susi bist in eurer Ehe. Wenigstens bin ich nicht so ein Arsch wie du, sondern hab mich um ihn gekümmert.“
Unberührt zog sie an ihrer Zigarette, auch ohne hinzusehen wusste sie, dass der Groschen beim Dunkelhaarigen noch nicht gefallen war.
„Ihr passt gut zusammen, er wär dir fast hinterher zurück in den Schnee als er gehört hat, dass du hier warst. Ich hab ihn davon abgehalten und überzeugt, dass es besser ist, wenn er hier auf dich wartet. Alleine schon, damit er sich nicht noch mehr Zehen abfriert“, schnippte sie den Stummel zwischen der Barrikade hindurch gen Schaufenster, um sich der neuen Zigarette zu widmen. „Seit ‘ner Stunde ist er da, du musst nach seinem Arm schauen, ich hab ihm den nicht richten können. Und er pisst Blut, aber er hat irgendeinen Scheiß gemurmelt, dass das nicht mein Problem ist und ich mich um mich selbst kümmern soll. - Bin mir jetzt ziemlich sicher, dass das Blondchen zu dir gehört.“
Es war ihr gemeinsames Glück, dass sie sich im Dunklen gegenüber standen, denn ansonsten hätte Matthew nicht nur ihre giftige Stimme erreicht – sondern auch der angeätzte Blick, den Ceyda ihm dünnhäutig entgegen warf und mit dem sie zu fragen schien, was er bitte noch hier stand.
„Er ist nach hinten irgendwo in die Lager um sich frisch zu machen, ich hab ihm heißes Wasser und Klamotten mitgegeben. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich will mich um mich kümmern.“
Das Gespräch, dass relativ gesittet begonnen hatte, kippte mit jeder Silbe die aus Ceydas Mund kam mehr.
Er würde sich verpissen, um seinen beschissenen Ehemann zu suchen.
Er könne nicht verletzte Leute anschleppen und er sei der egoistischte, dreckigste Wichser vor Ort.
Mit jedem Wort wallte in Matthew mehr und mehr das Gefühl auf, dass das hier nicht wirklich geschah.
Vielleicht hatte der Steinwurf in Cascade Hill ein Koma verursacht aus dem er noch immer nicht wieder erwacht war.
Oder es gab Vetala welche sich von negativer Energie ernährten statt von guten Emotionen.
Die Beleidigungen die sie gegen ihn ausspie wie Gift und Galle trafen ihn, weil sie kein Recht dazu hatte ihn zu be-und verurteilen. Und vor allem stand es ihr nicht zu, Clarence seinen beschissenen Ehemann zu nennen.
„Du redest nicht so von ihm.“, sagte er über ihre Ausführungen hinweg.
„Du hast nicht den blassesten Schimmer wer und wie er ist.“
Ceyda wusste nicht wie kurz Matthew davor stand auszuflippen, weil ihre Anschuldigungen zu weit gingen.
Clarence war sein Leben und wenn er tot war, dann hatte er gar nichts mehr.
Es stimmte, er hatte Jeremy nicht nach seiner Familie gefragt, aber hätte der Kerl den Mund aufgemacht, dann hätte er natürlich auch nach ihnen Ausschau gehalten.
Und ihn hatte auch keiner gefragt, seine Prioritäten lagen nicht auf Ceyda, nicht auf Jeremy - und sie hatten auch nicht auf Ellen gelegen.
Das mochte undankbar sein, vielleicht sogar egoistisch, aber es war die Wahrheit.
Die letzten Stunden hatte er sich durch Schnee, Wrackteile und Leichen gewühlt. Er hatte nach Clarence aber auch nach jedem anderen gesucht der Hilfe brauchte.
Er tat all das nicht, weil es ihm leichtfiel - denn das tat es nicht - sondern weil er wusste, jemand würde es tun müssen.
„Ich bin ein Wichser, weil du den Verband von Adrianna wechseln musstest?“, er stieß hörbar Luft aus.
„Und weil Ellen gestorben ist und ich nicht da war.“ - was zum Teufel wollte sie von ihm?
Das er bei der Gruppe sitzenblieb, eine Befragung durchführte wer sich wie fühlte und Tränen trocknete?
Dafür hatten sie keine Zeit, sah sie das nicht?
„Ich kann nicht... hier sitzen und warten, weil mit jeder Stunde die verstreicht, die Chancen kleiner werden da draußen noch Überlebende zu finden. Weil wir Proviant brauchen und Waffen, weil wir warme Sachen brauchen werden und Medikamente, zumindest aber Alkohol zum Desinfizieren von Wunden.“
Er lief nicht heulend und blind durch den Schnee.
„Von mir aus kannst du über mich reden und von mir denken was immer du willst...“, kurz überlegte er, ob er noch etwas bissiges anfügen sollte, ob er ihr sagen sollte wie selbstgerecht sie sich anhörte und wie anmaßend es von ihr war sich ein Urteil zu erlauben.
Sie saßen alle im selben Kahn wie sie selbst so schön gesagt hatte und jeder trug sein Päckchen und jeder trug es anders.
Aber letztlich...sagte er nichts mehr, nicht etwa weil er nicht wusste was sondern weil er wusste, dass Ceyda ohnehin nicht zuhörte. Egal was er sagte, egal was er tat oder ließ... Sie war nicht empfänglich für das was er ihr sagen würde.
Sie war bitter geworden und biestig und Matthew bezweifelte, dass sich daran wieder etwas ändern würde in der nächsten Zeit. Aber wohin würde es führen, wenn er jetzt die Nerven verlor und auf sie losging?
Nirgends hin.
Ceyda schwieg kurz, sie starrte düster vor sich hin und rauchte und als sie das nächste Mal die Stimme erhob... da konnte Matthew ihr überhaupt nicht mehr folgen.
„Hab mir deinen Macker anders vorgestellt, dachte nicht, dass du die Susi bist in eurer Ehe...“
Cassies erster Impuls war es, sie zu fragen wovon zum Henker sie eigentlich redete, doch er biss sich auf die Zunge.
‚Sie hat sich um ihn gekümmert?!‘ schoss es ihm verständnislos durch den Kopf. Er konnte ihr nicht folgen, weil es keinen Sinn machte, was sie da von sich gab.
Matthew hatte so verbissen nach Clarence gesucht, dass er gar nicht begriff was Ceyda ihn wissen ließ.
Er starrte sie an, schweigend, während der Schnee schmolz und ihm übers Gesicht lief.
Warum redete sie von Clarence als würde sie ihn kennen?
Die Erkenntnis, dass sie es tat, dass sie ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte, kam so plötzlich als würde man aus einer Höhle unter Tage empor klettern und mit einem Mal aus der kalten Dunkelheit in grelle Wärme steigen.
Alle Anspannung fiel von ihm ab, von einer Sekunde auf die Andere aber statt Erleichterung verspürte er Unglauben.
Was wenn sie sich irrte? Wenn sie ihn verarschte?
Irrationale, unbändige Angst stieg in ihm auf, weil er fürchtete, dass seine Hoffnung nicht wahr war.
Dann war Clarence noch immer weg, noch immer verschollen, noch immer tot.
Seine Gedanken überschlugen sich, sie waren ungeordnet und wirr, dazu das Gefühl von Taubheit und zitternder Aufregung.
Alle Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen und er stand reglos und ungläubig vor ihr, zumindest bis zu dem Moment als sie ihn Blondchen nannte.
In diesem Augenblick wich er zurück und drehte sich um, noch ehe sie ihm sagte wohin er gegangen war. Er lief in die Dunkelheit, mit zittrigen Beinen und wie in Trance.
‚Er ist es nicht, sie irrt sich, irrt sich bestimmt.‘ noch nie hatte er solche Angst um jemanden gehabt wie um Clarence und darum, dass all seine Hoffnung wieder zerschlagen wurde.
‚Oh bitte...bitte lass es ihn sein, wenn er es nicht ist ertrag ich das nicht...‘ Ceyda, die in ihrer Wut auf ihn gar nicht wahrnahm, dass er sich bereits entfernte, ließ ihn wissen wohin sein vermeintlicher Mann gegangen war und auch, dass er sie in Ruhe lassen sollte.
Unsicher lief Matthew an den leeren Regalen vorbei, er spürte sein Herz rasen und das Pochen in seinem Kopf. Mit jedem Schritt den er tat wurde er eiliger, bis er beinahe rannte. Dreck knirschte unter seinen Stiefeln, weil er gar nicht darauf achtete wohin er trat.
Eine Tür, halb aus den Angeln gerissen, markierte die Grenze zwischen Einkaufsraum und Lager und Cassie drückte das kalte Metall zur Seite.
Dahinter hätte alles lauern können, Monster, Verstoßene, Räuber... er wäre ihnen einfach in die Arme gerannt.
Aber stattdessen fand er einen jungen Mann vor, halb in seinem Pullover steckend, das blonde Haar wirr und strähnig, einen Arm auf einem der Regalbretter liegend und in der anderen Hand einen nassen Fetzen Stoff.
Eine kleine Fackel erhellte die Kammer und tauchte sie in gespenstisch rotes Licht und warf den Schatten der Person pechschwarz an die gegenüberliegende Wand.
Jener Mann musste sich nicht umdrehen, damit Matthew ihn erkannte.
Er hätte ihn blind und aus tausenden erkannt.
Sein Herz setzte aus als er der Wahrheit unzweifelhaft gewahr wurde... und auch seine Lunge weigerte sich, den nächsten Atemzug zu tun.
Es war, als würde die Welt sich auflösen, als würde der Alptraum enden den er bis eben noch für unendlich gehalten hatte.
Matthew fiepte ein tränenersticktes „Baby“, dann schlug er sich die Hände vor den Mund.
Wilde Freude, maßlos und zu stark um nicht überwältigt zu werden, nahm von ihm Besitz und gleichzeitig ein Gefühl von alles überbordender Erleichterung.
Er schluchzte laut, dann lief er auf Clarence zu, überbrückte die wenigen Schritte welche sie bis dahin getrennt hatten und umarmte ihn so stürmisch und fest, dass ihm seine Rippen und Brust wehtaten. Zitternd wie Espenlaub presste er sich an ihn, dabei unkontrolliert weinend.
„M-mein Baby...du lebst, d-du lebst.“ wie war das möglich?
Erst jetzt wurde ihm gewahr, dass er all die Zeit zwar gehofft hatte, den Blonden wiederzusehen, aber nicht daran geglaubt hatte.
Matthew umfasste fahrig das Gesicht seines Geliebten, konnte aber nicht hinein sehen, denn er weinte viel zu sehr.
Schluchzend drängte er stattdessen seine Stirn gegen Clarence‘ Hals, der Größere fühlte sich ganz kalt an, wie er am Rande registrierte, aber er konnte seinen Duft wahrnehmen. Diesen einzigartigen Geruch von Wind und Kräutern, den er so sehr liebte, weil er unzweifelhaft zu Clarence gehörte.
„Ich hatte solche Angst, dass du tot bist!“, wimmerte er, unfähig sich zu beruhigen.
„Baby...m-mein Baby...oh G-Gott.... bist du okay, g-geht es d-dir gut? Oh f-fuck ...d-du bist ganz k-kalt und...“
Mit verweinten Augen musterte er Gesicht und Körper des Größeren und erkannte verängstigt die zahlreichen Verletzungen.
„W-was ist mit deinem H-Hals passiert, w-was...w-wie...“
Cassie schüttelte den Kopf und schniefte.
„D-du bist verletzt... oh f-fuck, m-mein...armes B-Bärchen. Shit...aber w-wir...ich...krieg dich w-wieder hin. Ich k-krieg dich wieder hin.“
Und bei Gott, das würde er. Er musste einfach.
Sein Herz blieb stehen, als Clarence in der flackernden Dunkelheit des Lagerraumes in der Entfernung dumpfe, eilige Schritte hörte. Aus einem hastigen Gehen wurde ein wildes Eilen und daraus schließlich ein übereiltes Rennen. Es war seltsam, wie man alleine aus Knirschen und dumpfem Auftreten heraus genau sagen konnte, wie sich ein Mensch gerade bewegte oder welche Intention dahinter steckte.
Der Blonde wusste, Ceyda würde niemals so zu ihm eilen wenn nicht gerade ein drei Meter großer Mutant draußen vorm Schaufenster auf sie lauerte und selbst wenn, klangen die Schritte draußen noch immer schwerer als die junge Frau ihnen gerecht werden würde. Es war das eilige Hasten von jemandem der ungeduldig war und keine Zeit mehr verschwenden wollte, ähnlich wie auch der Hüne nach seinem Ankommen keine Zeit hatte verstreichen lassen wollen, um zurück hinaus in den Schnee aufzubrechen.
Stattdessen stand er hier, den schmerzenden Arm auf dem Regalbrett vor sich abgelegt und einen zerschlissenen Lappen in der Hand. Die junge Frau, so müde und erschöpft sie auch gewirkt haben mochte, hatte ihn erfolgreich zurück dahin geführt, was realistisch war. Hier zu warten und sich aufzuwärmen, um sich am Ende der Nacht womöglich wiederzuhaben, war mehr gewinnbringend und schneller, als aufzubrechen und sich womöglich für Stunden und Aberstunden wieder zu verpassen.
Und trotzdem, wenngleich ihm diese Sache logisch vorgekommen war und Ceydas Erklärungen voll und ganz nach seinem Mann geklungen hatten, so wollte Clarence trotzdem nicht glauben, dass er es tatsächlich war.
Wenn er sich der Vorfreude hingegeben hätte, dem innigen Glauben daran Cassie am Ende der Nacht wieder in seinen Armen zu haben, wenn sein Herz vor Glück nicht mehr aufgehört hätte wild zu schlagen… was wäre dann, wenn dieser Mann nicht aus der Nacht zurück kam, der sich Matthew nannte?
Wenn er draußen verunglückt war oder es nicht… sein Matthew war, sondern ein unglücklicher Zufall?
Clarence mochte zwar an Gott glauben, jedoch nicht an Wunder. Er selbst hatte nicht überlebt weil er Glück gehabt hatte, sondern weil er wenige Meter unter sich das Dach eines Hochhauses erwischt hatte anstelle der Tiefe hinab bis auf die Straßen. Sein Mann hingegen… der war in diesem Zeppelin gewesen und der Jäger hatte diesen Zeppelin gesehen. Oder wenigstens… die Trümmer, die davon übrig geblieben waren.
Wie ein abgenagter Tierkadaver lag das Flugschiff dort, das Gerippe nackt und ausgebrannt vereinzelt in die Höhe gereckt, während darunter alles zu einem Wust aus zerborstenem Baumaterial verkommen war. Fahrgäste, Gepäck, ihre Tiere… - nichts hatte Clarence aus dem Gebäude heraus von oben erkennen können und später, als er es nach Einbruch der Nacht heraus geschafft hatte, war das Wrack vollends von Dunkelheit verschluckt gewesen.
In seiner Verzweiflung hatte er überlegt hinein zu klettern, in die Schwärze hinein zu schreien und seinen Mann durch Rufe zu finden wenn er ihn schon mit den Augen nicht suchen konnte ohne Licht. Doch realistisch gesehen, so schmerzhaft diese Einsicht auch gewesen war, hätte Clarence die Nacht mit solch einer Taktik wohl kaum überlebt. Er hätte sich, ohne es durch die Kälte zu spüren, die nackten Füße bis auf die Knochen an scharfen Metall- und Glasteilen aufgeschnitten, wäre ausgerutscht und tödlich gestürzt weil er keine einzige Hand frei hatte, um sich im Fall irgendwo aufzufangen. Und dann?
Dann hätte er tot im Gerippe gelegen, während Matthew eingeklemmt und verletzt nach wenigen ewig scheinenden Tagen verendet wäre, weil kein Bär mehr da war, um ihn zu retten.
Hilflos kniff Clarence die Augen zusammen und spürte neue heiße Tränen in sich aufwallen, von denen er dachte, er müsste schon längst alle vergossen haben die er besaß. Sich frisch zu machen und umzukleiden war ihm eine willkommene Ausrede gewesen um sich hier hinten zu verkriechen, sich gehen zu lassen. Denn auch wenn das hier eine Ausnahmesituation war – das stand völlig außer Frage – so hieß das nicht, dass er nicht doch am Ende aller Tage noch immer der sture Klotz und sich selbst treu war. Sich vor Fremden derartig bloßstellen? … Niemals.
Trotzdem konnte er nichts anderes tun als zu weinen, als die sich überschlagenden Schritte näher kamen und ein dumpfes Prallen schließlich fremde Hände auf der Tür zum Lagerraum signalisierte. Seine Brust fühlte sich wie zugeschnürt, so groß war seine Angst davor, dass diese Ceyda sich geirrt hatte und der Kerl ein fremder Mann war anstelle seines Mannes oder dass es die junge Frau selbst war die gerade angerannt kam um ihm zu sagen, es sei draußen am Wrack etwas Schlimmes passiert.
Wo es die ganze Zeit über sein zugeschwollener Hals gewesen war, der ihm die Luft abgeschnitten hatte, so war es nun sein eigener Brustkorb der sich anfühlte, als habe sich ein großer Knoten darüber gelegt. Er konnte nicht mehr atmen und spürte sein Herz schmerzhaft schlagen, bis hoch zu seinem Hals, ihm weitere heiße Tränen über die blond verklebten Wimpern die Wangen hinab treibend, wo sie letztlich in seinem Bart versickerten.
Dieser Moment der absoluten Stille, so kurz er auch sein mochte, fühlte sich wie eine kleine Ewigkeit an. Eine Ewigkeit während der er sich nicht rühren konnte und in sich hinein horchte, mit allem was er besaß wissend, dass ihm gleich das Herz brechen würde und die Enttäuschung über ihn herein brach. Clarence wusste wie es war seine Familie zu verlieren… wie es war, wenn die Gesichter die man liebte einen im einen Augenblick noch mit rosigen Wangen und funkelnden Augen anstrahlen, nur um ihn Momente später kalt, lieblos und tot anzustarren.
Erfahrungsgemäß kehrten die Menschen die er liebte nicht mehr zu ihm zurück wenn er sie erstmal verloren hatte und ihm fiel kein triftiger Grund ein, warum es ausgerechnet heute anders sein sollte.
Und dann… hörte er das alles befreiende, von Tränen erstickte leise Wort fallen, welches nur von einem einzigen Menschen herrühren konnte.
Es war als würde sich der kalte Stahl einer scharfen Schere unter den Knoten auf seiner Brust drücken um ihn zu zerschneiden, so schlagartig fiel alle Last von ihm ab und ließ ihn plötzlich nach Luft schnappen, nur um sein Japsen in einem erstickten und herzzerreißenden Schluchzen ausklingen zu lassen. Sein Herz setzte aus, so überfordert fühlte sich Clarence davon, entgegen seiner sonstigen Erfahrungen die vertraute Stimme wiederzuhören, die er für alle Zeit verloren gewähnt hatte. Der Lappen war ihm längst aus der Hand gefallen, so sehr hatte der junge blonde Mann zu zittern begonnen in den wenigen Sekunden der Stille, und gerade als er sich am Regal festhalten wollte um der Schwäche seiner Beine nicht nachzugeben, schlangen sich zwei vertraute Arme um ihn und damit eine Wärme so heiß und lebendig, dass Clarence trotz aller Gewissheit gar nicht bewusst zu begreifen schien, was gerade geschah.
Völlig aufgelöst behielt er die Augen weiter zugekniffen, traute sich nicht sie zu öffnen aus Furcht davor wie schwer Matthew vielleicht verletzt war, auch wenn größere Brüche oder Wunden aufgrund seines Eilens sicher auszuschließen waren. Clarence konnte nicht sagen ob er zitterte weil er aufgeregt war, glücklich oder erschöpft, ob es vor Kälte war oder vor Schmerz in seiner Schulter, wobei er all das gerade eigentlich gar nicht mehr spürte.
Alles was blieb waren Matthews Stimme und seine Wärme an der kalten Brust des Blonden und die unfassbar weichen Hände an seinem Gesicht, die er mehr vermisst hatte als alles andere auf der Welt.
Schluchzend rang er nach Atmen, unfähig sich zu beruhigen schlang er seinen Arm um den Rücken des Jüngeren und drückte ihn an sich auf eine Weise die besagte, er würde Cassie nie mehr gehen lassen. Nicht heute, nicht morgen – dieses Mal auch nicht dann, wenn sich der Boden plötzlich unter ihnen kippte und sich ein Loch in die Wände des Lagerraumes riss.
„E-… e-es…“ – überwältigt atmete er tief ein, wobei ein leises Pfeifen seine Kehle verließ. Der Kloß der ihm im Hals steckte, machte es ihm nicht gerade einfacher Luft zu holen und trotzdem verblasste auch diese Einschränkung zur Nichtigkeit angesichts dessen, was ihm gerade widerfuhr. Weinend drängte er seine Nase in das dunkle Haupt vor sich; Cassies Haar war verklebt und roch nach Ruß, Blut und Schweiß aufgrund der Dinge die er erlebt hatte. Doch so lange er stehen konnte und seinen Bären erkannte, so lange er ihn Umarmen und festhalten konnte… so lange war auch alles in Ordnung, das wusste Clarence einfach.
„Es… t-tut mir l-leid…“
Erstmalig blinzelte der Blonde unsicher, erkannte erst nur zwischen seinen tränenverschmierten Augen das verschwommene Orangerot der Fackel, schließlich aber unzweifelhaft die Gesichtszüge seines Mannes – dieses Mal weitestgehend unversehrt geblieben von neuen Narben oder Schrammen, die Cassie für gewöhnlich eigentlich magisch anzog.
„I-Ich dachte i…ch… hätt…e dich… v-ver… verloren…“, ging sein Wimmern erneut in einem schmerzhaften Schluchzen unter.
Dass dem nicht so war, sondern dass sein geliebtes Böckchen zu ihm zurück gekehrt war anstatt sich verlieren zu lassen, prüfte Clarence ein weiteres Mal nach indem er mit der Nasenspitze über die Stirn und die Schläfe des Kleineren strich um ihm danach zittrige, tränennasse Küsse darauf zu hauchen.
Die warme Haut unter seinen Lippen fühlte sich noch immer surreal an, so sicher war sich der Hüne gewesen, dass er sie nie wieder schmecken oder fühlen würde. Seine Berührungen waren beinahe zögernd, so als fürchte er fast aus einem viel zu wohligen Traum aufzuwachen, wenn er zu harsch vorging oder sich zu wild freute.
Vorsichtig hob er seinen Arm, streichelte zaghaft mit den Fingerrücken über Cassies Wange hinweg und mustere das vertraute Gesicht seines Mannes, genauso wie man ein kleines Kätzchen streichelte von dem man fürchtete es könnte einem wieder wegrennen, wenn man sich nicht achtsam genug verhielt.
„Wie… k-kann das s… das sein…?“ - Die Sorge in Cassies Augen, seine eigenen Schmerzen, die vielen Fragen mit denen er überschüttet wurde… all das wehte völlig an ihm vorbei, so unwichtig waren diese ganzen Details, wo das Wichtigste doch längst vor ihm stand.
„I-Ich hab… d-die ver…brannten M-Menschen ge-…sehen und… u-und… und den Z-…Z-… - das Wrack…“, rettete er sich selbst aus der Unfähigkeit vollständige Sätze zu formulieren und streichelte abermals durch Matthews Gesicht, bevor er sich hinab beugte und dieses Mal mutiger als eben noch die Lippen des Jüngeren suchte, um sie zu küssen. Doch er verpuffte nicht einfach wie ein süßer Traum der ein jähes Ende fand, noch zerfiel er zu Staub und Asche wie die vereinzelten Menschen auf dem Hochhausdach, die den Flammen nicht entkommen waren.
„D-Du… du lebst… d-du bist… b-bist da…“, erkannte er schließlich unumstößlich, küsste den vertrauten Mund des anderen ein weiteres Mal und konnte sich nicht beherrschen erneut leise zu schluchzen, so sehr prallte die Gewissheit auf ihn ein.
Wie oft schon war er beinahe gestorben?
Wie oft schon hatte er dem Abgrund ins Antlitz gesehen?
Und wie oft schon hatte er geglaubt, dass er einfach nicht mehr konnte?
Duzende Male.
Der Tod schwebte stets über jedem Leben, aber er war auch immer ein bisschen näher an dem des Dunkelhaarigen, so schien es.
Wie ein Damokles-Schwert verfolgte der Tod den jungen Mann, nahm sich jedermann in seinem Umfeld und ließ doch Matthew selbst stets davonkommen.
Die Wahrscheinlichkeit, den Absturz eines Zeppelins zu überleben war weitaus geringer als die Wahrscheinlichkeit, dabei zu sterben ... und trotzdem war er noch da.
Lebendig, einigermaßen unverletzt und Herr seiner Sinne.
Und als wäre das nicht schon erstaunlich genug, so hatte er auch seinen wertvollsten Schatz durch den Absturz nicht verloren.
Ein Schatz, groß wie ein junger Mann, bärtig, breitschultrig...mit einer spitzen Nase und Segelohren.
Dieser Kerl, dieser Bär von Mann, war alles was für Cassiel wichtig war und er konnte nicht fassen, dass der Tod sie beide verschont hatte.
Dieses Mal hatte er ihm nicht genommen was er liebte.
Seit Ellen ihn aus der Dunkelheit des Zeppelins und aus der Bewusstlosigkeit befreit hatte, hatten sich all seine Gedanken um Clarence gedreht.
Er hatte vom ersten Moment an, an ihn gedacht, hatte gefürchtet...nein, er war sicher gewesen, die Liebe seines Lebens verloren zu haben.
Und Matthews Verzweiflung über den gewiss scheinenden Verlust war unbändig gewesen.
Sie hatte Cassie wie ein Steinbrocken an einem Seil nach unten gezerrt. Als hätte ihm jemand die Brust zugeschnürt, den quarzigen Brocken daran befestigt und ihn ins Wasser gestoßen.
Eine Weile hatte Matthew sich oben gehalten, er war geschwommen um nicht zu ertrinken - er hatte Clarence gesucht um nicht zuzulassen, dass die Gewissheit ihn wie dunkles Wasser überwältigte und verschluckte.
Seinen Mann zu suchen, war alles was er tun konnte und dennoch...hatte er tief in seinem Inneren gewusst, dass er ihn nicht mehr lebendig wiedersehen würde.
Ceyda mochte ihn für einen egoistischen Wichser halten, aber Ceyda hatte keine Ahnung.
Sie wusste nichts von Matthew, sie wusste nichts von Clarence.
Sie wusste nicht welche Umwege sie bestritten hatten um überhaupt zusammen zu finden, sie wussten nicht was sie einander bedeuteten und warum sie immer nacheinander suchen würden, ganz gleich wie schwer der Stein war, der sie nach unten zog.
Was sie beide verband würde niemand außer ihnen begreifen können, so vieles das hinter ihnen lag erlebten die meisten Menschen nicht und Matthew wusste, dass er ohne Clarence nichts mehr besaß.
Gar nichts.
Das sie beide noch lebten, war so unwahrscheinlich, dass nur ein Narr daran geglaubt hätte und sie waren beide keine Narren.
Wie unendlich schmerzhaft der Verlust gewesen war, der so unumstößlich erschienen war, zeigten auch die Tränen des Blonden, die einfach nicht versiegten.
Er war so unendlich aufgelöst, dass Matthew es kaum ertrug. Die eigene Erleichterung und den eigenen Schmerz widergespiegelt zu bekommen von dem Menschen, den man am Meisten auf der Welt liebte, dass war etwas, dass er kaum begreifen konnte.
Clarence‘ Weinen war wie das Weinen von Matthew, es konnte nicht unterdrückt oder heruntergeschluckt werden.
Beide hatten sie geglaubt, das Eine unwiederbringlich verloren zu haben, für das es sich lohnte zu leben und beide erkannten sie nun, dass das nicht stimmte.
Der Tod, der für so viele andere gekommen war, hatte sie verschont.
„Sssscht...n-nicht...ent-entschuldigen.“ flüsterte Cassie abgehakt und schluchzte.
„D-du darfst dich n-nicht entschuldigen...d-du l-lebst und d-das ist alles...w-was wichtig ist.“
Was passiert war, war niemandes Schuld gewesen und da sie beide noch lebten war alles gut gewesen wie es passiert war - wenn der Absturz denn schon hatte passieren müssen.
„Ich d-dachte...ich w-würde dich nie wiedersehen, oh B-Baby...ich h-hatte s-solche....Angst.“
Clarence vergrub seine Nase in seinem dunklen Schopf, so wie er es immer machte. Eine Geste, die Cassie leise wimmern ließ. Er drückte den Blonden fester an sich, spürte sein Zittern und seine Kälte und vor allem spürte er, wie Clarence geschüttelt wurde von seinem Schluchzen.
„Ich l-liebe dich...I-ich l-liebe d-dich so sehr...“, schniefend blickte Cassiel in das Gesicht des Blonden und wusste gar nicht, wie es sein konnte, dass er jemals ohne ihn gelebt hatte.
Ihm war nie klar gewesen was er in seinem Leben vermisst hatte, bis zu dem Moment als Clarence ihm seine Liebe versichert hatte. Seit diesem Tag, war nichts mehr wie früher. Das Leben als solches war nicht leichter und auch nicht ungefährlicher geworden, aber seit sie zusammen waren, war es in jeder Hinsicht schöner.
„I-ist alles g-gut b-bei d-dir?“ schniefend wischte er sich die Tränen von den Wangen und blickte zu Clarence empor.
Er sah abgekämpft und erfroren aus, hatte zahlreiche Abschürfungen und Blutergüsse, was die Frage eigentlich überflüssig erschienen ließ, aber all die Schrammen und blauen Flecken würden wieder heilen.
Die fragile und nur wenige Sekunden dauernde Beherrschung brach, wie eine dünne Schicht Eis auf einer Pfütze, als Clarence seine Schläfe und dann seine Lippen küsste.
Auf ihnen schmeckte er Salz und Erleichterung.
An den dunklen Wimpern seiner geschlossenen Lider drängten sich neue Tränen vorbei und liefen über seine Wangen, noch während sie einander küssten.
Zitternd erwiderte der Jüngere die Liebkosung, öffnete sogar die Lippen einen kleinen Spalt um Clarence einzuladen in die Hitze dahinter zu tauchen.
Dabei schlang er beide Arme um den Nacken des Blonden und schmiegte sich so dicht an ihn, dass sein kaputter Pullover Clarence‘ nackte Brust berührte.
„Ich b-bin da...ich w-werde immer da s-sein so lange...so lange d-du lebst.“
Flüsternd wehte sein warmer Atem über den Mund des Blonden, ehe Matthew sich löste und ihn anschließend auf das Ohr küsste und seinen Geliebten danach aus nächster Nähe betrachtete.
„Großer Gott...ich b-bin so froh dich zu sehen.“
All die schlimmen Dinge welche er in den zurückliegenden Stunden gesehen, gefühlt und getan hatte...sie alle waren weit weit weg so lange er in Clarence‘ Nähe war.
„A-aber...w-wir müssen d-dich warm bekommen, du bist...eisig kalt.“ schniefend versuchte Cassie sich wieder einigermaßen einzukriegen.
Er wischte sich über die Wangen, legte die Hände dann sanft zurück an die des Blonden und wischte auch dort behutsam die salzigen Spuren fort.
„I-ich helf‘ dir, komm mein Eisbärchen, d-du musst auftauen.“ - sich zu ihm empor reckend, küsste er Clarence‘ Mundwinkel, ehe er sich kurz löste und den Stofffetzen aufhob, der dem Blonden aus der Hand gefallen war.
Den mittlerweile kalten Lappen tauchte er in eine Schüssel mit dampfendem Wasser und wusch ihn kurz darin aus.
Leise plätscherte es, als Cassie den Stoff wieder auswrang.
Behutsam und ganz vorsichtig legte er ihn anschließend auf Clarence‘ Brust und rieb sachte darüber.
Kratzer und kleine Wunden umschiffte er dabei aufmerksam.
Glas- und Holzsplitter zupfte er so gut es ging heraus, wobei er darauf achtete sie möglichst schnell zu ziehen um Clarence unnötige Schmerzen zu ersparen.
„Was ist...mit deinem Arm, hm? Und d-dein Hals? Bekommst du Luft?“
Scheu schaute er zu seinem Geliebten empor. Er fürchtete die Antwort und spürte wie neue Tränen in seine Augen traten.
Er hatte solche Angst um Clarence gehabt und er hatte sie noch immer. Zu begreifen, dass der Blonde überlebt hatte und an den Verletzungen auch nicht sterben würde, dass war etwas, dass Matthew noch nicht realisiert hatte.
Surreal und doch greifbar echt war es Clarence, seinen Mann endlich wieder bei sich zu haben. Mit jeder Sekunde die verstrich und jedem Moment in dem Matthew ihn berührte, da fürchtete der Blonde, er würde gleich aufwachen und alles sei vorbei. Als wären Cassies Schritte im Vorraum und seine warmen Lippen auf den eigenen nur ein schöner wohliger Traum der früher oder später ein trauriges Ende fand, genauso wie ihr Flug mit dem Zeppelin viel zu früh ein Ende gefunden hatte.
Den Jüngeren in den Armen halten zu können, ihn zu riechen und zu spüren, seine Stimme zu hören und die salzigen Tränen auf seinen Wangen schmecken zu können… all das war mehr, als er seit seinem Erwachen auf dem Dach jemals zu erträumen gewagt hätte.
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass das hier wirklich echt war?
Lag es nicht viel näher, dass er sich irgendwo beim Sturz aus dem Zeppelin den Kopf aufgeschlagen hatte und das hier ein Trugbild seiner Bewusstlosigkeit war?
War er nicht vielleicht auch einfach irgendwo zwischen Wrack und Gebäude so weit ausgekühlt, dass er im Schnee gestürzt war und dort noch immer lag, irgendwo zwischen Erfrieren und Sterben?
Doch jener Moment, in dem Cassies Daumen zärtlich über seine Wangen wischten, ihn die kandisfarbenen Iriden besorgt betrachteten und die vertrauten Lippen ihn leise sein Eisbärchen nannten… da wusste besagtes einfach, dass solche schönen Dinge nicht mal der süßeste Traum ihm spinnen konnte.
Er versuchte dagegen anzukämpfen, doch schließlich drängte sich ungehalten das bis eben schon ruhiger gewordene Schluchzen wieder seine Kehle hinauf um sich in neuen Tränen Bahn zu brechen. Es war wie damals, als Matthew mit seiner Kopfverletzung auf dem Dachboden in Bennetts Bett gelegen und zum ersten Mal wieder die Augen aufgeschlagen hatte. Den kurzen Moment, in dem sein Mann versucht hatte ihn an der Nase herum zu führen und ihm eine Amnesie vorzugaukeln, würde Clarence ihm vermutlich nie verzeihen; doch schließlich hatte er ihn mit seinem leisen Nicht weinen, Bärchen unzweifelhaft davon überzeugen können, alles war in Ordnung.
Der Hüne war nie der Typ für Kosenamen gewesen, einfach deshalb weil er sich unheimlich dämlich vorkam, wenn er sie selbst über die Lippen brachte. Jemanden Schatz oder Liebling zu nennen, erschien ihm alleine schon in Gedanken so ausgelutscht, dass er es nie im Leben mit seinem Mann in Verbindung bringen könnte, selbst wenn er es versuchen würde. Man mochte meinen, dass ein Name wie Bärchen nicht gerade weniger kitschig war als all die anderen Dinge, doch bei ihnen war das anders. Es gab einen Grund warum er das für Cassie war und warum der Bär ohne sein Böckchen immer nur ein Schatten seiner selbst sein würde, selbst wenn er diesen Namen im Alltag so gut wie nie für seinen Mann benutzte.
Aber das war schon immer das einzigartige an ihnen gewesen. Sie waren nicht wie die anderen, sie spielten nicht nach den Regeln, die man von ihnen erwartete. Sie waren etwas Besonderes als Paar, was einmal mehr dadurch bewiesen wurde, dass das Schicksal sie wieder zusammen geführt hatte anstatt sie voneinander zu trennen.
Wenn Cassie ihn sein Eisbärchen nannte, dann wusste Clarence, es gab keinen Traum aus dem er aufwachen würde. Alles würde wieder in Ordnung kommen.
Er spürte kaum die Hitze des nassen Lappens auf sich, noch das unsanfte Zwicken auf seiner Haut, wann immer einer der Splitter aus ihm gezogen wurde. Einzig und alleine auf Matthews umsichtigen Händen lag seine Aufmerksamkeit und auf dem fremden Atmen, der sich mit jedem Wort warm und wohltuend über seine nackte Brust ergoss.
„Es… e-es geht so… nichts, w-was wir… nicht wieder h…h-hinbekommen…“, versuchte er bei Cassie nicht mehr Sorgen um seinen Hals aufkommen zu lassen als nötig war und schenke ihm ein schiefes Lächeln. Sie würden hier im Schnee vermutlich keinen Marathon laufen, also würde er es schon schaffen sich die Puste in den kommenden Tagen so einzuteilen, dass er irgendwie zurechtkam. Dass das aber kein Trost für den Mann war der ihn liebte, konnte man dem Dunkelhaarigen deutlich ansehen, als diesem erneut die Tränen in die Augen stiegen bei seiner Frage.
Zu sehen, dass sich Matthew nicht weniger Sorgen um sein Eisbärchen machte als jenes um sein Böckchen, brach Clarence beinahe das Herz und ließ ihn erneut leise schniefen im Versuch, seiner Tränen auf diese Weise Herr zu werden. Vorsichtig griff er nach dem Handgelenk des anderen und hielt ihn dadurch davon ab ihn weiter zu waschen, sondern legte sich Cassies Arm zurück um den Nacken wo er hingehörte, um ihn danach wieder dicht an sich zu ziehen.
Wie viel einem ein anderer Mensch bedeutete ließ sich oft nicht in Worte kleiden. Doch so schön jeder heimelige Moment miteinander auch war, wie tief die Liebe tatsächlich ging offenbarten ebenso jene anderen Augenblicke, in denen man die größten Sorgen umeinander hatte. Wie zerschmetternd der Schmerz gewesen war, seinen Kleinen nicht mehr bei sich zu haben, hatte seine nächtliche Wanderung durch Eis und Schnee bewiesen – denn die Sorgen um seinen Mann hatte bei weitem seine körperlichen Gebrechen noch übertönt, ansonsten wäre er kaum einen Schritt voran gekommen.
Zu wissen, wie gebrochen das eigene Herz während jenen Stunden gewesen war und eben jenen Schmerz auch eindeutig in den Augen des anderen wiederzufinden… das war ihm Grund genug um seine eigenen Leiden hinunter zu schlucken, anstatt Matthew noch mehr Sorge zu bereiten. Die Gesundheit des jeweils anderen war ihnen schon immer das Wichtigste gewesen, wichtiger noch als das eigene Wohlergehen es jemals hätte sein können.
„I-Ich bin… so... so gl…glücklich, dass ich d-dich… wiederhabe… - ich w-werde mich… keinen Meter mehr von dir entfernen. H-Hast du v-ver…verstanden? K-Keinen Meter...!“
Sorgsam küsste er Cassies Stirn und seine Wange, nur um ihrer beider Lippen schließlich wieder miteinander zu versiegeln. Seitdem er aufgebrochen war um ihn zu suchen, hatte Clarence das Gefühl gehabt, seinem Geliebten seit ihrem Zusammensein in Coral Valley nicht mal annähernd genug gesagt zu haben wie sehr er ihn liebte – geschweige denn ihm genug Küsse geschenkt zu haben, die sie nun alle miteinander nachzuholen hatten. Es konnte so schnell vorbei sein, alles, und es gab keinen Grund sich aus falschem Stolz oder Etikette heraus zurück zu halten.
„D-Du bist… alles für mich. Alles… W-wenn ich… dich nicht w-wiedergefunden h-hätte, dann…“ – still schüttelte er den Kopf und schluckte schwer, denn er wusste wirklich nicht, was dann noch gewesen wäre. Hätte es einen Grund gegeben von hier fortzugehen? Weiter zu machen? Wären Adrianna und Barclay ihm genug Anlass gewesen, wenn er sie überhaupt gefunden hätte?
Um seine Gedanken nicht weiter in diese Vorstellung zu vertiefen die er einerseits nicht ertrug und die andererseits nie mehr geschehen würde nun wo er Matthew endlich hatte, küsste er abermals die Schläfe des Kleineren. Noch immer hatte er nicht vollends begriffen ihn nun wirklich und endgültig wieder zu haben, aber dass sie früher oder später aus diesem Lager wieder heraus mussten bevor die Kräfte sie nach einem ganzen Tag und einer ganzen Nacht voller Suche verließen, konnte er sich trotz Kälte und Erschöpfung noch zusammen reimen.
„I-Ich hab mir… als i-ich hinter euch…“, versuchte er leise zu erklären, doch seine Stimme versiegte ihm schon nach wenigen Worten wieder. Alleine die Erinnerung daran, wie er hinter Barclay und Cassie ausgerutscht war nur um wenige Augenblicke später beim Kippen des Zeppelins bereits zu wissen, dass es… vorbei war… reichte aus, um ihm die Stimme zu rauben und erneue Tränen herauf zu beschwören.
Kurz räusperte er sich, versuchte sich zu sammeln und sich dadurch zu beruhigen, dass er seinem Mann erneut durchs zerzauste Haar kämmte.
„Ich h-hab mir… den Arm ausgerenkt, g-glaub ich und... und h-hab… mit dem H-Hals ein bisschen Mobiliar abgefangen. Aber d-das… heilt wieder. Du m-musst mir nur… mit der Schulter helfen, wir… ähm… haben das nicht hinbekommen. U-Und ich… verspreche dir… i-ich trag ab jetzt immer Schuhe. Immer“, versuchte er so trocken es ging Cassie Bericht zu erstatten damit er nicht das Gefühl bekam, sein Bär könne ihm etwas verschweigen und gleichzeitig versuchte er nicht allzu sehr in Details zu gehen, die Matthew nur unnötig beunruhigten.
Mit roten und tränennassen Augen musterte er Cassie, prägte sich jede noch so kleine Schramme und Sorgenfalten auf seinem Gesicht ein und versuchte aus alldem abzulesen, ob sein Mann versuchen würde ihm etwas zu verschweigen, wo er doch nicht umsonst so hart im nehmen war.
„W-Was ist… mit dir, mh? D-Du hast… doch s-sicher auch irgendwo Verletzungen. W-Wenn du s-sie mir nicht beichtest, d-dann… werd‘ ich nicht z-zögern dich jetzt und h-hier n-…nackig zu machen, aber… aber n-nicht auf die gute Art und Weise..“
Vorsichtig umfing Clarence sein Handgelenk, er tat es behutsam, so als fürchte er, dass es vielleicht brechen würde. Aber es brach nicht.
Matthew blickte mit tränennassen Augen zu ihm empor und schmiegte sich bereitwillig wieder an ihn, kaum da Clarence seinen Arm zurück in den eigenen Nacken gelegt hatte.
„D-das klingt gut.“ brachte er leise hervor.
„Du darfst mich...nie m-mehr alleine lassen.“
Wie zur Bestätigung legte Clarence die Lippen auf seine Stirn und hauchte einen Kuss darauf.
Die Art und Weise wie er das tat, machte Matthew erneut begreifen, dass er echt war und das hier kein Hirngespinst oder Wunschtraum.
Clarence war da, er hatte ihn gefunden.
Zitternd erwiderte er den Kuss, er tat es scheu und vorsichtig, aber sein Herz flatterte vor Glück und Aufregung.
„Du hast m-mich gefunden...d-das ist alles w-was wichtig ist. D-denk nicht über d-das n-nach...was gewesen w-wäre wenn...“
Zart hob er die Hand an Clarence Gesicht und strich mit den Fingerspitzen ein paar nasse Strähnen zurück.
Er musste selbst wieder weinen als er sah, wie schwer es seinem Bärchen fiel, über das zu reden was passiert war.
„I-ich w-wollte zu d-dir l-laufen!“ brach es plötzlich aus ihm hervor und er schluchzte heftiger auf.
„Als ich gesehen habe, dass du nicht hinter uns bist, d-da wollte ich zu d-dir. Ich wollte dich holen, a-aber Barclay h-hat...m-mich festgehalten. Ich k-konnte nicht...ich hab versucht m-mich loszureißen, aber....“
Er hatte Clarence abstürzen lassen, er hatte zugelassen, dass die Liebe seines Lebens aus einem Zeppelin fiel.
Schluchzend schlug er die Hände vors Gesicht und weinte so heftig, dass ihn jeder Knochen seines Oberkörpers schmerzte.
„Und a-als ich endlich los war, w-warst du weg.
Du w-warst einfach fort.“
Das Bild der leeren Stelle wo Clarence eben noch gewesen war, würde Matthew sein Leben lang nicht vergessen, ebenso nicht das entsetzliche Gefühl das ihn sofort erfüllt hatte. Die schreckliche Gewissheit, sein Geliebter war tot.
„E-es t-tut mir so l-leid, s-s-so l-leid. Ich h-hätte d-da sein müssen, i-ich hätte d-dich retten....dich retten müssen!“
All das Blut auf dem Boden, Clarence‘ Stimme die zu Schreien geworden war und dann...die Sekunden danach in denen er einfach fort gewesen war.
Fort, wie ein schöner Traum aus dem man erwachte.
„Ich dachte ich h-hätte dich für immer verloren....“
Nach Halt suchend drückte er das Gesicht gegen Clarence‘ Schulter und weinte. Die Arme hatte er um den Größeren geschlungen.
Bis jetzt hatte er versucht sich irgendwie zusammen zu nehmen, aber jetzt gerade konnte er das nicht mehr.
Dass Clarence gestürzt war, war seine Schuld gewesen und Cassie würde sich immer daran erinnern.
„Ich lass nie wieder zu, d-dass wir getrennt werden.“ murmelte er undeutlich gegen die Haut seines Geliebten und küsste die mit zahlreichen kleinen Abschürfungen lädierte Schulter dann.
Den ausgekugelten Arm würde er wieder einrenken können, der gequetschte Hals würde heilen und die aufgeschnittenen Füße irgendwann wieder unversehrt sein.
Aber die Gewissheit, dass er gefallen war und Matthew nicht da war um ihn festzuhalten, dass würde Clarence vermutlich ebenso nie vergessen wie es Matthew nicht vergessen würde.
Mehrere Minuten standen sie so zusammen, jeder für sich überwältigt von all den Gefühlen.
Matthew konnte nicht sagen wie viel Zeit genau vergangen war, seit er die Tür zum Lager geöffnet hatte, aber es kam ihm vor, als würde er sich nie wieder von Clarence lösen können.
„Ich liebe d-dich so...so unendlich, h-hörst du? Du w-weißt d-das, oder? D-du musst es wissen.“
Erneut küsste Cassie die Schulter seines Mannes, dann hob er erstmals seit seinem Gefühlsausbruch den Blick wieder und presste die Lippen aufeinander.
„Wir...kümmern uns jetzt um deine Schulter, danach... danach erzählen wir uns gegenseitig...w-was und noch wehtut, okay? W-wie zwei alte ... Veteranen.“ versuchte Cassie zu scherzen und lächelte schief.
Schniefend wandte er dann den Kopf zur Seite, blinzelte ein paar Mal und suchte den Raum nach einer geeigneten Stelle ab, um Clarence‘ Arm zu versorgen.
Schließlich nickte er zu einem massiven Tisch aus Metall auf den zahlreiche Kartons standen.
„Dort...wir machen es dort.“
Matthew wusste, dass das Einrenken des Arms verdammt wehtun würde und er scheute sich davor Clarence wehzutun.
Auf der anderen Seite hatte er am Abend zuvor Adrianna den Unterarm mit einer Axt amputiert, da würde er nun bestimmt nicht kneifen.
Sich mit dem Handrücken über die Augen wischend, schniefte er noch einmal, dann löste er sich kurz entschlossen von Clarence um den Tisch anzusteuern.
Die Kartons auf die auf der staubigen Fläche lagen, waren voller Hefter und Papiere und Matthew wischte sie achtlos nach unten.
Einzig nach dem Cuttermesser langte er und steckte es ein.
Mit einem Poltern klatschten die Kartons zu Boden, Cassie schob sie aus dem Weg und wischte dann über die staubige Tischplatte.
„Komm...l-leg dich hier rauf.“
Er klopfte auf das kalte Metall und als es ihm dämmerte, dass die Kälte jetzt das Letzte war was Clarence gebrauchen konnte, zog er sich hastig den Pullover über den Kopf und drapierte ihn über den Tisch.
Dabei rutschte kurz sein Unterhemd ein Stück empor und ließ einen Blick auf die lila verfärbte Haut seines Brustkorbs und des Bauches zu.
„Ich hab...das schon ein...zwei Mal gemacht.“
In White Bone hatten manche Jungs das Unheil noch mehr angezogen als alle Anwesenden ohnehin schon und wenn ihnen nach einer besonders groben Tracht Prügel die Schulter ausgekugelt war, hatte das niemand behandelt außer sie selbst. So hatte Matthew manchmal geholfen und manchmal zugesehen wie andere Hand anlegten...
Angespannt wartete er, bis Clarence näher kam.
„Auf den Bauch und...den schlimmen Arm...lass hängen.“
Der Absturz war Stunden her, das Gelenk also seit Stunden nicht mehr am richtigen Platz, was vermutlich ungeheure Schmerzen verursachte.
Cassie umrundete den Tisch einmal, korrigierte Clarence‘ Haltung leicht in dem er ihn behutsam etwas weiter zur Kante schob, sodass sein verletzter Arm frei nach unten baumelte.
„Versuch...ganz locker zu lassen, ich weiß...dass das wehtun wird. Aber du darfst nicht...wegziehen, dann wird es nur schlimmer.“
Erneut schniefte der Dunkelhaarige, wirkte aber insgesamt sehr konzentriert.
Das hier war wichtig, wenn sie es nicht hinbekamen würde Clarence den Arm vielleicht nie mehr benutzen können, von den Schmerzen gar nicht zu reden.
„Ich werd...deinen Arm etwas weiter nach unten ziehen, dadurch sollte...das Gelenk eigentlich dahin zurück rutschen wo es hingehört.“
Obwohl er dieses Mal keine Axt und keine Verbände brauchte und auch keinen Alkohol herbeisehnte um eine Wunde zu desinfizieren, war er fast ebenso angespannt und aufgeregt wie er es bei Adrianna gewesen war.
Er kniete vor dem Tisch nieder und umfasste vorsichtig das herabhängende Handgelenk des Blonden.
„Versuch...locker zu lassen. D-denk an was schönes, an...Schokotorte oder an...Himbeerbonbons.“
Cassie lächelte schwach, es war ein tapferes Lächeln, von dem er hoffte es sah zuversichtlicher aus, als es sich anfühlte.
Die zweite Hand legte er schließlich an Clarence‘ Ellenbogen, umfasste ihn ebenso wie das Handgelenk seines Geliebten und begann allmählich und langsam Zug nach unten auszuüben.
Ein stetiger, wohldosierter Zug, der weder ruckartig noch zu behutsam war und der mit jedem halben Millimeter das Gelenk wieder näher an die zugehörige Pfanne brachte, aber auch stetig stärker werdenden Schmerz verursachte.
Und sein Mantra Schmerz tut nicht weh half bei Clarence leider nicht.
Wie eng Glück, Freude, Erleichterung, Trauer, Angst und Schmerz beieinander lagen, das wusste Clarence erst, seitdem er Matthew hatte. Niemals zuvor in seinem Leben, so schrecklich einige Erlebnisse auch gewesen sein mochten, war er so heftig von einem Fettnäpfchen ins andere gestolpert wie mit seinem Mann. Sie wurden nachts von Plünderern überfallen, von Fremden mit Steinen erschlagen, von Mutanten in unterirdische Bauten verschleppt oder träumten die bittersüßesten Alpträume.
Und wenn es nicht diese Dinge waren, dann waren es auf Wanderschaft Stürze von Hängen hinab, Verletzungen an abgebrochenen Ästen oder Schnittwunden, während sie gemeinsam Wild zerlegten.
Er wusste nicht was es war, dass sie das Unglück so derartig anzogen, dass nun auch noch ein ganzes Flugschiff mit ihnen abstürzen musste und sie irgendwo mitten in der Pampa wach wurden, irgendwo im Nirgendwo, mit mehr Toten um sie herum als Lebendigen.
Doch am Ende aller Tage, wenn alles in Schutt lag und die Feuer schon verglommen waren, dann standen sie trotz allem noch gemeinsam in der Mitte und würden sich halten – ebenso wie sie sich in der Dunkelheit des Lagerraumes hielten und ihre erschöpften Tränen leise versiegen ließen.
Was auch immer sie einander sagen würden, welch tröstliche Worte zwischen ihnen auch fielen und ganz gleich welche realistische Einschätzung sie dem anderen zu dem was geschehen war auch gaben, letztendlich wussten sie beide, sie würden sich niemals über den gestrig verlebten Tag und auch nicht über die kommenden Wochen hinweg trösten können.
Es ging nicht darum wer was gemacht hatte, was anders hätte getan werden können. Was hätte geschehen müssen – denn sie beide lebten und hatten sich wieder, also war letztendlich alles genau gut abgelaufen so wie es gekommen war, denn den Absturz hätten sie von ihrem Flur und dem Speisesaal aus sowieso nicht ändern können. Sicher wussten sie das beide, immerhin zögerte auch Clarence nicht dies seinem Mann weinend vorzuhalten als dieser sich bei ihm für Dinge entschuldigte, für die er nichts konnte; einmal mehr bewies sich dadurch, dass auch sie beide, die sie schon so viel gesehen hatten in ihrem Leben, nicht vor dem Schock des Erlebten gefeit waren.
Was andere vielleicht schon kurz nach ihrem Erwachen erlebt hatten und andere erst später, brach nun aus den beiden jungen Männern heraus, wo sie sich endlich wieder hatten. Der Moment, in dem alle Anspannung ob der Ungewissheit abfiel, war auch jener Moment, in dem sie all ihre Angst vor dem Unausweichlichen nochmal durchlebten.
Solch eine Katastrophe, wie sie sie erlebt hatten, schlug unausweichlich tiefe Wunden in die Seele eines Menschen und so wie Clarence selbst heute noch des nachts manchmal aus unguten Träumen ob seiner Vergangenheit erwachte, würde er vielleicht eines Tages auch unruhig erwachen, weil er in seinem Traum erneut den Absturz durchlebt hatte und die furchtbare Angst, die damit einher gegangen war.
Doch im Gegensatz zu all den anderen, die nicht die Gnade besessen hatten mit all ihrem Hab und Gut und ihrer Familie auch noch ihr eigenes Leben zu verlieren, so hatten sie das Wunder erlebt, einander wider aller Vernunft und Wahrscheinlichkeit wiederzufinden.
Der Blonde erwiderte das schiefe Lächeln seines Mannes schließlich ebenso frei von Elan und musste sich dabei vorstellen, wie sie wohl vierzig Jahre in der Zukunft aussahen, wenn sie jetzt schon so miteinander herum drucksten. Saßen sie dann nebeneinander auf der Veranda, vor Arthrose und Hüftschmerzen kaum noch dazu in der Lage sich zu bewegen, und klagten sich gegenseitig ihr Leid?
Bestimmt nicht.
Bestimmt behielten sie selbst mit siebzig oder achtzig Jahren noch ihre Wehwehchen für sich, viel zu verschreckt davor dem anderen Sorgen zu bereiten, anstatt sich einfach auf Anhieb einzugestehen was mit ihnen nicht stimmte.
„Schade, d-dass… wir heute nicht im B-Büro eines… e-eines Gasthauses sind. Das w-wäre ein… ziemlich heißer Auftakt geworden“, versuchte er ebenso wie Cassie die Stimmung etwas durch Galgenhumor zu lockern und sah dem Dunkelhaarigen dabei zu, wie er achtlos die Sachen vom Tisch fegte, um ihm danach zu sagen Sie würden es hier machen und Er solle sich hier drauf legen.
Unter anderen Umständen wäre er der Aufforderung nur allzu gerne nachgekommen, vor allem spätestens in jenem Moment, als sein Mann begann sich für ihn zu entkleiden – nur leider heute eben aus einem gänzlich anderen Grund als damals im Hinterhof, wo ihre Hunde als Welpen miteinander gespielt hatten.
Abel und Kain…
Verdrossen schluckte Clarence bei diesem Gedanken und musterte sein Böckchen schweigend. Wenngleich das Flackern der Fackel bei weitem nicht ausreichte um den Raum vollends zu erhellen, so reichte der rötliche Kegel, um deutlich genug die Prellmarken, Unterblutungen und Schrammen auf dem Leib seines Mannes zu offenbaren. Matthew sah… furchtbar aus. Zerquetscht, schoss ihm das Wort in den Kopf und ließ ihm dabei die Tränen wieder in die Augen steigen, unfähig dagegen anzukämpfen. Es war das eine zu wissen, dass irgendjemand diesen Mann aus dem aufgeprallten Zeppelin gezogen haben musste oder er selbst irgendwie heraus geklettert war. Dass er abgestürzt war von hoch oben aus den Wolken, im freien Fall, gefangen im Bauch des stählernen Monsters. Etwas anderes war es die Auswirkungen dieses rein in seiner Fantasie existierenden Geschehens mit eigenen Augen zu sehen und obgleich es zum Teil schon wieder zusammengefunden hatte seitdem Cassie zurück gekehrt war, so zersprang sein Herz gerade abermals in tausend Teile.
Tonlos versuchte er sich nicht anmerken zu lassen dass er schon wieder weinte, senkte den Blick und zog sich vorsichtig den Pullover von seinem derangierten Arm, damit der Jüngere ihn besser greifen und das Gelenk im Blick behalten konnte, bevor er der Aufforderung Folge leistete und sich quälend langsam auf den Tisch in gewünschte Lage begab, damit bloß keine falsche Bewegung durch seinen Arm fuhr.
Die Schulter, auf der er unzweifelhaft noch im Zeppelin gelandet war als er quer durch den Raum hinab gestürzt war ans andere Ende, war vom Aufprall nicht weniger dunkelviolett unterlaufen wie Matthews Brustkorb. Kälte und Bewegungsunfähigkeit hatten das Gelenk steif und schmerzhaft werden lassen, eine Einschränkung die Clarence sicher in den bevorstehenden Wochen noch auszubaden hatte wenn er den Arm je wieder voll bewegen können wollte und von der jetzt schon klar war, wie sehr er sie verabscheuen würde. Dass sowohl er selbst nach seinem Erwachen alleine, als auch mit Ceyda nach seiner Ankunft bereits erfolglos an der Schulter manipuliert hatten, hatte die Sache nicht besser gemacht und ihm einen überdeutlichen Vorgeschmack darauf gegeben, wie unschön sich die Prozedur gleich für ihn anfühlen würde.
Mit verdrießlichem Blick folgte er Matthews Gang um den Tisch, versuchte dabei möglichst viel des fremden Leibes zu erhaschen und erkannte aus seiner Position blutige Schlieren am Rücken des Jüngeren, denen er unzweifelhaft nachgehen würde, sobald Cassie ihn wieder zusammengesetzt hatte. Bislang hatte sein Böckchen ihm noch keinen einzigen Ton dazu gesagt was ihm alles fehlte, sodass er ihn notfalls am Regal festbinden und gegen seinen Willen untersuchen würde, ließ er es wirklich so weit kommen.
„Ich… s-sag dir das gleiche w-wie in… in unserer Hochzeitsnacht. Red‘ nicht so viel und… m-mach einfach“ – das mochte harsch klingen, aber tatsächlich war ihm genau danach und außerdem brachte es nichts, die Dinge weiter hinaus zu zögern als nötig.
Sie wollten es beide endlich hinter sich bringen, er selbst sowieso und Cassie garantiert kein bisschen weniger, sodass Claire schließlich den Kopf ein Stück hob um ihn auf die andere Seite zu drehen und somit das Gesicht vom Jüngeren abzuwenden. Matthew sollte sich bloß nicht davon abhalten lassen wenn er seinem Bären den Schmerz ansah und anders herum… wollte jener auch nicht sehen, wie viel Leid es dem Böckchen verursachte, so etwas mit ihm tun zu müssen.
„Schokot-…torte oder… Himbeerbonbons. D-Dabei m-mag ich ga..ahh…~“
Schmerzverzerrt biss Clarence die Zähne zusammen und wimmerte als der Zug auf seinen Arm größer wurde, ein schneidendes Stechen so tief und plötzlich, als habe Matthew ihm ein Messer in die Schulter gerammt um das Gelenk einfach wieder an Ort und Stelle zu hebeln. Womöglich wäre das sogar sanfter gewesen, ganz sicher sogar – dafür würde Clarence gerade sogar seine freie Hand ins Feuer legen während er versuchte den Schmerz kehlig winselnd weg zu atmen, bevor seine Stimme sich schließlich in einem gleißenden Schrei ergoss und ein knorpeliges, dumpfes Geräusch in seiner Schulter verriet, dass sich dort etwas getan hatten.
Heftig atmete der Blonde, der eigentlich schon einiges gewöhnt war was Verletzungen anging, und versuchte blinzelnd seine Augen zu öffnen. Tränen – aus Sorge um Matthew, im Moment aber hauptsächlich aus Schmerz heraus - verwischten ihm die Sicht und seine Lippen waren feucht verschmiert von Speichel, die der Schrei mit sich gebracht hatte, als er es nicht mehr hatte aushalten können die Zähne zusammen zu pressen. Er traute sich gar nicht den Arm zu bewegen, so dumpf und grollend war die alles verzehrende Pein in seiner Schulter noch immer, die auch bestimmt nicht besser wurde wenn er versuchte den Erfolg oder Misserfolg von Matthews Künsten auszuloten.
„I-Ich m-m…m-mag… g-gar keine H-Himbeeren. D-Du bekommst… d-die pinken i-immer v-von mir… nggh… m-mir zugesteckt, d-damit… ich s-sie nicht essen muss…“, für gewöhnlich hatte er sich aus der Mischung immer all die anderen Sorten heraus gepickt, sodass sein geheimes Säckchen Bonbons unter der Sitzbank der Essecke mittlerweile fast nur noch aus denen mit Himbeere bestand, weil er den Rest schon weg gefuttert hatte. „Ich m-mag… Beeren generell n-nicht. Die haben immer… d-diese kleinen Kerne drin, d-die einem… zwischen den Z-Zähnen… stecken bleiben…“
Seitdem sie sich kannten, hatte Clarence eigentlich alles gegessen. Sogar jene Dinge an die kein halbwegs normaler Mensch ran ging, wie Käfer oder alles andere was man töten konnte – weil er eben wusste, dass man keine Wahl hatte und sich nicht beschweren sollte, wenn es um das eigene Überleben ging. Wollte man nicht sterben, dann aß man so einiges um über die Runden zu kommen und ein Clarence Sky aß davon auch noch einiges mehr, wenn dafür dann von den guten Sachen mehr für Matthew über blieb, der deutlich penibler war in der Auswahl seiner Speisen.
Aber wäre Matthew heute im Wrack gestorben, dann hätte er nie gewusst, dass sein Mann gar keine Himbeeren mochte… und sicher gab es auch noch viel, viel mehr solcher Dinge, die sie einander noch nie erzählt hatten.
„…ich mag auch… keine Birnen“, erhob er die Stimme wieder leise und wandte den Kopf mit leisem stöhnen wieder Cassie zu, um seinen Blick zu suchen. Sein Gesicht war noch rot von der Prozedur die so kurz gewesen war und ihm doch fast die letzten Kräfte für heute geraubt hatte. „E-Entweder… ich erwische immer… d-die ganz harten o-oder… oder die sind immer matschig. I-Ich… verstehe nicht, wie man B-Birnen gerne essen kann…“
Es hätte witzig sein können, dass der Blonde gerade jetzt an ihre Hochzeitsnacht dachte und auch mit der Wortwahl darauf anspielte, aber im Augenblick konnte Matthew nichts komisches daran finden.
Sie waren hier, in dem Lager irgendeines verlassenen Supermarkts der Alten, sie waren verletzt, sie waren durchgefroren, sie waren am Ende ihrer Kräfte.
Wenn sie im Büro eines Gasthauses wären...dann hätte die Sache anders ausgesehen. Dann hätte er sich vielleicht tatsächlich über die Bemerkung amüsiert...
Kurz schweiften Matthews Gedanken zurück an den Tag ihrer Eheschließung, an das Versprechen das sie einander gegeben hatten und daran, wie surreal ihm damals alles vorgekommen war.
Clarence im feinen Anzug, die Haare ordentlich gekämmt, die Schuhe poliert... er hatte so stattlich ausgesehen. So...unsterblich.
Und es war ihm erschienen, als würde dieser Mann immer zu gut für ihn sein.
Und manchmal, wenn er an sich selbst zweifelte, da dachte er das noch immer.
Aber dann reichte meist schon ein Blick in die Augen des Größeren, wenn dieser ihn ansah.
Clarence liebte ihn, das wusste Matthew und er hatte es auch damals in der Kirche gewusst.
Als die Worte seines Mannes übergingen in einen schrecklichen Schrei, da zog sich alles in Matt zusammen. Es stach ihm selbst schmerzhaft in der Brust und am Liebsten hätte er den Arm losgelassen und aufgehört, aber wie schon damals in White Bone wusste er, dass niemand helfen würde, wenn sie es nicht selbst machten.
Also zog er weiter, sanft aber bestimmt, langsam und konstant, versuchte den Schrei auszublenden und konzentrierte sich stattdessen auf den Arm.
Mit einem mahlenden Knirschen und einer sichtbaren Verschiebung des Gelenks, rutschte es schließlich zurück in die richtige Position.
Cassie ließ den Arm los und wischte sich beide Hände an den Oberschenkeln ab, eine nervöse Geste.
Angespannt blieb er vor dem Tisch knien, lauschte auf das Hämmern seines eigenen Herzens und wartete darauf, dass Clarence sich rührte.
Aber als es vorbei war und sich der Blonde gesammelt hatte, verkündete er nicht etwa, dass es ihm besser ging...sondern, dass er weder Himbeeren noch irgendwelche anderen Beeren mochte.
Diese Information war vollkommen deplatziert eigentlich, aber auf der anderen Seite verstand Matthew sofort warum Clarence davon sprach.
Weil er es bisher nie gesagt hatte.
Alles konnte so schnell vorbei sein... und er wollte, dass Matthew ihn kannte.
„Ich m-mag Beeren...“, erwiderte er kleinlaut und zupfte an dem Saum seines Unterhemdes.
Da zogen sie seit einer gefühlten Ewigkeit zusammen durch die Welt und er erfuhr jetzt, dass Clarence weder Birnen noch Beeren mochte. Auf dieser Ebene kannten sich beide trotz der gemeinsamen Zeit nicht besonders gut, worüber Matthew unverhältnismäßig traurig war.
„Wenn wir...hier raus sind und der Winter vorbei...dann besorg ich dir...eine Birne. E-eine richtig reife...eine die gut ist.“ - Es sollte ihn nicht so bekümmern, dass er nicht wusste was Clarence gerne aß oder nicht mochte, dass er keine Ahnung hatte welche Art Musik er bevorzugte oder welche Jahreszeit ihm die Liebste war.
Diese Dinge waren Kleinigkeiten, aber sie machten auch einen Menschen aus... und vielleicht war das der Grund, warum Matthew sich so traurig fühlte.
„Ich kenne niemanden...der keine Birnen mag. Außer...dich jetzt, hmmm...“
Einen Augenblick blieb er noch sitzen, dann kam er ächzend wieder auf die Beine, wobei er sich die Mühe dabei nicht anmerken ließ.
„Wenn du...so liegenbleibst, wasch ich dir noch den Rücken, hm?“
Statt auf eine Antwort zu warten, holte Matthew die Schüssel samt Lappen zum Tisch und benetzte die Haut des Bären zart. Schweigend und im rötlichen Licht der Fackel, wusch er Blut und Ruß von Clarence‘ Rücken. Befreite ihn von Splittern und reinigte vorsichtig die oberflächlichen Wunden.
Erst als er damit fertig war, fand er seine Sprache wieder.
Er beugte sich über seinen Geliebten und legte die Lippen auf seinem feuchten Rücken ab, um ihn sanft zu küssen.
„Komm...du musst dich aufwärmen...“
Sie mussten ans Feuer, sie brauchten die Hitze und die Ruhe, selbst Matthew - dessen Zähigkeit schon einige bewundert hatten - spürte, dass er am Limit dessen war was er leisten konnte.
Vorsichtig, damit der Bär seinen frisch eingerenkten Arm schonen konnte, half Matthew ihm dabei sich aufzusetzen.
Clarence sah furchtbar erschöpft aus, er war blass geworden und seine Augen waren ganz glänzig von all den geweinten Tränen.
„Bleib sitzen, ich hol deine Sachen.“, kurz küsste Matthew Clarence auf seine Wange, dann ging er zu dem Stapel Kleidung, den Ceyda ihm mitgegeben hatte.
Sie hatte ihm zwei kurzärmelige Shirts, einen langärmeligen leichten Pullover und eine Jacke rausgesucht, außerdem zwei Paar Socken. Bis auf Letztere alles in allem eher leichte Kleidung und der Witterung nicht angemessen, aber der Laden den sie geplündert hatten, hatte auch nichts besseres hergegeben.
Bei Tageslicht würden sie versuchen ob sie noch mehr Koffer mit Wintersachen finden konnten, aber vorerst würde reichen müssen was sie hatten.
Die Klamotten, welche die junge Frau ausgesucht hatte blieben jedoch ohnehin dort wo sie waren, statt sie mitzunehmen stellte Cassie den Rucksack des Älteren in eines der Regale und fing an, darin zu kramen. Es dauerte nicht lange, da fand er dicke Socken, ein langes Unterhemd und einen - dem Winter angemessenen - Pullover.
Die Schuhe, die an ihren Schnürsenkeln draußen am Rucksack befestigt waren, löste er und wendete sich dann zu dem Anderen um. Er musterte er ihn noch kurz ehe er sich mit dem Stapel Kleidung in Bewegung setzte.
Der Blondschopf, der ihm sonst oft so stark und unverwüstlich erschien, sah heute klein und verletzlich aus.
Überall hatte er Prellungen und Kratzer, seine Füße waren völlig zerschrammt, blutig und knallrot von der Kälte.
„Wie hast du...damit nur laufen können?“, kopfschüttelnd legte er den Kleiderstapel neben Clarence, langte nach den Socken und ging wieder in die Hocke.
Splitter und Dreck hatte sich der Blonde schon von den Fußsohlen entfernt, aber gegen die klaffenden Schnitte hatte er nichts tun können.
„Hmmm...das können wir so nicht lassen.“
Nachdenklich betrachtete Cassie die Füße einen Moment lang, dann stand er auf, ging zurück zu den Kleidungsstücken die Ceyda rausgesucht hatte und zerschnitt eines der Shirts kurzerhand mit Hilfe des Cuttermessers.
Die längeren Stoffstreifen rollte er zusammen, die kurzen faltete er mehrfach.
Zurück bei Clarence legte er vorsichtig die gefalteten Stoffreste unter die Sohlen und wickelte dann behutsam den provisorischen Verband darum. Erst dann zog er Clarence die Socken an und über die Socken seine Stiefel, damit er beim Weg zum Feuer nicht in noch mehr Scherben trat.
Als das getan war, richtete er sich wieder auf und half Clarence dabei sich wieder anzuziehen.
Das langärmelige Unterhemd stellte sich als problematisch heraus, weil es für den Blondschopf schwer war, seinen Arm durch den Ärmel zu manövrieren.
Nachdem es geschafft war, machten sie eine kleine Pause, der Pullover lag noch immer neben Clarence der auf dem Tisch saß und Matthew stand direkt vor ihm.
„Wenn wir...nachher am Feuer sind...geht’s dir besser, versprochen. Und nach ein p-paar Stunden Schlaf...t-tut dein Arm bestimmt nicht ... nicht mehr so sehr weh. Das hoffe ich zumindest.“
Liebevoll legte er Clarence eine Hand an den Schopf und drängte ihn behutsam mit dem Kopf gegen seinen Bauch.
Nicht fest, weil ihm das Schmerzen bereitete, aber doch so, dass er ihn ganz dicht bei sich fühlte.
Beruhigend streichelte er Clarence dabei durch sein Haar und schloss selbst für einen Augenblick die Augen.
Gerade jetzt...gab es nichts was er sich für den Moment mehr wünsche als das sie ewig zusammen waren.
Er wollte sich hinlegen, sich an Clarence kuscheln und mit ihm einschlafen, ganz so als hätten sie ihr Zuhause, die Harper Cordelia, niemals verlassen.