Eiswüste
12. Juli 2210

Ellen war nie ein besonders artiges Kind gewesen, aber auch nie besonders frech. Sie brauchte mehrere Aufforderungen um ihre Arbeiten zu erledigen, aber wenn sie sich dann erst einmal dazu bequemt hatte, konnte man über das Ergebnis ihrer Mühen nicht meckern. Sie half im Laden ihrer Eltern aus wenn es vonnöten war, stelle sich an die Kasse oder erledigte Besorgungen mit dem Karren wenn ihr Vater anderweitig Termine hatte und manchmal stibitzte sie dafür das ein oder andere Kupferstück aus der Kasse oder fand ganz zufällig einen Silberling auf dem Boden des Kassierer-Bereiches, wobei die Münze natürlich jemandem aus der Hand gefallen war und nicht etwa aus der Kasse gesprungen.
Noch vor zwei Jahren eher vorlaut, versuchte sie seit ein paar Wochen weniger Widerworte zu leisten, da sie selbst langsam erkannte, aus dem Alter rauszukommen wo man ihr das noch nachsah. Mit ihren sechzehn Jahren wollte sie endlich mitreden dürfen, auch für sich selbst Entscheidungen treffen können oder anständig ihre Meinung verteidigen; das ging aber nur, wenn man sie als ernste Gesprächspartnerin annahm und nicht etwa als pubertierendes Gör, das am Ende eines Disputs sowieso nur noch herum keifte.
Was sie hatte an sich ändern wollen, hatte Ellen aber heute Morgen vergessen und so war es gekommen, dass sie mit ihrem kleinen Bruder Patrick in Streit geraten war. Ein Streit, der sie so lange hingehalten hatte, dass selbst ihr Vater die Geduld mit ihnen verloren hatte und vorgegangen war in den Speisesaal, auf dass seine Kinder dann nachkamen, wenn sie sich endlich beruhigt hatten.
Hatte er gewusst, sie würden sich vielleicht nie mehr wieder sehen und hatte deshalb seine Kinder in der friedlichen Erinnerung des Vorabends behalten wollen? Oder hätten sie ihren Streit einfach beilegen sollen, um ihrem Vater zum Frühstück zu folgen?
Bislang hatte Ellen von ihm noch kein Lebenszeichen entdeckt, aber dafür ihren Bruder gefunden. Seinen Arm zumindest mit der Brandwunde vom Schürhaken, den sie ihm vor einigen Jahren im Streit aus Versehen in den Unterarm gebrannt hatte. Und einen seiner Füße mit einem seiner Schuhe daran, mit dem typischen Doppelknoten, weil alles andere bei ihm nicht hielt.
Vor etwa vier Stunden hatte er das gemeinsame Zimmer mit dem Stockbett wutentbrannt verlassen als er gemerkt hatte gegen sie nicht anzukommen und war den Flur hinab gerannt in Richtung Treppenhaus, das ihn sicher verschluckt hatte, als der Zeppelin zum ersten Mal gerumpelt hatte – und wenn nicht beim zweiten Mal, denn seine kleinen Beine waren nicht groß genug um sich bei Erschütterung auf den Stufen zu halten und seine Hände bei weitem noch nicht stark genug, um sich so sehr festzuhalten. Sie hatte sich eingebildet seinen Pullover zu sehen, den dunkelblauen den Mama ihm gestrickt hatte, als das Wetter umgeschlagen war. Sie war dem Gespenst hinterher gerannt, hatte es gejagt und gehetzt und war schließlich in einem kleinen Vorratsraum gestrandet, alleine, mit flachen Regalböden zwischen die sie sich schreiend gezwängt hatte um nicht allzu sehr umher geworfen zu werden, als alles um sie herum sich angefangen hatte zu drehen.
Mit klappernden Zähnen zog Ellen die zerrissene Plane, die sie aus den Trümmern gefischt hatte und die sie etwas vor dem beißenden Wind bewahrte, enger um ihre Schultern und blickte zurück zu der klaffenden Öffnung hinter sich, durch die sie gekommen war und durch die noch helles Tageslicht herein fiel, ähnlich wie durch die anderen vielen Löcher und Öffnungen zwischen dem Gerippe des Zeppelins. Nicht genug um alles zu erhellen, aber ausreichend um zu sehen wohin man treten konnte und um... andere Menschen zu finden.
Lebend oder tot, im Ganzen oder in Stücken, da machte Ellen mittlerweile keinen Unterschied mehr. Sie hatte etwa eine Stunde lang versucht die Sekunden einer jeden Minute zu zählen, hatte einen gut zugänglichen Hohlraum zwischen den Trümmern gefunden der stabil war und Schutz vor dem Nieselschnee bot der auf alles herab fiel was sich hier unten befand und hatte ein paar für sie tragbare Trümmerteile aus Holz gefunden, die sie in die Mitte gezerrt hatte, um ein paar Flammen aus den noch schwelenden Feuern dorthin zu verpflanzen. Sie hatte wirklich keine Ahnung vom Leben außerhalb ihres Elternhauses, aber wahrlich, wenn Ellen eines wusste, dann war es sich hier draußen auf jeden Fall zu Tode zu frieren, wenn dieser Absturz sie schon nicht getötet hatte.
Nach einer Stunde hatte sie zwei andere gefunden, die sich nur wenig verletzt zu haben schienen und nach zwei Stunden den ersten Teil ihres Bruders. Ab da hatte sie begonnen kleinen Haufen zu bilden; für Brauchbares einen in der Nähe des Feuers, für Teile von Menschen einen kleinen Haufen ein paar Meter entfernt im Schnee und für Kleidung und Material das sie heute Nacht irgendwie am Leben halten würde einige weitere Haufen, als Lager für diejenigen, die verletzt waren. Ein Platz war bereits belegt von einem Mann, der unweit der Aushöhlung in den Trümmern auf ihr Rufen reagiert hatte aber am Fuß verletzt war. Sie hatte auch ein paar andere gefunden, aber die… naja, die hatten keine Reaktion gezeigt, genauso wenig wie die wenigen Verschütteten im Schnee, die beim Aufprall aus dem Rumpf geschleudert worden waren.
Man mochte sie tapfer nennen oder emsig, dass sie sich durch den Schutt und die gefährlich knarzenden Reste wühlte wie eine kleine Heldin auf Mission – aber wer noch die Kraft hatte genau hinzusehen der sah, dass Ellen nichts weiter ihr Eigen nennen konnte außer einen gehörigen Schockzustand, der sie einfach in Bewegung hielt. Ihre Hände waren bereits zerkratzt und blutig vom Zerren an Holzresten und Stahlstriemen, vom Versuch irgendwelche knarrenden Areale durch längere Stücke Schrott zu stabilisieren und ihre Stimme war heiser vom Schreien, das sie aufgegeben hatte als ihr klar geworden war, nicht gegen den alles verschluckenden Schnee anzukommen. Sogar ihre Tränen waren ihr versiegt nachdem sie ihr auf dem Gesicht eingefroren waren und die kurze Rast, die sie sich vorhin am Feuer gegönnt hatte, war ihr auch nicht gut bekommen. Ganz im Gegenteil sogar.
„Ellen? Alles okay da drin?“, schallte es dumpf zu ihr hervor, wobei schallen eigentlich nicht das richtige Wort war. Das Wrack verschluckte jeglichen Schall, machte jedes Geräusch ull und so… Leblos, definierte Ellen es für sich und zog sich die Plane etwas bis über die Ohren hervor, als könnte sie dadurch verhindern, überhaupt noch etwas hören oder ertragen zu müssen.
„Ich glaub ich… seh‘ eine Hand oder so… Ceyda? Kannst du mir hier helfen? Oder schau nach ob man von außen besser ran kommt, ich weiß es nicht…“ – denn hier drin überhaupt noch etwas zu wissen, war beinahe unmöglich. Am einzigen stolzen Zeppelin war nichts mehr zu erkennen, keine Schraube saß mehr dort wo sie vorher war und alles was blieb war das stählerne Gerippe des Monstrums, wie ein abgenagtes Stück Wild im Wald, das schon längst zerfressen und seine Reste verdreht waren.
Vorsichtig stellte Ellen die Füße gegen einen der Stahlträger der vor ihr lag, legte die Hände um die große Holzplanke davor und versuchte an ihr zu zerren, um sie wenigstens ein Stück weit beiseite zu bekommen und den Rest dessen freizulegen, was sich als Arm entpuppte. So dunkelbunt wie die Haut aussah, konnte der Mensch auch an Quetschungen beim Einsturz der Reste gestorben sein, da wäre er nicht der erste – und doch legte sie nach kurzem Zögern ihre Finger an der Pulsader des Handgelenks an, das sie eindeutig als männlich identifizierte und von dem sie sich nicht sicher war etwas zu spüren oder nicht.
„Ellen? Ich glaub ich hör da hinten jemanden rufen, ich bin gleich wieder da!“ – „Okay…“
Umständlich zog sie die Planke etwas weiter beiseite und erkannte dahinter in der Dunkelheit den kleinen Hohlraum, der sich gebildet hatte und nicht so wirkte als hätte er ausgereicht, um den Fremden zu zerquetschen.
„Hey… hey, hören Sie mich?“, zögernd berührte sie den fremden Arm der sich nicht so fest und wächsern anfühlte wie die meisten anderen Körperteile, die sie heute schon berührt hatte, und kniff so fest sie konnte in die kühle Haut in der Hoffnung, irgendeine Reaktion zu beschwören. „Wenn Sie nicht tot sind, dann… tun Sie mir einen gefallen und machen irgendwas. Irgendein Geräusch oder so. Sie sind doch nicht tot, oder?“
Eine ziemlich unüberlegte Frage, aber auf der anderen Seite hatte Ellen auch keine Nerven für etwas anderes und auch keine Zeit, um sich länger als nötig an einer fraglich frischen Leiche aufzuhalten, wenn Ceyda wo anders Überlebende rufen hörte.
„Los man, gib mir… ein kleines bisschen Hoffnung, oke?“, forderte sie dieses Mal etwas lauter mit ihrer heiseren Stimme und kniff abermals in den freigelegten Arm, als sie die Stimme der anderen jungen Frau wieder vernahm, die sich weiter vom provisorisch erstellten Lager zu entfernen gedachte. Denn wenn Ellen gerade eines brauchen konnte inmitten der Trümmer und den Rauchschwaden, die noch immer aus allen Ecken und Enden des Zeppelinkadavers empor krochen, dann waren es ein paar mehr atmende Lungen als nur die von zwei halbstarken Mädchen und dem verletzten Mann hinten am Feuer.
12. Juli, 10:43 Uhr - etwa eine Stunde nach Absturz
Matthew:
Die Dunkelheit die ihn erfasst hatte war eisern und kalt und schirmte ihn ab. Es war als befinde sich Matthew nicht mehr auf dieser Welt, als sei er nicht länger Teil von dem ausgehöhlten Zeppelin-Wrack.
Trümmerteile hatten ihm erst mehrere Rippen gebrochen und ihn letztlich hart am Kopf getroffen, sodass er das Bewusstsein verloren hatte und in das Nichts der Düsternis gefallen war.
Wie ein Mantel hatte sich die Schwärze um ihn gelegt, sie schirmte ihn ab vor Schmerzen, vor Angst, vor Kälte.
Er hätte eigentlich tot sein müssen, die Chancen einen Absturz zu überleben waren verschwindend gering - aber er war nicht tot und der Mantel aus Dunkel- und Benommenheit hatte Risse bekommen.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war zwischen dem Moment als er ohnmächtig geworden war und dem Augenblick an dem er zum ersten Mal seit dem Aufprall die Lider wieder hob.
Seine Arme und Beine fühlten sich taub an, minutenlang kämpfte er damit sie überhaupt bewegen zu können und als ihm das schließlich gelungen war, stellte er fest, dass er nicht aufstehen konnte weil er an irgendetwas hing.
Schnaufend und stöhnend tastete er auf dem Bauch liegend über seinen Nacken und die Schulter.
Seine Finger streiften das was in seiner Schulter steckte und aus ihm herausragte. Einen Teil des Geländers.
Wieder stöhnte er benommen vor Schmerzen, ihm wurde schlecht und kurz darauf verlor er neuerlich das Bewusstsein.
12. Juli, 12:36 Uhr - etwa drei Stunden nach Absturz
Das nächste Mal als er erwachte, tat er es weil irgendetwas seinen Unterarm piesackte. Er versuchte den Arm wegzuziehen, doch dieser gehorchte ihm nicht. Die Kälte hatte ihn steif gefroren. Noch dazu bildete er sich ein eine Stimme zu hören, eine weibliche Stimme.
Sie klang wie seine Mutter.
Wieder kniff ihn etwas in den Arm, ein spitzes Gefühl, unangenehm in jeder Hinsicht. Benebelt stöhnte der junge Mann und versuchte abermals sich zu bewegen, was ihm dieses Mal schon etwas besser gelang. Er leckte sich über die Lippen, schmeckte Blut und hustete - was ihm grässliche Schmerzen durch den ganzen Körper jagte. Doch dieses Mal mündete der Schmerz nicht in erneute Bewusstlosigkeit, sondern sorgte dafür, dass der letzte Rest des Mantels der Benommenheit Stück für Stück von ihm gezogen wurde.
Die Stimme der Frau schien überrascht. „Sie leben! Sie leben wirklich!“ - und dann, an eine scheinbar andere Person gewandt: „Ceyda, hier ist noch ein Überlebender!“
Überlebender…wie das klang.
Matthew war sich nicht sicher ob er ein Überlebender war, vielleicht dauerte der Sterbeprozess bei ihm einfach nur länger. Hatte Rouge sich nicht damals genau darüber aufgeregt? Dass er einfach nicht verrecken wollte.
Aber jetzt war das mit dem weiterleben nicht seine Schuld, denn er wollte es nicht.
Es wäre ein Segen gewesen hätte er sich nicht an die letzten Minuten vor dem Aufprall erinnert, aber zu seinem Leidwesen erinnerte er sich an alles. Ganz besonders an Clarence. An dessen letzte Worte - ‚Gut…ist alles gut‘ - gefolgt von einer Aneinanderreihung panischen ‚Nein‘. Wieder und wieder. Dann war er weg gewesen, einfach so.
Die Erinnerung an das Geschehene war klar und unverstellt.
‚Bitte lass mich sterben, lass mich einfach sterben…ich will, dass es vorbei ist‘ - schoss es ihm durch den dröhnenden Schädel.
„Sie sind eingeklemmt, ich hol Sie raus. Oke? Aber versuchen Sie mitzuhelfen wenn es irgendwie geht.“
Über Matthews Kopf wurde etwas bewegt, Holz scharrte über Holz, eine Metallstange löste sich und polterte zu Boden. „Shit! Alles gut bei Ihnen?“, erkundigte sich die Frauenstimme die nun doch nicht mehr wie Rosalie klang.
„Gut…ist alles gut.“, hörte er sich sagen, wobei seine Stimme heiser und dünn klang.
Heiße Tränen liefen über sein rußverschmiertes Gesicht. Sie galten sich, weil er nicht tot war. Sie galten Clarence, weil er... fort war.
Mit einem lauten Knarzen wurde ein Teil der Trümmer zur Seite gezogen und zum ersten Mal konnte Ellen einen Blick auf den Mann darunter werfen.
Ellen:
Der Eingeklemmte sah schlimm aus. Er lag in leicht gekrümmter Haltung auf dem Bauch, hatte den Kopf seitlich gedreht. Ein Arm war unter ihm, den anderen hatte er von sich gestreckt - den, den sie gesehen hatte. Über die Stirn war ihm Blut bis runter zu den Lippen gelaufen, aber das war nicht das schlimmste.
Das schlimmste war das Holzstück das aus dem Rücken des Fremden ragte wie ein grotesker Stachel. Nur, dass es kein Stachel war.
„Puh… Scheiße.“, entfloh es ihr beim Anblick des Verletzten und sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Als sie das Bein ihres Bruders gefunden hatte, hatte sie sich danach im Schnee übergeben. Diesmal schaffte sie es den Würgereiz zu unterdrücken. „Können Sie aufstehen? Kommen Sie…Sie müssen da raus.“ - wahrscheinlich würde der Mann noch vor Einbruch der Dunkelheit tot sein, aber selbst wenn… jetzt lebte er noch und sie konnte ihn nicht sich selbst überlassen.
Vorsichtig rutschte sie an ihn heran, legte die Hände flach an seinen Rücken und betrachtete sich das Holzstück.
Sie sollte es rausziehen, in einem Rutsch, so wie man ein Pflaster abzog…aber ihr fehlte der Mut.
„Ich helfe Ihnen…kommen Sie, Sie schaffen das… Sie müssen nur ein bisschen mithelfen.“, beschwor sie ihn und tatsächlich versuchte der Fremde sich nach oben zu stemmen. Sie musste ihm helfen damit er nicht wieder zusammenbrach, aber letztlich schaffte sie es, ihn zu befreien.
Er kam auf alle Viere, wobei er zitterte was kein Wunder war, denn es war schrecklich kalt.
Seine Sachen waren löchrig und teilweise verbrannt. Der Pullover auf der Rückenseite blutig und zerrissen.
Aber alle seine Gliedmaßen waren wo sie sein sollten - was nicht bei allen der Fall war - und trotz dem vielen Blut das er verloren hatte war er einigermaßen kräftig.
„Gut so... schön langsam. Da hinten gibt es ein Lager, dorthin müssen Sie es schaffen. Es ist warm dort und...dort können wir Sie versorgen.“ Der letzte Teil des Satzes war gelogen, in Wirklichkeit wusste Ellen nicht wie und ob man ihn versorgen konnte. Sie hatte keine Ahnung wie sowas ging. Der Mann hob bei diesen Worten den Kopf und sie sah, dass er geweint hatte, was ihr selbst einen Stich versetzte. So verletzlich wie er aussah fühlte sie sich selbst.
Matthew:
„...Es ist warm dort und...dort können wir Sie versorgen.“ hallte es in seinem Kopf nach.
Er wollte nicht versorgt werden, er wollte zurück in die Dunkelheit, zurück ins Vergessen.
Jeder Atemzug tat ihm weh, ein bekannter Schmerz. Als Kind hatte er sich mal eine Rippe gebrochen als er vom Pferd gestürzt war.
‚Jetzt bist du vom Himmel gestürzt. Die Sache mit dem oben bleiben liegt dir nicht.‘
„W-weitere...Überlebende?“ fragte er zitternd und blieb auf allen Vieren eingesunken.
„I-Ich suche e-einen Mann...g-groß, blond, v-viele Tattoos, b-barf-...“ - „Sie suchen niemanden, jetzt kümmern wir uns erstmal um Sie. Wir suchen Ihren Freund noch.“ fiel ihm das Mädchen ins Wort, sie klang entschlossen wie Cassie auffiel, aber das war sicherlich nur der Schock.
‚So wie bei dir, oder wie würdest du nennen was du hast?‘
Schock traf es ganz gut. Matthew ballte eine Hand zur Faust, um die tauben Finger wieder etwas zu beleben, dann versuchte er den Oberkörper aufzurichten. Schmerz durchfuhr ihn aber bis auf ein Stöhnen blieb er still.
Sein Blick richtete sich nun erstmals auf das Gesicht seiner Retterin. Sie war jung, viel jünger als er gedacht hätte und sie schien kaum verletzt.
„H-Helen?“ sie schüttelte den Kopf. „Ellen, mein Name ist Ellen.“ - er nickte vorsichtig, nahm ihren Namen zur Kenntnis ohne den eigenen zu nennen.
„Meinen Sie, Sie können aufstehen und ein paar Schritte gehen? Ich helfe Ihnen natürlich.“ - es zeigte sich, dass Matthew es konnte. Er ging langsam, aber nicht schlurfend, seine Beine und Füße waren okay.
‚Gut...ist alles gut.‘ aber nichts war gut und würde es auch nie mehr sein.
Durch den Schnee und an kleinen und großen Trümmern vorbei folgte Matthew der jungen Frau. Es war ein trister Anblick, verstörend aber irgendwie auch zu surreal um es zu begreifen. Wie ein Außenstehender betrachtete Matthew die verschiedenen Haufen.
Es gab einen für Brauchbares und einen für Leichen.
„Ceyda! Ceyda Ich brauche hier wirklich Hilfe!“ rief Ellen und ihre Stimme wurde fast völlig vom Schnee verschluckt.
Ein paar Minuten später kehrte Ceyda zurück.
„Meiner hat es nicht geschafft.“, erklärte sie ungefragt.
„Hast du...einen Mann gesehen, größer als ich, l-lange blonde Haare, er i-ist tattowiert u-und barfuß. S-sein Name ist Cl-Clarence.“ - „Nein, tut mir leid. Aber ich verspreche dir, dass wir nach ihm Ausschau halten.“, versicherte ihm die Fremde.
Matthews Schultern sanken in sich zusammen.
„Jetzt kümmern wir uns erstmal um dich.“
Und das taten sie auch.
Den Geländerstachel aus seinem Rücken zu zerren war nötig und schwerer gedacht als letztlich getan. Das Stück Holz steckte etwa vier Zentimeter tief im Fleisch, direkt unter dem Schulterblatt. Das Schulterblatt selbst sowie die Wirbelsäule waren zerkratzt und aufgeschürft als das Geländer darüber geschrammt war.
Während der gesamten laienhaften Prozedur der Wundversorgung machte Matthew kaum einen Mucks. Er war so still, dass Ellen sich mehr als einmal sicher war, der junge Mann sei ohnmächtig geworden. Aber immer wenn sie das überprüfte erwiderten wache Augen ihren Blick.
Eine halbe Stunde nach Erreichen des Lagers und nachdem man ihn behelfsmäßig verarztet hatte, lief Cassie durch den nassen Schnee. Das Blut hatte er sich aus dem Gesicht gewaschen, der größte Teil des Holzstücks aus seiner Schulter war verschwunden und ein paar gebrochene Rippen reichten nicht aus um ihn ans Lager zu fesseln wo schon ein anderer Kerl lag.
Bärtig und größer als er, aber nicht blond. Es war ein weinerlicher Typ, um die Fünfzig vermutlich. Er hatte Matthew gebeten bei ihm zu bleiben, auch Ellen und Ceyda hatten das getan.
Aber wenn die zwei Frauen sich zusammenreißen konnten um in den Trümmern nach Überlebenden zu suchen, dann konnte er das auch.

Wenn man Ellen fragen würde warum sie fremden Leuten Holzgeländer aus dem Rücken zog und Leichenteile aus dem Trümmern heraus suchte um sie auf einem Haufen zu sammeln, dann wüsste sie keine bessere Antwort als jene, dass die eigenen Entscheidungen in Träumen nur selten zu erklären waren. Denn so kam es ihr vor, wie ein schlechter und seltsamer Traum, dessen Herkunft ihr nicht zu erklären war. Manchmal hatte man solche Nächte eben. Ihr Vater hatte ihr mal gesagt, dass man durch Träume das Erlebte des Tages verarbeitete und vielleicht war das hier ihre Art im Schlaf mit der Sorge umzugehen, die sie beim Start des Zeppelins auf ihrer ersten Flugreise verspürt hatte.
Wenn sie sich umblickte, inmitten der Trümmer stehend, dann erkannte sie kein Luftschiff mehr. Kein einziger Holzscheit erinnerte sie an etwas das sie mit dem Zeppelin in Verbindung bringen konnte und selbst die Müllhalde außerhalb ihrer Stadt hatte nichts mit dem Chaos gemeinsam, das sich vor ihr aufgetan hatte. Dinge, die sie in die Hand nahm, fühlten sich vor lauter Kälte ganz taub an, sodass sie weder die Struktur, noch die Konsistenz der Dinge benennen konnte. Die vereinzelte Kleidung und Stofffetzen, die sie gefunden und gerettet hatte, waren die Sachen weich? Waren sie klamm oder gar steif gefroren? Sie hatte keine Ahnung.
Ellen sagte „sie“, sprach von sich und Ceyda als wären sie eine große Gruppe von Menschen die viel bewirken konnten, obwohl das gar nicht stimmte. Als hätten sie einen Plan und Strukturen geschaffen die sie retten konnten, obwohl das gelogen war. Das einzige, was sie konnten, war halbwegs geradeaus laufen, aber vermutlich machte alleine das sie schon privilegiert im Vergleich zu allen anderen hier.
Was es also anmaßend den Mann, den sie mehr halb aus den Trümmern gezogen hatte als dass er selbst gekrochen war, zu bevormunden indem sie ihm sagte, er ging vor und „sie“ würden sich darum kümmern seinen Freund zu suchen? Vielleicht. Immerhin war sie nicht anders als der Fremde, genauso ahnungslos was hier eigentlich los war, genauso orientierungslos wo sie überhaupt waren und genauso an… Genauso nah am Nichts, ging es ihr durch den Kopf während sie beim Entfernen des Stachels aus seinem Rücken immer wieder seinen Blick suchte um zu überprüfen, ob der Mann noch bei Bewusstsein war, so still wie er sich gab. Sie hatten nichts und wer auch immer sie noch gewesen waren vor vier Stunden - beim Frühstück, im Bett oder noch unter der Dusche – nun waren sie zu nichts geworden. Kein Gold und kein edler Name brachte ihnen hier unten etwas, kaufte ihnen keine Gesundheit, keine warme Kleidung, kein Essen und keinen Komfort zwischen den Trümmerteilen.
Warum Ellen nach Menschen suchte die noch lebten und ihnen ein Feuer in einer geschützten Ecke gemacht hatte, um sie dort zu versammeln?
Weil sie verdammt nochmal eine behütete sechzehnjährige Tochter von einem kleinen Geschäftsmann aus der Stadt war und das das einzige war was sie konnte, um das Überleben hier draußen zu sichern: Durch ihr Tun irgendjemanden zu retten, der wusste, wie man hier draußen überlebte.
Der neue Mann war ihr seltsam, so still wie er war und so wenig wie er sich rührte, obwohl die Verletzungen an seinem Rücken furchtbar aussahen und schrecklich weh tun mochten. Auf der anderen Seite hatte er jemandem in dem Chaos hier verloren und in seinen Augen konnte sie die gleiche Starre und Leere erkennen, die auch in ihren eigenen ruhte. Es war der Ausdruck von Schock und Verdrängung, von diesem schrecklichen Gefühl aus diesem Alptraum hier aufwachen zu wollen und doch unterbewusst irgendwo tief in sich drin zu wissen, dass das einfach nicht geschehen würde, weil das hier echt war. So echt wie es nur sein konnte mit einem Luftschiff auf dem allerersten Flug abzustürzen und aus den Resten des Zeppelins abgerissene Körperteile von Fremden und der eigenen Familie zu ziehen.
„Kommst du klar, Ellen? Geht es noch? Wenn nicht, leg dich etwas hin“, schlug Ceyda an ihrer Seite besorgt vor und legte beschwichtigend die Hände auf den Schultern der Dunkelhaarigen ab, doch eben jene zog sich sachte unter der Berührung hervor, unfähig derartige Sentimentalitäten derzeit an sich heran lassen zu können.
„Wenn ich mich lege, wird es nur schlimmer. Geh und… und halt die Ohren offen, wenn du kannst. Und wenn du nichts findest, dann…“, hilflos sah sie zu dem Haufen mit den vermeintlich brauchbaren Sachen. Teile des Wracks hatten noch in Flammen gestanden während sie aufgewacht war und den Explosionen zufolge, die sie im Regal versteckt gehört und gespürt hatte, musste es noch mehr Feuer gegeben haben. Was nicht von den Flammen zerfressen worden war, hatte letzten Endes der Aufprall zerfetzt und doch konnte und wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben, ein paar mehr brauchbare warme Kleidungsstücke zu finden. Konserven. Behälter, um mehr Wasser abzukochen. Irgendwas, damit sie nicht erfroren oder verhungerten.
Obwohl sie sich erst wenige Stunden kannten, konnte sie den wehmütigen Ausdruck in Ceydas Blick erkennen mit dem die junge Frau sie bedachte. Doch schließlich wand sie sich wieder dem verbogenen Blechstück zu. Sie hatte es aus den Trümmern gezogen und sich dabei die Hand aufgeschlitzt, nur um es anschließend über etwas Glut zu drapieren und darin, wie sich nun herausstellte, erfolgreich Schnee zu erhitzen. Nicht genug um ernsthaft Durst zu löschen, aber ausreichend um wenigstens Mund und Kehle etwas zu befeuchten und hoffentlich von innen heraus zu wärmen, wenigstens für den Moment.
„Hier, vorsichtig…“, drapierte Ceyda ein Stück herausgerissene Plane zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem kleinen Säckchen und versuchte möglichst still zu halten, während Ellen das Wasser umfüllte und der anderen schließlich noch etwas Stoff über die Schulter warf, um es ihr für den Fremden mitzugeben, der einfach aufgestanden und losgetaumelt war, kaum da der Holzstachel seine Schulter verlassen hatte. Aber wer waren sie schon, ihm deshalb einen Vorwurf zu machen?
Behutsam stieg Ceyda über Stahlträger und Holzplanken hinweg, taumelte hinein in den weichen tiefen Schnee der vor ihrer Ankunft hier noch keinen Fuß gesehen hatte der ihn fest trat und folgte dem jungen Mann, der ihr schon einige Meter voraus gegangen war.
„Hey… hey du! Wie heißt du eigentlich?“ – Den Kerl für längere Zeit still zu bekommen als es gebraucht hatte um ihm das Holz aus der Schulter zu ziehen, schien beinahe unmöglich. Obwohl er gespenstisch ruhig war, hielt die Sorge um seinen Begleiter ihn in Bewegung – eines der Probleme die Ceyda zum Glück nicht hatte, immerhin war sie alleine an Bord gewesen.
„Trink einen Schluck, ist so gut es geht abgekocht. Wenn du suchen willst… zeig ich dir, wo wir schon gesucht haben und wo ich als nächstes hin wollte. Ellen kann nicht so weit weg“, erklärte sie mit einem Nicken in Richtung des blässlichen Teenies, bevor sie vorsichtig den improvisierten Trinkbeutel an den Fremden weiter gab und ihm anschließend das dunkelrote Cape über warf das Ellen ihr für den Typen mitgegeben hatte und das eindeutig bis vor wenigen Stunden noch eine bodenlange Gardine aus einem der Zimmer gewesen war. Jetzt würde es stattdessen hoffentlich sein Leben vor der Kälte schützen, auch wenn es nicht besonders schick war – aber alles war derzeit besser als sein löchriger und halb verbrannter gelber Pullover.
„Vielleicht finden wir eine anständige Jacke für dich während wir deinen Freund suchen… Cl…arence, oder?“
Der Typ hatte beim rausziehen aus dem Loch so oft nach ihm gefragt, dass Ceyda den Fremden beinahe schon so genannt hätte.
Der Wind heulte durch die verlassenen Straßenzüge, die gesäumt wurden von dem was die Alten als Wolkenkratzer bezeichnet hatten. Heute waren die einstmals polierten und glänzenden Bauten nur noch Kadaver. Konstruktionen aus Stahl, Beton und milchigem Glas.
Die Natur hatte sich längst zurückgeholt was schon immer ihr gehört hatte. Hatte asphaltierte Straßen untergraben und aufgebrochen, hatte Bäume in Häuser gepflanzt und Strommasten umgeworfen.
Unter anderen Umständen hätte Matthew sich für die Gebäude interessiert, für die eingeschneiten Wracks der Autos, für all die Dinge die früher selbstverständlich gewesen waren und die heute verbotene Relikte darstellten.
Aber der junge Mann kümmerte sich nicht um die Stadt, nicht um die Kälte, nicht um die Schmerzen.
‚Schmerz tut nicht weh.‘ erinnerte er sich an eine der zahllosen Lebensweisheiten seines Lehrmeisters, sie bedeuteten ihm so wenig wie der Schnee zu seinen Füßen.
Nichts bedeutete ihm noch irgendetwas. In seiner Brust war ein großes schwarzes Loch wo heute Morgen noch sein Herz gewesen war.
‚Was haben wir gelacht in der letzten Nacht…‘ – der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich, der so sehr schmerzte, dass Matthew sich wünschte tot zu sein. Wie sollte er leben ohne das Lachen seines Mannes? Wie sollte er nachts einschlafen ohne ihn? Wie aufwachen? An wessen Schulter sollte er sich schmiegen, an welchen Haarspitzen zupfen?
Er würde es nicht können, er würde es gar nicht wollen.
Während man ihn verarztet hatte, hatte er nur an Clarence gedacht. Daran wie warm und weich sich seine Haut unter seinen Fingern anfühlte, daran wie schelmisch seine Augen dreinblicken konnten und an den frechen Schnabel, den er bisweilen hatte. Er vermisste ihn so unbeschreiblich.
Er hätte den beiden Frauen sagen sollen, dass er ihre Hilfe nicht wollte und dass sie ihre Energie lieber in andere Leute investieren sollten. In Leute die leben wollten.
Aber er hatte ihnen nichts gesagt, noch nicht einmal seinen Namen.
Es machte keinen Sinn sich vorzustellen, es machte auch keinen Sinn zu versuchen ihn davon abzuhalten das Lager zu verlassen – was ein lachhaft überzogener Begriff für das winzige Feuer und die aufgespannte Plane darüber war.
Eines der Mädchen, die ältere der beiden mit dem Namen Ceyda lief ihm nach, er hörte es aber drehte sich nicht nach ihr um. Seine Schulter brannte, das Lufthohlen stach und er hatte Kopfschmerzen, doch ‚Schmerz tut nicht weh‘ und der einzige Schmerz der wirklich wehtat war der Verlust.
Seine Augen waren gerötet von Tränen und seine Kehle heiser vom Schreien an Bord des Zeppelins, doch alles Rufen hatte nichts genützt.
Am Ende war Clarence einfach fort gewesen.
Er hatte eine Sekunde nicht zu ihm gesehen und dann…
„Hey… hey du! Wie heißt du eigentlich?“ – ohne stehenzubleiben blickte er sich nach ihr um und musterte sie ohne eine Regung. Das einzige was man in seinem Gesicht ablesen konnte war Kummer.
Die dunklen Augen hatten nichts Hoffnungsvolles an sich, hinter dem Schmerz kam nichts mehr.
Sein Haaransatz war blutverkrustet, die Platzwunde irgendwo verborgen unter den wirren schwarzbraunen Strähnen. Der selbstbewusste Kerl, der wenige Stunden zuvor noch den Speisesaal betreten hatte, war nicht mehr am Leben. Zurückgeblieben war ein Geist, der zwar aussah wie jener junge Mann, aber nichts von ihm hatte.
„Ich komm schon zurecht.“ kam es ihm tonlos über die Lippen. Ob er fror oder nicht machte keinen Unterschied und war nicht wichtig. Die zwei jungen Frauen mochten glauben, dass ihr Tun einen Sinn hatte, dass es richtig und wichtig war eine Art Ordnung ins Chaos zu schaffen damit… damit man selbst überlebte. Und vielleicht traf das für sie auch zu. Bestimmt sogar.
Aber wie sollte das für ihn gelten? Die Antwort war einfach: überhaupt nicht.
‚Vielleicht ist das wieder einer dieser Träume, vielleicht sind das wieder diese… Vetala‘, dachte er und wusste, dass das nicht stimmte. Er wusste von Clarence, dass diese Wesen keine Alpträume generierten, sie hielten ihre Beute gefangen in behaglichen Illusionen.
Und das hier…war nichts davon.
Cassie nahm einen winzigen Schluck Wasser und reichte der jungen Frau den provisorischen Trinkschlauch dann zurück. Erst als Ceyda ihm anbot ihm zu sagen wo sie schon gesucht hatten trat eine Art traurige Aufmerksamkeit in sein Gesicht.
„Er ist…rausgefallen k-kurz bevor…es die l-letzte Explosion gab.“ erzählte er, so als würde es irgendetwas zur Sache tun und als würde Ceyda angesichts dieser Information mit den Fingern schnippen und sagen:
‚Ah na wenn das so ist, folge mir zu Trümmelfeld 3C, hier haben wir alle Rausgestürzten abgelegt.‘
Aber das sagte sie freilich nicht. Sie sah ihn nur an, mitleidig und nachsichtig.
„Ich war allein unterwegs.“, fing sie zu erzählen an „…aber ich kann mir vorstellen wie…schrecklich du dich fühlst. Ellen hat…“, sie schüttelte den Kopf.
Sie brauchte nicht ins Detail gehen damit Matthew verstand, dass das Mädchen ihre Angehörigen verloren hatte, doch der Gedanke an jene fremden Menschen löste nichts in ihm aus. Er würde sie alle eintauschen, er würde sein eigenes Leben geben, um Clarence zurückzuholen.
Verstand sie das wirklich? Sicherlich nicht. Sie konnte es nicht wissen, weil man für gewöhnlich nicht mit wem Luftschiff abstürzte und wenn doch, dann überlebte man nicht allzu oft. Also wie bitte schön sollte sie sich vorstellen können was er empfand?
Und selbst falls doch... es brachte Clarence nicht zurück.
Nichts würde das können, selbst wenn er Gott anbieten würde ihre Leben zu tauschen. Es Clarence zu geben und seins zu nehmen. Er wünschte so sehr, dass das ginge.
Aber hatte es jemals so funktioniert? Natürlich nicht. Es gab nichts, dass er tun konnte, um ungeschehen zu machen, was passiert war und auch wenn ihm das schmerzlich bewusst war, so konnte er es dennoch irgendwie nicht fassen.
Gerade waren sie noch zusammen gewesen, gestern hatten sie sich noch im Süden aufgehalten, hatten gegessen und getrunken, sie hatten Sachen gepackt und die Harper Cordelia dauerhaft im Hafen sichern lassen.
‚Damit sie sicher ist ... bis wir wiederkommen.‘ das war ihr Plan gewesen, aber sie kamen nicht wieder.
Sie würden das Vergangene nicht klären, um eine Zukunft zu haben. Denn sie hatten keine Zukunft mehr.
Matthew konnte das nicht begreifen, es zerriss ihn innerlich und niemand konnte irgendetwas sagen oder tun, damit er sich besser fühlte.
„Dort drüben...habe ich schon gesucht, dort konnte ich niemanden finden. Aber da hinten haben wir vielleicht mehr Glück.“ - Glück war definitiv das falsche Wort in diesem Zusammenhang, aber Matthew machte keine Anstalten seine Einschätzung kundzutun. Die junge Frau plapperte, sie gab sich Mühe mit ihm - weshalb auch immer.
„Du musst...mir nicht helfen. I-ich weiß d-dass er w-wahrscheinlich...“ Matthews Stimme brach und er gab unerwartet ein gequältes Schluchzen von sich. Heiße Tränen füllten seine Augen und Cassie hob die Hände, um sich kurz übers Gesicht zu wischen.
„Hey...” machte Ceyda sanft und legte Matthew vorsichtig die Hand auf die Schulter.
„Wir müssen jetzt alle einander helfen, also... machen wir dort drüben weiter.“ Sie deutete auf schwelende Überreste in der Nähe und Cassie folgte dem Fingerzeig mit den Augen.
Alles kam ihm surreal und zugleich niederschmetternd real vor. Er spürte die Schneeflocken, die Kälte des Windes und gleichzeitig fror er nicht. Sein Körper war überzogen von Blessuren, aber statt sich auszuruhen lief er herum in der irren Hoffnung, dass sein bester Freund, sein erster Liebhaber, sein Partner in Crime, sein Ehemann vielleicht doch noch irgendwo war.
Und irgendwo war er sicher. Zerschmettert vom Aufprall, zerrissen von der Wucht der Explosionen oder erschlagen von Trümmerteilen.
‚Wenn du lebst, lebt er auch. Er hat gesagt…alles ist gut.‘ – aber noch nicht einmal Clarence Bartholomy Sky konnte das Unabwendbare abwenden.
Vorsichtig zupfte Ceyda an seinem Handgelenk und holte ihn zurück in die Wirklichkeit so gut es ging. Fragend musterte sie seinen Blick, schien auf irgendetwas zu warten, aber der junge Mann brauchte noch einen Augenblick bis er verstand.
„Matthew… ich heiße Matthew.“ – stellte er sich knapp vor und dann, weil es ihm irgendwie wichtig war: „Der Mann, den ich suche… Cl-Clarence… i-ist… mein Mann, w-wir s-sind verheiratet.“
Jener Mann war sein Herz und ebenso gut hätte man ihm selbiges herausreißen können in dem Moment als Clarence abgestürzt war. Es wäre besser gewesen.

Ich komm schon zurecht, ließ er junge Mann sie wissen und noch in jener Sekunde wo er die Worte aussprach, wusste Ceyda, dass sie gelogen waren.
Niemand von ihnen kam hier zurecht.
Unter anderen Umständen vielleicht, in gewohnter Umgebung und mit den eigenen Sachen. Wären sie mit einem Kutschwagen mitten in der Pampa verunglückt, sogar die junge Frau hätte sich dann womöglich lange genug alleine über Wasser halten können, bis sie die nächste Siedlung erreichte.
Aber das hier war kein Unglück mit dem Kutschwagen. Das war anders als alles was sie je gesehen hatte und auch anders als alles, was man sich je würde erdenken können. Als alles, worauf man sich vorbereiten konnte.
Natürlich hatte sie am späten Nachmittag dagesessen, beim Ablegen aus Rio Nosalida die Luft angehalten und gehofft, alles möge gut gehen. Dass sie nicht abstürzen mögen, keine Turbulenzen ihren Flug unterbrechen und alles reibungslos verläuft. Aber hoffte man das nicht automatisch bei unbekannten Erlebnissen, die einem fesselnd und gruselig zugleich waren? Selbst in ihrem schlimmsten Albträumen hätte sie sich nicht vorstellen können wie es wäre, würden diese wirklich Realität werden – und auch jetzt fühlte sich alles so völlig anders an als… real.
Womöglich lag es in der Natur des Menschen, dass ihre erste Bestrebung deshalb jene gewesen war, Ordnung ins Chaos zu bringen. Andere zu suchen um nicht alleine zu sein, ein Feuer mit ein paar Liegeplätzen zu schaffen in der Hoffnung, dass ihr Geist damit etwas Normalität verknüpfen konnte, wenn sonst schon nichts mehr normal war. Andere aus dem Wrack zu ziehen und ihnen zu helfen, damit man selbst auch mehr Hilfe hatte damit umzugehen, was geschehen war.
Mit so viel Aufmerksamkeit wie sie selbst derzeit noch aufbringen konnte, beobachtete sie den Fremden jungen Mann, der nicht weniger Unglauben und Schock in den Augen geschrieben stehen hatte als sie selbst noch vor wenigen Stunden. Alles an seiner Körperhaltung schrie nach Starre, vor Schmerz wie auch vor Verlust, überschattet nur noch von den dunklen Trauerschleiern in seinen braunen Augen die für Ceyda aussahen, als könne dieser Mann nie mehr Freude in seinem Leben empfinden. Seine Skleren brannten rot von den unaufhaltsamen Tränen die er schon während seiner Verarztung vergossen hatte und für einen Moment musste sie wirklich daran zweifeln, ob er sein lautloses Weinen während der ganzen Prozedur überhaupt mitbekommen hatte.
Mit nachsichtigem Blick strich sie ihm die dunkelrote Gardine an der Brust glatt und zog die Säume etwas zusammen damit der Dunkelhaarige besser vor der Kälte geschützt war, selbst wenn sie nicht daran glaubte, dass sie das auf Dauer retten konnte. Ihre Befürchtung war noch immer - selbst wenn sie heute noch mehr Überlebende finden sollten – morgen bei Sonnenaufgang zwischen in der Nacht Erfrorenen aufzuwachen und so furchterregend diese Vorstellung auch war, so abstrus war sie und hätte sie beinahe dazu gebracht verzweifelt aufzulachen, wenn sie näher darüber nachgedacht hätte. Da überlebten sie den Absturz eines Zeppelins, nur um dann von etwas Kälte dahin gerafft zu werden… das nannte man dann wohl Ironie des Lebens.
Es dauerte einige Bemühungen lang, bis er ihr endlich seinen Namen verriet wie auch ein weiteres Detail mehr, das sie tief und resigniert durchatmen ließ. Sie durfte gar nicht daran denken wie viele Menschen hier sichtbar und unsichtbar verstorben um sie herum lagen, wie viel Familie vermisst wurde wie etwa bei Ellen oder bei dem Dunkelhaarigen… und dass besonders bei jenen wenigen Überlebenden der Schmerz nie enden würde, fanden sie die Überreste der Verlorenen nicht, um sie betrauern zu können.
„Hi Matthew…“, versuchte sie ihm ein dankbares, aber trauriges Lächeln zu schenken und suchte dabei vorsichtig seinen Blick. Bislang hatte er sich nicht dagegen gewehrt von ihr berührt zu werden, anders als Ellen, und schien unter der vorsichtigen aber bemühten Zuwendung langsam etwas aufzutauen, weshalb sie sich dazu entschloss ihm zögerlich und beschwichtigend die Hände auf die Schultern zu legen.
„Wenn dein Mann Clarence auch nur halb so zäh ist wie du, dann haben wir bestimmt eine Chance ihn zu finden. Meinst du nicht?“
Er hatte ihn als groß beschrieben, muskulös, bärtig – das klang nicht gerade nach einem kränklichen, untersetzten Schlag Mann, der es schwer haben würde eine Weile durchzuhalten, wenn er denn wenigstens seinen Sturz irgendwie überstanden hatte. Wenn.
Sie wussten beide wie unwahrscheinlich das war, aber auch wenn er es aller Hoffnung zum Trotz nicht überstanden hatte, dann… bedeutete sein Wiederfinden wenigstens auch ein Ende der quälenden Ungewissheit, die einen umherwandern ließ wie ein ruheloses Gespenst, das sein Ziel nicht fand. Diese Aufgabe hielt Matthew außerdem in Bewegung, brachte ihn dazu nicht wahnsinnig zu werden und zeitgleich konnte Ceyda weiterhin Ausschau halten nach brauchbaren Sachen und Essbarem, während Matthew sich auf etwaige Lebenszeichen konzentrierte.
„In Poison Ivy… da hab ich ein Mädel, das macht sich genau so sehr Sorgen um mich wie du um deinen Mann wenn sie erfährt, was passiert ist“, sie wusste zwar nicht ob Matthew sonst noch jemanden da draußen hatte oder was er und sein Mann in der Metropole gewollt hatten dass sie auf dem Weg dorthin gewesen waren, aber im besten Fall erinnerte sie den Fremden daran, es gab auch noch andere die auf ihn warteten und sich um ihn sorgen, auch wenn sie… diesen Clarence weder heute, noch morgen auf dem weitläufigen Areal fanden.
„Viele werden sich um uns sorgen wenn bekannt wird, dass der Zeppelin…“, noch immer war es surreal das Geschehene direkt auszusprechen, weshalb sie sich letztlich unsicher in einem leisen Seufzer verlor. „…und alle werden denken… dass wir tot sind. Dabei leben wir, genau jetzt und hier. Das muss deinen Mann nicht ausschließen, vielleicht… macht er sich gerade die gleichen Sorgen um dich weil er denkt, du hast es auch nicht geschafft. Also suchen wir, damit er keine Angst mehr um dich haben muss, ja?“
Der reinen Logik nach hätte es niemand von ihnen schaffen dürfen, kein einziger. Bislang waren sie nur zu viert, aber selbst vier Menschen waren mehr, als man solch einer Katastrophe wie dieser hier zugestehen würde.
Langsam wandte sich in die Richtung, auf die sie sich mit Matthew geeinigt hatte und setzte sich mit ihm in Bewegung gen Luftschiffkadaver, vor allem auch um nicht weiter auszukühlen. Die Suche beschäftigte einen nicht nur, wie sie festgestellt hatte, sie hielt einen ebenso wenigstens für den Moment warm.
„Erzähl mir ein bisschen was von euch, vielleicht hört er uns dann, wenn wir in seine Nähe kommen. Wart ihr… geschäftlich auf dem Weg nach Poison Ivy? Ich meine, die wenigsten wollen ja zum Sightseeing dahin“, versuchte sie ein mäßig interessantes Gespräch anzuzetteln, einfach damit der Unbekannte mit seinen Gedanken im Hier und Jetzt blieb, statt weiter in Panik und Schock zu verfallen. Vor wenigen Stunden hatten sie schon einen anderen gefunden, bei dem das weniger gut geklappt hatte und der plötzlich so in Panik verfallen war, dass… nein… wortlos schüttelte Ceyda bei der Erinnerung den Kopf, daran wollte sie gar nicht mehr denken.
Mit sicheren Schritten erklomm sie die ersten Holzplanken die recht stabil aussahen und sich unter den Trümmern auftürmten.
„Bei den Stahlstreben da vorne… musst du aufpassen, die Bruchkanten sind teileweise ziemlich gemein wenn du dich abstützen oder was anheben willst, ich hab mich schon ein paar Mal dran geschnitten“, hielt sie Matthew eine Hand entgegen um im rauf zu helfen; dieser Abschnitt des Wracks war deutlich schwerer zu besteigen als jener in dem sie überlebt hatten, was vielleicht auch mit einer der Gründe war, warum sie überhaupt noch atmeten.

Ceyda meinte es gut mit ihm, selbst im Zustand vollkommener Verzweiflung nahm Matthew das wahr.
Sie richtete den provisorischen Mantel und er dachte an die Sachen die er eingepackt hatte.
Kleidung für den Winter.
Ihre verbeulten Blechtassen.
Proviant für die Reise.
Bonbons für Clarence.
Clarence‘ Gitarre.
Sein Blick schweifte über das Trümmerfeld. Der Zeppelin war durch die Explosionen in mehrere Teile zersprengt worden und beim Aufprall waren diese Teile nochmals zerborsten. Überall lagen Wrackteile, manche schwelten, andere brannten und wieder andere taten nichts von alledem. Sie lagen nur da - wie die Trümmer der Alten.
Am Rande seiner Wahrnehmung hörte er die junge Frau plappern. Davon wie zäh er war und das Clarence, wenn er nur halb so zäh wäre, vielleicht noch lebte.
„Meinst du nicht?“ - Cassie sah sie an als würde er sie gerade zum ersten Mal sehen.
„Nein“, sagte er merkwürdig leise. „Das wir leben hat nichts damit zutun, dass wir zäher sind als die anderen.“
Er sprach tonlos und zugleich überlegt. Es waren die Gedanken eines Mannes der die Situation klar sah und doch wich der Schleier der Mutlosigkeit nicht aus seinen Augen. „Wir hatten einfach nur Glück.“
Aber war es Glück zurückzubleiben, wenn alles tot war, dass man liebte?
Nein. Nicht für ihn.
„Er h-hat versucht sich f-festzuhalten... Er h-hat gekämpft f-für mich. Ich weiß, d-dass er mich nicht allein lassen w-wollte.“ - Clarence hatte alles getan damit sie zusammenbleiben konnten, aber letztlich hatte das nicht gereicht. Und warum nicht? Weil er sich zu spät von Barclay losgerissen hatte.
Dass sie getrennt worden waren, war seine Schuld.
Er presste die Lippen aufeinander und setzte sich in Bewegung. Das Atmen fiel ihm schwer, aber nicht wegen der körperlichen Schmerzen, sondern weil er so verzweifelt war.
Ceyda ging voraus, sie hatte in den letzten Stunden offenbar eine Art...System entwickelt wie man am besten vorging und gleichzeitig hielt sie das Gespräch am Laufen.
‚Damit du an etwas anderes denkst als an den Verlust.‘ dachte Matthew und konnte es ihr nicht verübeln.
Der Versuch ihn abzulenken war nett - aber nicht von Erfolg gekrönt. Wer auch immer in Poison Ivy auf Ceyda wartete, derjenige war zumindest sicher.
„Auf uns...wartet niemand dort. Ich hab nur ihn.“
Vorsichtig spähte er in das Wrackteil, er hatte Angst etwas zu sehen das er Clarence zuordnen konnte, aber als er in das mit Planken überzogene Gerippe sah, sah er im ersten Moment nur Chaos und keine Leichen.
„Wir wollten dort nur...Station machen und sehen wie wir von dort nach Avanzamento kommen. Die Flüge dahin w-wurden gestrichen...“, er hielt inne und sah zu Ceyda.
„Meinst du...j-jemand hat das hier geplant?“, fragte er unvermittelt, weil ihm der Gedanke eines Zufalls mit einem mal so gering vorkam.
Eigentlich spielte es nun keine Rolle mehr, denn es gab keinen Weg den Absturz wieder rückgängig zu machen.
„Ich weiß nicht. Ich...habe noch nicht darüber nachgedacht.“, erwiderte die junge Frau überrascht, doch der Gedanke schien ihr nicht zu behagen.
Statt die dargebotene Hand zu ergreifen, kletterte Matthew alleine auf die Holzkonstruktion, wobei er eine Hand über seinen Brustkorb legte.
Schnee war in das Zeppelinskelett geweht, Cassie erkannte Reste des roten Teppichs der in einigen Zimmern gelegen hatte und der an mehreren Stellen zerrissen war.
Glassplitter knirschten unter seinen Schuhsohlen während er weiter in das Innere des Wrackteils ging.
Gepäckstücke lagen verteilt und Ceyda eilte auf einen Koffer zu. Cassie sah ihr dabei zu wie sie die Riemen löste und in das Innere schaute.
„Jackpot!“ kommentierte sie den Fund.
Matthew fragte sich wo wohl die Sachen von Clarence und ihm waren, er fragte sich wo die Fracht gelagert hatte. Dort hatte man Kain und Abel untergebracht...
Hoffnungslos ging er auf die Knie und krabbelte unter einer Metallkonstruktion hindurch die Teile der eingestürzten Wand trug.
„Hey, pass auf! Das sieht nicht stabil aus!“ - wahrscheinlich hatte sie recht, aber der Gedanke daran, dass Clarence vielleicht dort irgendwo lag, eingeklemmt unter Trümmern, ließ ihn jede Vorsicht vergessen.
Er würde es sich niemals verzeihen wenn er ihn nicht finden würde, nur weil er zu feige gewesen war richtig zu suchen.
„Ist schon okay...“, rief er zurück, obgleich sie beide wussten das nichts okay war und vermutlich auch niemals wieder etwas okay sein würde.
Der Tunnel war so eng, dass Matthew sich auf den Rücken legen und unter Trümmern hindurch quetschen musste, wobei diese auf seine Brust drückten und ihn schmerzerfüllt stöhnen ließen. Er rappelte sich wieder auf, kaum da er wieder Platz dazu hatte und schaute sich in dem Hohlraum um. Anders als bei Betreten des Wracks konnte er nun Tote sehen. Ein Mann lag begraben unter einer sperrigen Holzkiste, ihm war Blut aus dem Mund gelaufen, die Augen hatte er aufgerissen und sie blickten leer in die Unendlichkeit. In unmittelbarer Nähe zu ihm fanden sich zwei Frauenleichen, einer fehlte ein Arm, die andere lag in vollkommen verdrehter Position da, offenbar war jeder Knochen in ihrem Leib zertrümmert.
Zitternd vor Angst Clarence irgendwo zu erspähen, wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen und hustete, was ihm höllische Schmerzen bereitete.
Soweit er sehen konnte, gab es hier keine Überlebenden aber er sah auch nichts was auf den Blonden hinwies.
„H-Hallo?” Keine Antwort, nur das knirschen von Holz und Glas als er langsam weiterging.
„Sei vorsichtig, Matthew!“ rief ihm die junge Frau zu doch Matt antwortete nicht. Der Hohlraum in dem er sich befand war nicht groß und das herrschende Durcheinander war überbordend. Verschüttet unter Holz und Geröll lagen weitere Koffer und Kisten aber auch weitere Tote.
Cassie durchschritt eine Tür, die krumm und schief in den Angeln hing und steuerte dahinter auf die Überreste einer Treppe zu. Dort angekommen zog er vorsichtig einen darunter verkeilten Tisch zurück. Daraufhin löste sich eine Querstrebe, sie peitschte wenige Zentimeter an ihm vorbei durch die Luft und rauschte über das Geländer um dann in der Wand stecken zu bleiben.
Cassie zog instinktiv den Kopf ein und warf sich auf den Boden, schmerzgeplagt rollte er sich auf die Seite und wartete darauf, dass noch mehr einstürzte aber nichts passierte.
Er kam langsam wieder auf die Füße und blickte in den Spalt unter die Treppe, dorthin wo er den Tisch hervorgezogen hatte. Dort lagen reglos zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Das Mädchen hatte braune Haare die zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst waren, der blonde Junge lag in ihren Armen. Beide sahen blass und wächsern aus, sie hatten Abschürfungen an Armen und im Gesicht.
„Oh Scheiße...“, flüsterte er angespannt, eilte zu den beiden und legte nacheinander zwei Finger an die schmalen Hälse um den Puls zu fühlen.
Der von dem Jungen war schwach aber durchaus spürbar, das Mädchen...hatte keinen mehr.
„Nein, nein, nein.... komm schon, komm schon, das tust du deinem Bruder nicht an.“ kam es Matthew erschrocken und hastig über die Lippen, er zog den Jungen von dem Mädchen runter und klapste ihr sanft gegen die Wange.
Sie reagierte nicht.
„Fuck...“ Er wandte sich wieder dem Jungen zu, er war vielleicht Acht, höchstens Zehn und weggetreten.
„Ceyda!“, rief er „Ich hab hier zwei gefunden...ich bring dir den ersten, bist du da?“ - „Ja! Ich bin da!“, rief sie sofort zurück und Cassie hob den Jungen hoch.
Seine gebrochenen Rippen schickten heiß-brennenden Schmerz durch jeden Nerv seines Körpers, aber Matthew ließ sich nicht in die Knie zwingen.
Schmerz tut nicht weh.
Mühsam bugsierte der Dunkelhaarige das Kind durch die Trümmer und schob ihn durch den schmalen Tunnel, Ceyda wartete am anderen Ende und zog den Knaben heraus in dem sie ihn unter den Achseln nahm und die Arme um seine Brust verschränkte.
„Großer Gott...er lebt noch?“, fragte sie mehr sich als Matthew und wischte sich fahrig durch das Gesicht. Ein Kind zu finden war ein bisschen wie ein Wunder und sie schöpfte die irrationale Hoffnung, dass sie vielleicht doch nicht alle verloren waren.
„Da ist noch ein Mädchen...ich hol sie, kümmer dich um den Jungen und dann komm zurück.“, seine Anweisungen waren knapp aber konkret, er weinte mich mehr, dass konnte sie deutlich hören, stattdessen klang er konzentriert und entschlossen. Es war die Art Stimme, der man nicht widersprechen brauchte, weil es ohnehin sinnlos war.
Also zog Ceyda los, sie schleppte das Kind aus dem Wrack und durch den Schnee während Cassie den Tunnel zurück kroch.
Er zog das leblose Mädchen von der Wand weg und legte sie flach auf den Rücken, presste das Ohr auf ihre Brust und lauschte ob er etwas hörte. Doch da war kein Herzschlag.
Matthew richtete sich auf die Knie auf und fing an mit beiden Händen auf den schmalen Brustkorb zu drücken, dann legte er die Lippen auf ihre, hielt ihr die Nase zu und blies Sauerstoff in ihre Lunge. Wieder massierte er rhythmisch ihr Herz, beamtete sie neuerlich und fuhr so lange damit fort, bis der eingesunkene Brustkorb sich unerwartet hob. Ein rasselnder Atemzug des Mädchens wurde getan, dann hustete sie.
Matthew ließ von ihr ab und betrachtete sie erschrocken. Sie drehte sich auf die Seite, krümmte sich und fing zu weinen an.
„Hey...sssscht... a-alles ist gut, d-du bist okay.“
Aber war sie das? Er hatte keine Ahnung.
„H-hör mir zu...ich b-bring dich hier raus. T-tut dir was weh?“
Aber das Mädchen weinte nur. Er schätzte sie war etwas älter als der Junge, irgendwas zwischen Zehn und Dreizehn. „K-Komm.“ Er hievte sie hoch und sie schrie, sie hielt sich die Seite und versuchte sich Matthew zu entziehen. Dieser erkannte die Panik in ihrem Blick und gab sie frei, hob beide Hände um ihr zu zeigen, dass er nicht vorhatte sie irgendwie zu fixieren.
Wie ein verängstigtes Tier kroch die Kleine zurück in die Ecke zwischen Treppe und Trümmer.
„Ist schon gut.“ sagte er und lehnte sich nach hinten, mit einer Hand stützte er sich hinter sich ab, die andere legte er auf seine stechende Seite.
„Ich kann verstehen, d-dass du Angst hast. Ich h-hab auch Angst.“ argwöhnisch und mit Panik im Blick starrte sie ihn an.
„Mein Name ist Matthew. Verrätst du m-mir deinen Namen?“
Einen langen Moment sah es aus als würde sie das nicht tun, dann piepste es leise aus der Ecke hervor.
„Lucy.“ Matthew, der die Augen geschlossen hatte und versuchte die Schmerzen auszublenden, hob die Lider und lächelte gequält aber ehrlich.
„Lucy, hm? Ein schöner Name.“, sie reagierte nicht.
„Lucy... der Junge der b-bei dir war...?“ - „Gabriel, wo ist er?“, sie sah sich hektisch um als würde er irgendwo versteckt liegen.
„Er i-ist draußen, es gibt ein Lager...Wollen w-wir...raus gehen und nachsehen w-wie es ihm geht?“
Das Mädchen überlegte kurz, dann nickte es. Matthew lächelte wieder schwach und sie deutete mit einem Nicken auf ihn. „Sind Sie verletzt?“ - „Ein bisschen v-vielleicht. Und b- bitte... Nenn mich einfach Matt, okay? K-kein „Sie“.“
Lucy schluckte und nickte vage, sie kam hinkend auf ihn zu und er stand schwankend wieder auf, den provisorischen Mantel nahm er ab und hängte ihn dem Mädchen um die schmalen Schultern. „W-wir müssen da durch..schaffst du das?“ - „J-ja, ich schaffe das.“
Und es zeigte sich, dass Lucy recht behielt. Matthew rechnete mit neuen Weinanfällen als sie vorbei an den Toten mussten, aber die Kleine blieb still.
Sie schafften es nach draußen, wo sich der Schneefall mittlerweile gelegt hatte. Der Himmel war dabei aufzuklaren und Fetzen von hellem Blau drangen bereits durch die Wolkendecke.
„Wir müssen ein Stück gehen, aber es ist nicht sehr weit.“
„Geht es Gabe gut?“ - sie würde wahrscheinlich bis ans Ende der Welt laufen um zu ihm zu gelangen.
„Er war bewusstlos aber er lebt. Ist Gabriel dein Bruder?“
„Mhh ja.“
Hinkend und nun mehr wieder schweigend trotteten sie durch den Schnee, wobei der Umhang eine kleine Schneise in das Weiß zog.
Matthew behielt die Umgebung im Blick, Lucy schaute einfach zu Boden. Sie waren schon fast da, da kam Ceyda auf sie zugelaufen. Lucy sah durch die hindurch als würde sie nicht existieren.
Sie war so angespannt wie Matthew sich fühlte.
Es dauerte nur wenige Minuten bis sie das provisorische Lager erreichten, Ellen hatte noch mehr Platz geschaffen und tupfte dem bewusstlosen Jungen gerade mit etwas Wasser über die Stirn, als Lucy zu ihm lief und vor seiner notdürftigen Pritsche niedersank.
Ceyda betrachtete die Kinder, dann sah sie zu Matthew.
„Du hast sie gerettet.“, sagte sie anerkennend.
„Und Ellen hat mich gerettet.“, erwiderte er freudlos. Ceyda lächelte daraufhin ein dünnes Lächeln das Matthew nicht erwidern konnte.
Alles fühlte sich falsch an, jede Sekunde, jeder Atemzug, jeder Augenblick in dem er lebte und Clarence...es vermutlich nicht mehr tat.
„Ich g-geh wieder los.“
„Warte, du brauchst eine Pause, du siehst nicht gut aus.“
„Ich brauch k-keine Pause, ich schaff das schon.“
Eine Weile jedenfalls würde das noch zutreffen.
‘Wenn du ihn bis morgen nicht gefunden hast, ist es vorbei.‘ dachte er ohne es auszusprechen.
Dann brauchte er keine Reserven mehr. Denn ohne Clarence würde es keinen Sinn machen diesen Ort wieder zu verlassen.

Sie hatte Ceyda angewiesen ihm hinterher zu laufen und auf ihn aufzupassen – und Ellen wusste schon, warum sie das getan hatte. Der Unbekannte, den sie aus dem Wrack gezogen hatte, enttäuschte sie nicht im Geringsten und es dauerte keine Stunde, da kämpfte sich die Ältere durch den Schnee zu ihr zurück mit einem Bündel über die Schultern geschmissen, das ihr auch aus der Distanz schon verriet, dass das nichts Gutes heißen konnte.
Es war völlig verrückt wie das Herz die eigene Psyche austricksen konnte, denn egal wie sehr ihr Verstand wusste eindeutige Überreste ihres Bruders in den Trümmern gefunden zu haben… ihr Herzschlag setzte trotzdem für einen Moment aus als sie erkannte, mit wem oder was im Schlepptau die andere wieder zurück kam. Es waren diese kurzen Sekunden von Unglauben, Adrenalin und Freude, die ihr Tränen in die Augen schießen und sie einige Schritte der anderen entgegen in den kalten Schnee waten ließ, den sie bislang stets gemieden hatte. Doch wie nicht anders zu erwarten, wurde ihre unnütze Hoffnung enttäuscht, kaum dass Ceyda das provisorische Lager erreicht hatte.
Sie fühlte sie wie gelähmt während sie lange Holzstreben, die sie gefunden hatte, am Feuer zu einer Art Lattenrost zusammenlegte, um sie schließlich mit zum Bekleiden unbrauchbaren Stofffetzen auszupolstern und zur Isolation mit Teilen dicker Plane zu überziehen. Es war kein Meisterwerk das sie geschaffen hatte, aber es reichte aus um den armen Jungen der noch immer nicht erweckbar war zu betten und ihn etwas vom kalten Untergrund fern zu halten, der ihn in diesem Zustand sicher zu Tode gefroren hätte, wenn die Teile des Zeppelins ihn schon nicht erschlagen hatten.
Während Ceyda wieder aufbrach kaum dass er lag, versuchte Ellen mit zittrigen Händen die nächste Portion abgekochtes Wasser umzuschütten in eine Art Wanne, die sie ebenfalls aus Resten der Plane zusammen gelegt und in Wrackteile eingespannt hatte, um eine Vertiefung zu erhalten. Selbst wenn sie mittlerweile dreckig, ja beinahe schwarz verschmiert war, so erkannte das Mädchen noch deutlich was sie noch heute Morgen gewesen war: Das Material, aus dem der mit Gas gefüllte Ballon genäht war, der sie nicht mal für vierundzwanzig Stunden in der Luft gehalten hatte. Nun war er in seine Einzelteile zerrissen wie die Menschen die er befördert hatte – große Stücke, kleine Stücke, solche die noch funktionstüchtig waren und solche, die man besser einfach nur noch liegen ließ – und trotzdem endete Ellens Fantasie noch lange nicht, mit dem zerfetzten Material kreativ zu werden.
Erst als die nächste Portion Schnee im Feuer stehen hatte, konnte sie sich besten Gewissens dem kleinen Jungen zuwenden und versuchen ihn vom gröbsten Dreck zu befreien, der ihn beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt hatte. Er fühlte sich mehr unterkühlt an als wirklich verletzt, unter dem fort gewaschenen Dreck leuchteten seine Lippen blau und seine Haut schien so weiß wie der Schnee, der ihr Wrackteil umgab.
Niemand wird dich holen kommen oder überhaupt finden, ging es ihr durch den Kopf während sie ihm unbeholfen ein mit Stoff umwickeltes Holzstück als Kissen unter den Kopf schob wenn sie ihm sonst schon nichts bieten konnte. Noch während sie das dachte, konnte sie im kalten Wind der ihr Lager durchpeitschte die Tränen in ihren Augen frieren spüren, die sie schnell wieder herunter zu schlucken versuchte. Sie hatte keine Zeit für Schwäche, jedenfalls nicht jetzt zumindest und nicht so lange, wie Matthew neue Überlebende in das lachhaft provisorische Lager führte, in dem sie vermutlich sowieso alle sterben würden wenn kein Wunder über sie herein brach.
Der ihr noch immer unbekannte Mann mittleren Alters, der sich der Positionierung seines Fußes nach zu urteilen den Unterschenkel gebrochen hatte, weinte noch immer leise in der dunklen Ecke der überdachten Aushöhlung, in die er sich selbst geschleppt hatte. Außer dass er Probleme damit hatte allein am Feuer zurück zu bleiben, hatte Ellen noch immer nicht viel über ihn heraus finden können; manchmal schluchzte er besonders laut und sie fing einzelne Wortfetzen auf, die sie bislang so interpretierte, dass er seine Frau ans Feuer verloren hatte. Sicher war sie sich ihrer Interpretation jedoch nicht.
Es dauerte einen langen Moment während dem sie einfach nur das Gesicht des kleinen Jungen wusch und ihn bis zur Nasenspitze in allem deckenähnlichen verpackte das sie finden konnte, bevor sie das plötzliche Auftauchen des jungen Mädchens an der Pritsche wahrnahm. Ellens Brauen zogen sich dabei unmerklich zusammen, etwa so wie wenn man sich im einen Moment noch fragte wann nur endlich der Winter ein Ende nahm und am nächsten Tag vor die Tür trat nur um festzustellen, dass plötzlich alles grün war und die Maiglöckchen blühten. Manchmal war man so im eigenen Trott versunken, dass man die ganzen Veränderungen um sich herum gar nicht mehr wirklich erkannte; vielleicht waren es aber auch nur Kälte und Schock die ihr zunehmend zusetzten und dabei das Leben einfach an ihr vorbei ziehen ließen.
Wortlos blickte sie zum Dunkelhaarigen empor, dessen Namen sie im Gegensatz zu Ceyda und der Kleinen noch immer nicht kannte und erkannte dafür in seinem freudlosen Gesichtsausdruck das gleiche wieder, was auch sie selbst spürte. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht von Bedeutung gewesen jemand anderem das Leben zu retten, doch wenn sie ehrlich waren… bislang war jeder Gefundene hier nur ein Zufallstreffer, weil sie eigentlich insgeheim auf der Suche nach ihren eigenen Leuten waren. Bis dahin blieben ihre Taten alles andere als selbstlos und selbst die Freude daran, zwei Kindern womöglich noch ein paar weitere Stunden in der Kälte geschenkt zu haben, verblasste im Angesicht dessen, welchen Schmerz sie eigentlich in sich trugen.
Umgeben von dem Knistern des Feuers und dem leisen Rauschen der vereinzelten Schneeflocken die noch auf den Pulverschnee hinab rieselten, kam ihr die Diskussion von Ceyda und dem Fremden beinahe vor wie eine Vergewaltigung der Stille, die sich mittlerweile über alles gelegt hatte. Vor wenigen Stunden noch hatte sich immer wieder vereinzelt Lärm bemerkbar gemacht, immer dann wenn ein Feuer zu lange gewütet oder ein Schwelbrand zu lange geraucht und dabei Holz zerfressen hatte, welches letztlich die Last darüber zum Einsturz gebracht hatte. Als sie zu sich gekommen war, war es bei weitem nicht so leise gewesen wie jetzt. Es hatte Schreie gegeben und Weinen, Hilferufe, dumpfes Schlagen mit dem sich die Menschen versucht hatten bemerkbar zu machen, die bei Bewusstsein gewesen waren. In einer erschreckenden Geschwindigkeit hatte all das nachgelassen und irgendwann hatte Ellen keine Antwort mehr auf ihr Rufen bekommen. Hilflos hatte sie diesen Menschen beim Sterben zuhören müssen und dann waren sie fort gewesen.
Einfach so.
Wie schnell die Zeit hier verging hatte der junge Mann noch nicht begriffen oder aber er hatte es zu gut überschaut, denn seit seinem Aufbruch gefühlt eben und seiner Wiederkehr, war sicherlich eine Stunde oder mehr vergangen. Sie waren alle so kalt gefroren, dass sich ihre Bewegungen ohne es zu merken gespenstisch verlangsamt hatten und das Waten durch die tiefe Schneedecke und die unsicheren Trümmerteile machte die Zeit nicht gerade stillstehen. Zwar hatte Ellen das Gefühl für die ungefähre Uhrzeit längst verloren, aber sie würde nicht ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass der nächste Aufbruch nicht schon Zeitnah in Dunkelheit enden konnte – immerhin waren sie nicht mehr im Süden, sondern oben im Norden, im Winter. Die Tage waren nicht mal annähernd mehr so lang wie unten in Rio Nosalida.
„Du kannst dich jetzt schnell aufwärmen und deine Kräfte sammeln, oder du drehst dich um und gehst gleich wieder los“, breitete sie recht emotionslos die beiden Optionen vor dem Fremden aus die er besaß, immerhin war das die Wahrheit. Es war zwar nicht ihre Diskussion in die sie sich einmischte, aber bislang hatte sie hier die meiste Bergungserfahrung und selbst sie fühlte sich elendig, obwohl die grob geschätzt bestimmt zwanzig Jahre jünger war wie der verzweifelte Kerl da neben Ceyda.
„Dann kämpfst du dich zurück durch den Schnee bis du deine Füße nicht mehr bewegen kannst weil sie dafür zu kalt geworden sind und verpulverst deine letzte Kraft da hinten in den Trümmern bis du dann zusammen klappst, weil du ja bloß keine Pause gewollt hast und meintest, du würdest das schaffen. Wenn dein Clarence überlebt hat und ankommt, meinst du er findet dich in dem Loch, in dem du umgekippt bist? Oder dass er sich darüber freut, dass du vor Erschöpfung gestorben bist auf der Suche nach ihm?“
Ellen würde ihm sicher nicht verbieten weiter zu suchen oder sich selbst zu überschätzen, immerhin hatten ihre eigenen Pausen zum Aufwärmen bislang auch nur daraus bestanden am Feuer das Wasser zu wechseln oder nach dem weinenden Kerl da hinten in der Ecke zu sehen.
Aber das war nun mal die Wahrheit: Jetzt fühlten sie sich noch stark, getrieben vom Adrenalin und der Verzweiflung nach ihren Leuten zu suchen, die – waren sie mal ehrlich – mit hoher Wahrscheinlichkeit eher tot als lebendig waren. Das konnte sich aber genauso schnell ändern wie ein Zeppelin von jetzt auf gleich abstürzen konnte.
Mit verkniffenem Gesicht rappelte sie sich von der Pritsche auf und überließ dem kleinen Mädchen den Lappen um sich weiter um den Jungen zu kümmern, bevor sie eine Hand in ihren mittlerweile schmerzenden Rücken stemmte und die Kinder ein wenig hinter sich außer Hörweite brachte.
„Außerdem würde ich dich bitten, dich mal für einen Moment umzusehen. Was glaubst du wer sich morgen um die zwei da kümmert, wenn du da draußen wegen Übermut krepierst? Der Kerl da hinten mit dem kaputten Fuß holt die ganz sicher nicht hier raus und Ceyda ist von uns allen die mit den wenigsten Kratzern, sie hat es einfacher durch die Teile zu klettern. Also los… wenn wir dir sagen, dass du nicht gut aussiehst und dich kurz setzen sollst, dann mach das. Fünf Minuten wenigstens. Sonst weiß ich nämlich nicht wie ich deinem Freund dein Ableben erklären soll, wenn wir ihn gefunden haben.“
Ihr Tonfall hatte nichts mütterliches oder ihrem Alter entsprechend zickiges an sich – sondern es war die entschlossene kräftige Stimme eines Teenager-Mädchens, das schon oft genug Probleme mit ihrem frechen kleinen Bruder gehabt hatte und ihm hatte erklären müssen, wieso und weshalb er jetzt etwas nicht auf diese Weise tun durfte, wie er es wollte.
Die eine Hand noch immer im Rücken, gab sie ihm mit der anderen einen auffordernden Schubs in Richtung Feuer und nickte dabei in Richtung seines Halses, der sich ohne die dunkelrote Gardine wieder durch den Schnee im Hintergrund sichtlich abhob.
„Bist du… Jäger oder sowas? Ich kenne solche übertr-… hm… solche… umfangreichen Bilder nicht von normalen Leuten.“

Es war komisch wie schnell sich die Dinge ändern konnten. Vor ein paar Stunden noch hatte er versucht heimlich unterm Tisch mit Clarence zu füßeln.
Jetzt hoffte er einfach nur, dass er seinen Mann wiedersah.
Matthew hatte dem Drängen von Ellen und Ceyda schließlich nachgegeben und hatte sich eine kleine Pause am Feuer gegönnt. Dazu hatte er warmes Wasser getrunken und auf die Stimmen der jungen Frauen und das Geheule des Mannes gelauscht.
Gabriel und Lucy waren still. Die provisorische Pritsche des Knaben hatten sie zum Feuer gezogen und Lucy hatte die ganze Zeit über ihn gewacht wie ein Schutzengel.
Nun, der Nachmittag war bereits angebrochen, waren sie dabei ihr Lager in das Innere eines Gebäudes zu verlegen.
Der Mann, der sich schließlich als Jeremy vorstellte und dessen Unterschenkel gebrochen war, hatte gegen den Umzug energisch protestiert, aber Ceyda hatte ihm zugestimmt und Lucy hatte erklärt, dass sie bei ihm bleiben wollte. Ellen war ein Umzug in die Ruinen der Alten nicht so ganz recht, aber sie war zugänglich für die Argumente die dafür sprachen.
Matthew hatte ein einfaches, flaches Gebäude als neue Lagerstätte auserkoren, etwas, dass die Alten einen Supermarkt genannt hatten und wo sie einstmals alle möglichen Dinge gekauft hatten.
Die Regale waren größtenteils leer - wenngleich es durchaus noch welche gab in denen uraltes Zeug lagerte. Es hatte aber nicht nur Essen gegeben, sondern auch allerhand Tand, Spielsachen, Lampions, Bekleidung und Geschirr.
Vieles von dem nicht essbaren Zeug war noch da. Es stand in den Regalen and warte es nur darauf, dass einer das Licht anknipste, sich an die Kasse setzte und wartete, dass die ersten Kunden kamen.
Doch statt Kunden, zog eine Menschengruppe ein, die kaum weniger gut zusammenpassen könnte.
Matthew hatte zusammen mit Ceyda Jeremy in die kleine Kaufhalle gebracht, wobei sie ihn je zu einer Seite stützen mussten.
Ellen hatte in der Zwischenzeit ihr Lager soweit eingerichtet, dass es Schutz vor der Witterung bot.
Vor die eingeschlagenen Fenster hatten sie gemeinsam Regale geschoben, sodass Tageslicht nur noch oben durch die Glasfront fiel, wo sie noch intakt war.
Weitere Regale nutzten sie um den Raum zu teilen und die Fläche zu verkleinern auf der sie sich aufhielten, damit diese sich schneller erwärmte.
Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Ellen soweit zufrieden war, dass sie sich selbst an die neue Feuerstelle setzte, die sie auf den glatten, gekachelten Boden umgesiedelt hatten. Nun loderten, in einem Bett aus Brettern, gelbrote Flammen und erhitzten die Luft.
„Wir sollten nicht hier sein, dieser Ort ist verflucht!“ zeterte Jeremy. Er hatte ein Stück des roten Teppichs über dem Schoß liegen und blickte aufgebracht umher.
„Wir gehören nicht hierher, draußen wären wir...“ - „Wir hätten nach Poison Ivy gehört und draußen können wir nicht bleiben.“ Matthew schnitt ihm das Wort ab so wie er das in den letzten Stunden schon öfter getan hatte.
Er mochte ihn nicht und wahrscheinlich ahnte Jeremy das, auch wenn Matthew versuchte, fair zu ihm zu sein.
Seit ihres Umzuges hierher hatten sie nur noch Tote in den Wrackteilen gefunden. Menschen, die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren und wieder andere, die vollkommen gesund aussahen.
Viele waren verbrannt, ob schon vor dem Aufprall oder danach...wer wusste schon.
Deprimierend war es so oder so.
Matthew nahm noch einen Schluck warmes Wasser, dann stand er auf und so wie er das tat, sprang auch Lucy auf.
„Ich komme mit!“, erklärte sie knapp und sehr überzeugt, aber Cassie schüttelte den Kopf.
„Bevor wir euch gefunden haben, haben wir Koffer gesehen. Wir holen sie her... darin werden wir... einige nützliche Dinge finden.“ - Kleidung, die die ehemaligen Besitzer nicht mehr brauchten. Lucy blickte zu ihm auf und Cassie empfand das surreale Gefühl, dass nichts von alledem Wirklichkeit war.
Wahrscheinlich lag er noch in seinem Bett auf dem Weingut. Clarence lag hinter ihm, hatte die Nase in seinem Schopf vergraben und den Arm um seine Brust gelegt.
Matthew wollte aufwachen, unbedingt.
Er wollte aufwachen, sich umdrehen und Clarence neben sich finden.
Aber da war kein Clarence hinter ihm, kein Bett, kein Weingut. Nur das fremde Mädchen welches ihn nicht aus den Augen ließ.
„Aber ich kann mitkommen.“, beharrte sie. Matthew fühlte sich leer und kraftlos, ihm tat alles weh und zugleich schwand mit jeder Minute seine Hoffnung dahin Clarence lebend zu finden.
„Du solltest auf deinen Bruder aufpassen, er braucht dich jetzt.“ darüber dachte sie einen Moment nach, sah zu dem bewusstlosen Kind und schüttelte den Kopf.
„Aber ich kann helfen!“ - „Du hilfst, wenn du hier bleibst.“, konterte er trocken und setzte sich in Bewegung.
Das Mädchen sah ihm nach, er spürte ihren Blick in seinem Rücken und war froh, als er aus der Kaufhalle und wieder ins Freie trat.
Zwar hatte er seinen Vorhang-Mantel an Lucy abgegeben aber er fror trotzdem nicht. Seine Schulter pochte heiß und hatte den senfgelben Pullover großflächig mit Blut durchtränkt.
„Bist du… Jäger oder sowas?...“ hatte Ellen ihn vorhin gefragt und dabei auf seine Tattoowierungen gedeutet.
Er hatte verneint, aber erklärt, dass sein Mann einer war und er lange Zeit mit ihm gereist war.
Das machte ihn zwar noch immer nicht zum Jäger, aber es hatte ihn sofort als den Erfahrensten der Gruppe qualifiziert.
Auf einmal hatte er die Verantwortung, seine Vorschläge wurden nicht offen in Frage gestellt - abgesehen von den Einwänden die Jeremy ab und an vorbrachte und man glaubte seinen Entschlüssen.
„Die Koffer waren dort hinten.“ - Ceyda war ihm in den Schnee gefolgt und deutete nun nach links.
„Ich weiß. Aber dort drüben sind noch mehr Geschäfte. Vielleicht gibt es dort mehr zu holen.“
Die Wahrheit war, dass er nicht in fremden Koffern wühlen wollte. Er würde es tun wenn ihm nichts anderes mehr übrig blieb, aber bis dahin... Diese Sachen hatten mal anderen gehört als ihnen, Menschen die Pläne und Ziele hatten, Menschen mit Träumen, Hoffnungen und Sorgen.
Die meisten von ihnen waren nicht mehr und es erschien Matthew in jeder Hinsicht falsch, sich über ihre Sachen herzumachen.
„Es ist gefährlich da drin, es könnten überall...Muties lauern.“, Ceyda sprach leise und eindringlich.
„Wenn welche hier wären, wären sie längst gekommen. Der Absturz war sicher meilenweit zu hören. Ich denke es ist einigermaßen sicher.“ Wenn die Nacht hereinbrach würden die Dinge anders liegen, das war zumindest wahrscheinlich, aber noch hatte der Tag ein paar Stunden Licht zu bieten.
Ceyda begleitete ihn in die Geschäfte, die sich wie Perlen an einer Kette dicht aneinander reihten.
Dunkle Boutiquen mit eingeschlagenen Scheiben, vernagelten Schaufenstern und zerstörtem Interieur.
Drei kleine Läden hatten sie bereits durchforstet und dabei Jacken und leichte Schals gefunden. Die Sachen waren muffig, staubig und verblichen, der Stoff an manchen Stellen porös von der Zeit - aber sie würden wärmen und sie vorm Erfrieren bewahren.
„Wie sieht es da hinten aus?“ fragte Matthew und blickte über die Schulter zurück in das schummerige Zwielicht.
„Hier ist eine Treppe die nach unten führt. Vielleicht ein Lager?“ Ceyda musterte die Stufen. Es waren ein Duzend und ganz unten war eine verbeulte Metalltür.
Matthew kam zu ihr, sah ebenfalls herab und blickte dann nach draußen. Vielleicht hatten sie noch zwei Stunden Licht...viel mehr nicht.
„Willst du’s dir ansehen?“ fragte er die junge Frau die von ihnen allen am gefasstesten wirkte. Sie dachte nicht lange darüber nach und nickte.
„Wahrscheinlich ist sowieso abgeschlossen.“, warf sie ein und tatsächlich war das auch Matthews Vermutung.
Allerdings hatte es bisher noch kaum ein Schloss gegen, dass er nicht geöffnet bekommen hätte wenn er denn wollte.
12. Juli, 10:02 Uhr - Wenige Minuten nach Absturz
„Hey, hey, hey! Lass das, ergib dich, ergib dich!“, Matthews Lachen hallte durch die kleine aber nichtsdestotrotz opulente Küche. Das Flackern der Teelichter ließ Schatten in seinem Gesicht tanzen und ihn beinahe etwas diabolisch erscheinen – was gar nicht so weit hergeholt war, immerhin wollte er partout nicht nachgeben und seine Hand an dem blöden Messergriff einfach unten lassen.
Wenige Tage lagen zwischen ihrem ersten Bad im Zuber und dem heutigen; zwei Wochen die verrückter nicht hätten sein können und die alles zwischen ihnen so sehr verändert hatten, wie kaum etwas anderes es hätte tun können. Clarence, der eigentlich in sich gekehrte und mürrische Berg von Mann, war regelrecht aufgeblüht im Beisein des anderen und hatte eine derartige Vernarrtheit entwickelt, dass es die Liebe fast schon ad absurdum führte, wie sehr sie sich gegenseitig anhimmelten. Den ganzen Tag über hatten sie kaum die Hände voneinander lassen können, hatten sich mit Blicken vergöttert und mit Worten Honig ums Maul geschmiert, dass es jedem Passant der an ihrem offenen Kutschfenster vorbei gekommen war sicher etwas schlecht geworden war, so viel Süßholz hatten sie geraspelt.
Es faszinierte ihn zutiefst wie schnell sie in ihrer Zuwendung und Offenheit von null auf hundert in wenigen Tagen hatten gehen können, ohne, dass es sich falsch oder unangenehm anfühlte, wie zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen war es völlig natürlich diesen Mann, dem er das letzte Jahr hinweg beim Vögeln nicht mal in die Augen hatte sehen dürfen, plötzlich zu küssen, ihm durchs Haar zu kämmen oder eng verwoben morgens neben ihm aufzuwachen… oder wie just heute geschehen ihn plötzlich Mister Sky zu nennen, womit er heute gar nicht mehr aufgehört hatte.
Schwere dicke Schneeflocken fielen auf seinen Schirm, während er erstaunlich ruhig an seiner Zigarette und dabei die Zehenspitze zur Nase zog. Es war seltsam beengend nach so langer Zeit wieder Schuhe zu tragen, beinahe steif fühlten sich seine Glieder an als sie gegen den Widerstand des Leders trafen und irgendwie verstörend war es durch die Sohle nicht mehr den Boden unter sich zu spüren, so als wären seine Füße taub geworden für den Untergrund.
Am anderen Ende konnte er erkennen wie eine Kutsche hielt und die Tür sich öffnete, das sterile Sonnenlicht des neuen Morgens durch die Wand hindurch brach und ihn sich innerlich taumeln fühlen ließen. Vielleicht lag es an den schweren Atemzügen, die der Zigarettenrauch in der Morgenkälte seine Lunge nur schwer mit Luft füllte oder an dem Geruch von süßer Fäulnis, das ihn schwindeln machte.
In den Augenwinkeln sah er den schwarzen Spitzenstoff des ausgestellten Kleides an sich vorüber wehen, gezerrt vom Wind und geziert vom dichter werdenden Schneefall, unter dessen Saum sich rot gelockte Haarspitzen wie frisches Blut über die Brust ergossen und ihr einen ehrfürchtigen Anblick verliehen. Während sie sich zu ihm hinüber beugte und ihre kalten Lippen durch den Spitzenstoff hinweg an sein Ohr presste, roch er die Verderbtheit ihre Kehle hinauf kriechen.
Wach auf.
„Cassie?“ - Fiepen durchschnitt seine Stille, ein Geräusch wie Wind der durch einen schmalen Spalt wehte und der aus seiner eigenen Kehle kam. Er versuchte den Kopf in den Nacken zu legen um das Engegefühl in seinem Hals loszuwerden, jedoch mit wenig Erfolg.
Lautlos schloss er die offen stehenden Lippen und spürte, wie trotz Schnee seine Zunge vor Trockenheit am Gaumen kleben blieb. Es dauerte einen geraumen Moment, bis er es geschafft hatte Traum und Wirklichkeit voneinander zu trennen und dabei begriff er, dass er von der Realität leider nichts vergessen hatte. Er sah Matthew vor ihnen, wie sie ihn zu weit in Richtung Tür hinauf drängten und schließlich sah er Matthew am anderen Ende des Ganges mit Barclay, bis er den Zeppelin von außen sah. Erst nur die Wand zum Flur, dann das große Loch durch das er gefallen war, dann den Zeppelin.
Und schließlich… hatte er gar nichts mehr gesehen.
Sein Kopf fühlte sich wie festgefroren an als er versuchte ihn aus dem Schnee zu heben und an sich herab sah. Seine Hosenbeine waren stellenweise aufgerissen als er am zersplitterten Holz hängen geblieben war. Es dauerte eine geraume Zeit bis er es schaffte seine Füße etwas zu bewegen, was hoffentlich ein gutes Zeichen war angesichts dessen ungeschützt auf den Rücken gestürzt zu sein, auch wenn er sie nicht wirklich spürte. Soweit er es sehen konnte, waren seine Füße blutig und zerschrammt, jedoch sonst nicht nennenswert lädiert.
Dafür konnte er seine Schulter umso mehr spüren.
Schon im Zeppelin hatte er den gleißenden Schmerz gemerkt, nachdem er sich mit der linken Seite im Sturz abgefangen hatte und dass der ganze Arm seitdem nicht mehr zu gebrauchen war – das hatte er schmerzlich feststellen müssen als er gedroht hatte durch das eingerissene Loch zu stürzen und seine linke Hand beim Versuch sich festzuhalten partout nicht hochgekommen war. Womöglich hätte er es sonst geschafft, hätte sich halten und wieder zu Matthew und Barclay hinauf klettern können. Aber das hatte er nicht.
Noch am Abend zuvor hatte sein Mann ihn dazu aufgefordert ihn zu wecken, wenn er von Ruby Sues Stimme träumte, wie sie ihn weckte und ihm Angst in sein Ohr flüsterte, einer dunklen Erinnerung aus der Tiefe gleich, auf die man nicht treffen wollte.
„Cassie…?“, ein weiteres Mal rief er nach seinem Partner, doch konnte dabei seine eigene Stimme kaum hören. Er klang verzerrt und heiser, ein Geräusch das zu der Enge passte das er in seinem Hals spüren konnte und das ihn sich so fühlen ließ als bekomme er nicht genug Luft.
Träge richtete er den Blick wieder hinauf und versuchte seine schmerzende Schulter einzusehen, kam jedoch nicht weit genug weil sein Nacken schmerzte und blieb stattdessen an der hohen Wand hängen, die sich links von ihm in den Himmel erhob. Sie war geziert von trübem Glas, teils gesprungen, teils völlig aus den Rahmen gesprengt und teils noch völlig intakt, so als trotze es allem und jedem, das sich ihm entgegen stellte. In einigen Metern Höhe erkannte er eine Kante, so als würde die Wand dort unterbrochen werden und ganz sicher tat sie es auch um eine ähnliche Plattfort zu bilden wie hier und vielleicht waren sie da vorne an der Ecke auch hängen geblieben, an der das Gerippe des Gebäudes aufgerissen war und der Schnee herunter gewirbelt.
Zu seiner Rechten musste also der Zeppelin sein, aufgekommen und gelandet ganz in seiner Nähe, immerhin konnte es… durfte es nicht sein, dass Matthew sich allzu weit von ihm entfernt hatte. Sie hatten sich immerhin geschworen nicht getrennt zu werden und wenn Clarence nur lange genug fiepte, dann würde sein Mann ihn bald hören und zu ihm eilen. Er hatte sicher erst die Hunde geholt, immerhin wusste er, dass Clarence robust war und eine Weile auf sich aufpassen konnte im Gegensatz zu Abel und Kain. Wenn er rief, würden die Hunde Matthew bald zu ihm führen. Gleich würde er kommen, irgendwo um die Ecke, die Hände um seine Wangen schließen und sein Gesicht mit tausenden Küssen bedecken, weil alles gut war.
Aber da war kein Zeppelin, sondern nur braune Masse.
Ächzend versuchte der Blonde seinen rechten Arm unter dem Schränkchen hervor zu ziehen das noch halb auf ihm lag und sein Gesicht wie auch seine Kehle erwischt haben musste, zumindest war das die naheliegende Erklärung dafür, wieso ihm oberhalb der Brust mehr weh tat als sonst irgendwo an seinem Körper. Es dauerte wieder eine Weile bis er es geschafft hatte das zum Teil zerborstene Holz beiseite zu schieben und dahinter zu erkennen… dass kein Luftschiff dort gelandet war, sondern trüber, grauer Himmel ihn umgab.
„Cassie? I-Ich bin… hier, ich bin… in O-Ordnung. Gut, ist alles… alles gut. Cassie!“
Nicht mal er selbst hörte sich über den Wind hinweg rufen, aber selbst wenn sein Mann es nicht sofort tat, Abel und Kain würden ihn hören und den Dunkelhaarigen zu ihm führen. Das war doch so, oder?

Egal wie er es ihr auch erklärte, für Ceyda war es seltsam, dass der Kerl plötzlich nicht mehr zum Wrack zurück wollte. Bis vor wenigen Stunden hatte er noch darauf gepocht keine Pause machen zu wollen, doch schon kurz danach hatte er seine Pläne um hundertachtzig Grad gewendet. Statt jeden Balken drei Mal umzudrehen, hatte er begonnen ihr Lager von der Stelle weg zu siedeln wo man sie und auch andere am ehesten finden konnte und auch wenn sie den Teufel tun und sich gegen die Sicherheit eines Gebäudes für die Nacht beschweren würde, so fragte sie sich, was dem Älteren durch den Kopf ging.
Hatte er die Hoffnung nach ihrem letzten gemeinsamen Ausflug verloren? Hatte er eingesehen wie unwahrscheinlich es war seinen Mann noch lebend zu finden, wenn dieser wirklich schon Minuten vor dem Aufprall hinaus gestürzt war – wo doch schon sonst kaum noch jemand lebte, der nicht so einen Abgang erlebt hatte?
Was es auch war, das ihn dazu antrieb trotzdem weiter zu machen, ihr war alles recht. Immerhin hatte der Kerl gute Ideen und schien zäh zu sein – aber das schien Ellen auch und bei beiden war Ceyda sich trotzdem nicht sicher, wie lange das mit ihnen noch gut gehen würde.
Wie nicht anders zu erwarten war die Tür zum Untergeschoss natürlich verschlossen, aber auch dafür hatte der Dunkelhaarige einen Trick auf Lager. Während er sich etwas suchte, um es mit dem Schloss aufzunehmen, hatte die Dunkelhäutige sich auf den Weg gemacht um aus einem stabilen Holzscheit und unbrauchbaren Stofffetzen eine Fackel für sie beide zu binden und über das offene Schneefeld zurück zum ausgemachten Treffpunkt zu tragen. Sicher konnten sie etwas Licht da unten mehr als gut gebrauchen und je nachdem wie lange sie brauchen würden, am Ende auch hier oben. Lange blieb es nicht mehr hell, dafür hatte sich die Sonne schon zu weit über den Trümmerteilen hinab gesenkt.
„Was ist?“ - Auffordernd reckte sie ihm die brennende Fackel entgegen und nickte in die Dunkelheit hinein, die sich gähnend hinter der rostigen alten Metalltür erhob. „Denkst du ich geh vor und spiel für dich Mutie-Futter? Du bist hier der Kerl mit Jagd-Erfahrung!“
Matthew hatte weiß der Teufel wie die Tür aufbekommen und schließlich weit genug aufgestemmt, damit ein normal gebauter Mensch hindurch kam. Dieser Jeremy würde da vermutlich schon dezent Schwierigkeiten bekommen, aber was da hinein passte, das würde an Masse im Extremfall auch die andere Richtung nehmen können. Nur weil keine Mutanten herbei gekommen waren als sie lautstark mitten in der Geisterstadt zerschellt waren, hieß das nicht, dass schallgeschützt im Untergrund nichts auf sie wartete.
Eng bei Matthew bleibend, drängte sie sich hinter ihm her durch den Türspalt und gab ihren Augen Zeit um sich an das zu gewöhnen, was dahinter lag. Das flackernde Orange der Fackel drang bei weitem nicht tief in die scheinbar große Lagerhalle hervor und der Windstoß von hinten machte es nicht einfacher, eine gleichmäßige Beleuchtung aufrecht zu erhalten. Es roch… modrig hier unten aber nicht nass, was bedeutete sie hatten vielleicht Glück und fanden ein paar brauchbare Dinge, die die Zeit und Tiere noch nicht zerfressen hatten.
„Schau mal da, was glaubst du ist das für ein Teil?“, deutete sie an ihm vorbei zu einem großen Gerät, von dem man meinen konnte es wäre ein Automobil der Alten wenn man es den Rädern nach beurteilte. Vorne an der Schnauze hatte man allerdings eine überdimensionale Gabel mit nur zwei Zacken angebracht, was dem Ganzen etwas mechanisch-brachiales verlieh.
„Denkst du… die Alten haben das benutzt, um ihre Warenhäuser damit zu verteidigen? Ein elektrischer Kriegswagen?“
In Poison Ivy wusste man viel über Waffen, das war ein offenes Geheimnis, selbst wenn der Schwarzmarkt gut versteckt lag aus Angst vor Konsequenzen. Ceyda hatte schon was von diesen… Päntzern gehört, die die Alten benutzt hatten um damit andere anzugreifen und so aggressiv wie die Menschheit auch früher schon gewesen war, würde es sie nicht wundern, wenn mit dem zweizackigen Gabelautomobil damals der ein oder andere einfach überfahren und aufgespießt worden war.

Clarence war fort. Von einer Sekunde auf die andere einfach fort. Matthew hatte nur den Bruchteil einer Sekunde nicht hingeschaut und sein Mann war weg.
Matthew konnte nicht fassen was passiert war, selbst Stunden nach dem Absturz konnte er es nicht begreifen.
All die Toten, all die Verletzten, all die leeren Blicke, verdrehten Körper. All die verbrannten Träume.
Schweigend humpelte er durch den kleinen Laden, sah sich um und fand eine Sicherheitsnadel mit der er, zurück bei der verschlossenen Tür, das Schloss knackte.
Dahinter gähnte die Dunkelheit und Matthew dachte an einen alten Song, den er früher immer mit seinem Walkman gehört hatte.
„Hello Darkness my old friend...“, sagte er leise in die Finsternis und starrte in die Schwärze.
Er würde Clarence dort drinnen nicht finden, also warum war er hier?
‚Weil die Kinder da sind, weil sie in der Nacht erfrieren werden, wenn ich ihnen keine warmen Sachen besorge‘. - gab er sich selbst die Antwort.
Ellen gab sich große Mühe, Ceyda ebenfalls - aber würden beiden es schaffen klarzukommen? Nein.
Er würde ihnen helfen, würde dafür sorgen, dass sie zumindest nicht der Kälte zum Opfer fielen und eine Chance hatten zu überleben.
Aber er würde diesen Ort nicht verlassen, nicht ohne Clarence. Sie hatten einander geschworen sich niemals zu trennen, füreinander da zu sein bis das der Tod sie schied.
Und sollte dieses Ereignis nun eingetreten sein, dann gab es nichts mehr auf der Welt für Cassie.
Er fühlte sich innerlich zerbrochen. In tausend Teile.
In seinem Leben vor Clarence hatte er nicht gewusst wie es war, wirklich glücklich zu sein.
Er hatte gedacht, dass was er tat war leben.
Essen, Schlafen, Sex, belanglose Gespräche, Geschäfte mit Fremden, hier und da ein bisschen Spaß der am Ende des Tages nichts bedeutete.
Heute wusste er, dass das nicht leben hieß.
Leben bedeutete zu Lachen bis einem der Bauch wehtat und Tränen über die Wangen liefen, Pläne zu schmieden, alberne Kosenamen haben und vergeben, zusammen einschlafen und aufwachen, gemeinsam Dummheiten machen und daraus resultierende Wunden verarzten.
Leben hieß: mit Clarence zusammen zu sein.
Was sollte er noch auf dieser Welt, wenn Claire sie schon verlassen hatte?
Nichts. Gar nichts.
Ceyda kehrte zurück, sie hatte Fackeln dabei und ihr loses Mundwerk. Unter anderen Umständen wäre ihre Bekanntschaft vielleicht interessant gewesen, aber die Umstände waren nicht anders und Matthew hatte keinen Antrieb mehr, neue Bekanntschaften zu schließen. Er hätte sie Dinge fragen können, hätte versuchen sollen sie und Ellen zu trösten…aber er konnte es nicht.
Er empfand nichts außer Leere.
Die Ruinen der Alten hatte er immer sehen und erkunden wollen, nun tat er es aber es bedeutete ihm nichts. Auf der Zunge hatte er den Geschmack von Blut, sein Kopf pochte, sein Rücken blutete und seine Brust tat weh bei jedem Atemzug und jeder Regung - und trotzdem hätte er all das und mehr gern in Kauf genommen, wenn doch nur Clarence jetzt neben ihm stünde anstelle von Ceyda.
Er schob sich wortlos an ihr vorbei in das Innere des kleinen Lagers. Sein Blick streifte menschliche Gestalten ohne Gesichter, ihre Glieder waren in unnatürliche Haltungen drapiert, manche hatten nur einen Torso aus dessen Ende eine Metallstange ragte wo Hüfte und Beine hätten sein sollen. Andere hatten nur einen Arm oder keinen Kopf.
‚Die haben ihren eigenen Absturz hinter sich‘ dachte er bitter und betrachtete die merkwürdige Maschine, die Ceydas Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
„Ich weiß nicht, jetzt ist es jedenfalls ungefährlich.“
Sein Interesse an dem Fahrzeug war nicht groß, in Gedanken sah er immer wieder Clarence fallen.
Das Blut auf dem Fußboden.
Er hörte seinen Schrei.
Spürte seine Hand an seinem Rücken.
Und dann…nichts mehr. Das Nichts hatte ihn verschlungen, nur dass das nicht stimmte. Irgendwo war er, aber nicht hier drinnen. Cassie sah über seine Schulter zurück ins Helle, er hatte plötzlich den Impuls wieder in den Schnee zu rennen um seinen Mann zu suchen.
„Hey.“, Ceyda berührte ihn vorsichtig an der Schulter und holte ihn zurück ins Hier und Jetzt.
„Hör zu…“, Matthew wandte ihr den Kopf zu, seine freudlosen Augen richteten sich auf ihre und er betrachtete sie eindringlich.
„Wenn wir den anderen die Sachen gebracht haben, werdet ihr die Tür zum Lager verschließen. Morgen solltet ihr nach der Fracht suchen, mit ein bisschen Glück findet ihr Proviant.“ - „Was soll das, wieso sagst du mir das?“, sie sah ihn widerstrebend an, so als kenne sie die Antwort schon.
„Weil ich die Nacht über nicht bei euch bleibe.“ - „Das ist Irrsinn! Du bist verletzt, es ist kalt und dein Mann würde nicht wollen, dass du -…“ - „Rede nicht über ihn, als würdest du ihn kennen! Als würdest du wissen was er will und was nicht!“ unterbrach er sie energisch, was umso lauter wirkte, angesichts der Stille des Raumes.
„Denkst du, ich weiß nicht, was du denkst? Was wahrscheinlich ist? Glaub mir, ich weiß es. Aber ich kann nicht…“ - seine Stimme brach von einem Moment auf den anderen und er wirkte wieder so verzweifelt wie vor ein paar Stunden. Die Fassade aus Vernunft war gebrochen.
„Ich k-kann ihn nicht allein da draußen im Schnee lassen. E-er ist m-mein, wir s-sind…eins. Er ist dort irgendwo… und ich m-muss…ich werde ihn finden.“
Matthew leckte sich kurz über die Lippen, sah sich in dem Lagerraum um und betrachtete schließlich Ceyda erneut.
„Ich möchte, dass du auf die anderen aufpasst, okay? Haltet in Schichten Wache, wenn ihr mich draußen hört… und ich habe Schwierigkeiten, bleibt ihr drin und verhaltet euch still. Wenn ihr reist, dann nur am Tag, wenn ihr Unterschlupf sucht, dann nur in flachen Gebäuden ohne zweiten Stock - damit ihr nicht überrascht werdet.“
Ceyda starrte ihn an, im Licht der Fackeln sah sie zerbrechlich und ängstlich aus. Es klang, als würde er sich verabschieden, dass wusste er.
„Wahrscheinlich sehen wir uns morgen früh wieder, aber falls nicht… finde ich euch.“
- „Wie willst du uns finden in der Stadt?“, ihre Frage klang vorwurfsvoll. Er sollte sie nicht für blöd verkaufen.
Er war ihre beste Chance zu überleben und er zog es vor nachts einen Mann zu suchen, der wahrscheinlich tot war und dabei sein eigenes Leben zu riskieren.
„Ich finde euch.“ Seine Erwiderung war trocken und ruhig, Matthew würde nicht mit ihr diskutieren, sie nicht um Erlaubnis bitten.
„Los, lass uns Sachen holen.“
Der junge Mann setzte sich in Bewegung, schob sich vorbei an Schaufensterpuppen, Regalen und Kartons in denen verschiedene Kleidung lagerte.
Vornehmlich waren es leichte und sommerliche Sachen, Kleider, Shirts, Röcke und kurze Hosen.
Aber es gab auch Jacken und Hemden, Socken und Pullover. Jene nutzbare Bekleidung luden sie in eine Stiege welche Ceyda letztlich übernahm und nach draußen transportierte.
Kaum das sie wieder auf der schneebedeckten Straße waren, hörten sie Ellen schreien.
Die junge Frau stand neben einem noch immer schwelenden Wrackteil. Es war eines der größten Stücke des einstigen Luftschiffs und es lag relativ zentral auf dem Platz.
Ellen schrie wieder, doch der Wind trug ihre Worte fort, sodass weder Matthew noch Ceyda etwas verstanden.
„Bring die Sachen zum Lager.“, Cassie stiefelte los, versuchte zu rennen und musste nach wenigen Metern schon innehalten. Er bekam keine Luft und die Schmerzen, die zu unterdrücken er gelernt hatte, drohten kurz die Überhand zu gewinnen.
Also ging er langsamer weiter, schleppte sich durch den Schnee und wurde von Ellen mit den Worten
„Eine Überlebende…“, in Empfang genommen.
„Okay… wo?“, erkundigte sich Matthew und schaute in das aufgerissene Loch im Holztorso des Zeppelin.
„Sie ist… eingeklemmt…und…wach.“, ihre Stimme war leise und zittrig, die Augen waren aufgerissen und gehetzt.
Sie sah aus wie ein kleines verängstigtes Tier.
„Wo?“, wiederholte der junge Mann seine Frage, doch es war nicht Ellen die ihm antworte, sondern die bekannte Stimme einer Frau. Es brauchte nur ein Wort um Matthew blass werden zu lassen, denn die Stimme klang furchtbar schwach. „Reed?“