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Zuhause

11. Januar 2211


Clarence B. Sky

Was blieb war der dröhnende Schlag der Tür, hinter der sein Mann das Zimmer verlassen hatte, und die anschließende Stille in der Wohnung, die fast so schlimm war wie jene vor Matthews Ankunft in Falconry Gardens. Obwohl er in der Stadt nie alleine gewesen war sondern umringt von hunderten bekannten Gesichtern, umgeben von Menschen die sich - zum Teil - seine Freunde nannten, hatte er sich niemals in seinem Leben so einsam gefühlt wie in den Monaten ohne Matthew.

Dabei war es nicht so, als wäre es ihm früher schon schwer gefallen alleine zu sein. Nagi hatte ihn oftmals zurück gelassen und auch in dem Jahr bevor er Ruby kennengelernt hatte, war er die meiste Zeit alleine auf dem Hof seiner verstorbenen Eltern gewesen. Die Stille war etwas geworden, in dem er notgedrungen Geborgenheit gefunden hatte und auch in der Anfangszeit mit dem dunkelhaarigen Taugenichts war es ihm oftmals angenehmer erschienen die gemeinsame Zeit in Stille zu verbringen als sich das ständige Geplapper dieses Tölpels anzuhören. Aber in dieser Stille war er dennoch eines nie gewesen: allein.

Das Dröhnen der Tür war schon verstummt, als Clarence klar wurde wie sein Gefährte sich damals gefühlt haben musste, wann immer er im Unterholz des Wegesrandes verschwunden war um elendigen Diskussionen mit ihm zu entgehen. Es war das eine sich anzukeifen oder vor lauter Ärger in inbrünstiger Stille beieinander zu sitzen, doch eine gänzlich andere Qualität hatte es, entzog sich die andere Partei eines Gespräches. Normalerweise genoss Claire jene Position und sich nun an anderer Stelle wiederzufinden war eine Erfahrung, die er Matthew fast noch übler nahm als die Kritik des Jüngeren selbst.

Du hast aber keine Kinder“, erinnerte er den Jüngeren trotzig, bevor er nach einem kurzen Moment hinzufügte: „Und ich übrigens auch nicht.“

Das machte weder etwas an der Stille besser, in der sein Mann ihn zurück gelassen hatte, noch half es dabei ein gutes Argument gegen den plötzlichen Ausbruch des Jüngeren zu finden. Aber nur weil Mo‘Ann ihnen ein wenig buntes Papier mit auf den Weg gegeben hatte, machte das ihre Behauptungen noch lange nicht zur Wahrheit - und vor allem gab es Cassie kein Recht Menschen als Argumente zu nutzen, die schon lange nicht mehr da waren.

Er mochte nicht immer die besten Entscheidungen getroffen haben in seinem Leben und zu seinem eigenen Leidwesen war nicht er derjenige, der ewigen Frieden darin finden konnte tief unter der Erde zu verweilen. Alles was ihm blieb waren Erinnerungen und die klarsten davon waren nicht einmal die guten, sondern jene, die er am liebsten vergessen hätte. Bis zu einem gewissen Grad konnte Clarence sogar verstehen, dass Cassie aufgebracht war und nicht nachvollziehen konnte wie man einen Ort verteidigte, der so ganz anders war als all das, was man selbst kannte. Aber legitimierte das alleine etwas als Mittel und Streitargument anzuführen, das dem Blonden noch heute so sehr weh tat?

„Cassie“, versuchte er zweisilbig seinen Mann wieder hinter der Badezimmertür hervor zu Zauber, jedoch ohne erfolg. Nervös friemelte er einzelne Hundehaare von seiner hellen Hose, bevor er sich schließlich vom Bett erhob und zu selbiger unsäglichen Tür hinüber schritt, die zwischen ihnen lag wie ihre einstigen Gräben es getan hatten.

Still klopfte er gegen das dunkle Holz und für den Bruchteil eines Augenblicks dachte der Jäger unweigerlich darüber nach, ob der Dunkelhaarige wohl durch das Badezimmerfenster passte und bereits auf und davon war. Theoretisch hielt ihn nichts davon ab, genauso wenig wie Claire etwas davon abhalten würde einfach die Initiative zu ergreifen und ungefragt zu seinem Mann ins Bad zu treten - doch in einer Einzimmerwohnung wie der hiesigen gab es eben nun einmal nur die Nasszelle als Ausweichmöglichkeit um sich aus dem Weg zu gehen. Er würde den Teufel tun so übergriffig zu sein, dass er Matthew diesen sicheren Raum der Distanz einfach so nahm und ihm eine Nähe aufzwang, die der Jüngere im Moment vielleicht gar nicht mehr haben wollte… und von der nicht mal der Blonde selbst wusste, ob er sie gebrauchen konnte.

Ausgerechnet an diesem Abend, an dem Mo‘Ann eine alte Wunde wieder aufgerissen hatte die tiefer war als der Biss eines Berglöwen jemals sein könnte, schlug sein Mann in eine ähnliche Kerbe, die nicht weniger schmerzte. Reichte es nicht, dass der Schatten seiner Kinder über diesem Abend hing wie ein bedrohlicher Fluch? Musste er ausgerechnet jetzt Benedict wie eine dunkle Wolke am Himmel herauf beschwören - ein Junge der nicht hätte sterben müssen, wenn er nicht so verflucht stur und widerspenstig gewesen wäre?

Es lag ihm auf der Zunge, dass er jetzt nicht über jenen Burschen reden wollte, der an jenem Tag einen Teil von Clarence mit in die Flammen genommen hatte. Dass er selbst noch ein Kind gewesen war, das die Konsequenzen seiner Taten und Entscheidungen nicht vollends verstanden hatte. Dass Cassie nicht nach den guten Seiten seiner Heimat gefragt hatte, sondern nach der Bestätigung dessen, was man sich eben so erzählte hier draußen und was nur die Hälfte von dem war, was tatsächlich vor Ort geschah. Aber all das wären am Ende doch nur eines gewesen: Rechtfertigungen, Schuldzuweisungen und unnötige Diskussionen an einem Abend wie diesem, der sowieso schon schlimm genug war.

„Ich will nicht, dass wir uns streiten. Du bist alles was ich habe. Kannst du raus kommen?“, war schließlich das, was ihm nach einer gefühlten Ewigkeit über die Lippen drang - gefolgt von einem ruhigen „Bitte?“.

So ungewohnt wie es noch immer war mit Matthew mehr zu bewohnen als ein Zimmer in einem Gasthaus, so ungewohnt war es auch eine Tür zwischen sich und ihm zu haben, wenn sie sich uneins waren. Noch gut erinnerte er sich an Cassies Ausbruch in der Villa der Hurenkönigin, als der Jüngere - sauer auf Claire, Gott und die Welt - sogar mit Nippes nach ihm geworfen und ihn dabei angeschrien hatte. Alles war ihm lieber als diese Tür zwischen ihnen, wo sonst doch nicht mal ein Blatt Papier zwischen sie passte.

Das leise metallische Rumoren, als sich selbige schließlich öffnete, war beinahe so erleichternd wie Cassies eilige Schritte damals in den leeren Hallen des Supermarktes.

„Ich habe nicht gesagt, dass es dort grundsätzlich keine schlechten Dinge und böse Menschen gibt. Ich finde nur… manche der Geschichten verständlicher, wenn sie nicht immer nur einseitig betrachtet“, versuchte er ruhig irgendwo anzufangen ohne gleich wieder eine feindselige Grundlage zu streuen oder zu versuchen, das Thema einfach zu Tode zu schweigen. „Manche Traditionen sind anders als hier. Dinge, gute Dinge, die ich vermisse, weil ich sie hier niemals wieder erleben werde. Aber es gibt auch Regeln, die so abgrundtief böse sind, dass ich… ich nicht den geringsten Zweifel daran hege, dass sie von bösartigen Menschen gemacht wurden statt von Gott. Regeln, die es unabdingbar gemacht haben, dass ich mir Sorgen um meine Kinder machen und ihnen eine sichere Umgebung schaffen musste. Sicher vor Fremden - aber auch den eigenen Leuten.“


Matthew C. Sky

Vielleicht hätte Matthew lieber Nippes und kleine Jadefiguren nach Clarence werfen sollen anstatt den Raum zu verlassen und eine Tür zwischen sie zu bringen. Aber nicht nur fehlte es an besagtem Nippes und Jade, viel mehr brauchte er das kalte Wasser um sein Gemüt wieder etwas abzukühlen. 

Clarence war vollkommen anders aufgewachsen als er selbst. Ihm waren Werte und Traditionen nahegelegt worden, von denen Matt nichts wusste und mit denen er nichts anfangen konnte. Einen Teil ihrer Differenzen konnte man so gut und richtig erklären, doch was das Fass gerade zum Überlaufen gebracht hatte waren nicht Bibelzitate oder merkwürdige Angewohnheiten des Blonden. 

Es war der Umstand, dass dieser Mann einen Angriff in der schlichten Äußerung gesehen hatte, dass Willow Creek vielleicht nicht der ideale Ort war um Kinder großzuziehen, die sich nicht an Regeln hielten. 

Und nach dem was mit Benedict passiert war, war das doch im Grunde eine ganz offensichtliche Tatsache über die es nichts zu diskutieren gab. 

Aber statt in diesem Punkt zuzustimmen, hatte der Größere ketzerisch Stillwaters Reach angeführt - so als könne man die Taten eines Menschen mit der gesellschaftlich anerkannten Tradition von Menschenverbrennung gleichsetzen. 

Als es zaghaft an der Türe klopfte schüttelte Matthew unweigerlich den Kopf. Mit den Händen auf der Waschmuschel abgestürzt betrachtete er sich selbst einen Moment im Spiegel. Die Narben im Gesicht sahen schrecklich aus, er sah schrecklich aus. 

Als sie in Coral Valley aufgebrochen waren, waren sie heil und unversehrt gewesen und jetzt waren sie…

Weder das eine noch das andere. 

Aber sie hatten noch immer einander und das war viel wichtiger als ein Gesicht ohne Narben - auch wenn er auf selbige gern verzichtet hätte. 

Ohne sich zu rühren betrachtete Matt sein Spiegelbild während er Clarence‘ Stimme von jenseits der Türe lauschte. Der Blonde hätte auch einfach reinkommen können, aber nein - er wartete, weil er sehr wahrscheinlich der anständigste Kerl war, den Matthew je kennengelernt hatte. 

Mit einem Seufzen wandte sich der Dunkelhaarige schließlich ab und tappte zur Tür um selbige kommentarlos zu öffnen und den Dahinterstehenden verärgert anzusehen. 

Clarence indes verlor keine Zeit. Er setzte dort an wo sie vorhin aufgehört hatten - nur mit dem Unterschied, dass sein unterschwellig angriffslustiger Ton verschwunden war und er endlich den Mumm hatte in anderen Worten das auszusprechen, was Matt vorhin gesagt hatte. 

In Willow Creek musste man unter Umständen Angst vor den eigenen Nachbarn haben. 

Aber - und so ehrlich war Matthew durchaus zu sich selbst - er hatte Vorurteile gegenüber Willow Creek und diese auch nicht unbedingt verheimlicht.

„Es war nicht abgeschlossen, weißt du.“ erwiderte er völlig aus dem Kontext und deutete lapidar auf die Tür. 

„Du hättest einfach reinkommen können. Und ich kenne niemanden außer dich, der nicht auch einfach reingekommen wäre. Aber ich weiß warum du es nicht gemacht hast.“, er musterte ihn noch immer auf diese leicht distanzierte Art die ihm eigen war, wenn er verärgert war. 

„Du bist der sturste und gleichzeitig anständigste Kerl, der mir jemals untergekommen ist.“

Die Traditionen von denen Clarence sprach waren Matt unbekannt, ihm fehlten jene Wurzeln und vielleicht war er deshalb auch so rigoros mit seiner Einschätzung zu der Heimat des Blonden. 

„Deine Eltern haben einen guten Menschen aus dir gemacht. Und ich bin sicher, dass sie selbst auch gute Menschen waren. Deine Heimat ist deine Heimat und ich hätte nicht schlecht darüber reden sollen. Tut mir leid.“ 

Manchmal war es aufgrund ihrer völlig unterschiedlichen Lebenserfahrungen einfach schwierig, den anderen zu verstehen oder unvoreingenommen zu sein. 

Die Dinge, die Clarence in der Gemeinschaft seiner Heimat gefunden hatte, und heute noch vermisste waren gute Dinge. Erinnerungen die schön waren und nichts mit den Gräuel zutun hatten, die es auch noch an jenem Ort gab. 

Er war ein guter Mensch weil er eine gute Kinderstube gehabt hatte, weil er umgeben gewesen war von Menschen die ihn geliebt und geformt und gefordert hatten. Diese guten Menschen hatte es in Willow Creek gegeben und vermutlich gab es sie noch immer dort. Leute, die nicht applaudierten, wenn ein Fremder oder Abtrünniger zu Asche verbrannt wurde. 

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich weiß, dass du für deine Kinder immer alles menschenmögliche getan hast und ich weiß auch… dass du auf sie aufgepasst hast. Was ihnen passiert ist, lag nicht an dir und es lag auch nicht an deiner Heimat.“ Böse Menschen gab es nicht nur in Willow Creek oder in White Bone. Es gab sie überall und man konnte ihnen überall zum Opfer fallen. 

„Mir will… nur nicht in den Kopf wieso du dich noch immer als einen von ihnen siehst. Nicht nach… den Dingen die dort passiert sind.“ - er musste den Namen Benedict nicht aussprechen um Clarence begreiflich zu machen worauf er hinaus wollte. Das Schicksal des Burschen war ihm damals schon nahe gegangen und daran hatte sich bis heute auch nichts geändert. „Denkst du, du könntest versuchen es mir zu erklären ohne sauer zu werden?“

Matthew wollte Clarence verstehen, auch wenn er vielleicht auch dann nicht einer Meinung mit ihm sein würde. Aber es ging auch nicht darum, sich einig zu sein - sondern darum den anderen besser zu verstehen. 

Ob der Größere ihm da zustimmte und ob er gewillt war jenes Thema weiter zu vertiefen blieb für den Augenblick jedoch noch offen, denn statt ihr Gespräch zwischen Tür und Angel fortzuführen, schlug Clarence vor, sich wieder dorthin zu begeben, wo sie gerade eben schon gewesen waren; und wo es eindeutig bequemer und wärmer war als halbnackt im Bad beziehungsweise an der Schwelle zu selbigem. 

Matt, dessen Trotz und Ärger bereits verflogen war, hatte gegen eben jene Idee nichts einzuwenden und ließ sich von dem Wildling zurück gen Bett lotsen. 

„Hmm.“ machte Cassiel nachdenklich, als er wieder auf der weichen Matratze saß, die Beine wieder ausgestreckt neben denen von Clarence. Fast so als wäre gar nichts passiert.  „Was du vorhin gesagt hast. Dass ich alles bin was du hast… Dir ist klar, dass das vielleicht bald nicht mehr so ist, hm?“


Clarence B. Sky

Verwirrt überlegte Clarence, welches der vielen angeschnittenen Themen nun genau nicht abgeschlossen war, denn eigentlich war das bei so ziemlich allen der Fall. Sie hatten sich keine Gedanken gemacht wie weiter mit Mo‘Ann vorzugehen war, er hatte nicht von Cordelia erzählt, noch schien die Sache mit seiner Herkunft ausgestanden zu sein. Einiges war nicht abgeschlossen - aber dass Cassie ausgerechnet die Tür meinte, das verstand der Blonde erst, als sein Mann näher darauf einging.

„Anständig, ja? Danke“, echote Clarence und ein freches, jungenhaftes Grinsen huschte kurz über sein Gesicht, bevor es gleich wieder erstarb. Es war ein solches Grinsen wie es einen überkam, bis einem der ernst der Lage wieder bewusst wurde und man begriff, dass es nicht unbedingt angebracht war im Augenblick zu viel Freude zu zeigen. Dennoch konnte er nicht anders, denn die Worte des Jüngeren klangen genauso vorwurfsvoll wie sie auf verschrobene Weise komplimentierend waren und vermutlich waren sie auch genau so gemeint. Doch dabei alleine.blieb es nicht, wie Cassie kurz darauf klar machte.

Es war eigentümlich wie sich die Dinge zwischen ihnen in den vergangenen Monaten entwickelt hatten. Sie hatten genauso wunderschöne Zeiten miteinander erlebt wie sie traumatische Tiefen hinter sich gebracht hatten. Erlebnisse die dazu geführt hätten, dass jedes andere Paar sich voneinander trennte, hatte sie beide nur näher aneinander geschweißt und obwohl sich vieles anders anfühlte als noch vor einem Jahr, fühlte es sich nicht schlechter an. Ganz im Gegenteil.

Du musst dich nicht entschuldigen. Wir beide sind grundlegend anders aufgewachsen, es ist normal, dass wir vieles anders sehen oder verstehen. Aber es ist trotzdem schön, dass du es tust“, entgegnete er leise und musterte Cassie, bevor er eine Hand an den dunklen Schopf seines Mannes hob und ihm mit den Fingern sachte hindurch kämmte. Seine Haare waren feucht von Wasser und zerzaust, ein Umstand den er berichtigte indem er Cassie schön sorgsam die Strähnen platt und liebenswert unansehnlich gerade in die Stirn hinab strich. „Ich hätte auch nicht so mit dir reden sollen. Tut mir auch leid. Die letzten Tage sind… ganz anders geworden, als wir beide uns das vorgestellt haben. Ich will meinen Unmut darüber nicht an dir auslassen, aber…“

Eigentlich gab es da kein aber, sondern nur einen Punkt - weshalb Clarence den Kopf schüttelte um zu bedeuten, dass sie eben beide nur Menschen waren. Am Ende sollten sie einander ein Halt sein statt ein Grund sich weiter aufzuregen und Cassie hatte sicher schon genug Sorgen, da sollte er sich nicht auch noch welche um seinen Ehemann und dessen früheres Gedankengut machen müssen.

Für einen Moment schweigend strich er mit den Fingerrücken über Cassies Wange, bevor er ihm einen kurzen Kuss gab und ihn einlud wieder mit ihm zurück ins Bett zu kommen. Zwischen Tür und Angel fühlte er sich mehr auf der Flucht als in ihrem sicheren Reich in dem sie unter sich sein konnten. Eigentlich wollte er doch nirgendwo anders sein als in den warmen Laken auf den weichen Kissen mit seinem Mann, fernab von allen Sorgen oder Problemen, die irgendwo jenseits der Haustür auf sie lauerten.

Kaum zurück dort wo er mit Matthew zuvor noch gestartet hatte, seufzte der Jäger schließlich und tätschelte seinem Nebenmann aufmunternd das Knie, fast so als müsse er sich damit selbst ein bisschen frohen Mut zusprechen. Und tatsächlich fühlte er sich auch so.

„Ist dir denn klar, dass das für dich was ähnliches bedeutet? Ich meine… ich weiß nicht“, hilflos zuckte er mit den Schultern und versuchte die richtigen Worte für etwas zu finden, für das es einfach keine gab. Noch immer schwankte sein Kopf zwischen Begreifen und Verdrängen. Zwischen Verstehen und Unglaube - und zwischen all den Bedeutungsebenen die es mit sich brachte, sollte stimmen, was Mo‘Ann für Behauptungen auf den Tisch gebracht hatte. „Es ist… das ist keine Sache, die… die man einfach so hinnimmt. Das ist kein neues Geschirr das ich einfach kaufe ohne dich zu fragen, ob du damit einverstanden bist. Ich weiß, wenn stimmt was Mo‘Ann sagt… wenn das da stimmt“ - er nickte gen Tisch, auf dem die Fotografien noch immer verteilt lagen, „dann ändert sich alles. Für dich noch mehr wie für mich. Du müsstest dir das nicht antun… oder irgendetwas davon in Ordnung finden.“

Es fiel ihm schwer die Dinge auf den Punkt zu bringen, weil sie sich noch immer unaussprechlich anfühlten. Zu formulieren was sein könnte schürte Hoffnung und das war etwas, von dem er so lange gebraucht hatte es loszuwerden, dass er es nicht einfach so wieder zurück haben wollte.

„Es sind nicht deine Kinder. Du hast mit ihnen nichts zu tun und wenn du das alles nicht willst… würde dich nichts zwingen hier zu bleiben. Ich weiß, dass du nie sagen würdest, dass du damit keinen Vertrag hast und du so ein Szenario nicht versprochen hast, als wir geheiratet haben. Es sind schon schlimmere Dinge passiert und du bist bei mir geblieben.“

Wo war die Grenze dessen, was sich ertragen ließ? Was die Glatzköpfige mit ihnen anstellte, war emotionale Erpressung auf einem gänzlich anderen Niveau als sie es gewöhnt waren und letztlich war keine Entscheidung zu treffen die ihr Leben auf kurze Frist veränderte, sondern Umstände zu ertragen, die sich langfristig auf sie beide auswirken würden.

„Du hast mal zu mir gesagt, dass ich nicht alles bin was du brauchst… aber alles, was du noch willst - und ich will dass du weißt, dass das für mich nicht so ist“, seine Hand war auf Cassies Knie zur Ruhe gekommen, während er seinen Mann eindringlich musterte. „Du bist alles was ich will, brauche und habe. Das ist so viel mehr, als ich mir noch vor ein paar Jahren jemals ausgemalt hätte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine Zeit in meinem Leben geben wird, in der…“, kurz zögerte er, auf der Suche nach der Kraft das auszusprechen, was eigentlich offensichtlich war. „…in der ich glücklich sein kann so wie die Dinge heute sind. Ohne meine Heimat. Ohne meine Mädchen. Mit einem Mann an meiner Seite, mit dem ich offen zusammen lebe und den ich so sehr liebe wie ich dich liebe.“

Das und vieles mehr waren Umstände, die er niemals Für möglich gehalten hätte.

„Mein ganzes Leben hat sich mit und dank dir verändert. Wenn mich meine Vergangenheit einholt und Mo‘Anns Behauptungen stimmen… dann ändert sich nichts daran, welchen Stellenwert du für mich hast und dass ich mir kein Leben mehr vorstellen kann, in dem es dich nicht gibt. Aber ich bin kein naiver Junge mehr wie damals, als ich es nicht besser wusste. Ich weiß, dass sich Dinge verändern können wenn plötzlich Kinder da sind.„ Sachte strich er mit dem Daumen über Cassies Knie und fuhr die feinen dunklen Härchen entlang, die sich darauf abzeichneten. „Aber ich weiß nicht, ob ich jetzt schon darüber nachdenken will wo gar nicht feststeht, ob dieses elende Miststück uns nicht nach Strich und Faden belügt.“


Matthew C. Sky

Es stimmte was Clarence sagte: es waren nicht Matthews Kinder. 

Harper und Cordelia wussten noch nicht einmal von seiner Existenz und er selbst kannte kaum mehr von ihnen als ihre Namen und Gesichter. 

Geschichten und Beschreibungen des Blonden gaben ihren Abbildern ein wenig mehr Tiefe. Aber es blieb dabei. Es waren nicht seine Kinder. 

Diese Tatsache verursachte bei dem Dunkelhaarigen keinerlei Unwohlsein oder Beklemmung. Er war neunundzwanzig Jahre alt und die Entscheidung keine Kinder zu wollen hatte er bis dato nie bereut. 

Dabei war die Frage nach Nachkommen in ihrer Welt wichtiger denn je. Das eigene Vermächtnis sichern, die eigenen Gene weitergeben. Den Fortbestand dessen sichern, was man selbst erschaffen hatte und den eigenen Namen weitergeben. All diese - und noch mehr - Gründe waren es, die es für so ziemlich jeden über kurz oder lang erstrebenswert machten, für eigene Nachkommen zu sorgen.

Aber nichts von alledem war für Matthew entscheidend. Für ihn galten gänzlich andere Parameter. So sicher wie Harper und Cordelia nicht seine Kinder waren, so sicher wollte Matthew auch keine Kinder. 

Aber darum ging es nicht in eben jener Gleichung, denn auch wenn Clarence ganz deutlich machte, dass kein Gelübde der Welt Matt noch länger an ihn band, sollten sich die Behauptungen Mo‘Anns als richtig erweisen, so blieb der Blonde ihm doch eine Alternative schuldig. 

Mit aufmerksamem Blick erwiderte der Jüngere die Musterung seines Gegenübers. Die Worte des Älteren ließen ihm warm ums Herz werden weil er darauf vertraute, dass jener Mann ihm die Wahrheit sagte. Aber gleichzeitig nährten sie auch eine Melancholie in ihm, weil Matthew wusste, dass selbst die innigsten Gefühle nicht in Stein gemeißelt waren. 

Sie hatten Zeiten hinter sich gebracht, in denen war es Clarence unmöglich gewesen auch nur zu lächeln. In jenen Zeiten hatte der Fluch der Vergangenheit auf ihm gelastet wie eine schwere Decke die er immer und überall mit sich schleppen musste. 

Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Cassie geglaubt der Blonde würde ihn niemals heiraten wenn er nur seine ganze Geschichte kannte.

Die Angst vor seiner Ablehnung hatte ihn fast aufgefressen, bis er den Mut gefunden hatte jene Dinge auszusprechen, von denen er überzeugt gewesen war, sie würden alles zwischen ihnen beenden, noch ehe es richtig begonnen hatte.  Aber stattdessen hatte Clarence Sky ihn zu Matthew Sky gemacht. 

Und ab jenem Moment waren sie immer unzertrennlich gewesen. 

Unzählige Höhen und Tiefen lagen bereits hinter ihnen und Matthew wusste, dass die vielleicht größte Prüfung nicht Afarit sondern Clarence’ Kinder sein würden. 

Wenn sie wirklich wieder unter den Lebenden weilten, dann würde sich vieles, im Grunde sogar alles, ändern. Ihre Beziehung zueinander, ihr gemeinsames Leben, ihre Zukunft und die Grundlage auf der sie Entscheidungen treffen würden. 

Alles würde der Frage nach dem Wohlergehen jener Mädchen untergeordnet sein - und Matt wusste nicht ob er das wollte, ob er das konnte. 

Nun da Clarence das Gespräch jedoch auf jenen offensichtlichen - bisher aber noch weitestgehend unausgesprochenen- potentiellen Konflikt hingelenkt hatte, konnte Matt das Thema nicht neuerlich einfach so wechseln. 

Nervös geworden senkte er den Blick schließlich auf sein Knie, auf dem die Hand des Blonden zur Ruhe gefunden hatte. Nur sein Daumen streichelte noch sacht über seine Haut, ein vertrautes, schönes Gefühl. 

„Ich wünschte…“, setzte er zögerlich an und verstummte schon gleich darauf wieder. Keines der Worte die er im Geiste durchging fühlte sich richtig an - aber Matthew wollte, dass das was er meinte auch richtig ankam. 

Besonders nachdem er vorhin, bei der Frage nach Willow Creek nicht die richtigen Tonalität getroffen hatte.  

„Wenn du sagst, ich müsste nichts davon in Ordnung finden… dann hast du damit recht. Ich… ich könnte weggehen, ich könnte einfach sagen, dass ich mir meine Zukunft so nicht vorgestellt habe…“, dieses Recht würde ihm zustehen und wahrscheinlich würden nur die Wenigsten eine solche Entscheidung verwerflich finden. 

„Aber die Wahrheit ist, dass ich mir meine Zukunft überhaupt nicht vorgestellt habe, bis zu dem Moment als du mich gefragt hast ob ich dich heirate.“ - bis dahin hatte er mehr oder weniger von Tag zu Tag gelebt. Es hatte lose Ziele gegeben zu denen sie unterwegs waren, aber keine Pläne für die Zukunft. 

„Und seither… beinhalten alle meine Vorstellungen von meiner Zukunft vor allem dich. Mir ist mittlerweile egal wo wir leben, mir ist egal, dass wir nicht mehr frei sind, weil du hier deinen Platz hast. Ich… ich gebe zu, wenn ich die Wahl hätte dann… dann wären wir jetzt weiter im Süden, auf dem Boot und wir würden in den sternenklaren Himmel über dem Meer blicken.“, er lachte kurz humorlos auf. Weiter weg von der Realität konnte seine Wunschvorstellung gar nicht sein. 

Matthew hob den Blick wieder in das Gesicht des Blonden und musterte ihn einen Moment schweigsam.

„Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß wohin ich ohne dich gehen sollte. Ich hab kein Ziel, wenn du nicht bei mir bist. Und… auch wenn die Vorstellung verlockend wäre, dass ich bei irgendetwas Mitspracherecht hätte was künftig sein oder nicht sein wird… so ist mir klar, dass ich das nicht habe. Wenn es wahr ist was diese Frau behauptet, dann bekommst du deine Mädchen zurück.“ - er lächelte - noch immer mit eben jener Melancholie in den dunklen Augen die  früher jedes Lächeln von ihm begleitet hatte. 

„Und ich weiß, dass das das größte Glück für dich wäre. Und für sie. Für euch alle drei. Deshalb hoffe ich, dass es wahr ist. Es wäre eure zweite Chance und dann wirst du sie nutzen. Denn davon gibt es nicht allzu viele im Leben…“, Jamie hatte keine bekommen. Christopher und Brandon ebenso nicht. 

Wenn es jene Kinder wirklich wieder gab, dann mussten sie alles tun um sie zurückzuholen - ganz egal was das für ihre Ehe bedeutete. 

Behutsam legte Matt eine Hand an Clarence‘ Wange und streichelte durch dessen Bart, ein Privileg welches nur er genoss und es dennoch mit einer Selbstverständlichkeit tat, die dem Jüngeren in vielen Bereichen des Lebens eigen war. 

„Für den Moment gehörst du nur mir, genauso wie ich nur dir gehöre.“ - oh wahrlich er wünschte, sie wären nie nach Rio Nosalida gekommen. Er wünschte, sie wären nie von Deck des Bootes gegangen. Er wünschte, es wäre noch immer Sommer und ihnen läge die Welt zu Füßen. Und doch wusste Matthew, dass jene Empfindung egoistisch war und Clarence etwas besseres verdient hatte als das. 

„Und mehr als der Moment ist niemals gewiss.“


Clarence B. Sky

Über viele Monate hinweg war ihre Freundschaft damals davon geprägt gewesen, dass sie sich auf das Wort des anderen verlassen konnten. Sie waren sich oftmals nicht grün gewesen, hatten unterschiedliche Vorstellungen davon gehabt ob sie nach Osten oder nach Westen wandern sollten, hinauf in den Norden der Kälte entgegen oder hinab nach Süden, noch tiefer in den heißen Sommer hinab. Der eine wollte seinen Fisch braten, der andere in Suppe zerkocht sehen. Matthew wollte auf Biegen und Brechen ein Zelt haben um nachts darin schlafen zu können, Clarence hatte sich unterminierte Baumwurzeln oder einen Felsvorsprung gesucht, um dort geschützt zu sein.

Doch unterm Strich war die Quintessenz ihrer Entscheidungen doch immer die Gleiche gewesen:

Sie reisten zusammen, egal welcher Richtung entgegen. Sie sorgten gemeinsam dafür, dass keiner von ihnen beiden sich am Abend hungrig schlafen legen musste. Sie schliefen getrennt – aber in einem einzigen, gemeinsamen Lager.

Sie blieben zusammen, egal was auf ihrer Reise geschah.

Das Zusammenleben mit Matthew hatte in gelehrt, dass es manchmal wichtiger war Dinge gemeinsam zu erleben als sich etwas entgegen zu sehnen, das nur einem alleine gefiel. Er musste nicht mit dem Kopf durch die Wand um seinen eigenen Willen zu bekommen, wenn er auch Freude darin fand die Wünsche des Jüngeren erfüllt zu sehen.

Es stimmte, dass nichts in Stein gemeißelt war und Gefühle genauso vergänglich sein konnten wie alles andere auch. Ihr Glück, unbescholten und sorglos durchs Land zu reisen und gemeinsam ihr Leben zu verleben als gäbe es nichts wichtigeres als das heute, war schon lange verblasst. Tatsächlich fühlte es sich fast so an, als wäre von ihrem Glück mittlerweile alles aufgebraucht und kaum noch etwas übrig. Beinahe jeden Tag seit dem Absturz des Zeppelins eröffneten sich seitdem neue Abgründe in die sie gezwungen waren hinab zu blicken und selbst hier, in Falconry Gardens – dem Ort, den er immer für sicher gehalten hatte – fanden sie bislang keine Ruhe.

Und doch… so aufgebraucht sich ihr Glück auch fühlen mochte, so sah und fand er es doch wieder in den tiefbraunen Augen seines Mannes, sobald dieser ihn ansah und sachte die Hand an die Wange des Bärtigen legte

Mit einem leisen, kaum hörbaren Brummen drängte er sich den liebevollen Fingern seines Mannes entgegen und bettete sich in der warmen Berührung. Ihm nahe zu sein, gut zueinander zu sein und einander wahrzunehmen, das war ihnen in den vergangenen Tagen schwer gefallen und vor allem Clarence hatte nicht darin geglänzt dem Jüngeren ein guter Ehemann zu sein. Zwar mochte er nicht mehr wie früher im Unterholz verschwinden wenn ihm etwas missfiel oder er sich überfordert fühlte, doch das hielt ihn bis heute nicht davon ab innerlich Ruhe vor etwas zu suchen, das eigentlich heilsam für ihn sein sollte statt sich belastend anzufühlen.

Matthew brauchte keine Worte dafür finden oder auf den Punkt bringen was er befürchtete. Denn sollten die Worte der Glatzköpfigen wahr sein, so könnte und würde sich vollends ändern was sie bisher kannten und niemand von ihnen konnte jetzt schon sagen worin das enden würde. Würden diese beiden Kinder, die fast länger tot waren als sie je gelebt hatten, eine Lücke in Matthews Leben füllen können von dem er nicht mal gewusst hatte, dass sie da war? Würde er eine ungeahnte Liebe in den beiden Mädchen finden die er nicht mal kannte - alleine deshalb, weil er seinen geliebten Wildling in ihnen wiedererkannte?

Theoretisch spielten diese und noch mehr Fragen kaum eine Rolle, so lange sie nicht dazu führen würden, dass es sie beide auseinander trieb. Ein Szenario, über das er nicht nachdenken wollte und konnte… das aber genauso real war wie die Möglichkeit, dass Matthew auf der Reise aus Denver von einem mutierten Monstrum zerfleischt oder Clarence von mutierten Spinnen getötet worden war.

Clarence war seinem Mann nicht böse für seine unausgesprochenen Bedenken. All diese Sorgen waren realistisch und sie waren es wert erlebt sowie ausgesprochen zu werden – denn auch das gehörte zu einer ehrlichen Ehe dazu, in der sie einander kennen und lieben wollten, so wie sie waren. Er liebte Matthew mit all seinen Macken und aufbrausenden Zügen, genauso wie er ihn für das Streicheln seiner Wange oder die leidenschaftlichen Nächte liebte. Für die schönen Seiten ihres gemeinsamen Lebens, ebenso wie für die Sorgen die Cassie sich machte, sollten sich die Dinge anders entwickeln als geplant.

Einem inneren Impuls folgend, schmiegte er seine Wange für einen Moment fester in die Hand des Jüngeren, bevor er sich schließlich zu ihm hinüber beugte um ihm einen sachten Kuss zu schenken. Die Lippen des Dunkelhaarigen fühlten sich noch immer vertraut und wohltuend an, obwohl er sie in den vergangenen Tagen viel zu selten geküsst hatte. Diesem Mann nahe zu sein und sein Leben mit ihm ver- und erleben zu dürfen war ein Privileg das er nie und nimmer verlieren wollte, ganz gleich welche Wendungen es in naher oder ferner Zukunft auch nehmen sollte.

Wenn sich herausstellt, dass sie lügt…“, wisperte er leise gegen die Lippen seines Mannes und leckte sich für einen Moment über die eigenen, dem Geschmack des Jüngeren darauf nachfolgend. „Wenn sie lügt, dann lass uns tun was getan werden muss… und dann werden wir unsere Sachen packen und all das hier hinter uns lassen.

Es war nicht nur ein Kodex oder falsches Zugehörigkeitsgefühl, das ihn an den Clan in dieser Stadt hier band, sondern vor allem auch die Konsequenzen die folgen würden, würde er sich aus der Gemeinschaft der Jäger und damit seinem lebenslangen Eid entziehen. Der Zweifel daran auch nur irgendwo im nördlichen oder südlichen Teil dieses Kontinents sicher zu sein, wie es bei so vielen anderen Flüchtigen seiner Zunft bereits gewesen war, hatte ihn dazu getrieben wieder hierher zurück zu kehren. Doch selbst hier waren sie nicht sicher. Weder vor Nagi, Rouge und ihren Schergen, noch vor dem Clan selbst, so lange jemand wie Mo’Ann ihre Finger dort auf höchster Ebene im Spiel hatte und hohes Ansehen dort genoss.

Ich will kein Leben in den Schatten oder auf der Flucht, aber noch weniger will ich ein Leben in dem man mich mit Lügen erpresst und klein hält, nur damit ich mich füge. Wenn nicht stimmt was sie sagt, dann gibt es nichts mehr das mich hier hält. Wir beide wissen wie wir uns verhalten müssen, damit uns auf unseren Wanderungen niemand findet“, vorsichtig zog er mit der eigenen die Hand des Jüngeren von seiner Wange, nur um im Anschluss ihrer beider Finger ineinander zu verweben und an seiner Brust zu betten. Dort, wo sein Herz für Matthew schlug und nicht etwa für eine Stadt oder für einen Clan, denen er im Grunde genommen nichts schuldig war. „Wir schlagen uns durch nach Süden und holen unser Boot. Wenn es sein muss und ich mich bis dahin in Rio Nosalida nicht mehr blicken lassen kann, warte ich irgendwo außerhalb bis du mich einsammelst und dann… dann finden wir einen Weg irgendwo hin, wo es niemanden interessiert wer wir sind. Wo uns niemand versteht und wir nicht verstanden werden. Du bist schön, du wirst irgendwelchen jungen Bäuerstöchtern sonntagmorgens Eier und frisches Brot für uns abschwatzen und ich lerne wie man mit einer selbstgebauten Destille guten Rum brennt und dann führen wir ein leben voller Wolllust und Völlerei, bis wir selbst nicht mehr wissen wer wir sind oder wo wir einst hergekommen sind.“

Den Blick nicht von Matthew lösend, ob er dessen Handrücken an seinen Mund und drückte ihm einen besiegelnden Kuss auf selbigen.

„Ich sage es und meine es.

Es gab immer einen Grad dessen, bis zu dem man etwas zu ertragen bereit war und mit dem heutigen Abend hatte Mo’Ann die Messlatte an einer Stelle überschritten, über die man nicht weiter hinaus wandern sollte. Clarence‘ Kräfte etwas zu ertragen waren erschöpft und schon jetzt litt seine Ehe unter all den Ereignissen der vergangenen Tage. Ein Umstand, der ihm noch mehr weh tat als all die Behauptungen, die die Glatzköpfige heute aufgestellt hatte.


Matthew C. Sky

Schon immer hatte es harte Zeiten gegeben und Phasen, in denen sein Leben nicht so verlaufen war wie erhofft. 

Matthew war es gewöhnt sich durchzukämpfen und auch dann nicht den Optimismus zu verlieren, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand. 

Und dennoch fühlte sich der dunkelhaarige junge Mann seit Denver so, als würde die Talfahrt niemals enden. Seit seiner Ankunft in der Stadt hatte eine Hiobsbotschaft auf die Nächste erfolgt. 

Der gütige Mann und Nagi Tanka waren eine Person. Rouge war sehr wahrscheinlich wirklich sein Vater, er war gesegnet von einem Dämon - was auch immer das hieß - und Mo‘Ann erpresste Clarence mit dessen angeblich lebendigen Kinder. 

Irgendwo warteten die verbliebenen Mitglieder der Bruderschaft und gleichzeitig mussten sie hier an Ort und Stelle bleiben und konnten nicht selbst in die Offensive gehen. Es war zu viel, es waren zu viele Ungereimtheiten und zu viele Ereignisse die sich Matthews Einfluss entzogen. 

Der junge Mann fühlte sich überfordert und seine Reserven - seit Denver ohnehin kaum noch vorhanden - waren zunehmend erschöpft. 

Aber was sollte er tun? Weggehen? 

Wohl kaum.

Es gab keine andere Option außer durchzuhalten so lange es nötig war. 

Clarence ging es vermutlich nur wenig besser - wenn überhaupt. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten mehr Fragen als Antworten aufgeworfen und auch für ihn musste sich all das anfühlen, wie ein nicht enden wollender Abstieg. 

Mit einem warmen Brummen lehnte sich der Hüne schließlich zu Matt herüber um ihn behutsam auf die Lippen zu küssen - ein Schritt der so unerwartet wie willkommen war. 

Unverzüglich verkrallte Matthew seine Finger daraufhin zärtlich im eben noch liebevoll durchkämmten Bart und erwiderte den Kuss nähesuchend.   

Es war zwar lediglich ein kurzer Moment, doch für die Dauer jenes Augenblickes fühlte sich der Jüngere ein bisschen besser. 

Er wusste sehr genau, dass er mit dem Blonden über alles reden konnte - auch über seine Sorgen und Befürchtungen, doch eigentlich wollte er das nicht. 

Er wollte nicht zusätzlichen Ballast auf ihn laden und schon gar nicht wollte er Clarence das Gefühl vermitteln, seine Kinder wären ein Problem. 

Falls es sie gab, falls sie wirklich wieder lebten… dann würden sie ein Geschenk für den Wildling sein und er, Matthew Sky, hätte nicht das Recht ihm jene Freude zu trüben. 

Aufmerksam lauschte Cassiel der Erzählung des Blonden, hing an seinen Lippen als er erzählte mit ihm zu flüchten. Sie würden davonsegeln auf der Harper Cordelia weil mehr als diese Namen doch nicht geblieben waren. 

Sie würden untertauchen und in einem fernen, exotischen Land zur Ruhe kommen. Rum brauend und ihre Tage ansonsten damit verbringen faul in der Sonne zu liegen. Und in der Nacht würden sie sich durch die Laken wälzen, aller Probleme und Sorgen entledigt. 

Es war eine schöne Vorstellung. Eine, in der sie frei und ungebunden waren. Eine, in der es nur sie zwei und die Hunde gab und sonst keinerlei Verpflichtungen oder Schatten der Vergangenheit. 

Ein kleines, abermals melancholisches, Lächeln zeichnete sich auf Matthews Lippen ab, während er sich all das vorstellte wovon sein Bär sprach. 

„Du willst unter die Rum-Brauer gehen? Gott bewahre, dass du von deinem Gebräu nicht blind wirst…“, witzelte Cassie leise gegen die Lippen des Wildlings. 

Ohne Clarence würde weggehen keinen Sinn machen. Ebensowenig wie hierbleiben einen Sinn hätte, wäre Clarence nicht hier. 

Mit jenem Mann war selbst ein Leben im Exil schöner als ein Leben ohne ihn in Saus und Braus. Er wusste das und er hoffte, dass Clarence es auch wusste. Schon so lange waren Matthews Gefühle für den Wildling über den Punkt hinaus an dem er sie hätte ignorieren oder beeinflussen können. Er gehörte jenem Menschen und er würde immer dort sein wo auch der Blonde war. 

Der Kuss auf seinen Handrücken war eine so innige, liebevolle Geste, dass Matthew fast ein bisschen verlegen wurde und kurz den Blick senkte. 

„Auch wenn ich dich gern mal als Rum-Brauer sehen würde… hoffe ich, dass es soweit nicht kommt. Hier ist…sowas wie dein Zuhause und vielleicht wird es das irgendwann auch für mich sein.“ - Falconry war kein schlechter Ort. Er lag strategisch günstig, es gab keine eklatante Armut, keine notleidenden Menschen auf der Straße. Der Ort stand gut im Handel mit anderen Städten und Siedlungen da und war insgesamt als wohlhabende Gemeinde zu betrachten. 

Dazu lag es landschaftlich in recht ansprechender Lage. Hier lebten Freunde und bekannte Gesichter - also alles in allem konnte es sie schlimmer treffen als hier zu sein. 

Und doch war es eben auch Heimstadt des gütigen Mannes und damit war Matt an schier jeder Ecke mit diesem Scheusal konfrontiert - was es nicht unbedingt besser machte. 

„Ich hoffe es kommt nicht soweit, dass wir fort und untertauchen müssen. Ich hoffe, deine Wünsche und Träume erfüllen sich hier. Das sage ich und meine ich.“, griff er die Schlussworte des Größeren wieder auf und musterte ihn für einen Moment eindringlich. 

In den letzten Tagen hatte eine gewisse Distanz zwischen ihnen geherrscht die zwar nicht darin gegipfelt hatte, dass sie einander gar nicht mehr angerührt hatten, Zuneigung und Zärtlichkeiten hatten sie jedoch nur noch verhalten ausgetauscht. 

Nun jedoch war es an Matthew, die spärliche Distanz zu dem Blonden zu überwinden und sich ihm für einen Kuss entgegen zu lehnen. 

Er brauchte jene Nähe im Augenblick mehr als vielleicht jemals zu einer anderen Zeit und er hoffte, dass es dem Blonden ebenso ging. 

Leise seufzte Cassie in den zärtlichen Kuss, während er mit den Fingern durch Clarence‘ Schopf fuhr, das kurze Haare zurückkämmend. 

Und für einen kurzen Augenblick fühlte es sich zwischen ihnen fast wieder so an, wie vor all den Hiobsbotschaften, die zu verdauen für sie beide schwer war. 

Nur widerwillig löste sich der Jüngere wieder von den vertrauten, weichen Lippen des Blonden und hielt selbige kurz fixiert, ehe er den Blick in Clarence‘ Augen hob.

„Wie willst du vorgehen, hm? Ich meine… wir werden umsetzen, was sie will nehme ich an. Aber ich habe keine Ahnung wie…“ , flüsterte er gegen den eben noch geküssten Mund. So verschwörerisch als würde er fürchten, die Hunde würden mithören. 


Clarence B. Sky

Unerwartet erhellte das leise Lachen des Blonden den Raum und für einen Moment vergaß Clarence all die Sorgen über das, was auf dem Esstisch auf ihn wartete. Es spielte keine Rolle was Mo‘Ann von ihm verlangte, was vor wenigen Tagen in Merton geschehen war oder was die Zukunft noch an schlimmen Dingen für ihn bereit hielt. Matthew war bei ihm - und mehr brauchte es eigentlich nicht, damit er alles um sich hatte um nicht verrückt zu werden.

„Das ist mit egal. Ich brauche kein Augenlicht um zu wissen, dass du der Schönste auf unserer Insel bist“, entgegnete er schmunzelnd und malte sich aus wie es sein würde, wenn er seine Karriere als Rum-Brauer tatsächlich in die Tat umsetzte. „Ich glaube, bevor wir den ersten Tropfen verkosten können, ist mir schon drei Mal die Destille in die Luft geflogen. Aber du kennst mich - wenn ich den Dreh erstmal richtig raus hab, fallen mir neue Sachen eigentlich immer recht leicht.“

Seine Stimme hatte ein leises Raunen angenommen, eines von jener Sorte der man anhörte, dass er sich besonders an ihre Anfänge miteinander erinnerte. Besonders geschickt hatte sich der Blonde nicht angestellt. Das hatte nicht etwa an fehlender Begeisterung für die Sache gelegen, sondern vielmehr mehr an seiner Nervosität und der Sorge darüber, dass die Erlebnisse und der Deal mit Matthew ein jähes Ende finden würden, noch bevor es überhaupt angefangen hatte. Letztlich war es auf diese oder jene Weise ja tatsächlich so gewesen, denn mit besonders viel Ausdauer hatte sich der Jäger nicht rühmen können - und doch hatte Matthew ihn machen lassen. Eine beinahe schon humanitäre Hilfsleistung, die ihnen letztlich beiden zugute gekommen war.

So wie sie damals schon auf mannigfaltige Weise Verständnis und Geduld füreinander gehabt hatten, lebten sie einander eben jene Grundwerte auch heute noch immer vor. Sie hatten sich beide verändert, Matthew und er, und doch waren sie in ihren Grundsätzen doch stets die gleichen geblieben. Sie teilten die gleichen Werte, lebten einander die gleiche Art sich zu lieben vor und ergründeten miteinander was es hieß eine gute Ehe zu führen, die Äonen überstehen sollte. Bei seinem Mann fühlte sich Clarence geborgen und geliebt, sowohl mit seinen Talenten die er schon besaß und noch erlernen würde, aber ebenso respektiert mit all den Unzulänglichkeiten und Fehlern die zu ihm gehörten. Sie neideten einander nicht, sie fühlten sich nicht im Schatten eines großen Mannes, noch hatten sie den Hang dazu eine harte Hand über den anderen walten zu lassen. Dass Matthews Glück in der Vorstellung ihrer gemeinsamen Zukunft an einem warmen Strand war und Clarence sich nach Wahrheit in Mo‘Anns Behauptungen sehnte, wäre für andere ein Grund gewesen um einen Keil zwischen sich zu sehen, der sie zu trennen drohte, weil sich in der Vorstellung anderer der Partner oftmals zu fügen hatte. Er oder sie musste in das eigene Bild passen und allzu oft kam es vor, man redete sich ein, der Partner würde das irgendwann schon noch. Der andere würde sich ändern und die Dinge würden sich von alleine fügen. Aber das stimmte meistens nicht und letztlich war es ein unterschied ob man sich fügen musste oder fügen wollte.

Clarence würde sich allen Ansprüchen dieser Welt fügen wollen so lange Matthew der seine blieb und er wusste, seinem Mann ging es mit ihm nicht anders.

Nicht verwunderlich war es unter jener Sehnsucht, dass der Blonde sich dem zärtlichen Kuss weiter entgegen lehnte und unter dem Kraulen der fremden Finger in seinem Haar leise gegen die Lippen des Jüngeren raunte. Er hatte es vermisst ihm so nah zu sein und alleine die sachte Berührung reichte schon aus um zu spüren wie sehr er die Nähe zu seinem Mann brauchte. Wie es so weit gekommen war, dass sie sich in den vergangenen Tagen kaum berührt hatten, war ihm noch immer ein Rätsel. Aus der anfänglichen Anspannung, die ihn gehemmt hatte, war irgendwann eine Mauer geworden die sie beide davon abgehalten hatte gut zueinander zu sein. Nach all den Tagen in Einsamkeit fühlten sich die Lippen Matthews wie eine kühle Quelle an, nach der er sich während eines langen Wüstenmarsches gesehnt hatte und das helle Seufzen verriet ihm, dass es dem Dunkelhaarigen nicht anders in seiner Sehnsucht erging.

Warum wehte der Atem seines Mannes über seine Lippen hinweg, während er von Vorgehen und Umsetzungen sprach. Dinge, über die sich Clarence vom Haus des Clans bis hierher kaum Gedanken gemacht hatte und die mehr Fragen aufwarfen als Antworten lieferten. Auch auf den Lippen seines Mannes fand er keine Lösungen für diese und alle anderen Fragen, während er das geschwungene Lippenrot musterte, das ihn eben noch sanft geküsst hatte. Die vergangenen Abenteuer, die sie miteinander erlebt hatten und hatten erleben müssen, hatten ihre Spuren hinterlassen. Zeichen auf seinem eigenen, aber vor allem auf Matthews Körper. Narben von denen er wusste, dass sie seinen Mann belasteten, auch wenn er nicht davon sprach. Welche noch dazu kommen würden in Falconry Gardens, würden sie die Forderungen Mo‘Anns nachkommen, konnte heute keiner von ihnen beiden sagen und doch wusste Clarence unumstößlich, wie makellos und schön sein Mann noch immer für ihn war. 

Die ineinander verwobenen Hände hatte der Blonde in den Schoß des Jüngeren sinken lassen, wo sie sich mittlerweile unbemerkt wieder verloren hatten. Dennoch war es ein warmer, wohliger Ort der ihn dazu einlud zu verweilen und sachte mit den Fingerspitzen über die Innenseite von Matthews Oberschenkel hinweg zu streicheln, während er seinen Mann musterte. Mit dem nassen Haar, platt an die Stirn gepappt, sah er eher weniger aus wie der talentierte hübsche Söldner der er war - aber das war auch ganz gut so, immerhin sollte er alleine dem Jäger gehören anstatt den anderen Bäuerstöchtern diesseits und jenseits des Äquators zu gefallen. Wie sehr sehnte sich Clarence im Moment an diesen Ort, wo es keine Probleme gab die sie einholen würden. Wo es nur sie beide gab an Deck ihres Boots, braun gebrannt und verschwitzt von der warmen Mittagssonne. Mit Cassie neben sich, dessen Leib glänzte vor Hitze und Anstrengung, weil er sich schon zum dritten Mal an diesem Vormittag von dem Blonden hatte nehmen lassen. Auch heute erinnerte er sich noch an diesen betörenden Anblick und wenn er Matthew so ansah, dann erkannte er selbst unter dem platten Haar und der vom Winter blassen Haut noch den sinnlichen jungen Mann an Deck, der ihm so sehr den Verstand geraubt hatte.

Wie sehr Clarence diese Zeit vermisste wurde deutlich, als seine eben noch streichelnden Finger sich schließlich mit einem leisen Raunen in Cassies Innenschenkel vergriffen und er ein Stück weiter über ihn kam um ihn erneut zu küssen. Die Lippen seines Mannes waren weich und genauso einladend wie sein warmer Schoß und die Vertrautheit, die damit einher ging, ließ den Blonden wohlig erschauern während seine Zunge sachte den  fremden Lippen entgegen drängte um sie für sich zu öffnen.

Er wollte nicht hier sein, in dieser Stadt voll von Nathans Geheimnissen, den Erpressungen seiner Witwe und weiß der Teufel was noch alles auf sie lauerte. Wenn er die Wahl hätte, wäre er mit Matthew und einer guten fremdgebrauten Flasche Rum, von der man nicht blind wurde, am Strand - aber letztlich hatte er im Augenblick nicht die Wahl. Aber er hatte Matthew und das war die beste Entschädigung, die es geben konnte - und kein Rum der Welt schmeckte so gut wie Cassies Zunge es tat, die er sachte mit seiner eigenen anstupste und zu einem zaghaften Spiel herausforderte, das sie schon seit Tagen nicht mehr miteinander genossen hatten.


Matthew C. Sky

Das kurze Lachen des Blonden war der schönste Klang der Welt, zumindest für Matthew.

Wann immer Clarence lachte schien die Sonne etwas heller oder es wurde die Nacht ein bisschen lauschiger. 

Clarence war sein engster Freund und sein engster Verbündeter. Mit niemandem fühlte Matthew sich so vollkommen und so heil, wie an der Seite des Jägers. Die Umstände ihres Kennenlernens mochten vielleicht nicht so zufällig gewesen sein, wie sie lange Zeit angenommen hatten - aber alles was daraus erwachsen war, war allein ihrer beider Verdienst. Niemand hatte planen oder festschreiben können, wie nah sie sich einmal stehen würden und das sie einander sprichwörtlich die Welt bedeuteten. 

Mit Clarence waren selbst die dunkelsten Stunden nicht völlig ohne Licht und auch wenn Cassie mal glaubte, dass alles zu viel wurde, so belehrte der Wildling ihn stets eines Besseren. 

Niemand in Matthews Leben vermochte es eben jenen Zauber zu wirken, den Clarence auf ihn ausübte. Der Kerl konnte witzig und charmant sein und ebenso schroff und abweisend, wenn er denn wollte. Beide Seiten jener Medaille waren Matthew bestens vertraut und doch kam er - zumindest seit ihrer Hochzeit- doch überwiegend in den Genuss der nachsichtigen, liebevollen Facette. 

„Ich glaube, dir ist der Met zu Kopf gestiegen… Klapsbirne, du.“, wies er das Kompliment des Blonden zurück und tippte ihm mit dem Zeigefinger mitten auf die Stirn. 

„Falls du es wirklich schaffen würdest, deinen eigenen Rum zu brauen ohne dabei mit deiner Destille in die Luft zu fliegen oder beim Verkosten blind zu werden, würdest du dir sicher schnell eine goldene Nase verdienen. Bei all den Kräutern die du kennst und reinwerfen könntest…“ - die Vorstellung hatte ihren Reiz.

„Dann könnte ich den ganzen Tag damit zubringen die verdienten Gulden in schöne Sachen zu investieren. Mhhh~ das würde mir gefallen.“ In Krimskrams oder in Plunder wie der Blonde es gern zu bezeichnen pflegte. 

Aber selbst wenn es wahrscheinlich nie dazu kommen würde, so war allein das alberne Geplänkel zwischen ihnen etwas sehr willkommenes. Seit dem Zeppelinabsturz war ihnen beiden nicht allzu viel gutes passiert, sie hatten beide gelitten - körperlich als auch emotional und ihre momentane Situation war da keine Ausnahme. 

Trotzdem waren sie noch immer hier. Sie beide. Zusammen. Und wie schon so oft hieß es auch jetzt: sie beide gegen den Rest der Welt. 

Ihr Zusammenhalt war es gewesen der sie schon unzählige Male gerettet hatte. Zusammen schöpften sie aus einem Quell der Stärke, der ihnen ohne den anderen versiegen würde. 

So lange sie zusammen waren - ganz gleich ob auf einer Insel im Süden, an Deck ihres Bootes oder hier in Falconry Gardens - so lange würden sie jedes Hindernis überwinden können. 

Matthew betrachtete noch immer schweigend und - ein wenig gedankenverloren -  die Lippen des Blonden, welcher auf seine Frage hin noch nicht geantwortet hatte. 

Es war eine wichtige Frage gewesen, ganz ohne Zweifel. Eine, die früher oder später eine Antwort verlangte. Doch wichtiger noch als jede Frage, jeder Plan, jede Feststellung oder Offenbarung war, was Clarence schließlich tat als er sich sacht in Matthews Schenkel vergriff und sich etwas über ihn beugte um ihn zu küssen. 

Nicht zurückhaltend oder freundschaftlich, sondern richtig. 

Cassiel, der sich genau danach so sehr gesehnt und doch nicht wirklich damit gerechnet hatte, lehnte sich augenblicklich zurück und gestattete dem Älteren damit unmissverständlich über ihn zu kommen. 

Mit einem verlorenen Seufzen erwiderte er den Kuss, seine Lippen einen Spalt öffnend. Scheu, ja beinah zögerlich, stupste der Dunkelhaarige mit seiner Zunge gegen die des Wildlings und stöhnte dabei unwillkürlich in den Kuss. 

Ein warmes Prickeln entflammte in seinem Bauch und breitete sich von dort aus sowohl in seine Lenden als auch in seine Brust aus. 

Ohne die Lippen von denen des Blonden zu lösen rutschte Matthew tiefer und zog Clarence dabei zärtlich an seiner Schulter über sich. 

Er wollte genau das, was der Blonde ihm gerade gab und unter keinen Umständen konnte er riskieren, dass sich Clarence wieder aufrichtete. 

Das weiche Bettzeug unter-  und das vertraute Gewicht des Blonden auf sich, fühlte sich der Dunkelhaarige zum ersten Mal seit Tagen wieder am richtigen Ort, zur richtigen Zeit. 

Es hatte keinen waschechten Streit zwischen ihnen gegeben, es hatte keine wirkliche Funkstille geherrscht… und doch waren die zurückliegenden Tage anders gewesen als er es gewohnt war. Und auch anders als er es wollte. 

Eine Hand an Clarence‘ Wange gehoben, verkrallte er seine Finger in dem gestutzten Bart und zog fordernd an selbigem. 

„Geh nicht weg.“, flüsterte er gegen den Mund seines Mannes, den Kuss für jene Worte flüchtig unterbrechend. Doch kaum ausgesprochen überwand er die winzige Distanz zwischen ihnen wieder um die Lippen des Blonden erneut für sich einzunehmen. Dieses Mal energischer als noch vor wenigen Augenblicken.

Wieder raunte Cassie als ihre Zungen sich zärtlich berührten und neckten - eine Sehnsucht heraufbeschwörend gegen die er vollkommen machtlos war.

Schließlich gab Matthew den Bart des Blonden frei, strich über seinen Hals hinweg und nach hinten bis zu Clarence‘ Nacken -  über welchen er in liebevoller Manier streichelte.

„Hör nicht auf… hör bloß nicht auf.“

Seine Worte waren kaum mehr als ein Wispern zwischen ihnen und doch hörte man dem jungen Mann an, wie sehr er sich nach dem Größeren verzehrte. Wie sehr er dessen Nähe und Zuwendung genoss und wie sehr er den Blonden brauchte. 

Im Augenblick war es, als seien sie auf eben jener fernen Insel. Als würde die Sonne über ihnen scheinen und als gäbe es nichts außer ihnen beiden. Keine Intrigen, keine Machtspiele und keine Geister der Vergangenheit. 

Lediglich sie beide - und sie beide waren vollkommen genug. 


Clarence B. Sky

Ganz ohne Zweifel würde es Cassie gefallen, all das von seinem Mann verdiente Geld in schöne Dinge zu investieren. Matthew hatte einen Hang zu Tand, er schaffte Dinge an bei denen er sich nicht bewusst machte, den ganzen Kram hinterher in seinem Rucksack durch die halbe Welt schleppen zu müssen. Nicht selten hatte er sogar versucht seinen Schrott dem Blonden unterzujubeln und ihn davon zu überzeugen, dass dieses oder jenes nicht zurück bleiben durfte und in Clarence‘ Rucksack zu passen hatte - einfach, weil es so war. Als wären ihre Lagerutensilien damals schon ihr gemeinsamer Haushalt gewesen, als hätten sie sich von Beginn an ihren Kram miteinander geteilt und als wären die Sachen des Dunkelhaarigen die seinen, ebenso wie Claires Sachen die des einstigen Söldners waren.

So vieles hatte sich geändert, doch manche Dinge waren doch immer gleich zwischen ihnen geblieben. Dazu gehörte auch die Art und Weise wie Cassie ihn ansah, während sich die Finger des Jüngeren sachte in seinem Bart verkrallten. Clarence konnte gar nicht mehr sagen wann genau dieser Spleen beim Jüngeren begonnen oder wann genau er selbst entschieden hatte, dass Matthew ihn auf diese sehr vertraute Weise überhaupt berühren durfte. Er war der einzige Mensch, der sich im blonden Bart verlustieren durfte, der die Erlaubnis hatte sein Haarband zu lösen um mit seinen langen Strähnen zu spielen als er noch welche gehabt hatte… und ebenso war er der wohl einzige Mensch der Welt von dem Claire sich diktieren ließ was genau er zu machen hatte, zumindest wenn man kein Druckmittel in der Hand hatte um ihn dazu zu nötigen.

Bereitwillig ließ er sich von seinem Mann über ihn ziehen und nicht zuletzt ihr seichter Positionswechsel war es, der Clarence spürbar entspannen und seine Sorgen für einen Augenblick vergessen ließ. Noch während die fremden Finger sich aus seinem Bart an seinen Nacken verlagerten und ihn dort sanft streichelten, konnte er spüren wie sich unter der liebevollen Berührung die Härchen auf selbigem sanft aufstellten und ihm einen wohligen Schauer versetzten, der den Hünen leise in den zarten Kuss raunen ließ.

Seufzend leckte er sich über die Lippen als sie sich für einen Moment lösten, den schönen jungen Mann unter sich still musternd als müsse er sich jedes Detail von ihm noch an diesem Abend einprägen, weil er ansonsten seine kandisfarbenen Augen oder sein warmes Lächeln vielleicht vergessen könnte. Den Schmerz, den es ihm bereitet hatte Matthew nicht bei sich zu wissen, hatte er noch immer nicht vergessen und wenngleich sein Mann schon seit einigen Tagen wieder bei ihm war hatte sich jene diffuse Angst nicht gelegt, dass er ihn vielleicht bald doch wieder verlieren könnte.

Ich hör nicht auf… keine Angst. Ich bleibe hier, bei dir“, entgegnete er dem Unteren leise, dessen Sorgen zwar gerade auf einer anderen Ebene stattfanden als jene, dass gefühlt der halbe Kontinent sich wieder zwischen sie legen konnte - aber dessen Ängste deshalb nicht weniger bedeutsam waren in jenem Augenblick.

Sachte drängte er mit seiner Hand die Knie des Dunkelhaarigen etwas auseinander, doch nicht etwa um sofort einen innigen Schritt weiter zu gehen und ihr Tun in eine bestimmte Richtung zu lenken, sondern um sich geschmeidig in den frei gewordenen Platz und weiter über seinen Mann begeben zu können. Zwischen den Schenkeln des Jüngeren hatte er sich am wohlsten gefühlt seitdem sie es das erste Mal im Schein des abendlichen Lagerfeuers im Wald miteinander getan hatten und seitdem war keine Nacht vergangen, in der er sich nicht zwischen diese warme Umarmung gewünscht hatte, ganz gleich ob sie dabei miteinander intim wurden oder nicht.

Seit Tagen schon darbten sie jeder Nähe und obwohl sie sich nicht direkt  aus dem Weg gegangen waren, hatten sie auch nicht wirklich zueinander gefunden. Derart von seinem Mann eingeladen werden und zu spüren, dass es nach all den Tagen noch immer gut war wenn die entstandene Distanz auch ohne viele Worte ausgemerzt wurde, war wohltuend und eine der vielen Gaben ihrer Partnerschaft, für die Clarence seinen Mann unheimlich liebte.

Bevor ich meine guten Kräuter an irgendein Gebräu verschwende, das mir am Ende sowieso in die Luft fliegt… rauche ich sie lieber selbst. Das solltest du mittlerweile eigentlich wissen“, wisperte er Cassie neckend zu, bevor er seitwärts nach einem Stück der viel zu großen Decke langte und sie über sie beide hinweg warf, die beiden jungen Männer darin einwickelnd wie eine süße Füllung in Blätterteig. Ihre kleine Wohnung war ausgekühlt während sie beim Clan gewesen waren und das Feuer im Ofen drohte fast schon wieder zu erlöschen wenn es keiner von ihnen beiden mit einem Holzscheit fütterte - aber gerade wollte Clarence nirgendwo anders sein als genau hier, zwischen den Schenkeln und in der warmen Umarmung seines Mannes. Lieber erfror er in seinem eigenen Haus als ohne Cassies Berührungen zu sein, die besser auf ihn wirkten als jeder heiße Met und jedes gerauchte Kraut es je konnten.

Tut mir leid, dass ich… dir in den letzten Tagen kein so guter Ehemann war wie du mir heute“, sachte strich er mit den Fingern über die Wange seines Mannes hinweg, in einer vorsichtigen Berührung als wäre Matthew eine kostbare Vase die ihm zerbrechen könnte, wenn er nicht sorgsam genug mit ihr umging. „Ich hoffe du siehst mir nach, dass du mir trotzdem nicht entkommen wirst heute Abend. Das lasse ich nicht zu.“

Was er in diesem Mann gefunden hatte war etwas, von dem er frühe nicht einmal geglaubt hatte es könne auf dieser Welt je für ihn existieren und doch war Cassie hier, bei ihm. Noch immer, auch nach all den Dingen die Clarence in den vergangenen beiden Jahren schon falsch gemacht hatte anstatt für den Jüngeren der perfekte Gefährte zu sein.

Vielsagend zog er schließlich auch die zweite Seite der Decke über sie hinweg, ein untrügliches Zeichen dafür sich an den Jüngeren zu binden und ein Entwirren aus den Laken nur unter schwersten Bedingungen möglich zu machen. Mit einem genüsslichen Raunen auf den Lippen fing er schließlich selbige seines Mannes wieder ein, sich in einem geschmeidigen Drängen gegen den festen Leib des Unteren schmiegend, den er in den vergangenen Tagen so sehr vermisst hatte.


Matthew C. Sky

Die zurückliegenden Wochen und Monate waren geprägt gewesen von Entbehrung und Verlust und sie beide hatten unbestreitbar unter den Ereignissen gelitten. 

Aber trotz alledem waren sie noch verhältnismäßig glimpflich davongekommen. 

Viele andere hatten ihr Leben gelassen, waren aus Denver nicht heimgekehrt oder hatten die Reise aus den Ruinen der einstigen Metropole nicht überlebt. 

Junge, Alte, Jäger oder Familien. Ihre Geschichten waren geendet ohne das sie damit gerechnet hatten. 

Und wie schnell hätte das auch für sie beide gelten können? Zu schnell. Deshalb waren sie im Grunde trotz allen Schwierigkeiten noch gut dran. 

Doch hier nun, in Falconry Gardens, wo sich Clarence ein Ankommen mehr wünschte als sonst wo auf der Welt - diesen Eindruck hatte zumindest Cassie - waren die Prüfungen nicht leichter geworden. 

Es war kein Wunder, dass sie in den vergangenen Tagen Abstand voneinander genommen hatten - nicht weil sie einander nicht mehr liebten oder nicht ertrugen, sondern schlichtweg weil man manche Dinge erst allein für sich bewerten musste. 

Clarence war kein schlechter Ehemann gewesen und nun - da der Größere zwischen seinen Schenkeln lag, die Decke über sie gezogen hatte und sie abschirmte vor der rauen Welt da draußen, da war kein Gedanke ferner als der, dass der Wildling etwas anderes als perfekt war. 

Geschmeidig drängte sich Matthew für einen Moment empor, dem schönen Blonden entgegen, dessen Nähe für ihn so immens wichtig war. 

Mochten alte und neue Fehden jenseits ihres schützenden Kokons bis zum Nimmerleinstag warten - so lange sie hier blieben würden sie sicher sein. 

Eine Illusion so süß und verlockend, dass Matthew sie glauben wollte und deshalb- jetzt und hier - auch glauben konnte. 

Das vertraute Gewicht des Jägers auf sich und mit der Aussicht ihm nicht davonzukommen fühlte sich der Dunkelhaarige behaglich und wohl. 

Er schmunzelte im Zwielicht unter der Decke und leckte sich kurz über die Lippen - dem Geschmack des Hünen nachspürend - ehe er antworte:

„Erstens: Ich bin dir immer ein guter Ehemann, wer etwas anderes behauptet, hat keinen Schimmer. Und zweitens solltest du aufhören an deinen eigenen Qualitäten als Ehemann zu zweifeln.“ 

Verliebt musterte Cassiel ihn, als würde er im Antlitz des Blonden einen Schatz erkennen für den der Rest der Welt -und ganz besonders Clarence selbst - blind war. 

„Du bist viel mehr als ein guter Ehemann. Du bist mein bester Freund.“ - Es mochte absurd sein oder auch nicht aber für Matthew war genau dies das Wichtigste in ihrer Beziehung. Sie waren mehr als ein Liebespaar und sie waren durch mehr verbunden als einen Schwur oder ein Dokument oder einen Ring. 

Sie waren schon füreinander da gewesen lange bevor es jenes Gelübde oder das Pergament mit ihren Unterschriften gegeben hatte.

„Dir ist klar, dass ich dich liebe, hm? Und das ich dich immer lieben werde - egal was kommt.“ 

Auch wenn die Zukunft anders verlaufen würde als er sie sich vorgestellt hatte, an ihrer Verbindung änderte sich nichts. 

Den Kopf ein Stück aus dem Kissen hebend, schmiegte er sein Gesicht gegen Clarence‘ Wange und atmete tief ein, den Geruch des Blonden inhalierend. Er hatte keine Worte für die Intensität mit der er diesen Mann liebte und er wagte zu bezweifeln, dass es irgendwo in einem schlauen Buch die richtigen Worte gab. 

Mit einem leisen Raunen winkelte er die Beine locker an und nahm Clarence auf diese Weise zwischen ihnen gefangen, während er neuerlich seine Lippen suchte. Die nackte Haut des Wildlings war warm und straff und während Cassiel sich von unten an ihn drängte, spürte er den festen Bauch des Blonden an seinem eigenen - ein Gefühl das er liebte und leise stöhnend genoss.

Ohne den Kuss zu unterbinden umrahmte er das Gesicht des Jägers. Um sich mit den Fingern beider Hände mit zärtlicher Vehemenz in seinem Bart zu verkrallen. Wie sehr er sich nach der körperlichen Nähe des Wildlings sehnte bedurfte kaum einer verbalen Erklärung. Sehnsüchtig leckte er vorsichtig über die Lippen des Größeren um seine Zunge zu sich zu locken und sie in sinnlicher Manier anzustupsen. 

Für einen innigen Moment neckte der Dunkelhaarige seinen blonden Bären mit der Zunge, ehe er sich zum Schein ein wenig zurückzog - doch nur um die Zunge des Bären hervorzulocken und genießend mit ihm zu züngeln. Erneut stöhnte Cassiel ungeniert, genießend wie es sich anfühlte mit dem Wildling auf solch intime Weise zusammen zu sein. 

Ihn zu schmecken, sein vertrautes Gewicht und die Wärme seiner Haut auf sich zu spüren, dabei abgeschirmt von der Welt zu sein… All das brauchte der Jüngere im Augenblick mehr als alle Versprechen und Träumereien über ihre Zukunft. 

Denn letztlich - und das wussten sie beide nur allzu gut - gab es keine Garantie für irgendetwas. 

Das Jetzt war alles was sie hatten. Alles was ihnen gewiss war. Und was den Jüngeren betraf, so genoss er es mit jeder Faser seines Körpers. 


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