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Als Clarence erwachte, dröhnte sein Schädel. In seinen Ohren klingelte es dumpf und laut und er fühlte sich als sei neben ihm eine Bombe hochgegangen, doch Totenstille war es, die ihn umgab.
Schmerzhaft zuckte er mit den Brauen, spürte das Leben in sich und versuchte seine Finger zu bewegen, welche ungelenk im Dreck eines harten Bodens versanken. Der Geruch von Moder kroch seine Nase empor und ließ den benommenen Jäger leise husten. Er fühlte sich fehl am Platz, so als gehörte er überhaupt nicht hierhin und als er es wagte seine Lider einen Spalt breit zu öffnen, da erkannte er in fahlem Dämmerlicht der aufgehenden Sonne einen hässlichen, stickigen Kellerraum, in dem es sicher auch am helllichten Tage immer düster war.
Schmale, von Dreck verschmierte Fenster zierten die oberen Ränder der Wände, ließen erahnen sich parterre zu befinden, doch was als erstes die Aufmerksamkeit Clarence‘ sicherte, waren die unverputzten alten Backsteine, welche die Decke bildeten, gegen die er starrte. Unzählige blaue Sprenkel zierten das Gewölbe, intensiv und leuchtend hell und hätte er es nicht besser gewusst, man könnte meinen, durch die Risse der Fugen würde der friedliche blaue Himmel über der offenen See schimmern. Doch das hier war nicht die Harper Cordelia und es waren auch keine defekten Dielen eines Schiffdecks, die eine vage Ahnung des Himmelblaus gewährten.
Es war das Nest, in das er sich hatte verschleppen lassen, um seinen Ehemann zu finden.
Ein schmerzverzerrtes Stöhnen entrang sich seiner Kehle als Clarence vorsichtig den Kopf drehte um seine nähere Umgebung zu untersuchen und gleichzeitig tastete er mit steifen Händen seinen Körper hinab, überprüfend ob noch alles dort war wo es hingehörte oder nicht. Statt einem stattlichen Holzfällerhemd, konnte er das warme weiche Fell seines Wintermantels auf seiner Brust spüren und der Nebel, welcher sich fade vor seinen Lippen bildete wann immer er zittrig ausatmete, verriet ihm ähnliches über die ungefähre Zeit zu der sie waren.
Noch immer rauschte das Gift durch seine Adern, er konnte spüren wie es seine Sinne vernebelte und ihn nicht klar erkennen ließ was real war und was nicht; es konnte der Winter mit Matthew sein oder der mit Nagi Tanka, es konnte sein er befand sich im Madman Forest oder ganz wo anders. Vielleicht hatte er alles nur geträumt, vielleicht war er niemals ein Jäger gewesen und wenn doch – zumindest wiesen die Waffen darauf hin, die er an seinen Flanken und seinen Hüften ertasten konnte – vielleicht war dann der bockige junge Kerl an seiner Seite nichts weiter als Einbildung gewesen, entsprungen und genährt durch heimlich unterdrückte Sehnsüchte, die er sich im echten Leben niemals auszuleben trauen würde. Denn als er die Hände vor sein Gesicht hob, da erkannte er keinen Ehering an seinen unvollständigen Fingern; aber immerhin auch keine übersinnlichen Wesen im Raum, was schon mal eine Menge wert war.
Noch immer das Dröhnen im Schädel und ein trockenes Husten auf den Lippen, kämpfte sich der Jäger zuerst auf alle Viere und schließlich wankend in die Senkrechte empor. Unweit entfernt erhob sich zwischen Staub und Dreck ein Gebilde, das er unzweifelhaft als seinen Rucksack erkennen konnte und daneben, einer Ablagestelle für Müll und Unbrauchbares gleich… lehnten die Überreste zweier Menschen, die Clarence unzweifelhaft bekannt vorkamen. Die einen im zerrissenen Sommerkleid; der andere, bereits wesentlich länger hier unten wie es schien, mit völlig entstelltem Gesicht und einer Kieferschieflage, die alles andere als physiologisch aussah.
Eilig schnappte sich der Blonde sein Hab und Gut, wandte sich zurück dem Raum zu und versuchte seinen Blick in der Dunkelheit zu schärfen. Helles Blau, in der Form kräftiger Handabdrücke, strahlte ihm aus zwei Richtungen entgegen und über dem einen Mal erkannte er zwei halbmondförmige Brillengläser schimmernd im Morgenrot, das durch die Fenster fiel. Die in die Jahre gekommene Frau atmete noch, wirkte jedoch weit eingefallener als sie eben in ihrer Position am Schreibtisch noch den Eindruck gemacht hatte und wenige Meter weiter schließlich… fand er ihn.
Hektisch eilte er zu dem Dunkelhaarigen hinüber, ließ sich vor ihm auf die Knie fallen und ertastete einen schwachen, aber durchaus noch vorhandenen Puls. Matthews Gesicht wirkte blass und ausgemergelt wie er dort lag, ganz klein und unbedeutend unter dem kräftigen magischen Mal, durch das man ihn vergiftet hatte. Wie viel Blut ihm diese Wesen bereits genommen hatten, stand in den Sternen; angesichts dessen aber wie Clarence sich fühlte und wie viel länger sein Mann oder Nichtmann bereits hier unten war, würde es diesem garantiert nicht besser gehen, sollte er ihm alsbald zurück ins Land der Wachen und Lebenden folgen.
Der Hüne schwindelte unter dem Gewicht, das er sich in Form des schlafenden Jüngeren über die Schulter geworfen hatte, und zog zum wiederholten Mal an diesem Tag seinen Revolver hervor. Dieses Mal glänzten die Kugeln wieder silbern, so wie sie sein sollten und auch aus dem Material, das den geisterhaften Vetala wenigstens im Ansatz ein wenig Schaden zufügen würde; ein geeignetes Ziel für sein Vorhaben blieb jedoch bislang noch weiter außer Sicht, ein glücklicher Umstand der nicht mehr lange andauern würde, wenn sie unter steigender Sonne weiter in dieser Behausung blieben.
Kurzatmig und kaum in der Lage einen Fuß vor den anderen mit Cassie im Gepäck die Treppe hinauf zu setzen, spürte er die Kurzatmigkeit, die seine Lungen ergriffen hielt. Der Lauf der Waffe zitterte in seiner Hand, eine Tatsache die er nicht ignorieren konnte und die die Lage jedoch nicht wirklich verschlimmern würde ohne weitere essentielle Zutaten. Eine einzige Kugel würde ausreichen um die Monster wenigstens für eine Weile langsamer zu machen, wertvolle Zeit um sie ein Stückchen weiter von hier fort und gen Sicherheit zu bringen, ganz egal wie diese auch aussehen mochte.
Wachsam schlich sich Clarence durch die leise quietschende Kellertür, unverschlossen – warum auch Vorsicht walten lassen, wenn die Beute vermeintlich bewegungsunfähig unten in der Dunkelheit ihr schlummerndes Dasein fristete?
Noch immer kondensierte seine Atemluft vor den eigenen Augen während er behutsam und möglichst lautlos den düsteren Korridor hinab schlich nachdem er sich umgeblickt hatte, doch ein eiliger Blick hinaus durch die verschmierten Glaskacheln in der Hintertür verriet ihm, draußen lag kein Schnee. Frost und Kälte hatten sich in der Nacht niedergelegt, versprachen nicht im Geringsten die wohltuende Wärme die Miami ihnen zuvor noch eingeimpft hatte und verrieten ihm gleichfalls, warum er vor dem Aufbruch seine wärmende Jacke übergeworfen hatte – ganz im Gegensatz zu Cassie, der von einem bequemen Jagdausflug mit den Hunden als einziger nicht zurück gekehrt war.
Nachdenklich rieb sich Clarence mit dem Daumen über die Stelle an dem sein Ehering sein müsste, ein Umstand der sich ihm aus verschiedensten Gründen noch nicht erschloss, da er sich mittlerweile ziemlich sicher war, die Ehe und die Beziehung zu seinem Mann waren nicht nur Einbildung die man ihm im Traum vorgegaukelt hatte um die Glückshormone in seinem Blut auf ein Maximallevel zu bringen.
„Keine Sorge, mein Kleiner… dein Baby bekommt uns hier schon irgendwie raus…“, murmelte der Bär, mehr darin versunken sich selbst Mut und Kraft zuzusprechen als Cassie, der sich wirklich verdammt viel Zeit damit ließ wieder unter die Lebenden zurück zu finden. Welche Qual und welchen unendlichen Schmerz sein Partner gerade verlebte auf einer ganz anderen Ebene der Existenz, in der die Zeit anders verlief als hier draußen, konnte Clarence zwar erahnen, aber…
Verdrießlich schüttelte er den Kopf um den grausamen Gedanken beiseite zu wischen, der ihn ergriff. Noch viel zu gut konnte er sich daran erinnern wie es gewesen war die schier endlosen Tage in Bennetts Haus zu verleben, wie verzweifelt er sich gefühlt hatte und wie zerrissen, als Matthew neben ihm auf dem Markt zu Boden gegangen war. Was der Jüngere gerade durchmachte war um so viele Weiten schlimmer, als eine Sally Mitchell es jemals hätte anrichten können und wäre sein Vertrauen in seinen Partner nicht von unbeschreiblicher Gewichtigkeit, so hätte auch den Blonden nun bereits die Angst ergreifen können, der Mann über seiner Schulter wachte vielleicht nie wieder auf. Cassie war ein kluges Kerlchen und selbst wenn er nicht begreifen würde, was Clarence ihm hatte vermitteln wollen ohne die Welt schon viel früher um sie herum zum Einsturz zu bringen, so würde hoffentlich der Schmerz um seinen unbeschreiblichen Verlust ausreichen um ihn folgen zu lassen – genau auf die gleiche Weise, wie auch Clarence ein Leben ohne den anderen nie mehr würde führen können.
Ein letztes Mal atmete der Ältere tief durch, bevor er hinaus auf die alte Veranda trat von derer der Lack schon lange abgeblättert war. Einstmalst sicher ein schönes kleines Örtchen irgendwo kurz hinter der See, war aus dem Dorf schon längst eine verlassene Ruine geworden. Ein Ort, an dem sich Geisterwesen wie jene, die das Nest behausten, besonders wohl fühlten; mit scharfem Blick und geladener Waffe sonderte Clarence den ausgetretenen alten Weg, der die Hinterhöfe miteinander verband und lauschte in die Stille hinein. Vor Frost knackende Äste, ein paar halb verhungerte Eichhörnchen auf der Suche nach der letzten, irgendwo versteckten Nuss… nicht mehr und nicht weniger. Noch nicht.
Ihnen würde auffallen dass ein beträchtlicher Teil ihrer Beute fehlte, ein Missstand den man versuchen würde wieder auszugleichen bevor es zu hell draußen wurde und ein Grund mehr für den Jäger, die Beine in die Hand zu nehmen bis sein Mann aus tiefem Schlaf erwacht war, der von einem Paradies zum grausamen Alptraum geworden war. Das Metall des Revolvers brannte ihm kalt in den zitternden blassen Händen und Clarence konnte spüren wie seine Beine ihm mehrmals unter dem gemeinsamen Gewicht zusammen zu sacken drohten, doch der Antrieb den Jüngeren ihn wenigstens ein kleines Stück weit vom Quartier ihrer Peiniger weg zu führen, ließ den Jäger weiter machen.
Funktionieren, laufen, das Atmen nicht vergessen – anspruchsvolle Aufgaben für einen Mann der das Gefühl hatte in seinem Hirn nicht mal annähernd mehr das benötigte Blut ankommen zu spüren, aber der Hürde würdig war, das Wertvollste das er besaß am Leben zu erhalten.
Immer weiter kämpfte Clarence sich an Zaunlatten vorbei, durch von Frost zerfressene Gräser hindurch und richtete den glänzenden Lauf auf das kleinste Geräusch, das ihm zu Ohren kam. Seine Füße fühlten sich taub an und die Schulter, auf der Cassie ruhte, nicht weniger; es war nur eine Frage der Zeit bis seine Kräfte ihn verließen und wie es hatte kommen müssen, so kam es schließlich auch, als er sich unweit der kleinen Siedlung entfernt mit seinem Mann im Schnee wiederfand.
„Okay, w-wir… machen eine kleine Pause mein Herz, okay? Nur k-kurz, bis ich… wieder zu Atem gekommen bin…“, haspelte der Blonde leise, reckte die unterkühlten Finger nach der Schusswaffe aus die ihm beim Sturz aus der Hand gefallen war und sah sich kurz um. Unweit von ihnen erkannte er einen umgefallenen alten Baum, mit Wurzelwerk so stark wie ein Fels und Schlupflöchern, die ihnen wenigstens für den Moment ein wenig Schutz bieten würden.
Ächzend kämpfte Clarence sich auf die Füße zurück, ergriff Matthew unter den Schultern und zog ihn den Rest durch den Schnee, bis er sich tief zwischen den verzweigten Wurzeln im Schatten des Holzes nieder ließ. Ungelenk streifte er den Rucksack von seinen Schultern und schließlich auch die dicken Jacke, positionierte den Schlafenden zwischen seinen Knien und lehnte den ungeschützt auf den Schultern rollenden Kopf seines Geliebten vorsichtig auf seiner Brust ab.
„Das wäre jetzt langsam ein… ein guter M-Moment um wieder wach zu werden, Prinzessin… nur ein bisschen, mh…?“, versuchte er seinen Liebsten vorsichtig zu beschwören, so als könne das auch nur irgendetwas helfen. Den warmen Mantel hatte er über Matthew ausgebreitet und hoch bis zu dessen Nase hinauf gezogen, sich selbst hinter dem dunklen Schopf des Jüngeren verbergend, damit die strahlend blauen Handabdrücke in ihren Gesichtern nicht schon aus der Ferne die Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Sorgsam griff er nach den Händen des Kleineren und rieb diese sachte durch die eigenen um Matthew nicht allzu sehr auskühlen zu lassen, wobei er den prägnanten Ring an den fremden Fingern spüren konnte.
„Gott sei Dank, immerhin etwas…“, seufzte er erleichtert auf, damit seine Theorie bestätigend und die große Hoffnung erfüllend, nicht alles an Miami sei nur Lug und Trug gewesen.
Der vermeintliche Selbstmord... gipfelte überraschend nicht im Erlöschen des eigenen Seins.
Es stellte sich heraus, dass das Ende gar kein Ende war und das nach dem Schuss nicht Frieden und Nichts einkehrte, sondern etwas ganz anderes.
Dunkelheit hielt ihn umfangen, Schwärze so undurchdringlich wie selbst die dunkelste Stunde der Nacht sie nicht hervorbrachte.
Vor seinen Lippen kondensierte sein Atem in hektischen Wölkchen und er spürte die Kälte in seine Brust strömen.
Orientierungslos drehte er sich im Kreis und rief einen Namen.
„Clarence!“ - aber die Person antwortete ihm nicht und Matthew dachte, vollkommen entrückt, dass er Clarence überhaupt noch nicht kannte.
Etwas pochte leise in der Dunkelheit, ähnlich wie der Schlag eines Herzens.
Ohne zu sehen wohin er lief, setzte sich Matthew in Bewegung.
Es roch nach Moder und feuchter Erde, nach verfaulten Wurzeln und Kupfer.
Das organische Pulsieren wurde stärker und vor ihm glomm, inmitten der Schwärze, ein rötliches Gebilde auf.
Ein Geflecht, leuchtend wie die Glut eines versiegenden Lagerfeuers, erhellte die Finsternis und Matthew lief auf das Leuchten zu.
Dieser Ort war ihm vertraut und fremd zu gleich, doch er erinnerte sich nicht daran schon mal hier gewesen zu sein.
„Clarence...?“ fragte er wieder, dieses Mal leiser. Die Antwort war ein drohenden Brummen, ganz anders als das seines Mannes.
„Der den du suchst, befindet sich nicht hier.“
Grollte eine Stimme aus der Dunkelheit, sie schien von dem leuchtenden Geflecht zu stammen und klang tief und kehlig. Die Luft um ihn herum vibrierte bei jedem Wort und Matthew spürte Angst in sich aufwallen.
„Wo...ist er?“, fragte er zögerlich und erntete erneut das tiefe Geräusch.
„Viel wichtiger ist, wo du bist.“
„Ich...war schon mal hier, oder?“ Vorsichtig aber nicht länger ängstlich streckte er eine Hand nach den leuchtenden Fasern aus. Sie fühlten sich angenehm warm unter seinen Fingern an und ein merkwürdiges Gefühl der Ruhe machte sich in ihm breit.
„Wach auf, dies ist nicht die Zeit für Fragen.
Nicht die Zeit für Antworten. Wach auf.“
Aber Matthew wollte nicht aufwachen, er hatte vergessen was passiert war, hatte den Namen vergessen den er eben noch gerufen hatte. Er ließ dies Hand über das warme Geflecht wandern und schüttelte den Kopf. War das hier echt? War es real?
„Das wäre jetzt langsam ein… ein guter M-Moment um wieder wach zu werden, Prinzessin… nur ein bisschen, mh…?“, vernahm er leise eine Stimme in der Dunkelheit und jene Stimme weckte in ihm...ein Gefühl innerer Wärme und Freude. Anders als die Stimme aus dem leuchtenden Schein.
Er wandte sich von dem Gebilde ab, ohne die Hand wegzunehmen und starrte in die Düsternis.
„Wohin muss ich gehen?“, wollte er wie in Trance wissen. Doch keine der Stimmen antwortete ihm mehr. Stattdessen wurde das Geflecht mit einem Mal so heiß, dass er sich verbrannte und überrascht aufschrie und zurückgeworfen wurde.
Raus aus dem Schwarz, fort von dem pulsierenden Leuchten.
Der Schrei, eben noch laut in der allumfassenden Finsternis, war nicht mehr als ein gequältes Stöhnen in der Realität, als Matthew langsam wieder zu sich kam.
Der Schmerz in seiner Hand war, neben der Kälte der Luft, das Erste was er wahrnahm. Zögerlich öffnete er seine Augen, blinzelte benommen in den düsteren Morgen und versuchte zu verstehen.
Aber er kannte weder den Ort wo er sich befand, noch konnte er einordnen wie er hierher gekommen war. Alles lag im Nebel, so wie der der Wald selbst über dessen Boden die milchigen Schwaden krochen.
Die Erinnerung an das Geschehene in der Bibliothek ließ jedoch nicht auf sich warten. Sie brandete mit undankbarer Vehemenz auf ihn ein und brachte das Gefühl völliger Hilflosigkeit jäh zurück, verengte seine Brust, stach in seinem Herzen und ließ ihn unterdrückt schreien. Das Geräusch war kläglich und kaum mehr als ein lauteres Ächzen, aber es war alles was der geschwächte junge Mann noch an Kraft besaß.
Matthew spürte die gefrorenen Tränen auf seinem Gesicht, hörte Clarence letzte Worte in seinem Kopf.
Die Ereignisse spulten sich wie ein grausamer Film vor seinem inneren Auge ab.
Er sah die Waffe in der Hand des Größeren, sah wie er den Stahl von unten gegen sein Kinn presste... und abdrückte. Der Knall hatte alles in ihm zerrissen, hatte in ihm alles zerstört was jemals hoffnungsvoll und positiv gewesen war.
Er sah Clarence sterben. Und er starb mit ihm.
Wieder stöhnte der junge Mann vor Schmerzen. Er fühlte sich wie überfahren, jeder Muskel seines Körpers tat ihm weh und ihm war, als würde sein Kopf jeden Augenblick explodieren. Kraftlos versuchte er einen Arm zu heben um die Fingerspitzen in das Blut zu tauchen, dass von Clarence auf ihn gespritzt war, aber schon an dieser winzigen Regung scheiterte er.
Und dann, plötzlich, löste sich etwas von seiner Hand und ein Widerstand legte sich auf seine Brust, drückte ihn nach hinten und hielt ihn fixiert.
Überfordert, verwirrt und nicht Herr seiner Sinne versuchte Matthew sich gegen den Druck zu wehren. Er begehrte mit dem winzigen Überbleibsel an Kraft auf und verausgabte sich dabei nur noch mehr, ohne das er sich in irgendeiner Weise befreite.
Doch von einer Sekunde zur Anderen, ließen plötzlich alle Bemühungen des Dunkelhaarigen nach und er sackte förmlich in sich zusammen.
Die Stimme hinter ihm, war die Stimme seines Mannes, der Widerstand auf seiner Brust dessen Unterarm und das Ding auf ihm drauf nichts anderes als sein Mantel.
Niemals im ganzen Leben würde er Clarence‘ Stimme vergessen, niemals seinen Geruch oder wie sich seine Lippen anfühlten. Und obwohl er Clarence erkannte, versuchte der Kleinere nicht einmal einen kurzen Blick auf ihn zu erhaschen.
Matthew, der vollkommen durch den Wind war, wagte nicht sich umzudrehen.
Zu groß war die alles verzehrende Angst davor, er würde in das tote Antlitz des Blonden sehen, blutverschmiert und jede Emotion entbehrend, so wie es zuletzt in der Bücherei in Miami gewesen war.
Am ganzen Leib zitternd schaffte Matthew es, beide Hände zu heben und schlug sich diese vors Gesicht. Sein Schluchzen brachte neue Tränen zum Vorschein und ließ die schmale Brust heftig erzittern und beben.
Noch nicht einmal der beruhigende Kuss an seiner Schläfe vermochte es, den aufgelösten jungen Mann zu beruhigen. Eher das Gegenteil war der Fall.
Immer wieder sah Matt das Bild seines toten Mannes vor sich, konnte noch immer fühlen wie leblos er gewesen war.
Das Loch im Hinterkopf, all das Blut... das Blond seiner Haare war voll damit gewesen, Knochensplitter und Klümpchen grauer Hirnmasse hatten darin geklebt, alles Leben hatte seinen Geliebten verlassen und jetzt sollte dieser plötzlich hinter ihm sitzen? Plötzlich sollte alles wieder gut sein?
Oh wie sehr er sich wünschte das zu glauben, doch die Bilder des Selbstmordes der Liebe seines Lebens hatten sich in seinem Kopf eingebrannt und ließen sich nicht abschütteln.
Vielleicht war das hier die Hölle, jener Ort an dem die Qualen unendlich weitergehen würden. Vielleicht gab es den Gott der Christen wirklich und dies hier war seine Strafe für all die unzähligen Fehler die er begangen hatte.
Vielleicht befand er sich auch schon sein ganzes Leben lang im Fegefeuer.
Dazu verdammt immer wieder zu verlieren was er liebte.
Immer wieder zusehen zu müssen wie Clarence starb.
Seine Finger krümmten sich vor seinem Gesicht, kratzten über die blasse Haut und hinterließen rote Striemen.
Leise raschelte der Wind durch das Laub der Bäume die sie umgaben, aber Cassie fühlte weder die Kälte der Luft, noch die Wärme des Größeren. Alles was er empfand war Verzweiflung und Angst.
Er konnte nicht richtig atmen, der Schmerz und das Entsetzen schnürten ihn zu und doch weinte Matthew unablässig und zu verängstig um zu begreifen, dass der Mann hinter ihm real war, dass er lebte und ihn liebte und das Miami nichts weiter gewesen war als ein schöner Traum, der sich in einen Höllentrip verwandelt hatte.
Beinahe lautlos setzte leichter Regen ein, tropfte auf sie hernieder als wolle er die dunklen Erlebnisse hinfort waschen.
Aber wie sollte das gehen, wenn alle Gedanken des Jüngeren einzig und allein um den Verlust des Menschen kreisten, den zu verlieren er nicht überstehen würde?
Noch während Clarence die kalten Finger seines Mannes zwischen den Händen hindurch reiben ließ, gefühlt schon lange die Beschwörung ausgesprochen er möge doch endlich aus tiefen Träumen erwachen, kam dem Blonden ein ganz und gar furchtbarer Gedanke.
Was, wenn nicht?
Was, wenn Matthew nicht nur alles was geschehen war als Illusion deutete, sondern auch den Hünen? Wenn er den Gestalten und Halluzinationen keine Bedeutung schenkte, aus der bebenden Bücherei flüchtend um sich auf den Weg zu machen, außerhalb Miamis das Boot und damit auch seinen echten Bären zu finden?
All das wäre naheliegend, denn warum um alles in der Welt sollte er den Mann, den er so sehr liebte, dazu auffordern sich selbst das Leben zu nehmen?
Erst jetzt, dieser neuen Erkenntnis und dem schier unendlichen Schlaf des Jüngeren unterliegend, wurde Clarence wahrhaftig bewusst was er seinem eigenen Mann zugemutet hatte. So stolz er auch auf Cassie gewesen war die richtigen Eingebungen zur richtigen Zeit zu haben und seine Gedanken laut auszusprechen, dieser Mann war kein Jäger. Er wusste nicht was es dort draußen gab, was es bedeutete von Vetala gefangen genommen zu werden und dass nichts, rein gar nichts dort drinnen das wirkliche Leben war. Für Matthew, der in dieser Welt noch immer gefangen war, war es echt gewesen seinem Ehemann dabei zuzusehen sich zu erschießen und die Entscheidung zu treffen es ihm gleich zu tun ein Schritt, der selbst für geübte Jäger in solch einer Situation nicht einfach mal eben so getätigt war.
Noch in der gleichen Sekunde, in der Clarence verstand was die Vetala und schließlich auch er selbst angerichtet hatten, spürte er wie Tränen seine Augenlider füllten und gleichsam ein stöhnendes Ächzen durch den Jüngeren ging. Augenblicklich schlang Clarence seinen Arm um den vor ihm liegenden und presste seine Hand auf das Herz das ihn so sehr liebte, als könne er es damit davor schützen zu zerbrechen und vor Panik aus Cassies Brust zu springen. Eine Geste, so selbstverständlich wie der unbewusste Antrieb zu atmen – und doch so unnütz wie wohl jeder Versuch einen anderen Menschen zu trösten, dessen Geliebter gerade vor den eigenen Augen gestorben war.
Die Art wie Cassie die Hände vors Gesicht schlug, verstört und verängstigt, brach Clarence das Herz und ließ ihn sich fühlen, als habe es wenige Schläge lang die Arbeit einfach eingestellt. Es war schlimmer als jeder Zustand, in dem er seinen Partner jemals gesehen hatte und nichts was hinter ihnen lag erreichte jemals den Schmerz, den er just in diesem Augenblick durch Cassies ganzes Sein strömen spürte. Keine verstörtes Weinen in der Villa der Hurenkönigin, kein erster Anblick des eigenen Gesichtes nach einer Spinnenattacke oder dem Treffer durch einen Stein würden jemals dem Ausbruch gleich kommen der heute durch den Dunkelhaarigen ging, als dieser in völliger Verzweiflung mit den Nägeln durch sein eigenes Antlitz kratzte. Das, was die Vetala ihm abgerungen hatten, schien Matthew völlig zerstört zu haben und Clarence starb mit seinem Mann, tausende Tode, emotional wie auch in der Welt, die man ihnen durch giftige Magie eingeimpft hatte.
„Schht mein Herz… alles ist gut. Es war… ein Alptraum. Ein f-fürchterlicher… ganz schrecklicher Alptraum, nichts weiter“, wisperte er Cassie leise entgegen, die Stimme gebrochen und spürend, wie sich lautlos eine Träne seine Wange hinab löste um dort in der Kälte des Morgens zu gefrieren.
Immer wieder, erfolglos zwar aber als könne es doch irgendetwas bewirken, küsste er vorsichtig die Schläfe seines Mannes und zog ihn enger an sich auch auf die Gefahr hin, dass Matthew dann gar keine Luft mehr bekam. Er musste spüren wie sich hinter ihm der Brustkorb des Älteren in absoluter Lebendigkeit hob und senkte, dass von Clarence Wärme ausging und dass sein Herz noch schlug, statt still zu stehen und aus ihm nichts weiter zu machen als eine blasse Erinnerung dessen, was sie hätten haben können.
Es schien viel zu einfach zu sein dass Clarence dies von sich gab, denn unter normalen Umständen wäre es undenkbar gewesen, sie hätten den gleichen Traum erlebt. Eigentlich hätte selbst der andere eine Illusion sein müssen, Cassie für ihn wie auch er für den Jüngeren; doch es war die wechselhafte und freche Verhaltensweise des anderen gewesen, die den Jäger zu keiner einzigen Sekunde daran hatte zweifeln lassen, seinen echten Mann an seiner Seite zu haben. Schon immer war der ehemalige Söldner für ihn ein Buch mit sieben Siegeln gewesen; seine plötzlichen Anwandlungen sah Clarence niemals kommen und selten gab es bestimmte Dinge, die Clarence von seinem Partner vorher sagen könnte. Wäre Cassie nur ein Traum gewesen, wie alles andere auch… er wäre einfacher gewesen, vorhersehbarer. Doch das war er nicht und dadurch konnte er auch nicht der plumpen und einfallslosen Fantasie seines Geistes entsprungen sein, eine Gewissheit für die er sich noch hunderte weitere Male in jene Gefahr begeben und erschießen würde, wenn es sein müsste um Cassie aus den Fängen solcher Monster zu befreien.
Sachte wiegte er die Liebe seines Lebens in seinen Armen, streichelte immer wieder über die Brust des Vorderen hinweg und hoffte diesen dadurch spüren zu machen, der Mann hinter sich war keine Einbildung und auch kein schauriges Schreckgespenst das gekommen war, um ihn das traumatische Erlebte noch einmal durchleben zu lassen.
„Ich b-bin… dein Bär… und ich bin hier, bei dir. Ich lebe und atmete und mein Herz schlägt… und es geht m-mir gut… deinem Baby geht es gut, mein Kleiner… es war n-nur ein Traum, aber jetzt… sind wir wieder aufgewacht. Wir beide…“, flüsterte er leise in Matthews Ohr, denn nicht nur er alleine war so mutig gewesen, den Weg hinaus aus den Illusionen zu beschreiten. „Dein Baby liebt dich so sehr du tapferer, mutiger Mann…“
Und weil es nur eines auf der Welt gab von dem er wusste, es half auch ihm selbst über all seinen Kummer hinweg wenn er die Angst hatte Matthew sei etwas furchtbar Schreckliches passiert und er würde ihn nie wieder sehen, erhob er seine Stimme vage um hinter geschlossenen Lippen eine ihm warm vertraute Melodie zu summen.
Er konnte sich des genauen Textes nicht mehr entsinnen, dem Klang des Liedes aber durchaus und alleine schon die ersten Töne anzuschlagen half ihm selbst, sich ein wenig in der unwirklichen Situation zu beruhigen.
Den einen Arm noch immer eng um Cassies Brust gelegt, wiegte er den Mann den er liebte sachte im Takt und versuchte dadurch ein Gefühl der Vertrautheit zu schaffen und die Gewissheit zu manifestieren, seine Worte waren nicht nur schönes Gesäusel sondern entsprangen der unumstößlichen Wahrheit; die andere löste er zögerlich von Matthews Leib, um nach den Fingern des Jüngeren zu haschen und sie ganz vorsichtig ein wenig von dessen verdeckten Augen zu lösen. Er wollte dass sein Mann ihn ansah, dass er erkannte, kein Loch zierte das Antlitz des Älteren und stattdessen lagen Liebe und Leben in seinen blaugrauen Augen – und gleichsam wollte Clarence nichts dringlicher als den vertrauten Blick seines Geliebten auf sich spüren, wissend dass sie sich endlich wieder hatten und so schnell nicht mehr voneinander weichen würden.

Was echte Angst war, dass hatte Matthew schon sehr früh erfahren.
Er war aufgewachsen in einer Umgebung die augenscheinlich idyllisch war.
Grüne Hügel, sanft abfallende Täler, kristallklare Flüsse und Seen.
Stillwaters Reach war ein freundlicher Ort, mit fleißigen Bewohnern. Tüchtige Menschen, die alle ihrem Tagwerk nachgingen.
Das Problem an jenem Flecken Erde war die endlose Abgeschiedenheit.
Leute von Außerhalb kamen selten durch das Kaff und wenn, dann blieben sie so gut wie nie. Die verschworene Gemeinde nahm Menschen aus anderen Gegenden nicht gut auf, selbst nicht wenn sie Jahre oder Jahrzehnte dort lebten.
Und Rosalie Reed hatte nie dazugehört.
Man hatte sie gemieden und deshalb auch ihre Zöglinge und ihre Männer.
Was aus ihr und den Reed-Jungs geworden war, dafür hatte sich kaum jemand interessiert und wenn doch, so hatte dennoch keiner etwas getan.
Am Tag von Rosalies Ermordung war Matthew daheim gewesen, er hatte mitansehen müssen wie der Mann der seit Wochen in ihrem Haus wohnte, seiner Mutter die Kehle aufschnitt. Mitnichten war jener Tag der erste gewesen an dem der Junge mit Angst konfrontiert worden war, aber es war der erste Tag, an dem er gespürt hatte, noch nicht einmal der eigene Tod konnte schlimmer sein als der Tod eines geliebten Menschen.
Im Laufe der Zeit... hatte Matthew verschiedene Gesichter der Angst kennengelernt. Angst vor Schmerzen, Angst vor Gewalt, Angst zu versagen, Angst um das eigene Leben und auch die Angst vor dem Tod jener, die er liebte.
Seine Mutter, Jamie, seine Freunde... sie alle hatte er verloren und jedes Mal war so schlimm wie das erste Mal.
Man konnte sich an vieles gewöhnen, aber nicht an diese Angst.
Und Clarence, der Mann den Matthew mit allem liebte was er zu geben hatte, hatte ihn schon zweimal mit jener maßlosen Panik konfrontiert.
Zum ersten Mal auf der Insel der Spinnen und nun in...in dem fürchterlichen, ganz schrecklichen Alptraum, wie Clarence es nannte.
Für Matthew jedoch, der sich mit Alpträumen ebenso auskannte wie mit Angst, war das Erlebte vollkommen real. Er erinnerte sich sogar an den Geruch der brennenden Bücher, er erinnerte sich an den lauten Knall, an das warme Blut welches ihm ins Gesicht gespritzt war. Er erinnerte sich daran wie plötzlich sein Geliebter in sich zusammengebrochen war und wie reglos er dann auf dem Boden gelegen hatte. Mit dem Rücken halb an einem der Regale lehnend.
Die Stille, das Blut, die weggefetzte Schädeldecke, die Klumpen von zerrissenem Hirn... all dessen erinnerte er sich und anders als bei einem normalen Traum, versiegten die Details auch nicht.
Matthew hatte Clarence in seinen Armen gehalten, hatte ihn gewiegt, hatte gespürt wie schlaff und lebensleer er gewesen war.
Nichts davon fühlte sich an wie in einem Traum und deswegen schafften es die Worte des Größeren auch zuerst nicht ihn zu beruhigen.
Es war nicht alles gut, nicht für Cassiel.
Die sanften Küsse auf seiner Schläfe nahm der Dunkelhaarige kaum wahr. Er war aufgewühlt wie nie und das energische Flattern seines Herzens musste Clarence eigentlich auch unter seiner Hand spüren.
Bisher hatte Cassie nichts von sich gegeben was über Weinen und schmerzerfülltes Stöhnen hinausgegangen war, aber als Clarence ihm leise versicherte bei ihm zu sein, sein Bär zu sein, da brachen alle Dämme.
„Oh G-Gott...“, stammelte Matthew völlig aufgelöst und schluchzte erneut auf, so sehr ging ihm nahe was der Andere sagte.
Er wollte glauben dass alles nur ein Traum gewesen war, ein schrecklicher Alptraum der ihnen nichts anhaben konnte, nun da sie wieder wach waren. Aber wenn das stimmte, wo waren sie dann hier? Hatten sie den selben Traum geträumt und wenn ja, wie war so etwas überhaupt möglich?
„D-du wärst tot!“, stammelte er unter Tränen, die Stimme belegt und die Hände noch immer vor seinem Gesicht.
Doch der Mann der jetzt hinter ihm saß, ihn hielt und versuchte ihn zu beruhigen, der war es nicht.
Leise erklang schließlich das vertraute, warme Brummen hinter ihm und Cassie wimmerte. Die Erleichterung und der Schmerz brandeten beide über ihn hinweg wie eine riesige Welle und er konnte rein gar nichts dagegen tun. Er war mitgerissen worden und hatte keinen Halt mehr. Erst die melancholisch-verliebte Melodie, welche sein Bär anstimmte, half Matthew ein bisschen dabei sich wieder zu beruhigen.
Er kannte das Lied, hatte es selbst schon mehrfach für seinen Geliebten gesungen und das Clarence es nun für ihn summte, veranlasste Matthew kurz darauf dazu, sich in den Armen des Größeren zu regen.
Er fasste den Mut, sich die Hände vom Gesicht ziehen zu lassen, hielt jedoch die Augen noch einen Moment länger geschlossen. Zu groß war die Angst, dass er um sich herum die Welt der Toten erkannte oder - noch schlimmer - die warme Illusion des Größeren mit dem Öffnen der eigenen Augen verschwand.
Es dauerte ein kleines Weilchen, bis der Dunkelhaarige es wagte, sich etwas aufzusetzen und halb umzudrehen, wobei er es sich noch immer nicht getraute Clarence ins Gesicht zu sehen. Er hielt den Blick gesenkt, umfing die Wangen seines Liebsten und verkrallte sich weinend in dessen Bart. Nicht sinnlich, nicht hungrig dieses Mal, sondern hilflos und ängstlich auf der Suche nach Halt.
Der Körper des Anderen war warm und roch...vertraut. Nach Zuhause, nach Liebe.
Das Gefühl der Geborgenheit welches Clarence ihm durch seine Anwesenheit vermittelte ließ Cassiel schließlich unter leisem Schluchzen die Lippen seines Mannes suchen.
Behutsam küsste er sie, schmeckte das Salz auf ihnen, fühlte die Wärme und Weichheit. Es waren die Lippen eines Lebenden... zumindest wollte er das mit aller Macht glauben. Matthews Herz krampfte sich zusammen, als er daran dachte wie klein und zerbrechlich sich Clarence in seinen Armen angefühlt hatte - allen Lebens beraubt. Energischer drängte er daraufhin seinen Kopf gegen das Gesicht des Größeren, die Finger noch immer in dessen Bart verkrallt.
Matt, der schon so oft Entsetzen und Panik gespürt hatte, konnte sich nicht erinnern das er sich jemals ängstlicher und hilfloser gefühlt hatte als jetzt.
Noch immer erinnerte er sich an alles. An die Sonne, an die menschenleeren Straßen, an das Eichhörnchen mit den zwei Köpfen... er erinnerte sich an das Holzfällerhemd das Clarence getragen hatte.
Und er erinnerte sich an den Geruch der Bücherei, daran das sie in Reihe Fünf nach Clarence‘ Büchern suchen sollten.
Kein Detail des Erlebten verblasste, nicht ihr Ausflug, nicht Clarence‘ Selbstmord.
Matthew erbebte in den Armen seines Mannes und löste sich ein winziges Stückchen - nur weit genug das ihre Lippen sich nicht mehr berührten.
Dann öffnete er die Augen einen Spalt und sah hinunter. Er sah die zartrosa Lippen, den blonden Bart, den dunklen Pullover den Clarence trug.
Sein Blick, obgleich tränenverschleiert, offenbarte kein rot-kariertes Hemd und kein Blut. Er schniefte einmal, wischte sich fahrig mit einer Hand über die Wangen um die Tränenspuren zu beseitigen und legte die Hand dann sofort zurück an Clarence‘ Wange. Man musste ihm nicht in die Augen sehen um zu erkennen wie aufgewühlt und entsetzlich überfordert der junge Mann war.
Er biss sich auf die Unterlippe und hob schließlich, ganz flüchtig, den Blick in das Gesicht seines Mannes. Kurz nur, nicht lange genug um sicher sein zu können, dass der Mann der ihn hielt wirklich lebendig war.
Aber zumindest waren die vertrauten Augen nicht leer und matt gewesen, kein Blut war ihm aufgefallen am Hals und im Haar. Also... hob Cassiel den Blick erneut, scheu und noch immer ängstlich, aber dieses Mal getraute er sich richtig hinzusehen.
Und dabei erkannte er seinen Mann. Erkannte die Lebendigkeit, erkannte die Tränen in seinen Augen und den Schmerz in seinem Antlitz.
Blaue Farbe schimmerte an seiner Haut, aber diese täuschte nicht darüber hinweg, dass Clarence wirklich bei ihm war.
„D-du lebst...oh G-Gott ich danke dir, d-du lebst...“, stotterte Matthew mit tränenerstickter Stimme und schluchzte erneut auf, warf sich regelrecht gegen den Größeren und schlang beide Arme um dessen Nacken.
Kleine aber feste Küsse fanden ihren Weg auf Clarence‘ Schopf, seinen Hals und die Schultern. „Ich hab gedacht...ich h-hätte d-dich verloren.“
Und was das für ihn bedeutet hätte...war nicht weniger als der eine einzige Verlust, den zu ertragen er nicht im Stande wäre.
Nicht damals, nicht heute und nicht in Zukunft.
Es war ein Gefühl der stillen Erleichterung und der Liebe das der Ältere verspürte just in dem Augenblick, als Cassie sich endlich die Hände vom Gesicht nehmen ließ. Wie bei einem stehen gebliebenen Zahnrad, welches sich endlich für wenige Millimeter bewegte – eine Geste die noch nicht bedeutete dass alles wieder heil und in Ordnung war, aber sich wenigstens etwas regte anstatt in angsterfülltem Stillstand zu verharren, auf dass nie wieder zu reparieren wäre was in die Brüche gegangen war.
Obwohl der ehemalige Söldner ein stattlicher Kerl war, schmal und wenig vielleicht aber durchaus von sehnigen, definierten Muskeln durchzogen auf die der Jäger so sehr stand, fühlte sich Matthew an diesem frühen Morgen unglaublich winzig und zerbrechlich an unter seinen starken Bärentatzen. Als könnte eine einzige unüberlegte Handhabung ihn in der Mitte durchbrechen lassen oder etwas in tausende kleine Splitter zerbersten durch eine Unachtsamkeit des Größeren, zu zerteilt in alle Himmelsrichtungen, als dass Claire ihn jemals wieder würde zusammensetzen können.
Das Zögern, das Vermeiden seines Anblickes, all das entging ihm nicht und Clarence spürte deutlich, sein Mann war grundlegend verstörter als er ihn jemals zuvor erblickt hatte. Die Angst des Dunkelhaarigen saß tief und zwar aus einem Grund, den auch der Christ nur allzu gut nachvollziehen konnte.
Wenn etwas mit einem selbst passierte, war es das eine. Man mochte keine Kontrolle mehr haben, Schmerzen leiden, sich nicht gewiss sein etwas zu überleben oder nicht. Aber letzten Endes: Es ging um einen selbst und worin auch immer das Szenario gipfelte, in dem man sich befand, man entschied selbst welche Gedanken man hegte: ob man sich seiner Angst hingab, den eigenen Tod provozierte oder kämpfen wollte um das, was einem geblieben war.
Zusetzen zu müssen wie jemandem den man liebte Leid widerfuhr… das war eine gänzlich andere Geschichte und weil auch Claire damit hätte Bücher füllen können, verstand er umso besser, was gerade in dem Mann vor seiner Brust vor sich ging.
Sie waren keine unbeschriebenen Blätter. Es gab nicht das große Unbekannte das vor einem lag, würden sie den anderen wirklich verlieren und selbst alleine zurück bleiben. Sie wussten was kam, kannten den unendlichen Schmerz der tief saß – und jedes Mal noch mehr schmerzte als das Mal zuvor, weil die Reste immer wieder aufs Neue aufgewirbelt wurden.
Clarence hatte seine Eltern sterben hören, hatte Benedict verbrennen sehen… wenn auch zu großen Teilen emotionslos dank dem Zutun seiner damaligen Frau. Schließlich hatte auch die Hexe gebrannt und zu allerletzt… war das wichtigste vor seinen Augen gestorben, das er zur damaligen Zeit gehabt hatte.
Jeder neue Tod, jeder Verlust, brachte neuen Schmerz hervor und Clarence wusste unumstößlich: Müsste er Matthew jemals hergeben, es wäre sein Ende.
Hätte es dem traumartigen Zustand ausgereicht dass ein einfacher Tod reichte, er hätte niemals und zu keiner Zeit seinen Ehemann erschießen können und wäre ihm nicht bewusst gewesen, alles war nur Illusion, auch er hätte nicht gewusst wie er mit der vermeintlichen Selbsttötung seines Geliebten umgehen sollte, hätte Cassie es zuerst getan.
Der Anblick seines zerfetzten Schädels, wenn der andere denn so weit an ihn heran getreten war, musste furchtbar für den Jüngeren gewesen sein, ein Bild das jede Verstörung rechtfertigte und Clarence nicht darüber urteilen ließ, in welchem Zustand sein Partner sich gerade befand. Ihre Beziehung war schon lange nicht mehr geprägt von Zurückhaltung oder davon sich zusammenzureißen; sie mochten nach außen hin zwei raue Kerle sein, die da gemeinsam durch die Welt zogen, aber das machte sie nicht frei von Emotionen und seitdem sie sich dazu entschlossen hatten sich als Liebespaar zu versuchen, hatte es selten eine Regung gegeben, die sie voreinander versteckt hielten – ein Umgang den Clarence insbesondere an ihnen schätzte und ihre Bindung so ehrlich machte wie bei wenigen Geliebten heutzutage.
Ohne ihn zu drängen ließ Clarence seinen Mann machen, beobachtete wie Cassie sich ihm langsam zuwandte und spürte schließlich die vertrauten Finger, die sich heute auf andere Art und Weise als sonst in seinem Bart einfanden. Sie waren… zittrig, die Geste verängstigt. Halt suchend aber auch findend, als wollten sie seinen nie wieder im Leben los lassen aus Furcht, der Bär von Mann könnte dem Jüngeren sonst ein weiteres Mal abhandenkommen.
„Ist schon gut, mein Kleiner…“ wehte es warm und beinahe schon versöhnlich über die Lippen des Bärtigen, immerhin hatte er seinem Partner eine Menge zugemutet. Vorsichtig streichelte er über die fremde Flanke und ließ geschehen, dass Cassie ihn der Möglichkeit jeder weiterer Worte beraubte, indem er die eben noch flüsternden Lippen sehnsüchtig mit den seinen einfing.
Der Kuss, den Matthew ihm schenkte, entbehrte jeder Sinnlichkeit und wahrlich, diese war angesichts der Situation auch weitab in die Ferne gerückt. Stattdessen war es Sehnsucht die aus der Liebkosung sprach, Furcht, aber auch Erleichterung über das, was verloren geglaubt und doch zu Cassie zurück gekehrt war. Nähe suchend drängte auch Clarence sich dichter an seinen Mann, darunter einen Kuss beschwörend der kaum mehr sanft war oder zärtlich; aber darum ging es auch gerade nicht. Es war wichtig einander zu spüren und zu schmecken, die Wärme des anderen in sich aufzunehmen und zu begreifen, dass ihre Welt nicht noch mehr kaputt gegangen war, als sie sich sowieso schon zeigte.
Mit von Tränen feuchten Wimpern wanderten Claires Augenlider, als er Cassie musterte nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. Der Schock, den sein Mann erlitten hatte, stand diesem noch immer ins Gesicht geschrieben und doch erahnte er zusehends das Erkennen in den kandisfarbenen Iriden des Jüngeren, während dieser es erstmals wagte ihm wahrhaftig wieder ins – noch oder wieder heile – Antlitz zu blicken.
„Hi Schönheit...“ – ein zart einladendes Lächeln legte sich über Clarence‘ Lippen dessen Stimme klang, als redete er auf einen verängstigen Hund ein den er anlocken wollte – aber irgendwie war es ja gerade nicht wirklich etwas anderes als das, so wie Cassie schließlich seine Scheu überwand um die Arme um seinen Hals zu schlingen. „Das hört Gott s-sicher gerne, dass du ihm dankbar bist…“
Vorsichtig, da der Kleinere so zerbrechlich wirkte wie eh und je, schlang Claire eine Hand um dessen Schenkel um ihn sorgsam auf seinen Schoß hinauf zu ziehen. Weg von der Kälte des Erdreiches unter ihnen und mit den Füßen zu ihnen in den Schutz der Dunkelheit, denn ihnen den Moment nehmen zu lassen durch die Wesen die dort draußen vielleicht noch immer waren, das würde Clarence nicht zulassen. Fürsorglich zog er den Mantel fester um sie und weiter über ihre Häupter hinauf, sie verbergend für suchende Blicke und die Küsse des Jüngeren genießend, als er beide Arme fest zurück um den Rücken Matthews schlang.
„Ich g-geh dir niemals verloren… hörst du? Dafür... d-dafür hab ich gar keinen Grund“, wisperte er leise ins dunkle Haar seines Partners, mit den Händen immer wieder behutsam dessen Rücken hinauf und herunter streichelnd. „Ich hab keinen Grund zu gehen, so… so g-glücklich wie du mich machst. Dein Bär verlässt d-dich niemals, nicht in tausend Jahren. Dafür liebe ich dich… viel zu sehr.“
Zu sehr um sich von ihm zu trennen, sich das Leben zu nehmen oder zuzulassen, jemals könne ein Dritter sie entzweien. Cassie war sein Zuhause, sein Glück… seine Zukunft und alles andere sonst, was Clarence jemals im Leben gesucht hatte um es schließlich in seinem Mann zu finden.
Erleichtert über die Zuwendung, die Matthew ihm schenkte, vergrub er sein Gesicht tief in der Halsbeuge des auf seinem Schoß Sitzenden und sog dessen beruhigenden Duft ein. Noch immer hielt er ihn dabei fest umschlungen, damit Cassie auch wirklich begriff ihn nicht mehr entbehren zu müssen, und wäre am liebsten bis zur Mittagszeit mit seinem Mann in diesem dreckigen Erdloch verkrochen geblieben, damit die Gefahren für den Heimweg gebannt blieben.
„W-Wir waren… von einer Art Geister verschleppt, die uns in Schlaf versetzt haben um uns gefügig zu m-machen. Alles war… nur eine Illusion. Hörst du? Miami… die Bücherei…“, versuchte er dem Jüngeren vorsichtig zu erklären war passiert war. Zaghaft hob er den Kopf aus Cassies Hals, sich widerwillig lösend, aber dafür den Blick des anderen suchend der gerade genauso wichtig war. „Wir sind wieder wach, mein Herz und… uns geht es gut. Aber wir müssen n-noch ein bisschen… ein b-bisschen leise sein, weil wir uns versteckt haben bis die Sonne etwas weiter am Himmel steht, okay?“
Liebevoll nahm er eine Hand von Cassies Rücken um stattdessen mit den Fingern durch seine dunklen Haare zu kämmen, ihm einen warmen Kuss auf die salzigen Lippen drückend.
„So lange bleiben wir einfach hier… und wärmen uns gegenseitig. Das konnten wir schon seit der ersten Frostnacht immer ganz gut, findest du nicht?“
So aufgelöst Matthew auch war, so wundervoll war Clarence zu ihm.
Der Blonde fand instinktiv genau die richtigen Worte um den Jüngeren wieder zu erreichen, ihn begreifen zu lassen, dass sie wieder beieinander waren - lebendig und wohlauf.
Zwar konnte der Dunkelhaarige das Lächeln seines Mannes aktuell nicht erwidern, aber er nahm es wahr und es berührte ihn auf einer Ebene, wie Worte allein es nie gekonnt hätten.
Clarence war da, war bei ihm und was auch immer er in der Bücherei Miamis zu erleben geglaubt hatte, es war nicht real gewesen.
Der Kuss seines Mannes war real, sein Lächeln war real, seine beruhigende Stimme war real und auch seine Tränen waren real.
Matthew atmete tief durch und blinzelte in der Dunkelheit ihres behelfsmäßigen Unterschlupfs. Noch immer war seine Sicht verschwommen von den vielen Tränen, aber was er im spärlichen Licht ihres Lagers erkannte war sein lebendiger und wunderschöner Ehemann und allein das war schon Grund genug zur Euphorie.
Nur widerwillig gab er den geliebten Bart des Größeren frei, aber nur um Clarence mit den Fingern über Stirn und Wange zu streichen, im Versuch die blau schimmernde Farbe abzuwischen.
Selbiges gelang ihm nicht wirklich, denn er konnte den Handabdruck zwar verschmieren, aber nicht entfernen.
Verwirrt und noch immer sichtlich überfordert mit den Ereignissen die sich - zumindest aus seiner Sicht - überschlagen hatten, musterte er Clarence und gab seinen Versuch ihn von der Farbe zu befreien schließlich auf. Stattdessen schmiegte er seine Stirn gegen die des Größeren, machte die Augen wieder zu und streichelte stattdessen durch die weichen, goldenen Haare. Sie waren nicht verklebt von Blut und Gehirnmasse und an Clarence‘ Hinterkopf tat sich kein Loch auf welches durch eine Kugel hineingerissen worden war.
Die Art wie sich das seidige Blond unter seinen Fingern anfühlten war vertraut und im Augenblick tat Cassie alles gut, was vertraut war.
Er hatte schon oft schlecht geträumt, Alpträume waren besonders in seiner Kindheit und frühen Jugend etwas alltägliches gewesen. Manche waren einschneidend und er hatte sich länger an sie erinnert als an andere, aber noch nie hatte sich ein Traum so angefühlt wie das was hinter ihnen lag.
Er erinnerte sich an alles, an tausend kleine und unbedeutende Details und es kam ihm vollkommen surreal vor, dass nichts davon wirklich geschehen sein sollte.
Kräftig schlangen sich die Arme des Größeren um seinen Rücken, gaben Cassie das Gefühl angekommen und sicher zu sein.
Was Clarence‘ vermeintlicher Tod in ihm ausgelöst hatte war mit Worten nicht zu beschreiben und nun da er ihn wieder zurück hatte, war es nichts anderes als reine Erlösung.
Man konnte ihm alles wegnehmen, jeden Besitz, jeden Wunsch, jedes Ziel. Er würde sein Augenlicht hergeben, seine Hände und Beine. Alles was er hatte konnte er entbehren - nur nicht Clarence.
Er schluchzte leise bei den Worten des Blonden als dieser es sich nicht nehmen ließ ihm zu versprechen, ihm niemals verloren zu gehen.
„Ich kann nicht...n-nicht ohne dich l-leben, v-verstehst du das? Ich k-kann nicht.“ - schniefend löste er sich von Clarence um ihn anzusehen. Dieser Mann war alles worauf es in Matthews Leben ankam und er hatte mehr als Todesangst um ihn empfunden.
Widerstandslos ließ sich der Kleinere auf den Schoß seines Mannes ziehen, schlang die Arme erneut um dessen Nacken und starrte an der starken Schulter vorbei auf das dunkle Wurzelgeflecht an dem Clarence mit dem Rücken lehnte.
Was passiert war, wäre sicher eine naheliegende Frage gewesen, aber Matthew stellte sie nicht. Er war viel zu aufgewühlt um klar denken zu können und so nahm er die Erklärung seines Mannes nur still zur Kenntnis.
Das Zittern seines Körpers war etwas weniger geworden, auch wenn es noch nicht zur Gänze wieder abgeklungen war. Es rührte nicht von der Kälte her, sondern vom Schock unter dem er noch immer stand.
In seinem Kopf ging er die Ereignisse erneut durch, erinnerte sich an die kryptischen Botschaften seines Mannes, an die Frage danach ob er ihm überallhin folgen würde und daran wie er bejaht hatte. Jetzt war ihm klar was Clarence gemeint hatte, aber in Miami hatte er einfach nicht verstanden was vor sich gegangen war.
„Ich...ich erinnere m-mich an alles. W-wie k-kann es sein dass...alles nur ein T-Traum war?“, wollte er schließlich kleinlaut wissen.
Eigentlich wollte er auch erfahren wo genau sie sich gerade befanden, hatten sie Miami je betreten und je zu Gesicht bekommen? Je weiter er in seiner Erinnerung an den Ausflug zurückging umso mehr verwirrte ihn das Geschehene.
Was Traum und was Realität gewesen war, war aktuell untrennbar miteinander verwoben und Cassiel fand keinen Anhaltspunkt das Gewirr aufzulösen.
Den dröhnenden Kopf wieder auf Clarence‘ Schulter ablegend, küsste er dessen Hals, genau an die Stelle wo er ihn auch in der Bibliothek geküsst hatte, vor wenigen Minuten erst wie es Matt vorkam.
Aber dieses Mal spürte er das leichte Pulsieren unter seinen Lippen und die Arme die ihn hielten waren nicht schlapp und leblos.
„Wenn das hier...ein Traum ist...u-und das andere d-die Wirklichkeit...“, ganz leise flüsterte er gegen die warme Haut seines Mannes, die Augen wieder geschlossen haltend.
„Dann...will ich n-nicht zurück, h-hörst du? Ich w-will keine Realität in d-der du nicht bist.“ lieber wäre er den Rest seines Lebens in einer Traumwelt gefangen, selbst wenn es ihn umbringen würde. Aber ein Leben ohne Clarence war keine Option.
Liebevoll gab Cassiel dem Blondschopf einen Kuss auf die Wange und schmiegte sich noch ein bisschen fester an ihn.
Wie lange beide jungen Männer auf diese Weise aneinander geschmiegt blieben konnte Matt nicht bestimmen. Er dämmerte nochmals weg, in einen traumlosen und oberflächlichen Schlaf, behütet von dem Mann den er liebte.
Erst als dieser sich unter ihm zu regen begann, umsichtig zwar aber eben doch spürbar, öffnete Cassie die Augen wieder. Anders als bei seinem ersten Erwachen am heutigen Tag, war er dieses Mal nicht völlig orientierungslos und verwirrt.
Langsam richtete er sich auf, löste eine Hand von Clarence‘ Nacken und wischte sich durchs Gesicht.
Seine Beine waren eingeschlafen und sein Rücken tat ihm weh, entsprechend verzog er erstmal unbehaglich das Gesicht.
„Geht‘s dir gut, Baby?“, wenn er sich schon stocksteif fühlte, wie musste es da erst Clarence gehen der die ganze Zeit auf dem kalten Boden gesessen hatte, mit ihm als Gewicht auf dem Schoß? Augenblicklich überkam Matthew ein schlechtes Gewissen und er rutschte ungelenk seitlich von den Beinen seines Mannes herunter.
Vorsichtig lugte er an dem Mantel vorbei und kniff ob der plötzlichen Helligkeit die Augen wieder etwas zusammen.
Aus frühen Morgenstunden war ein Vormittag geworden, die Nebelschwaden hatten sich aufgelöst und statt dicht verhangenem Grau, konnte Cassie vereinzelte blaue Stellen am Himmel zwischen den Baumkronen entdeckten.
Vögel zwitscherten geschäftig und aus dem Morgenreif waren Tautropfen geworden. Auch der Atem kondensierte nicht mehr vor seinen Lippen und die Luft war zwar nicht wirklich warm, aber auf jeden Fall mild.
Der Wald der sie umgab kam Matthew in keiner Weise bekannt vor und doch zweifelte er einen Moment an sich weil ihm so war, als fehle etwas.
Völlig zerzaust und blässlich aussehend steckte er den Kopf weiter aus ihrem Lager und sah sich um.
Dann sah er an sich herunter, erkannte die ledernen langen Handschuh an seinen Armen, seine Jagdweste mit der fellbesetzten Kapuze und die schwarzen Jeans.
Es dauerte einen für Cassie unüblich langen Augenblick bis er begriff was fehlte.
„Mein Bogen...ich..“, er zögerte kurz und sah zu Clarence neben sich.
„Ich war jagen...ich wollte...unsere Vorräte aufbessern...“ Fragend schaute er seinen Mann an. Diese Erinnerung passte nicht zu den Erinnerungen an Miami, was ihn einigermaßen verwirrte.
„Oder? Ich...weiß nicht an was ich mich erinnere...ich...“, er schüttelte den Kopf, so als würden dadurch die verschiedenen Erinnerungen in die richtige Reihenfolge gebracht werden.
„Wenn ich jagen wollte... wo sind dann meine Sachen?“, bis auf die Kleidung an seinem Leib hatte er augenscheinlich nichts bei sich - aber ohne Pfeil und Bogen war er unmöglich losgezogen, nicht wenn diese Erinnerung nicht auch nur Illusion war. Aber selbst das konnte er nicht sicher ausschließen- weshalb er hilfesuchend Clarence anschaute, in der Hoffnung er konnte für ihn den Wust an Verwirrung auflösen.
Still und von der Dunkelheit verschlungen saß er da, die Beine halb zum Schneidersitz verknotet und mit dem Rücken gegen die gefrorenen Wurzeln gelehnt, die ihnen Schutz spendeten. Auf seinen Schenkeln schlummerte er, der wohl schönste aber auch gleichfalls sicher erschöpfteste Mann der Welt und nichts und niemand würde kommen und ihn dem Blonden an diesem Tag je wieder entreißen können.
Schutz und Halt spendend lag sein Arm um Cassies Rücken, behütete was ihm am meisten bedeutete. In der anderen Hand hielt Clarence aufmerksam seinen Revolver, die Munition im Anschlag welche endlich wieder wie gewohnt silbern schimmerte und die sie vor allem bewahren würde, das drohte sie einander zu entzweien. In der letzten Stunde hatte er das zittrige Beben des fremden Körpers sachte abflauen gespürt, seine eigenen Beine einschlafen und das Sonnenlicht vor ihrem Versteck aufsteigend; aber er hatte sie auch gehört, die Geräusche aus dem nahen Dorf. Das Rumpeln und das Entdecken der geflohenen Beute aus dem verlassenen Haus, die damit verbundene Aufregung… und ebenso die Ruhe die schließlich eingekehrt war, als man wohl beschlossen hatte die Suche erst am Abend wieder aufzunehmen.
Es war ihr ausgesprochenes Glück, dass die Vetala nachtaktive Wesen waren und die frühen Morgenstunden ihr Komplize auf der Flucht, die zwar komplikationslos aber deswegen nicht weniger gefährlich vonstattengegangen war. Anstatt den umgestürzten Baum mitten im Wald zu finden, hätte Clarence mitsamt seinem Partner auch genauso gut den Wesen in die Fänge laufen können die versucht hatten sich von ihrem Blut zu nähren bis die wertlosen menschlichen Hüllen starben und doch…
Noch während Clarence vorsichtig versuchte seine platt gesessene Kehrseite etwas zu verrutschen um dem Schmerz im Hintern zu entgehen, so wurde dem Blonden ein Mal mehr bewusst, welch unverschämtes Glück sie trotz der dunkelsten Stunden ihrer gemeinsamen Zeit doch immer wieder verlebten. Sie waren menschenfressenden Spinnen entgangen trotz einem Sturz in die Unterwelt, sein Mann hatte einen zertrümmerten Schädel überlebt ohne für den Rest seines Lebens ins Koma zu fallen oder derbe bleibende Schäden davon zu tragen und selbst einer Horde Dschinn hatten sie ein Schnippchen geschlagen, indem sie ihren eigenen Selbstmord überlebt hatten.
„Ich kann nicht...n-nicht ohne dich l-leben, v-verstehst du das? Ich k-kann nicht“, hatte Cassie ihm vor wenigen Stunden weinend gesagt und Clarence hätte damals im Hause des Quacksalbers keine Waffe im Nachtschrank liegen gehabt, wäre es ihm anders gegangen. Mit einem leisen Seufzen lehnte er die Schläfe ans schlummernde Haupt seines Geliebten, sich gewiss wie sinnlos ein Leben ohne den anderen wäre – aber gleichfalls auch wie wertvoll und unbezahlbar die wenigen glücklichen Phasen miteinander, selbst wenn sie immer wieder von Tiefpunkten durchzogen waren. Lieber lebte Claire ein Leben mit Schrecken aber dafür auch mit Cassie, als ein endloses Leben voller Schmerz ohne den Jüngeren zu führen; schon längst war er in der kleinen Welt seiner eigenen Empfindungen zu einem Ganzen mit seinem Partner geworden, statt nur noch eine dickköpfige, einzelne Hälfte zu sein. Wo sein Mann war, da wollte auch Clarence hingehen und egal welchen Streit sie austrugen, den Teufel würde Claire tun keinen Ausweg oder gemeinsamen Nenner zu finden, um wieder beieinander zu sein.
„Mhh…“, brummte es leise im blonden Bart, kaum da nach einer gefühlten Ewigkeit wieder die zarte Stimme Cassies ertönte und ein beinahe schon sentimentales Schmunzeln legte sich dabei über seine Lippen, einem Menschen gleich, der nach viel zu langem Heimweh endlich nach Hause zurück kehrte. „Mir geht es immer gut, wenn du bei mir bist…“
Zwischenzeitlich hatte es mal kurz genieselt, eisigkalt waren die hauchzarten Tropfen vom Himmel gefallen, hatten sich aber schnell wieder von den ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages ablösen lassen. Wie auch der Regen von der Wärme verscheucht worden war, vertrieb Matthews leise Stimme die Kälte aus Clarence‘ Knochen und ließ den Schmerz seiner Gelenke in den Hintergrund rücken. Nur ungern gab der Bär von Mann den Jüngeren her, ließ ihn mit widerwillig zusammengezogenen Brauen von seinem Schoß rutschen; seinen Arm aber vom Rücken des anderen zu lösen, das würde er so schnell nicht mehr zulassen.
„Du wirst langsam wieder wacher… das ist ein gutes Zeichen“, ließ er Cassie erleichtert wissen und musterte das zerknautschte Antlitz seines Liebsten wachsam. Je mehr das magische Gift schwand, umso besser erkannte man den Unterschied zwischen Illusion und Realität und gleichfalls kehrten die Erinnerungen an das zurück, was von der fantastischen Reise geschehen war.
Die hellblauen Male auf dem fremden Gesicht begannen bereits zu verblassen und wenngleich er sich natürlich nicht selbst sehen konnte, so fühlte auch schon Clarence sich wesentlich zurechnungsfähiger als noch während ihrer Flucht aus dem Nest.
„Du bist zum Jagen los und warst ein paar Stunden weg, deshalb hab ich mir nichts dabei gedacht… aber dann sind Kain und Abel irgendwann ohne dich aus dem Wald zurück zum Boot gelaufen.“
Lautlos ließ er den Revolver in seinem Schoß los und spürte erst da wie steif seine Finger von der Kälte geworden waren; müde rieb er sich daraufhin mit den Fingern durch die Augen, sich schon jetzt nach der Ruhe auf ihrem Boot und dem warmen, weichen Bett sehnend das Schlaf und keine manipulierten Träume versprach.
„Ich hab meine Sachen gepackt und bin dich suchen gegangen. Irgendwann hab ich deinen Bogen mitten im Wald gefunden. - Keine Angst, dem geht’s gut“, warf er eilig ein, denn aus eigener Erfahrung wusste er wie schmerzlich es sein konnte, wenn man aus unterschiedlichsten Gründen an seinen Waffen hing. Man verband mit ihnen etwas, hatte sie gehegt, gepflegt und war auf ihre Eigenarten eingestimmt; und gerade beim Bogenschießen, so stellte sich Clarence das zumindest vor, war mal angesehen von der Vorgeschichte des guten Stücks bestimmt auch nicht jeder Bogen gleich zu schießen.
„Ich hab ihn sicher im Wald versteckt damit wir ihn später holen können und bin dann weiter. Deinem Köcher mit den Pfeilen bin ich nicht über den Weg gelaufen und ich hab sie auch vorhin nicht dort gesehen, wo wir aufgewacht sind. Aber wir finden sie, versprochen.“
Für einen kurzen Moment kam Clarence die alte Dame in den Sinn, die im Keller bei ihnen gelegen und noch gelebt hatte; sie würde den heutigen Tag sicher nicht überstehen aber egal wie man es abwog, sie würden heute kaum noch wieder in die körperliche Verfassung kommen einen Überfall ins Nest zu wagen um die Oma zu retten.
„Und wie ist es bei dir, mh? Wenn du dich besser fühlst… würde ich vorschlagen, wir schlagen uns bald nach Hause durch, versuchen auf dem Weg deine Waffen einzusammeln und dann verbarrikadieren wir uns. Für ein heißes Bad und ein weiches Bett würde ich im Moment so ziemlich alles tun.“
Für Matthew ergab das alles keinen Sinn. Er versuchte, die Geschehnisse in die richtige Reihenfolge zu bringen und auszusortieren was nicht wirklich passiert war, aber aktuell fiel ihm das noch schwer.
Verwirrt rieb sich der junge Mann über die Wange und blickte sich wieder im Wald um. Den Worten seines Mannes nach, hatte dieser sich auf den Weg gemacht um ihn zu suchen nachdem Kain und Abel ohne ihn wieder zum Strand gekommen waren.
An die Jagd an sich konnte Matthew sich nicht erinnern, aber vielleicht waren das Details, die sich irgendwann wieder in seinem Gedächtnis manifestierten.
Wieso hatte er seinen Bogen im Wald verloren oder abgelegt, den Köcher aber nicht? Wo war er auf diese Wesen gestoßen und wieso hatte er sie überhaupt so nah an sich herangelassen, dass sie ihm gefährlich werden konnten?
Auf all diese Fragen fand er keine Antworten, es war als fehlten ihm Puzzlestücken zu seinem eigenen Leben und das war kein gutes Gefühl.
Schweigend lauschte er Clarence‘ Ausführungen und schien von den Ereignissen noch reichlich überfahren. Die Hysterie war verflogen und Nachdenklichkeit gewichen, entsprechend wortkarg war er auch.
„Ich...fühle mich besser, ja.“, inwieweit das wirklich stimmte würde sich wahrscheinlich erst im Laufe der nächsten Zeit zeigen, aber jetzt gerade wollte er einfach nur weg.
Vetala mochten nachtaktiv sein oder von ihm aus auch nicht, es änderte sich nichts daran, dass sie nicht ewig hier bleiben konnten.
Und wenn sie nachtaktiv waren wieso hatten sie ihn dann am Tage erwischt? Es gab so viele Ungereimtheiten, so vieles was nicht zusammenpassen wollte und Matthew war sich ganz und gar nicht sicher, dass die Dinge so gelaufen waren wie sein Mann es ihm sagte.
Aber was auch immer erst ihn und später auch Clarence erwischt hatte, nochmal wollte Cassiel keine Begegnung forcieren und deshalb mussten sie weg von hier.
„Du bist...mir also gefolgt und...hast dich absichtlich fangen lassen? Damit wir... in den gleichen Traum kommen?“, fragte er schließlich zweifelnd. Er vertraute Clarence und stellte nicht seine Erklärung in Frage, doch konnte er aktuell einfach nicht verstehen wie es möglich war, dass sie in den gleichen Traum gerieten.
Aus seiner Sicht ergab das gar keinen Sinn.
„Vielleicht... sollten wir jetzt besser gehen und... du erklärst mir das alles wenn wir zurück sind.“ Matthew rappelte sich ungelenk auf und strich sich durch die Haare als er stand. Die Zeit die er geschlafen und den Vetala als Nahrung gedient hatte war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.
Er war blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen und der Kontrast der bunten Bilder und dem fast schon milchigen Weiß seiner Haut ließ ihn beinahe selbst geisterhaft aussehen.
Dazu kam der unsichere, nachdenkliche Blick mit dem er seine Umgebung aber auch Clarence betrachtete. Mit Sicherheit war es ein gutes Zeichen, dass er sich bruchstückhaft wieder zu erinnern begann was wirklich passiert war, aber zumindest bisher verblasste die Illusion der Kreaturen deshalb nicht.
Miami kam ihm nicht vor wie ein Traum, die Steinhaut tat es nicht, der Selbstmord seines Mannes ebenso wenig.
An jedes Detail ihres Ausflugs konnte er sich erinnern, so als sei nichts davon Illusion und Traum gewesen. Coral Valley, Cascade Hill...diese Stationen waren in seiner Erinnerung nicht realer als Miami - obgleich er jene Metropole noch nie gesehen hatte und derzeit auch kein Interesse hegte sie jemals zu betreten.
Es fiel dem jungen Mann gegenwärtig sehr schwer zu begreifen, dass nichts von dem was sie erlebt hatten wirklich passiert war.
Die maßlose Erleichterung darüber war noch immer allgegenwärtig und immer wenn er Clarence ansah, verspürte er die unglaubliche Angst dass das hier vielleicht der Traum war und der Vorfall in der Bücherei die Realität.
Die quälende Frage danach was wäre wenn er aus diesem Traum aufwachen würde um festzustellen, dass sein Geliebter mit einem Loch im Hinterkopf an einem Bücherregal lehnte.
Die Logik sagte ihm, dass er jene Angst nicht zu haben brauchte, aber die Logik hatte ihm in dem Alptraum selbst auch nicht geholfen. Also worauf sollte er sich noch verlassen können, wenn nicht auf seinen Instinkt?
Wortlos streckte Cassiel die Hand nach seinem Mann aus um ihm zu helfen auf die Beine zu kommen, denn gemessen daran wie verspannt er sich fühlte, musste Clarence stocksteif sein, immerhin hatte er Matthew als Kissen gedient.
Als der Blonde seine Hand ergriff betrachtete der Jüngere dessen freigelegten Unterarme wo der Pullover nach oben gerutscht war. Sie waren unversehrt und wiesen keine klaffenden Wunden von der Kollision mit der Steinhaut auf.
Nichts musste genäht werden, nichts verbunden...
Umsichtig zog Cassie die Ärmel wieder nach unten, bückte sich und hob die Jacke auf unter der sie beide bis eben noch versteckt gewesen waren.
Er putzte sie etwas ab, entfernte Schmutz und Laub und reichte sie dann an Clarence, der reichlich durchgefroren aussah.
„Mir ist nicht kalt, keine Sorge.“, erklärte er ungefragt, weil er wusste der Größere würde sonst darauf bestehen ihm den Mantel zu überlassen.
„In unserem Traum...in der Bücherei...“, fing er abermals an, unfähig das Geschehene einfach hinter sich zu lassen und in der Gegenwart weiterzumachen.
„Da war diese Frau... sie hat uns gesagt wo wir die Bücher finden...“ Sie hatte ihn zu Tode erschreckt, auch daran konnte Matthew sich noch in aller Klarheit erinnern.
Sie hatte sie außerdem darum gebeten die Bücher nicht zu klauen... wie die Plünderer. Im Nachhinein war ihre bloße Anwesenheit schon vollkommen surreal gewesen und ihre Äußerungen waren vollkommen deplatziert gewesen. Die Stadt war verlassen, die Bibliothek so verwaist wie alle Gebäude der einstigen Metropole. Die Wahrscheinlichkeit das irgendwer dort saß um Literaturinteressenten zu beraten ging gegen Null. Aber obgleich ihm das im Traum merkwürdig erschienen war, so hatte es außer Verwunderung nichts in ihm ausgelöst.
Weder Kain noch Abel hatten auf sie reagiert und auch wenn sie wie ein richtiger Mensch erschienen war, hatte ihn gleichfalls etwas stutzig gemacht.
Ihr hatte der Glanz in den Augen gefehlt. Irgendwie war sie matt gewesen und...unwirklich. Trotzdem hatte Matthew nicht begriffen was los war.
„Fünfter Gang...Regal C.“, nachdenklich und geradezu abwägend sah er Clarence an. Der Blondschopf schien von den Ereignissen nicht halb so verwirrt und mitgenommen, was vermutlich daran lag, dass es für ihn nicht das erste Mal gewesen war, dass er dergleichen erlebt hatte.
„War sie...echt? Eine reale Person in unserem Traum?“ Die ältere Dame war nicht die einzige Begegnung die sie gemacht hatten, da war noch eine junge Frau in weißem Kleid gewesen. Matthew erinnerte sich an die aufgeschürften Knie und Schienbeine, an das zerrissene Kleid und die blau-violette Marmorierung ihrer Haut. Sie hatte schon in seiner Erinnerung mehr tot als lebendig gewirkt und sollte auch sie ein echter Mensch sein, gefangen in der Illusion der Vetala so glaubte Matthew nicht, dass sie noch lebte.
Dem Blick seines Mannes nach zu urteilen existierte die alte Frau wirklich, der Hüne musste nicht antworten, Matthew erkannte die Wahrheit in seinen Augen und er presste die Lippen angespannt aufeinander.
Oh er hatte die Dame weder wirklich gekannt, noch hatten sie viele Worte miteinander gewechselt, aber dessen ungeachtet...empfand Matthew Mitgefühl für sie. Sie war keine Kulisse gewesen, sondern real und sie hatte nicht das Glück einen Clarence zu haben der sie suchte, der wusste was zutun war und der sie rettete. Und deshalb... war die nachfolgende Frage ebenso typisch und charakterbezeichnend für Matthew, wie sie auch potentiell gefährlich war, da Mitgefühl etwas war, dass man sich nicht zu leisten pflegte in den Zeiten in denen sie lebten. „Was...wird jetzt aus ihr, wenn wir gehen?“
Still und abwartend erwiderte Clarence den nachdenklichen Blick seines Mannes, der so viel mehr ausdrückte als Cassie im Augenblick vielleicht bewusst war. Alles was er als echt und greifbar angesehen hatte, war zu nichts als einer großen Lüge verkommen und die Dinge die er gespürt und empfunden hatte, nichts anderes als die Verwirrtheit eines eigentümlichen Traumgebildes.
Clarence kannte all diese Facetten des Lebens und seiner Arbeit. Er wusste wie es war morgens aus unruhigen Träumen zu erwachen die sich echt angefühlt hatten, die Schwere die einem in den Knochen lag und die Trägheit im Kopf wenn man versuchen musste alles wieder in eine geregelte Ordnung zu bringen, filternd was Realität war und was der verschwitzten Nacht geschuldet. Er kannte das alles verzehrende Gefühl der hoffnungsvollen Verzweiflung, wenn ein Mensch den man liebte verstarb und man darum flehte, alles möge nur Traum gewesen sein; und er kannte sie, die verfluchten Dämonen und Geister mit ihren Fähigkeiten fernab dieser Welt.
Nicht nur einmal hatte der Blonde sich in der Traumwelt der Vetala befunden und abwägen müssen, ob er den waghalsigen Schritt wagte sich das Leben zu nehmen oder nicht. Verließ man sich nicht alleine auf sein Gespür und besaß Selbstvertrauen, nichts und niemand garantierte einem, dass man am anderen Ende des Tunnels tatsächlich wieder erwachte und hoffentlich unversehrt war.
Und wenn dem doch der Fall war… was garantierte einem dann, dass man wieder dort war, wo man hin gehörte? Dass man unwissend nicht wieder in Schlaf versetzt worden war oder noch schlimmer, die Dinge weit vertrackter waren als eine Horde tollwütige Dschinn, die es auf einen abgesehen hatten?
All diese und noch mehr Fragen erkannte er in den kandisfarbenen Iriden seines Mannes, weshalb Claire nur zögerlich nach dessen Hand griff um sich schließlich wieder in die Senkrechte helfen zu lassen. Er mochte es sich vielleicht einbilden, aber beinahe hörte Clarence darunter seine eingefrorenen Gelenke knarren wie bei einem alten Mann und wenn Matthew ihm durch weitere Vorfälle wie die der letzten Wochen die Nerven raubte, womöglich alterte der Schamane dann tatsächlich fünf Mal so schnell wie seine gleichaltrigen Mitbürger es tun würden.
Umständlich kam er wieder auf die Beine, streckte seinen schmerzenden Rücken durch und holte tatsächlich gerade Luft um seinem Mann den Mantel anzudrehen, nur um zu erkennen dass das nur wenig Sinn machen würde, so wie der Dunkelhaarige ihm direkt das Wort abschnitt. Cassie konnte sehr dickköpfig sein was sein eigenes Wohl anging, aber in dem Bereich standen sie sich tatsächlich in kaum etwas nach und dementsprechend hatte Clarence auch nicht besonders das Recht auf seiner Seite, sich über die Sturheit des Jüngeren zu beklagen.
Noch während Matthew versuchte das Erlebte in die richtige Reihenfolge zu bringen, beäugte der Bär von Mann seinen Partner kritisch als er den gepackten Rucksack aus dem Dreck des Wurzelgeflechts hinauf fischte. Er kannte den übermütigen Taugenichts mittlerweile gut genug um zu wissen, dass ihm zwar generell nichts so heilig war wie er selbst und sein Baby, danach kamen die Hunde; trotz des gewissen Hauchs von Eitelkeit war Cassie jedoch noch nie jemand gewesen, der die Augen ernsthaft vor dem Leid der anderen verschloss um blind zu werden für die Geschehnisse um ihn herum. Schon in Coral Valley hatte er eingesessen um die Ehre und die Unversehrtheit eines jungen Mädchens im Bordell der Hurenkönigin zu verteidigen, später hatte er versucht sich für Sally Mitchell einzusetzen, nur um daran zu scheitern und seinen Gatten tagelang mit Schweigen zu strafen.
Heute war es die alte Dame aus der Bibliothek, die Matthew – begründet – in ihren Bann zog und die jede Hilfe gebrauchen konnte, zumindest wenn sie nicht von zwei halb verhungerten Kerlen kam, von denen selbst nicht mehr übrig geblieben war als ein Häufchen Elend im mutterseelenverlassenen Wald. Mittlerweile schien die Sonne durch die kahlen Äste hindurch und vereinzelt erfüllte Vogelgezwitscher die scheinbare Idylle, sodass es ein Leichtes gewesen wäre ihre Mitgefangene zu verdrängen und einfach voran zu schreiten in einen neuen Tag, der Besseres versprach. Aber das wäre nicht Matthews Charakter und wenn Clarence ihn für eines liebte, dann für seine unumstößliche Art und die Weise, wie er in die Welt hinaus blickte.
Nachdenklich leckte Clarence sich über die Lippen und schwieg einen Augenblick, ein untröstliches Zeichen dafür wie real die alte Dame tatsächlich war. Weder konnte, noch wollte der Blonde seinen Mann darüber anlügen dass sie nicht die einzigen in den Fängen ihrer Häscher gewesen waren und dennoch sah man dem Älteren deutlich an, wie wenig ihm die unausgesprochenen Gedanken seines Partners gefielen.
„Diese Wesen ernähren sich vom Blut ihrer Beute und sie war die einzige, die heute Morgen außer uns noch gelebt hat… von daher…“, zögerlich quälte er sich zurück in die Schultergurte seines Rucksacks, der sein Gleichgewicht unter den schmerzenden Beinen nicht gerade stabilisierte. Dass sie geflüchtet waren, war bereits einige Stunden her und Clarence wagte ernsthaft zu bezweifeln, dass die Frau auch nur noch im geringsten irgendwie lebendig war – aber nur weil er selbst der geborene Pessimist war, bedeutete es nicht auch das Gleiche für Cassie.
Weder hatte er Lust sich für eine völlig Fremde, die dem Tode geweiht war, noch mal in Gefahr zu begeben; noch fühlte sich der Hüne, als würde er für einen derartigen Aufwand aktuell noch die Kraft besitzen. So wie Cassie aussah – blass, eingefallen und völlig jenseits dessen wie Claire ihn je erlebt hatte – wollte er seinen Mann einfach nur noch aufs Boot, in die Wanne und anschließend ins Bett tragen, um ihm dort den Schlaf seines Lebens zu gönnen. Kein Mensch auf dieser großen weiten Welt war ihm so wichtig wie der Jüngere und wenn er die Wahl hatte jemand Fremden zu retten oder die Liebe seines Lebens vor weiterem Schaden zu bewahren, würde er sich immer für Letzteres entscheiden; auf der anderen Seite, und dessen war sich Clarence bewusst, stand der Dunkelhaarige noch immer neben sich.
Vielleicht würden in ihm, wenn er sie noch nicht hegte, früher oder später Zweifel aufkommen, ob das hier nun wirklich real war oder weiterhin Illusion. Er würde sich fragen warum er der Gefahr nie wirklich ins Gesicht blicken konnte wenn sie ihn wirklich bedrohte, ob die Worte des Jägers wahr gewesen waren oder nur eine Ausrede um ihn milde zu stimmen… und letztlich würde er sich, nach allem was in Cascade Hill vorgefallen war, vielleicht sogar fragen müssen was sein Bär in Wahrheit für ein Kerl war, wenn er gegen Cassies Willen Leute erschoss und Unschuldige zurück ließ.
Auffordernd reckte Clarence die Hand nach der des anderen aus und erst als er jene zwischen seinen Fingern spürte, setzte er sich träge mit seinem Liebsten in Bewegung. Der Wald schien weiterhin ruhig zu sein, fast etwas zu ruhig wenn man wusste was hier draußen lauerte, ein Grund mehr für den Blonden die müde gewordenen Augen wachsam offen zu halten.
„Du kannst dir denken, ich halte nicht viel davon zurück zu gehen um nach einer alten Frau zu suchen, die zu neunundneunzig Prozent eh schon tot ist. Aber du weißt auch… ich geh überall mit dir hin, wo du hin willst. Wenn du also wirklich mit dem Gedanken spielst dieses Nest zu stürmen… dann machen wir das.“
In seinen Augen wäre das eine der dämlichsten Entscheidungen ihrer gemeinsamen Laufbahn, gleich hinter der Idee mitten in der Nacht in ein Feld voller mutierter Spinnen zu rennen. Sie hatten erlebt welche Konsequenzen ihre fixen Entscheidungen hatten und wenn sie so weiter machten, bei Gott, ihre sogenannten Flitterwochen würden niemals friedlich und unbeschwert werden. Sie rannten ständig offenen Auges mitten in ihr Verderben hinein und beschworen ihr Unglück quasi selbst, ein Talent dass irgendeines schönen Tages tatsächlich eines ihrer Leben fordern würde – und postwendend auch das des Anderen.
Trotzdem überließ Clarence die Entscheidung seinem Mann, streichelte behutsam mit dem Daumen über dessen Hand und lauschte dem raschelnden Laub ihrer Schritte, die bislang zum Glück die einzigen in näherer Umgebung zu sein schienen.
„Wir müssen dann zurück zum Boot, wir brauchen mehr Silberkugeln. Ich hab nur sechs Stück dabei, aber mindestens drei bis vier Vetala gezählt. Und wir müssen sie vorher präparieren wenn wir sie nicht nur lähmen, sondern töten wollen. Ich glaube zwar nicht daran dass du sowas hast, aber wenn du wider Erwarten Silberpfeile besitzt, können wir die auch benutzen“, beäugte Clarence seinen Nebenmann mit einem abschätzenden Seitenblick. Alleine schon der Gedanke mit Matthew jagen zu gehen fühlte sich komisch an, denn obwohl sie sich schon so lange kannten, waren die meisten Aufträge bislang immer von ihm alleine erledigt worden. „Wenn sie noch lebt und nicht alleine aus ihrem Traum aufwacht, wird sie sterben. Und falls sie wach sein sollte, aber keinen Ort besitzt an den sie gehen kann… müssen wir uns überlegen, was wir mit ihr machen. Im Wald aussetzen können wir sie schlecht, falls sie nicht weiß, wie man dort überlebt. Willst du ihr bei uns Zuhause ein Bett aufschlagen und sie mitnehmen? Ich meine… ich bin dabei, egal was du vor hast. Aber ich will wenigstens einen anständigen Plan hören, damit es nicht wieder damit endet dass jemand einen Zahn im Bein hat oder einen Stein am Kopf.“
Was Clarence alles in Matthews Augen ablesen konnte, hätte den Jüngeren verblüfft wenn er darüber Kenntnis hätte.
Es stimmte, dass er aktuell nicht sicher war ob das hier wirklich real war.
Er hinterfragte nicht nur seine Erinnerungen, sondern auch was aktuell um ihn herum passierte. Und das Gefühl, sich selbst und den eigenen Erinnerungen nicht vertrauen zu können war alles andere als angenehm.
Dass Clarence nun damit konfrontiert war seinen irritierten Mann aus dem Wald zu bekommen war nicht fair, doch der Dunkelhaarige konnte nicht aus seiner Haut.
Und obgleich er ganz und gar nicht sicher war, dass das Jetzt und Hier wirklich war, so griff er nach Clarence‘ Hand als dieser sie nach ihm ausstreckte.
Das Schicksal der älteren Dame war...nicht besonders rosig und Matthew wog schweigend ab.
Es tat ihm leid sie dort zurückzulassen, allein und geschwächt, fernab der Menschen die sie liebten - falls es denn jemanden gab der sie vermisste.
Sie war eine Fremde und sollte ihm eigentlich völlig egal sein, doch das war sie nicht. Vor etwas mehr als einem halben Jahr, hätte Matthew sicherlich entschieden zurück zu ihr zu gehen, er hätte versucht jene Unbekannte zu retten - einfach weil ihm viel weniger egal war was um ihn herum passierte, als er oftmals vorgab.
Die Wahrheit war, er passte eigentlich nicht in die raue Welt in der sich keiner um den anderen scherte. Er konnte harte Entscheidungen treffen, aber er traf sie nicht leichtfertig und sie beschäftigten ihn.
Clarence war in dieser Hinsicht anders. Er tat was getan werden musste, er entschied und handelte rational und weit weniger häufig wurde er von Sentimentalität getrieben. Aber er würde Matthew überallhin begleiten.
Welche Entscheidung auch immer Cassie treffen würde, er würde sie nicht alleine tragen müssen und exakt deshalb reagierte Matthew heute anders, als er es noch vor etwa sechs Monaten getan hätte.
Aufmerksam und doch offensichtlich nicht auf der Höhe seiner Kräfte beobachtete er Clarence. Die Art wie er sich in den Rucksack quälte, wie müde und abgekämpft er aussah... Matthew schüttelte verdrossen den Kopf und fuhr sich mit der freien Hand durch das Haar. „Wir...gehen Heim...“
Diese Worte auszusprechen fiel ihm nicht leicht und er fühlte sich nicht gut dabei. Selbst wenn die Fremde schon tot oder nicht mehr zu retten war, sie zurückzulassen fühlte sich ein bisschen an, als würde er ihr Schicksal erst besiegeln.
Aber auch wenn Matthew diese Entscheidung nicht gern traf, so wusste er mit unumstrittener Sicherheit, dass sie richtig war, und zwar richtig für sie beide.
Die ältere Frau mochte sie noch leben oder nicht, mochte sie eine Chance verdient haben oder auch nicht... unterm Strich war für Matthew klar wo die Prioritäten lagen - und sie lagen nicht bei der Unbekannten, sondern bei Clarence.
Die Zeiten in denen Matthew nur für sich entschied, nur für sich selbst verantwortlich war und auch nur seinen eigenen Maßstäben treu bleiben musste, waren vorbei.
Clarence würde ihn unterstützen bei jeder Schnapsidee, er wäre an seiner Seite bei jedem vermaledeiten Himmelfahrtskommando und er würde ihn nicht alleine losziehen lassen in einen Kampf - und sei er noch so ausweglos.
Dieser Mann würde alles für ihn tun, er würde für ihn sterben... Und Matthew konnte nicht riskieren, dass aus dem grausamen Traum eine noch grausamere Realität wurde.
Sie waren beide angeschlagen und es gliche nichts anderem als Leichtsinn, würde Matthew angesichts dessen darauf bestehen die Fremde zu suchen.
„Du hast...sicher recht. Vermutlich ist sie längst tot und wir...würden uns nur unnötig in Gefahr bringen.“, fasste er seine Überlegungen zusammen.
Der Dunkelhaarige wusste, es war vernünftig den Heimweg anzutreten und deshalb zögerte er auch nicht mehr länger sondern trat, mit Clarence an der Hand, hinter dem großen Wurzelballen des umgestürzten Baumes hervor.
Der Wald der sie umgab mutete vollkommen friedlich an, die Vögel zwitscherten, die Sonne brach sich in den Regen- und Tautropfen.
Niemals würde Matthew auf die Idee kommen irgendwelche Wesen würden hier darauf lauern ihn in Schlaf zu versetzen um sein Blut zu saugen.
Unbehaglich trat er von einem Bein auf das andere, sah wieder zu Clarence und ließ ihn wissen, dass es Zeit war loszugehen.
„Ich...weiß überhaupt nicht wo wir hier sind. Mir kommt nichts bekannt vor... ich hoffe du kennst die Richtung.“, kraftlos drückte er die Hand des Größeren, ein stummes Zeichen, dass er bei ihm war, auch wenn er gerade nicht so wirklich zeigen konnte was er fühlte, Erleichterung, Verwirrung, Überforderung... Eine Mischung die es Cassie nicht leicht machte und Clarence demnach leider auch nicht.
Die Art wie der Jüngere Clarence ansah war aufmerksam aber auch...ein bisschen verhalten. Obwohl es offensichtlich war, dass der Größere lebendig war, hatte Matt noch immer unterschwellig Angst. Angst davor zu erwachen und sich in der Bücherei wiederzufinden, Angst davor sein Mann sei ihm genommen worden oder würde ihm noch genommen werden.
Er traute dem Frieden nicht mehr, denn dass er es je getan hatte, hatte sie erst in diese Lage gebracht. Clarence war es schließlich, der nach einem kurzen Moment der Orientierung die Führung übernahm und mit Matthew an der Hand ihren Unterschlupf verließ.
Ungewohnt schweigsam folgte der Jüngere, den Hinterkopf seines Mannes ständig vor Augen. Das Blond seiner Haare war vollkommen makellos, weder Blut noch Knochensplitter hatten sich darin eingenistet, es klaffte auch kein faustgroßes Loch im Schädel... Lautlos schluckte der Kleinere und versuchte die Bilder seines toten Mannes zu verdrängen, aber sie hatten sich eingebrannt.
Nach ein paar Minuten Fußmarsch wurde Matthew erst einmal klar wie erschöpft er wirklich war. Es fiel ihm schwer zu gehen, es fiel ihm schwer sich auf den Weg zu konzentrieren, aber statt zu nörgeln - wie er es sonst üblicherweise in solch einer Lage tat, ertrug er die Gegebenheiten stumm.
Nach etwa dreißig Minuten ließ Clarence seine Hand los und Matthew blieb stehen. Der Größere steuerte einen Baum an dessen Rinde zum Teil abgerissen war, ging in die Hocke und scharrte ein wenig Moos und lose Blätter zur Seite.
Während der Hüne den Bogen des Jüngeren freilegte, blickte Cassiel sich in dem Wald um. Er ließ den Blick schweifen und versuchte sich daran zu erinnern schon mal hier gewesen zu sein. Doch statt einer markanten Stelle die ihm auf die Sprünge half, sah er zwischen den Bäumen im Gras, nur etwa dreißig Fuß von ihnen entfernt, einen unverwechselbaren Umriss am Boden liegen.
Die Silhouette eines zusammengekrümmten Menschen zeichnete sich ab und Matthew legte den Kopf schief.
„Claire...?“, er blickte kurz über seine Schulter zurück. Der Größere sah zu ihm und Cassiel deutete mit einer typischen Kopfbewegung in Richtung des leblosen Körpers. Ohne zu warten bis sein Mann wieder bei ihm war, setzte er sich in Bewegung um einen genaueren Blick auf den reglosen Menschen zu werfen.
Doch je weiter er sich annäherte umso skeptischer wurde Matt.
Die Gestalt auf dem Boden war männlich, kahlköpfig und über und über mit dunklen Linien bedeckt.
Die Augen waren stechend blau, fast leuchtend und starrten blicklos zur Seite. Die Beine hatte er angezogen, ein Arm war ausgestreckt und die Finger hatten sich in die Erde gebohrt. Die andere Hand hatte er auf dem flachen, nackten Bauch liegen. Aus seinem halb geöffneten Mund war eine schwarze, teerartige Flüssigkeit getreten. Dickflüssig wie Sirup und bereits wieder erstarrt.
Die unnatürlich bleiche Haut schimmerte leicht bläulich.
„Heilige Scheiße....“, murmelte Matthew, hob den Blick von dem toten Vetala und sah unweit des Leichnams zu seinen Füßen eine weitere Kreatur leblos am Boden liegen.
„Was zum Teufel ist denen passiert?“, vorsichtig stieß er mit der Schuhspitze gegen den ausgestreckten Arm und obgleich die Berührung nur leicht war, riss die blass-bläuliche Haut sofort auf und zerfiel. Darunter lag nicht etwa rotes Fleisch, sondern schwarzes, bröseliges Gewebe. Ein kleines Bröckchen löste sich aus der Stelle, fiel auf den Boden und zerfiel, kaum dass Cassie es aufheben wollte ebenfalls.
„Hast du sowas schon mal gesehen?“, fragte er an Clarence gewandt.
Was ihn anbelangte... so musste er beim Anblick des schwarzen, bröseligen Fleisches an die Reste ihrer zahllosen Lagerfeuer denken - wenn die Glut erloschen war und nichts außer weißer Asche und schwarzen Holzresten übrig war.