Strand
13. Juni 2210
So konzentriert der Bär von Jäger während seiner Arbeit auch sonst sein mochte, eine einzige Schwachstelle hatte er schon immer gehabt: Das völlig sinnbefreite Geplapper seines Gefährten.
Voller Unverständnis verzog Clarence das Gesicht und warf dem Jüngeren über die Schulter einen kurzen Blick zu, bevor er kritisch das wohl ursprünglich doch recht ernst gemeinte Wort „Bestatten?“ echote, fast so als könne er sich mit etwas Glück verhört haben.
Matthew kam zuweilen öfter mal auf dumme Ideen, insbesondere dann wenn er zu viel Freizeit hatte und man ihm keine sinnvolle Beschäftigung zuschustern konnte, die dem feinen Kerl genehm war. Aber in einer Geisterstadt damit anzufangen irgendwelche Wildfremden zu beerdigen, die schon seit mehr als nur ein paar Tagen irgendwo herum gammelten… das ließ das Niveau selbst für jemanden wie Cassie ziemlich absacken.
„Bestatten…“, murmelte der Blonde leise vor sich hin, bevor auch er langsam den Rückzug antrat, bis zur zersprungenen Tür dem Loch in den Deckenplatten zugewendet, als könne nicht gleich doch noch etwas aus der Dunkelheit zu ihnen hinab springen. Dieses Mal achtete er gar nicht erst darauf die Glasscherben auf dem Boden zu umgehen, immerhin hatte sein Mann mit dem Auskippen der Schubladen genug Lärm angerichtet und selbst das hatte sie bislang unversehrt gelassen.
Als wäre die Wärme der Sonne auf seinem Nacken wie ein Signal zur Entwarnung, ließ er die Schrotflinte sinken und warf sie sich zurück über die Schulter, sodass er die Hände frei hatte um seinen Göttergatten zu entmachten.
„Gib schon her, du orientierungsloser Trottel“, zog Clarence ihm das bunte Bilderbuch aus den unfähigen Fingern, verschaffte sich kurzen Überblick über die einfach gehaltenen Zeichnungen und suchte den Punkt, auf den Cassie eben noch getippt hatte. Ein kleines weißes Buch-Symbol in einem roten Kreis schien der Ort zu sein an den sie wollten – vorausgesetzt das stand nicht wieder für etwas völlig anderes, etwa wie ein Apfel der gar keinen Laden für Lebensmittel kennzeichnete – und der war wirklich nicht allzu weit weg von ihnen.
„Weißt du noch dass ich dir mal gesagt hab, man merkt sich nichts mehr, sobald man Lesen und Schreiben kann? Du und deine Unfähigkeit Karten ohne Straßenschilder zu lesen seid das beste Beispiel dafür.“
Kritisch schielte er hinüber zu seinem Nebenmann und schüttelte leicht mit dem Kopf. Nicht umsonst hatte er Cassie noch nie bei ihren Routen auf dem Meer oder in offener Wildnis dirigieren lassen, denn ansonsten wären sie heute wohl auf der anderen Seite der Welt oder – bei Matthews Talent – auf dem Mond angekommen, so extrem hätten sie sich verlaufen.
„Siehst du das Pier hier unten?“, tippte Claire auf einen Ausläufer einer der Inselspitzen und neigte das Büchlein so, dass der Idiot zu seiner Linken erkennen konnte was er meinte. „Wir sind hier unten durch gelaufen durch einen kleinen Wald, das ist mal der Park gewesen, der hier abgebildet ist. Dann standen wir direkt bei diesen hohen Häusern“, zeigte er auf das obere Ende des Geländes, welches im Heft mit South Pointe Park beschriftet war.
„Wir sind hier herum auf die Straße wo du dir die Eselskappe widerrechtlich angeeignet hast und hier ist der ausgetrocknete Brunnen von da vorne. Das heißt…“
Das halb zerschellte gläserne Foyer im Rücken, blickten sie direkt auf den Brunnen mit der toten Schlange und die lange breite Straße hinab, an der es für seinen geliebten Leichenfledderer sicher genug Arbeit für mehr als nur ein Leben zu tun gäbe.
„Wir sind hier auf dieser O…cean… irgendwas, machen uns dann nach links und folgen dem Schlenker nach rechts, bis dann die Bibliothek kommt.“ – Was er meinte war die South Pointe Drive, die irgendwann automatisch in die Alton Road überging zu der sie wollten und die zumindest auf der Karte so aussah, als sei sie nur einen Steinwurf von hier entfernt.
Voller Tatendrang die Karte wieder zuklappend, betrachtete Clarence für einen Augenblick die bunten Bilder auf dem Einband des Buches. Durch die Dunkelheit der Schublade, in der es weiß Gott wie lange schon gelegen hatte, hatten all die Abbildungen und kleinen Details kaum an Qualität verloren. Selten bekam man derart gut erhaltene Fotografien von der Welt der Alten in die Hand und wenn man auf der zugewucherten, von der Natur zurück gewonnen und doch menschenleeren Straße stand, das eine mit dem anderen vergleichend…
Obwohl die Sonne auf ihre Köpfe brannte wie schon seit Monaten nicht mehr, überkam den Jäger ein kühles Frösteln und ein kurzes, wenig wohliges Schütteln zerrte an seinen breiten Schultern. Ich meine... er gehört so überhaupt nicht hier hin und nun sitzt er in diesem hässlichen, stickigen Raum in dem es immer düster ist, hallte Cassies Stimme leise durch seinen Kopf und obwohl das im Grunde richtig war, erschien den Blonden irgendetwas komisch daran, wie sein Mann das unbedacht von sich gegeben hatte.
Doch mehr Angst als nötig wollte er Matthew nicht machen, weshalb er, im Versuch den Jüngeren wieder auf andere Gedanken zu bringen, ihm sanft mit dem Büchlein einen Klaps auf den Hintern gab um den taugenichtsigen Taugenichts an seiner Seite anzutreiben sich wieder in Bewegung zu setzen.
„Hier, nimm das an dich und such uns ein schönes Restaurant raus. Du hast gesagt du führst mich in Rio Nosalida nicht fein aus, aber das hier ist nicht Rio Nosalida. Bestimmt wird es irgendwo was mit gutem Essen und tollem Service geben, den du dir gerade noch so leisten kannst und auf dem Weg kommen wir garantiert an einem zauberhaften Designerladen vorbei, in dem wir uns in feinen Zwirn mit fragwürdigen Tierohren kleiden lassen können, damit wir in der Schickeria heute Abend nicht auffallen“, drückte er auffordernd die Lektüre in Matthew untätige Hände und klang dabei als würde er das völlig ernst meinen und als wäre es zu hundert prozentiger Wahrscheinlichkeit nur eine Frage der Zeit, bis hinter den Häuserecken die ganzen dafür benötigten Leute hervor sprangen, die sie mit Freude bewirtschaften würden.
„Dein Mann besteht auf Meeresfrüchte und Hummer, denn meiner macht mir ja keine Fischsuppe mehr, seitdem wir direkt auf der Quelle reisen. Bist ein ganz schön unverlässlicher Mistkerl geworden, seitdem ich dich unter die Haube gebracht hab.“
Nicht, dass Cassie früher ein Mann voller Tatendrang gewesen wäre der die anfallende Hausarbeit mit eigenen Augen tatsächlich wahrnahm und direkt Hand mit anlegte, aber wenigstens dann und wann hatte sich der Dunkelhaarige wenigstens erbarmt um es Clarence ein wenig annehmbarer zu machen. Wenigstens dann, wenn sie sich vorher wegen dem sinnlosen Dauergeplapper des Jüngeren in die Wolle bekommen hatten.
„Manchmal denk ich, ich hab dich vielleicht nicht lange genug hingehalten. Ein paar Wochen oder Monate mehr hätten bestimmt noch besseres in dir zum Vorschein gebracht“, öffnete er, während er mit Freude ein wenig weiter an seinem Mann herum stichelte, das Holster an seiner rechten Flank um den darin befindlichen Revolver heraus zu nehmen. Ein geübter Blick in die Trommel verriet ihm, dass sie bis zum Anschlag geladen war; golden glänzten die Ränder der Kugeln im Licht, ein eigentlich beruhigender Anblick, der sich allerdings nicht in Clarence Gesicht widerspiegelte.
„Sag mal, erinnerst du dich noch an diese Anlegestelle wo wir beim letzten Mal waren? - Da hab ich auch geangelt und kein einziges Mal abends Suppe von dir bekommen. Wo waren wir da noch mal gewesen…?“

Den Fremden bestatten zu wollen, war eine Idee gewesen die für Cassiel untypisch war, dass war sogar dem Jüngeren selber klar.
Trotzdem konnte er den Gedanken selbst jetzt nicht ganz aus seinem Kopf vertreiben. Seine Aufmerksamkeit schweifte zurück zu dem Toten im Inneren des Foyers. Er dachte daran wie er im Schatten gelehnt hatte, einarmig, der Kiefer an einer Seite aus der Verankerung gerissen, die Haut vom Gesicht geschält...
Widerstandslos, weil noch immer in Gedanken versunken, ließ Cassie sich den Stadtplaner aus den Händen nehmen.
„Karten ohne Staßennamen und Schilder zu lesen ist keine hohe Kunst, ich weiß genau wo wir sind wohin wir müssen.“, murmelte der Dunkelhaarige verdrossen und nahm seinen Blick von der finsteren Halle um stattdessen Clarence dabei zu beobachten wie er den Stadtplan studierte.
„Jeder Trottel sieht das Pier.“, beantwortete er die überflüssige Frage seines Partners und warf diesem einen prüfenden Blick zu. Manchmal musste er sich unweigerlich fragen ob der Kerl ihn nur ärgern wollte oder ihn wirklich für derart unterbelichtet hielt.
Matthew mochte nicht so stark und nicht so erfahren im Umgang mit Mutanten sein wie Clarence es war, aber er war kein Idiot und er konnte sich sehr wohl orientieren. Wenn auch vielleicht nicht so spielend einfach wie der Größere es in fremden Gefilden vermochte.
Dafür hatte Matthew eine andere angeborene und im Laufe der Jahre geschärfte Fähigkeit im Repertoire: er konnte sich blind auf seinen Instinkt verlassen und der täuschte ihn nie.
Es dauerte noch einen weiteren Moment, Zeit in der Clarence auf ihn einredete, ihm den Weg beschrieb und sogar ein einzelnes Wort ablas, dann wurde Matthew eine Tatsache unumstößlich bewusst und einmal festgestellt, war diese auch nicht mehr zu übersehen. Matt schwieg und sah wieder zurück in das Gebäude.
Die Finsternis da drinnen machte es unmöglich mehr als nur Schemen zu erkennen und auch das Loch in der Decke war von hier draußen nicht zu erkennen.
Aber er wusste, dass es da war.
„Ocean Drive.“, ergänzte Matthew scheinbar ohne Zusammenhang, obwohl Clarence unterdessen vom Hundertsten ins Tausendste gekommen war.
Statt über den Weg zur Bibliothek nörgelte er irgendwas davon, dass Cassie ihn in Rio Nosalida nicht ausführen würde, dass er ihm ewig keine Fischsuppe mehr gemacht hatte und dergleichen mehr.
Clarence hätte nicht auffälliger versuchen können Matthew abzulenken und dieser fragte sich unweigerlich was mit dem Größeren eigentlich nicht richtig rund lief, dass dieser glaubte er könne Matt so leicht etwas vormachen.
Gelassen - weil er wusste sein Mann redete sich gerade um Kopf und Kragen - sah er ihn an und wartete bis der ungewohnte Redefluss vorerst versiegt war.
„Sag mal...wovon genau versuchst du mich abzulenken? Von dem Kerl da drinnen?“ er nickte gen Foyer, behielt den Blonden jedoch im Auge. Direkt konfrontiert zu sein brachte Clarence anscheinend kurz aus dem Konzept, denn es ergab sich nun mehr eine kurze Pause vom Genörgel und Gezeter.
„Und was war das da gerade, hm?“
Der Städteplaner, den Clarence ihm wieder in die Hand gedrückt hatte, nachdem er das Kunststück des Lesens vollführt hatte, fand auf unsanfte und sehr bestimmte Weise seinen Weg an Clarence bemützten Kopf. Ein fester Klaps mit dem Büchlein und ein nicht minder energischer Schlag mit der Faust der anderen Hand gegen den Oberschenkel des Größeren war sicher nicht die Reaktion mit der man nun am wahrscheinlichsten rechnete. Beide Handbewegungen erfolgten schnell und präzise, beinah synchron und mit wohldosierter Härte. Nicht lasch, sondern durchaus so das es wehtat, aber auch nicht zu sehr, immerhin liebte er den Idioten.
„Wieso stellst du dich immer so blöd an wenn ich dir das Lesen beibringen will, obwohl du es schon ein bisschen kannst?“, wollte er wissen und klang dabei tatsächlich ein bisschen beleidigt. Wann immer er versucht hatte den Größeren für diese Fähigkeit zu erwärmen, hatte dieser abgewiegelt. Man brauchte diese Kenntnis nicht zwingend in ihrer Welt, dies war das Hauptargument gewesen und gegen das hatte Cassie auch nicht viel sagen können.
„Du bist ein Idiot, Sky und das ist auch der Grund warum du keine Fischsuppe mehr von mir bekommst. Und wenn du noch Besseres in mir zum Vorschein gebracht hättest, hätte ganz Coral Valley und das zugehörige Umland versucht mich zu heiraten. Sei also dankbar und froh, dass du nicht länger gewartet hast.“
Die Absurdität der Aussage, immerhin verknüpfte er hier gerade komplett unterschiedliche Themen mit völliger Selbstverständlichkeit miteinander, wurde dem Dunkelhaarigen schon Sekundenbruchteile später bewusst und er konnte sich ein Grinsen nicht länger verkneifen.
Und einmal das Lächeln im Gesicht, war auch ein kurzes Lachen seinerseits nicht mehr abzuwenden und jedwede Rüge oder Ernsthaftigkeit damit nachhaltig dahin.
Die Hand, die Clarence eben noch geboxt hatte, griff nun nach den Fingern des Größeren und führte sie sich, Innenflächen voran, an die Lippen um sie zu küssen.
Der Umschwung von erbost zu zärtlich war noch plötzlicher als sich der Wind auf See zu drehen vermochte und doch war nichts daran aufgesetzt oder gekünstelt. Matthews Naturell war bisweilen wechselhaft und impulsiv und er konnte sich manchmal nur schwer kontrollieren - etwas das Clarence hingegen in Perfektion beherrschte.
Vielleicht waren es genau jene Gegensätze, die dafür sorgten, das sich beide derart zueinander hingezogen fühlten und gleichsam verhinderten, dass sich zwischen sie so etwas wie Langeweile einschlich. In vielerlei Hinsicht waren sie unterschiedlich. Der Eine überlegt, der Andere vorschnell. Der Eine zögernd, der Andere zu sehr von sich überzeugt. Aber wenn sie zusammen waren, dann ging es nie um ihre Unterschiede, sondern um das was sie verband.
Matthew musste nicht den Ring an Clarence‘ Finger sehen um zu wissen, dass dieser Mann seine Familie war. Er wusste es in jedem Augenblick, fühlte es in jeder Sekunde und bei Gott - gab es ihn nun oder nicht - Clarence machte ihn unbeschreiblich glücklich.
„Sky...“, Cassie seufzte, musterte den Mann neben sich und hätte nicht übel Lust dazu gehabt ihm noch etwas Fieses zu sagen, aber alles was ihm einfiel wenn er den Blonden ansah war das verliebte Geschwätz des Trottels, zu dem er im Laufe der Monate geworden war.
Man musste ihn nicht gut kennen um zu sehen, dass der Dunkelhaarige stolz auf Clarence war und zwar in jeder Hinsicht in der ein Mensch auf einen anderen stolz sein konnte. Versöhnlich verschränkte er seine Finger mit denen des Größeren und küsste den fremden Handrücken, ehe er sich mit ihm in Bewegung setzte.
Ein kurzer Pfiff genügte um Kain und Abel zurück zu ihnen zu beordern. Matthew sah nochmal kurz über die Schulter zurück zu der toten Steinhaut und blickte dann in das dunkle Innere des Gebäudes, dann wandte er sich wieder dem Weg vor ihnen zu.
„Weißt du was ich sexy finde?“, fragte er unvermittelt und gab die Antwort schon gleich darauf selber. „Abgesehen von mir meine ich natürlich. Abgesehen von mir, finde ich...gebildete Männer unheimlich heiß.“ vielsagend blickte er seitlich gen Clarence und fing an, ihre miteinander verbundenen Hände ausladend im Rhythmus ihrer Schritte nach vorn und zurück zu schwingen. Derart schlendernd mochte man ganz vergessen wo sie sich aufhielten und welche Gefahren in der Geistermetropole lauerten.
„Ich könnte mir vorstellen... wenn ich dich in Rio Nosalida chic zum Essen ausführe, werden uns alle für Schnösel aus reichen Familien halten. Zwei gut aussehende junge Kerle, sich ihrem Status bewusst, gebildet, großzügig...“, die Vorstellung gefiel ihm ausgezeichnet wie man sah.
„Bis dahin müssen wir noch etwas an deinem Können arbeiten, aber...“, eine kleine aber gewichtige Pause folgte. „...ich bin stolz auf dich, Claire. Ich weiß, du bist nicht so der Typ der seine Prinzipien einfach über den Haufen wirft.“
Es war nur ein einziges Wort gewesen, stockend vorgelesen, aber darauf kam es nicht an. Es ging nicht um Perfektion, es ging darum dass Clarence sich überhaupt bemüht hatte.
Unter allen Umständen hätte ihm klar sein müssen, dass man einen ewig plappernden Papagei nicht mit Plappern abzulenken vermochte. Gleiches mit Gleichem zu vergelten mochte bei jedem anderen Menschen auf der Welt ganz und gar fabelhaft funktionieren, so aber nicht bei einem Matthew Cassiel Sky, der ihn mittlerweile besser kannte als jeder andere der jemals zu dem zweifelhaften Vergnügen gekommen war, an den Blonden zu geraten.
Strauchelnd – und tatsächlich etwas aus dem Konzept gebracht – starrte Clarence seinen Nebenmann bei der direkten Konfrontation an und als hätte Cassie nichts anderes provozieren wollen, nutzte der kleine freche Taugenichts die Situation schamlos aus um die erste häusliche Gewalt seit ihrer Ehehinauf zu beschwören.
„Ich – hey – Aua!“, echauffierte sich der Bär von einem Mann, der sich frei von Gegenwehr durch seinen eigenen Geliebten auf offener Straße halb verprügeln ließ und hoch in abwehrender Manier die Arme vor die Brust – völlig unsinnig, denn dahin schlug Cassie ihn ja gar nicht.
Die Stelle, an der die Faust seines Mannes ihn unerwartet präzise getroffen hatte, zog schmerzhaft die Muskeln seines Oberschenkels hinauf und für einen Augenblick fragte Claire sich ernsthaft, womit er so plötzlich Prügel verdient hatte. Lange ließ Matthew ihn allerdings nicht im Dunkeln.
„Darf ich etwa keine Geheimnisse vor dir haben, oder was?! Wenn ich nicht will, dass du mir Lesen beibringst, dann will ich das eben nicht!“, versuchte der Blonde sich halbherzig zu verteidigen und zuckte scheinbar schon prophylaktisch ein wenig zusammen, doch der erwartete zweite Schlag schien tatsächlich auszubleiben.
Noch immer in Abwehrhaltung versteinert, musterte er Cassie argwöhnisch und abwartend, doch die Entwarnung kam – wie so oft bei der wechselhaften Art seines launischen Gefährten – schon wenige Sekundenbruchteile später, als der Idiot, der sich sein Gatte schimpfte, plötzlich anfing zu lachen und auch Clarence damit wieder eine etwas mehr entspannte Haltung erlaubte.
Der Entschärfung der tickenden Zeitbombe Matthew zum Trotz, ließ er das Küssen seiner Fingerspitzen voller Vorsicht über sich ergehen und eine gespielt beleidigte Schnute zeichnete sich auf den Lippen zwischen dem Bart des Blonden ab.
„Was, Sky?“, wollte er vom Dunkelhaarigen wissen, doch auch die weiterfolgende Schimpftirade seines geliebten Hasspredigers blieb heute aus. Stattdessen verschränkte Cassie ihre Finger ineinander und bezeugte eines damit ganz klar und deutlich: Die beiden Männer, die sie mal gewesen waren, gab es heute nicht mehr. Keine tagelangen Streitigkeiten bestimmten mehr ihren Alltag, kein endlicher Zwist mit dem sie ihre Stunden füllten verband sie heute mehr. Was geblieben war, nach all den Monaten seit Coral Valley, waren Liebe und Zuneigung; so sehr Clarence sich in den Mann, der früher an seiner Seite gewesen sein mochte, auch verliebt hatte… noch ein vielfaches mehr liebte er denjenigen der Matthew heute war und eben jene Gewissheit wurde von Tag zu Tag stärker.
Ohne noch weiter auf dem plötzlichen Sinneswandel herum zu reiten, ließ er sich von seinem Partner voran und die Straße hinab dirigieren, die miteinander verbundenen Hände voller ungewohntem Frohsinn zwischen ihnen pendelnd, und musterte den Jüngeren aus den Augenwinkeln auffällig unauffällig. Noch immer traute Claire dem plötzlichen Frieden nicht zu hundert Prozent, doch der Honig, den sein Geliebter ihm ums Maul schmierte, ging heute runter wie Öl – dagegen konnte sich selbst ein engstirniger christlicher Junge nicht verwehren.
„Heiß bin ich also plötzlich, mh? Was passiert, wenn ich dir die ersten Seiten aus deinem komischen Heft da vorlese… Vernascht du mich dann auf offener Straße?“
Eine verlockende Idee, die ihn vielleicht tatsächlich dazu bringen könnte es wenigstens mal zu versuchen, wenn sie nicht noch immer die tote Steinhaut und den noch toteren Kerl im Foyer in ihren Rücken hätten.
„Trotzdem, danke“, richtete er seinen Blick schließlich wieder zurück auf die menschenleere Straße vor ihnen und versuchte dabei das kleine unbedeutend bedeutsame Wörtchen möglichst daher gesagt klingen zu lassen. Es war noch nie ihre Art gewesen sich gegenseitig zu loben oder einander so etwas Sentimentales zu sagen wie etwa, dass sie aufeinander stolz waren. Aber wenn dieser einzigartige Fall schon eintraf, wollte er ihn wenigstens nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen. „…auch wenn ich nicht weiß, ob ich noch mit dir ausgehen will. Immerhin hast du mich beim ersten Mal abblitzen lassen und heute Morgen hast du noch gesagt, dass… dass…“
Seine Worte wurden leiser und erstarben, als sein Blick an einem der verstaubten und teilweise beschädigten Läden haften blieb. Ein ernster Ausdruck legte sich in seine Iriden, einer von der Sorte mit dem er eben noch das dunkle Loch in den vermaledeiten Deckenplatten im Auge behalten hatte und mit der Hand ließ er einen kurzen Ruck durch Cassies Arm fahren als er ihn dazu antrieb, nicht ganz so schlendernd durch die leeren Straßen zu flanieren.
„Jedenfalls… werde ich mich wohl bemühen müssen in deinen Augen nicht mehr wie der letzte Dorftrottel da zu stehen, wenn das der einzige Weg ist, dich irgendwann wieder hinter den Herd zu bekommen damit du Suppe für mich kochst. Auch wenn es mir ziemlich traurig erscheint, dass für dich nur Lesen und Schreiben was mit Bildung zu tun hat.“
Nicht länger damit gewartet zu haben Cassie zu heiraten schien ihm gerade Fluch und Segen zugleich. Einerseits hatte er den jungen Mann damit zwar erfolgreich vom Markt geholt und für seine eigenen recht unsittlichen Zwecke gesichert, auf der anderen Seite allerdings schien der kleine Raffgeier mit zunehmender Zeit immer anspruchsvoller zu werden. Ein Charakterzug, der Clarence schon von Anfang an bewusst gewesen war, jedoch wohl kaum in dieser Intensität.
Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen wie der verdreckte weiße Stoff eines abgenutzten Sommerkleides im Inneren des dunklen Ladens verschwand und seine Gesichtszüge entspannten sich wieder etwas, die Tatsachen erfolgreich ignorierend, die für ihn schon länger auf der Hand lagen. Was zählte war im Augenblick nicht die friedliche Bedrohung die über allem lag und welche die beiden jungen Männer genauso unpassend an diesem Ort machte wie die halb zerfallene Leiche, auf die sie eben noch getroffen waren – sondern die Zeit mit seinem Mann zu verbringen, mit etwas Glück ausnahmsweise tatsächlich mal allen bisherigen Erfahrungen zum Trotz unbeschadet, und zur Krönung des Tages die blöden Bücher zu finden, nach denen es ihn so begehrte.
„Ich hab dir außerdem schon mal gesagt, dass du mir vorher viel lieber Bogenschießen beibringen sollst, aber das hast du auch noch nicht getan. Wann holen wir das nach, mh? Oder hast du etwa Angst dabei könnte auffliegen, dass du doch kein so guter Lehrer bist wie du immer glaubst?“, herausfordernd legte sich nun doch wieder ein gewinnendes Grinsen über seine Lippen, denn allzu weit hergeholt war diese Theorie nicht. Versagten sie beim Üben des Lesens, könnte Cassie die Schuld noch immer auf fehlende Begabung des Blonden schieben – doch mit Waffen und Zielen kannte letzterer sich aus und würde der Bogen nicht zu seinem Freund werden, wäre er ganz sicher nicht daran schuld.
‚Du hattest so viele Geheimnisse als wir uns kennengelernt haben und ich wette du hast noch immer genug. Es müssen nicht noch mehr werden.‘ hätte Matt am Liebsten geantwortet, aber letztlich freute er sich viel zu sehr über Clarence als das er weiter mit ihm diskutieren wollte. Vielleicht genierte sich der Blonde einfach vor ihm und hatte deshalb nicht gewollt, dass Matthew ihm half beim Lesenlernen - eine gemeine Begründung, denn es war gewiss nicht nötig, dass Clarence sich vor Cassiel wegen irgendetwas schämte. Aber was auch immer der Anlass war, ihn jetzt zu ergründen war nicht der richtige Zeitpunkt.
Einmal mehr brachte Clarence den Dunkelhaarigen nun dazu ausgelassen zu lachen, ein Talent das ihn definitiv von anderen Menschen unterschied.
„So heiß, dass ich dich auf offener Straße vernasche?“, fragte Cassie fröhlich zurück und schüttelte den Kopf. „Im Ernst? Daran denkst du also den ganzen Tag. Ans vernascht werden mitten in einer Geisterstadt.“, gespielt tadelnd schnalzte er mit der Zunge.
Sichtlich gut gelaunt und über alle Maßen amüsiert sah er schließlich zu seinem Mann empor und drückte dessen Hand kurz.
„Ich meine es ernst, du machst mich stolz.“, wiederholte er, leiser dieses Mal und auch ein Stück weit ernster, obgleich das Lächeln nicht aus seinem Gesicht verschwand.
Er sagte es nicht um Clarence in Verlegenheit zu bringen oder damit sich der Blondschopf bedankte. Er sagte es, weil es die Wahrheit war und weil es sich richtig anfühlte.
„Leere Drohungen, Baby... du willst immer-...“, doch weiter kam er nicht, da spürte er den leichten Ruck am Arm, der ihm bedeutete nicht ganz so offensichtlich durch die Stadt zu flanieren. Matthew, der sonst eigentlich ein gutes Gespür für etwaige Bedrohungen hatte, im Moment wohl aber ein wenig zu ausgelassen war, folgte erst jetzt dem angespannten und besorgten Blick seines Mannes.
Ernst betrachteten die grau-blauen Augen ein Geschäft seitlich von ihnen, so als wähnte der Größere irgendeine Bedrohung darin.
Die lang nicht mehr gekochte Suppe und auch das Thema Bildung rückten für Cassie nun mehr vollkommen in den Hintergrund, auch wenn Clarence versuchte das Gespräch aufrechtzuerhalten.
„Was ist los?“, flüsterte der Dunkelhaarige angespannt ohne den Blick von den Läden zu nehmen welche die Straße säumten.
Er selber hatte nichts gesehen, noch nicht mal aus dem Augenwinkel heraus, aber er kannte Clarence lange genug um zu wissen, dass dieser Kerl sich selten irrte.
Ein ungutes Gefühl beschlich den Kleineren und seine Gedanken wanderten unwillkürlich wieder zurück zu dem Toten im Foyer.
„Und ich hab dich darum gebeten mir Jägerkram beizubringen, damit ich dir im Ernstfall eine Hilfe bin.“ - auch das hatte der Blonde bisher nicht getan, dabei war gerade das unter Umständen entscheidend.
Matthew sah über die Schulter zurück zu dem Geschäft welches Clarence so eindringlich im Blick behalten hatte und fragte unvermittelt:
„Haben wir gerade einen solchen Ernstfall, Claire?“ - er sprach leise und diskret, weil er nicht wusste ob jemand ihnen folgte und unter Umständen mithörte.
Vielleicht derjenigen der den armen Trottel in der Lobby umgebracht hatte, vielleicht andere Jäger, vielleicht aber auch einfach nur irgendwelche Landstreicher oder Glücksritter die sie im Auge behalten wollten, weil sie ihre Gegenwart fürchteten.
Es gab duzende Möglichkeiten, nicht alle mussten eine Bedrohung darstellen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit natürlich hoch war.
„Der Typ im Foyer...“, Cassie leckte sich über die Lippen und blickte geradeaus auf die Straße, den Weg und die sie umgebenden Gebäude aufmerksam beobachtend.
„Glaubst du, wer immer für seinen Tod verantwortlich war, ist jetzt hier und verfolgt uns?“
So schön wie die Sonne auch schien und so blau der Himmel auch sein mochte, unterm Strich war Frieden eine Illusion und das wussten sie beide.
Es gab immer wieder Momente in denen konnte man sich jener Täuschung hingeben ohne dafür mit dem Leben zu bezahlen und genau dies waren dann die Augenblicke in denen sie ausgelassen waren. Einander aufzogen, herumalberten, sich auf offener Straße küssten oder rangelten. Aber die Realität war, dass die Welt die sie umgab in ihrem Kern nicht friedlich war und sie waren gut beraten das auch nicht zu vergessen.
Die Momente stillen Friedens erkennen und nutzen, aber nicht vergessen wie es um sie herum wirklich aussah, dass war eine hohe Kunst die nicht viele beherrschten.
Die meisten Menschen ihrer Generation wurden nicht besonders alt, was zum Großteil daran lag, dass viele vergaßen auf sich aufzupassen.
Es war leichter das eigene Leben in fremde Hände zu geben, jemanden anzuheuern der Probleme für einen löste, es war leichter seinen Naivität mit einem guten Herzen zu begründen anstatt vorsichtig zu sein, es war leichter die Augen vor der Gefahr zu verschließen als sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Cassie, der in seinem Leben schon viele Menschen hatte sterben sehen, wusste wann es an der Zeit war die Illusion beiseite zu schieben und sich mit der Realität zu befassen.
Und Clarence musste niemandem mehr beibringen was es hieß aufzupassen.
Sie waren beide früh geprägt worden, hatten beide zeitig erfahren was passieren konnte wenn man nur eine einzige falsche Entscheidung traf.
Heute würde kein solcher Tag werden, nicht wenn sie beide aufeinander achteten und eben weil Matthew sich der Tatsache bewusst war, wie wichtig Aufmerksamkeit sein konnte und wie tödlich Naivität, war ihr Augenblick friedlicher Illusion nun mehr verstrichen.
Der Sonne war das freilich vollkommen egal, sie schien weiterhin von ihrem strahlend blauen Himmel herunter, so als könne nichts Schlechtes an diesem Tag passieren. Sie spiegelte sich in Scheiben aus Glas in gigantischen Häusern, in Metallstreben, wurde reflektiert von glitzernden Scherben... Miami ruhte, war friedlich, war verlassen. So könnte man die Sache sehen - oder man machte die Augen auf und erkannte, so wirklich friedlich war es hier ganz gewiss nicht.
Denn dem Mann im Foyer war Schlechtes widerfahren und er hatte sicherlich am Morgen zuvor nicht geglaubt, dass es sein letzter Morgen gewesen war.
„Sag mir was du glaubst.“
Vielleicht hatte er anfangs wirklich den ganzen Tag daran gedacht, der heiße gebildete Mann von Welt. Ans vernascht werden inmitten einer verlassenen Geisterstadt oder ans vernaschen eines anderen, je nachdem wie sich die Lage wendete. Das war ein reizvoller Gedanke gewesen als sie aufgebrochen waren und wenn man dachte, Matthew sei in ihrer Beziehung der einzige Part mit einem unstillbaren Hunger, so hatte man nicht den Appetit mit eingerechnet, der unlängst im Blonden erwacht war.
Doch je tiefer sie in die verlassenen Straßen Miamis vordrangen, umso mehr schweifte seine Aufmerksamkeit weg von unziemlichen Taten mit seinem Mann und hin zu den Dingen, die im Augenblick tatsächlich zählten und denen man dennoch nicht mehr Neugierde zuwenden durfte, als offensichtlich nötig.
Es wäre wirklich zu schön gewesen, könnte er simpel und ergreifend nur einen einfachen aber friedlichen Tag mit seinem Geliebten verleben, irgendwo durch alte Ruinen streifen und alle Sorgen nichts weiter sein lassen als das was sie waren: Unbrauchbare Emotionen, auf die man gut und gerne auch verzichten konnte. Ein ungefährliches Abenteuer ohne irgendetwas das ihnen nach dem Leben oder ihrer körperlichen Unversehrtheit trachtete, vielleicht war das ja tatsächlich der neue größte Wunsch des Jägers, der sich von potentiellen Gefahren sonst so anziehen ließ wie die Motte vom Licht. Seit ihrem Gespräch am Morgen von einer ernsthaften Zukunft die langsam Formen annahm anstatt nur ein Hirngespenst von irgendeinem kleinen Stück Land im Grünen zu sein, fühlte sich Clarence wesentlich glücklicher in friedlichen Gefilden, in denen Cassie sanft seine Hand drückte und ihn so offensichtlich vergötterte wie ein Katholik den Papst und eventuell vielleicht war genau das das Problem an der ganzen Sache.
„Was soll los sein? Lass uns weiter gehen“, entgegnete der Blonde nach kurzem Schweigen in ungewohnt sorgloser Manier, die nichts mehr von einer Lüge zum Schutz seines Mannes besaß sondern bedeutete: Lass dir nichts anmerken oder du machst es schlimmer als es in Wahrheit ist.
Dass Matthew seine Aufmerksamkeit mittlerweile auch zurück auf die Straße und ihre Umgebung gerichtet hatte war gut und dass sich der Kerl an seiner Seite nicht plötzlich umsah wie ein panisch gewordenes Tier das von einem Wilderer gehetzt wurde, zeichnete den Jüngeren abermals als außerordentlich talentierten jungen Mann aus. Clarence musste schon sagen, wenn er nicht so versessen darauf wäre seinen Partner aus dem ganzen Jäger-Kram herauszuhalten, wäre der Söldner wohl tatsächlich gut dafür geeignet um eines Tages umzuschulen – denn er warf, seiner Intuition folgend, schon den ganzen Tag über die richtigen Sätze zur richtigen Zeit ein. Ansonsten wäre Clarence nämlich erst viel später aufgefallen, was hier eigentlich falsch lief.
„Es würde mich wirklich wundern, wenn wir heute so etwas wie einen Ernstfall hätten. Wäre dem so, würde ich wohl kaum auf offener Straße Hand in Hand mit dir durch die Straßen schlendern ohne eine Waffe im Anschlag, oder? Ich glaube du siehst hier Probleme, wo überhaupt gar keine sind. Das ist normalerweise meine Aufgabe.“
Er hatte keine Ahnung ob Matthew diese Anspielung verstehen würde oder nicht, aber so lange er sich nicht gleich von seiner Hand los riss um mit Worten wütend auf ihn einzudreschen was hier gerade los oder nicht in Ordnung war, war alles gut – vorerst jedenfalls.
Sachte drückte er die Hand des Jüngeren, die Stimme zu keiner Sekunde gesenkt wie etwa jener, und ließ einige der leeren Autowracks, die die Straße blockierten, hinter ihnen und hoffte, dass Cassie ihm genug vertraute um dieses vermaledeite Spiel von Frohsinn und fehlender Besorgnis lange genug mitzuspielen bis der Jäger sich absolut sicher war in dem, was er schon seit geraumer Zeit vermutete.
„Ich glaube, wir sollten einfach diesen Tag genießen, meine dämlichen Bücher finden und uns dann einen netten Park suchen, um dort endlich unser Picknick abzuhalten das ich mir für uns versprochen habe. Was hältst du davon?“
Mit absoluter Gewissheit konnte er sagen, dass sein Mann davon absolut nicht viel halten würde – aber das war auch nicht das wichtige an der Sache, so lange Cassie seine Meinung für sich behielt.
„Ich glaube da hinten müssen wir schon rechts herum abbiegen und sind dann in der Straße wo wir die Bibliothek finden, kann das sein?“, deutete Claire den außer von Wracks und durchgebrochener Flora leeren Weg entlang, doch statt seinen Finger gen rechts zu neigen, zuckte er leicht in die linke Richtung.
Zwei Häuserecken weiter konnte er langes Haar erkennen das hinter dem Gemäuer hervor wehte. Dunkel und strähnig ließ es sich im Wind hinauf tragen das vom Strand her durch die geisterhaften Straßen wehte und wenngleich es sicher die Möglichkeit gegeben hätte umzudrehen und einen anderen Weg zu suchen, so wählte Claire sie nicht; mit jedem Schritt, den sie der Kreuzung und der Ecke näher kamen, gab das alte Gemäuer die Statur einer jungen Frau zu erkennen.
Sie war keiner der Geister um den herum plötzlich alles in Kälte verfiel, sie war nicht besessen und verbreitete den Gestank von Schwefel in der milden Brise und doch schien sie auch nicht menschlich zu sein. Ihre Haut war fahl, beinahe gräulich wie aus einem der schwarz-weißen Filme die man manchmal in den Lichtspielhäusern der Metropolen zu sehen bekam. Schuhe fehlten ihr, wohl schon seit längerer Zeit… ihre Beine und Arme wirkten aufgeschürft, so als habe man sie über rauen, steinigen Boden geschliffen und die Oberschenkel überzog eine seichte Marmorierung wie nur diejenigen sie aufwiesen, die näher am Tod als am Leben standen.
Schweigsam nahm Clarence seinen Mann fester an die Hand und betrachtete für einen Augenblick das Spiel der verschmutzten Fetzen im Wind, die einstmals der Rock eines verspielten, weißen Sommerkleides gewesen waren. Geblieben waren nichts als Löcher und Risse, einer der dünnen Träger hing ihr zerschlissen von der nackten Schulter und entblößte zum Teil ihre wohlgeformte Brust, während das arme Ding den leeren Blick von der Gasse hinauf zu den beiden Vorbeiziehenden hob.
Die Abstände wurden kürzer, dachte der Blonde betrübt bei sich, als er es schaffte den Blick von der traurigen Statur hinweg zu heben zu den Straßenschildern, die sich an der Kreuzung befanden und vor die er Cassie dirigiert hatte. Als er sie eben noch gesehen hatte, war ihr Kleid nicht annähernd so lädiert gewesen und vorhin im Foyer, hatte man in ihrem Antlitz noch die Schönheit erkannt, die sie einstmals geprägt haben musste.
„Hattest du vor… dir heute noch ein paar andere Dinge hier in dieser schönen Stadt anzusehen oder meinst du, wir können nach den bislang geplanten Tagespunkten zurück nach Hause?“
Im Laufe der gemeinsamen Zeit, hatte Matthew gelernt Clarence zu beobachten und ihn zu studieren. Er hatte gelernt sein Brummen richtig einzuschätzen und sein Schweigen zu deuten.
Nicht immer war es ihm leicht gefallen aus dem wortkargen Hünen schlau zu werden und aus den Dingen die er sagte, tat oder eben ungesagt und ungetan ließ die richtigen Schlüsse zu ziehen, doch mit zunehmender Dauer ihrer Kameradschaft hatte sich auch eine Vertrautheit entwickelt um die viele Paare sie beneiden mochten. Matthew hatte gelernt hinzusehen und hinzuhören, hatte gelernt bestimmten Signalen mehr Wichtigkeit beizumessen und somit schnell zu erfassen in welche Richtung die Dinge liefen.
Wie gut der junge Mann seinen Partner kannte wurde offenbar als er Clarence‘ Worten lauschte und sofort zwischen den Zeilen zu lesen vermochte.
Die sorglose Stimme und die augenscheinlich beruhigenden Worte des Größeren versetzten Matthew in Alarmbereitschaft - ohne dass er sich das anmerken ließ.
Mit gelassener Stimme erklärte Clarence ihm, es gäbe keinen Anlass zur Beunruhigung, kein Ernstfall bedrohte sie, keine Probleme zeichneten sich ab.
So ziemlich alles was der Blonde sagte war deeskalierend würden sie sich nicht so gut kennen hätte Cassie das Gesagte vermutlich für die Wahrheit gehalten.
Doch er verstand, was Clarence ihm sagte war nicht das selbe wie das was er ihm sagen wollte.
„In Ordnung... wenn alles gut ist, bin ich beruhigt.“, er lächelte kurz zu dem Größeren empor und richtete den Blick dann wieder auf die Straße.
Das Tempo seiner Schritte hatte sich weder beschleunigt noch verlangsamt und sah man von der Tatsache ab, dass er den Blick nun fokussierter auf ihre Umgebung statt einzig auf Clarence gelenkt hatte, wirkte Cassie völlig unvoreingenommen.
„Ein Picknick im Park?“, wiederholte er im Tonfall glaubhafter Überraschung und schenkte seinem Mann ein perfektes Lächeln dem man augenscheinlich nicht widerstehen konnte.
„Ich finde, dass klingt nach einer großartigen Idee.“, abermals führte er ihre beiden ineinander verwobenen Hände zu sich hinauf und drückte Clarence einen Kuss auf den Handrücken. Die Inszenierung war makellos und obgleich Matthew mit Absicht keinerlei Raum für Zweifel bezüglich der Ernsthaftigkeit seiner Worte ließ, so wusste er dennoch mit unumstößlicher Sicherheit, dass Clarence genau wusste er spielte das Spielchen einfach nur mit.
Zwar hatte der Dunkelhaarige noch immer keinen Schimmer davon was genau Clarence beunruhigte, doch er vertraute diesem Mann so sehr, er würde sich von ihm durch ein Minenfeld navigieren lassen - die Augen blickdicht verbunden.
Dem Fingerzeig des Blonden folgend, registrierte er das Zucken nach links und erblickte dort, halb verborgen von einer Häuserwand, die Gestalt einer jungen Frau.
Ihr fahler Teint war von bläulich schimmernden Adern überzogen und marmorierte die bleiche Haut. Das lange dunkle Haar wehte in der Meeresbrise und sank schließlich, als der Wind verebbt war, zurück auf ihre schmalen Schultern.
Das Kleid das sie trug war zerschlissen und schmutzig. Die vormals weiße Farbe wies einen grauen und an einigen Stellen rostroten Ton auf.
Binnen einer Sekunde erfasste Matthew nicht nur ihre Anwesenheit sondern ihre gesamte Gestalt, angefangen von dem abgerissenen Träger, bis hin zu den aufgeschürften Schienbeinen und nackten Füßen.
Und obgleich der Anblick ihn erschreckte und ihn innerlich zusammenzucken ließ, so reagierte er äußerlich kaum. Nur jemand mit einem scharfen und geübten Auge würde die Überraschung in seinen Augen erkennen, die kurze Anspannung seiner Muskeln als er reflexartig zu seinen Waffen greifen wollte und das kurze Stocken seiner Atmung.
Matthew vermied es, die Gestalt länger anzusehen als für jenen flüchtigen Moment und er vermied es ebenso Clarence Fragen zu ihr zu stellen.
Der Blonde hatte die junge Frau offensichtlich schon länger bemerkt und wenn er dennoch entschied weiterzugehen, dann... gingen sie weiter.
„Wir könnten nachher noch eine Runde am Strand spazieren gehen, findest du nicht? Die Stadtansicht bewundern und vielleicht eine Runde schwimmen gehen.“
Ein schöner Vorschlag, fast so schön wie die Vorstellung die Clarence ins Spiel gebracht hatte und die ein Picknick im Park beinhaltete.
Leider waren beide Ideen in Anbetracht ihrer Gesellschaft so reizvoll für Cassiel wie ein Treffer mit einem Stein gegen den Schädel und für Clarence galt ganz sicher nichts anderes.
Lautlos schluckte der Jüngere, ließ den Blick scheinbar beiläufig erneut über die Gestalt schweifen. Die dunklen, strähnigen Haare umrahmten ein zartes Gesicht das früher einmal sicher nicht unattraktiv gewesen war. Dunklen Abdrücken am Hals entnahm Matthew, dass man sie gewürgt hatte und genau wie auch der Mann im Foyer, so passte auch die junge Frau nicht hierher.
Die Hunde reagierten überhaupt nicht auf sie, so als würden sie die Anwesenheit der Gestalt gar nicht erst wahrnehmen.
Entgegen der Richtung in der die junge Frau wartete, bog das Vierergespann ab, folgte der breiten Straße in Richtung Bibliothek und ließen ihren stummen Verfolger erstmal hinter sich.
Je weiter sie gingen, desto weniger Autos fanden sie vor und schließlich erkannten sie am Ende des Straße auch den Grund dafür. Mehrere riesige Fahrzeuge standen quer und blockierten den kompletten Weg.
Derartige Maschinen hatte Matthew noch nie wahrhaftig zu Gesicht bekommen. Statt Rädern befand sich unter dem massiven Körper eine Art Kette um das Ding zu bewegen und oben verließ ein Rohr die Kammer. Insgesamt vier der großen Geräte standen so versetzt, dass ein Durchkommen mit Autos unmöglich gemacht worden war.
Die Menschen hatten nicht hier lang fahren sollen, weshalb auch immer.
„Diese Dinger kenne ich...Rouge hatte Aufzeichnungen von den Alten über viele Kriege die sie geführt haben.“, angespannt und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging Cassiel auf die dunkelgrünen Fahrzeuge zu.
„Die Alten nannten sie Panzer.“ das bloße Erscheinungsbild jener Maschinen verursachte schon Beklemmung bei Matthew, aber es half alles nichts.
Die South Shore Branch Bibliothek lag hinter der Absperrung und so mussten sie sich an den Kriegsgeräten vorbeidrängen.
Kaum so geschehen war ihr Ziel tatsächlich schon in Sichtweite, doch der Weg bis dahin war im wahrsten Sinne des Wortes vollkommen zerstört.
Häuser waren zu Ruinen geworden und in der Straßendecke befanden sich riesige Krater. Ob die Zeit im Zusammenspiel mit der Natur für das Chaos und die Zerstörung verantwortlich war bezweifelte Matthew. Für ihn sah es eher so aus, als hätte man am Ende auf die eigenen Leute geschossen...
Wäre die ganze Szenerie nicht so vertrackt und wäre es nicht wichtig einen äußerst klaren Kopf zu bewahren, Gott, wie gerne hätte Clarence sich in seiner Lage und diesem Mann neben sich verloren. Cassie konnte, wenn er dazu aufgelegt war, der charmanteste und schönste Mann der ganzen Welt sein. Fragte man sich wirklich wie es nur sein konnte, dass Clarence nicht besonders interessiert an Frauen war, so hätte ein einziger Blick an seine Seite ausgereicht um zu begreifen, woher diese Neigung nur stammte.
Das Zahnpasta-weiße Lächeln des jungen Mannes, sein – zumindest bis eben noch – stahlender Blick, die weichen Lippen, welche sich warm und wohltuend auf den rauen Handrücken des Christen legten… mhh. Matthew hatte nicht den geringsten Hauch einer Ahnung wie sehr Claire jede einzelne Faser des Andere liebte und wie dringlich er sich doch eigentlich nichts mehr wünschte als das, wovon sie sprachen. Eine idyllische, verlassene Stadt, ein Picknick im Park, ein Spaziergang am Strand vielleicht noch.
Wahrlich, er war nie ein großer Romantiker gewesen und je länger er mit seinem Gefährten zusammen war, umso mehr begriff er selbst, warum solch ein Verhalten nie Teil seines Charakters gewesen war: Weil er noch nie in seinem ganzen Leben jemanden so sehr geliebt hatte wie Matthew. Er war der Mensch, der das Beste im Älteren zum Vorschein brachte, der in ihm Wünsche aufkeimen ließ die er sich nie zu träumen gewagt hätte und der Claire sich fühlen ließ, als wäre er der wichtigste und kostbarste Mensch auf Erden. Mit seinem Mann an seiner Seite, zählte kein zweiter und zu keiner Sekunde seitdem sie verheiratet waren, hatte Cassie ihn je daran zweifeln lassen, all diese Empfindungen wären lediglich einseitiger Natur.
Gerade diese unabdingbare Zuneigung und dass Matthew Cassiel alles für ihn bedeutete waren Teil der Gewissheit, nichts und niemand würde sich jemals zwischen sie drängen können. Was auch immer geschah, es würde den Moment nie geben an dem der eine fortrannte um sich selbst zu retten, während der andere zurück blieb.
Sie beide zusammen oder gar keiner von ihnen, so wie es seit dem ersten Augenblick an gewesen war, an dem sie sich kennengelernt hatten.
Sehr wohl hatte der Jäger den Ruck und die kurze Anspannung im fremden Leib an seiner Hand bemerkt, als auch Matthew schließlich die junge, misshandelte Frau nicht mehr entgangen war. Anders noch als im Feld der Spinnen, wo der Jüngere trotz aller Anweisung nicht in der Lage dazu gewesen war Befehlen zu folgen und sich nicht zu rühren, blieb er tapfer an seiner Seite und hielt das Spiel aufrecht, zu welchem Clarence ihn angestiftet hatte. Das mochte einerseits daran liegen, dass sein Leben nicht in akuter Gefahr zu sein schien wie damals, als die Jungspinne tollwütig in seine Richtung gehechtet war; andererseits aber auch daran, dass die derzeitige Bedrohung wesentlich perfider und schlechter zu erkennen war wenn man nicht wusste, womit sie es überhaupt zu tun hatten.
„Diese Dinger… standen in New York auch schon herum, als ich mit Nagi dort war. In Straßensperren, ähnlich wie hier. Hab mich schon gefragt, ob wir so etwas in dieser Stadt hier auch finden werden…“, murmelte der Blonde nachdenklich nachdem sie sich zwischen den riesigen, schweren Ketten vorbei gedrängt hatten. Schon alleine der bloße Anblick dieser Ungetüme reichte aus, damit man sich am besten gar nicht erst vorstellen wollte wie es sich wohl anfühlen mochte unter die Räder dieser Monstren zu gelangen und doch hielten sich Respekt und Neugierde auf eine unangenehme Art die Waage. All diese Waffen, diese gewaltige Kriegskunst, welche die Alten hervor gebracht hatten… automatische und halbautomatische Maschinengewehre, jene von der Sorte die man heute nur noch auf dem Schwanzmarkt des Untergrunds erhielt, war ein Teil jenes fragwürdigen Erbes und wenn man sich betrachtete wie viel Energie die Menschen früher darin investiert hatten sich gegenseitig zu töten, wunderte es Clarence nicht, dass von ihnen nicht mehr viele zurück geblieben waren.
Beruhigend streichelte der Daumen des Bären über den Handrücken, den er beinahe noch eiserner als zuvor in der eigenen Hand hielt und von der er nicht den Anschein machte, als wolle er Cassie in allzu naher Zukunft je wieder loslassen - jedenfalls nicht, solange sie noch hier waren.
„Weißt du was ich mich immer frage, wenn ich Ruinen der Alten sehe? – Wann unsere Generation wieder an der Reihe ist“, beantwortete er die an Cassie gestellte Frage selbst, ohne diesem allzu viel Raum zu lassen seine Gedanken schweifen zu lassen.
„Wenn man sich die Geschichte anschaut, dann gab es nie mehr als ein paar Jahrzehnte ohne Krieg. Selbst Epidemien, die Pest, die ersten drei Weltkriege… nichts hat den Menschen je davon abgehalten, sich irgendwann wieder in großem Stil die Köpfe einzuschlagen. So groß, dass der vierte alles vernichtet hat… und irgendwann wird der Tag sicher kommen, an dem irgendjemand selbst heute noch auf die Idee kommt, wieder Krieg anzuzetteln.“
Selbst für Clarence, der aus einer Gemeinschaft kam die mit so ziemlich jedem Fremden zumindest etwas Ähnliches wie Krieg anzettelte, war dieser Begriff letztlich doch nur abstrakt. Menschenhorden die aufeinander los rannten, nichts mehr im Sinn als den Befehlen irgendeines anderen folgend, den sie vielleicht sogar noch nie im Leben zu Gesicht bekommen hatten… das alles kam ihm so irreal vor, dass es sogar seine – wie Cassie es sicher nennen würde - ausgeprägte Fantasie als Christ überstieg.
Schließlich war es ein beinahe schon über sich selbst wütendes Kopfschütteln, das seinen Fokus wieder herstellen sollte und unter dem er auch Matthew eines mahnenden „Lass dich nicht von denen ablenken“ bedachte. Nicht nur er hatte reges Interesse daran die Dinger näher zu erkunden, dessen war er sich gewiss – doch wenn um sie herum wirklich das lauerte, was er vermutete, dann würde ihnen nicht mehr allzu viel Zeit bleiben.
Voller Bedacht durchquerte er mit Matthew die zerbombte Straße, vorbei an aufgebrochenem Asphalt, an tiefen Gruben und seltsamen Kleidungsstücken von denen er vermutete, dass sie früher als eine Art Kopfschutz und Schild gedient haben mussten. Das meiste, was herum lag, war bereits von Moos überdeckt und war von den Zeichen der Zeit zersetzt worden, doch was dem Jäger darunter am meisten auffiel, war… dass neben all den Resten eines endlosen Krieges, der hier unter welchen Parteien auch immer geherrscht haben musste, noch immer die Reste von echten Leichen ihrer Zeit fehlte. Das Einzige, was sie bislang entdeckt hatten, war der zerfallene Kerl im Foyer des Büros gewesen und die seltsame junge Frau, welche sie seit geraumer Zeit verfolgte und beides waren Dinge, bei denen ihm noch immer die Stimme Cassies im Ohr nachhalte: Er gehört so überhaupt nicht hier hin und nun sitzt er in diesem hässlichen, stickigen Raum in dem es immer düster ist.
Voller innerer Anspannung ließ er sich von seinem Sight-Seeing-Führer an die Tür ihres Ziels dirigieren, die er ohne Matthew wahrscheinlich erst nach stundenlanger Suche gefunden hätte. Zu wissen in welche Gegend sie mussten war das eine – eine Tür unter tausenden zu finden etwas anderes, zumindest dann, wenn man das dicke Schild über dem Eingang nicht zuordnen konnte.
„Du bleibst bei mir, hast du verstanden? Nicht dass du mir verloren gehst, Prinzessin“, säuselte Clarence leise seinem Nebenmann zu, doch die unbesorgte Fassade bröckelte langsam aber sicher hörbar, während er die freie Hand an den Griff der Tür legte um das alte staubige Ding quietschend aus seinen Angeln zu ziehen.
Dahinter lag, im fahlen Licht versunken und von tanzenden Staubkörnern bedeckt, ein alter Eingangsbereich aus Holz dessen Dielen schon beim ersten Schritt schrien, als der Ältere seinen Fuß hinein setzte – und wäre er nicht Clarence Sky, vielleicht wäre ihm selbst auch ein Schrei entfahren, während er seinen Schritt direkt wieder zurück stolperte und halb in Cassie hinein.
Am großen hölzernen Tresen, der etwas erhöht beinahe den gesamten Flur zu ihrer Linken einnahm, saß eine etwas in die Jahre gekommene, aber durchaus noch rüstige Dame mit kurzem gelockten Haar und stierte den beiden jungen Besuchern aufmerksam entgegen, die hier völlig fehl am Platz zu sein schienen. Ihr gesamtes Erscheinungsbild war trist und grau, eine unverkennbare Gemeinsamkeit mit der jüngeren Dame die eben noch hinter ihnen her gewesen war – und doch schien sie wesentlich… zugewandter zu sein, als ihre werte zerschundene Kollegin.
„Ja, bitte?“, rauchig erfüllte ihre Stimme den Raum, während sie die Männer in der Türe eindringlich musterte. Ein langer, schmaler Finger stahl sich dabei auf die Brücke ihrer Brille und rückte die halbmondförmigen Gläser zurecht, um ihre Besucher besser erkennen zu können. Irgendwie erinnerte die Erscheinung ihn ein wenig an eine der Frauen aus den Bars, die zu jungen Jahren ein wildes Leben in Saus und Braus geführt hatten und einfach nicht begreifen wollten, ihre Zeit war längst abgelaufen; aber auch diese Erkenntnis änderte nichts daran, dass Clarence zunehmend begriff, in welche Lage sie geraten sein mussten.
„Kann ich Ihnen helfen? Wenn Sie eines der Bücher abgeben wollen, legen sie es einfach hier bei mir auf den Schreibtisch. Falls Sie eines suchen… tun Sie mir bitte den Gefallen und klauen nicht, wie manche von den anderen Plünderern. Ich lege Ihnen gerne eine Kundenkartei an und wenn Sie irgendwann wieder in der Gegend sind, bringen sie es einfach zu uns zurück. Meinen Sie beide, sie bekommen das hin? Wenn Sie mir sagen, was Sie suchen, kann ich Ihnen sicher sagen in welchem Gang sie fündig werden, meine Herren. Also?"
Noch halb an Matthew gedrängt, bebte der Torso des Jägers spürbar als er tief durchatmete um sowohl Konzentration, als auch Mut zu sammeln wieder in den Eingangsbereich hinein zu treten. Mittlerweile hatte er das Gefühl, die Finger des anderen in seiner Hand beinahe schon zu zerquetschen und doch würde er sich lieber selbst noch einmal etwas abhaken, anstatt den Mann an seiner Seite loszulassen.
Zögerlich und ungewohnt vorsichtig trat Claire an das Pult heran, eine gewisse Distanz zwischen sich und der Gestalt lassend zu derer er ein wenig hinauf blicken musste um sie ansehen zu können, und räusperte sich nach längerem Schweigen.
„Cassandra Steen, wir suchen die-“
„Ahh, die Steen-Serie. Ich weiß, wovon Sie reden“, unterbrach sie den jungen Mann noch bevor er zu Ende gesprochen hatte durch einen lauten Rumms, als sie einen wuchtigen Holzkasten vor sich auf den Schreibtisch niederkrachen ließ. Was genau sich dort drin befand konnte Clarence nicht erkennen, doch ihrer Gestik zufolge schien sie durch diverse Karteien hindurch zu blättern, bis die Dame schließlich eines der Blättchen vor ihre bebrillte Nase hob.
„Fünfter Gang, Regal 3C. Irgendwo mittig.“
Abschätzend stierte sie auf Clarence hinab und im Moment konnte dieser nicht genau sagen, wie er sich fühlte. Es war noch immer keine Kälte wie die, die einen überkam, wenn man einen Geist vor sich hatte; stattdessen wirkte ihre rauchige Stimme beinahe einlullend un ein gewisser Stich von… Schuld durchdrang seine Brust, während die fremde Graue ihn mit abwartenden, fahlen Augen taxierte.
„Gut, ich… danke“, erfüllte das zurückhaltende Brummen des Jägers den kleinen Raum.
Er gehört so überhaupt nicht hier hin und nun sitzt er in diesem hässlichen, stickigen Raum in dem es immer düster ist, drang es ihm abermals durch die Erinnerung und auch auf die Frau vor ihnen traf dies irgendwie mehr als passend zu. Sie gehörte nicht hier hin, ebenso wenig wie das Mädchen im Sommerkleid oder der Typ im Foyer es getan hatten und der Blonde blinzelte träge wie jemand von der Sorte, der das große Ganze erkannte aber nicht begriff.
Sachte zog er an Cassies Hand, folgte dem Wink ihrer Informantin durch den offenen Türbogen neben ihr in den dahinter liegenden Raum. Ein einziger Blick reichte aus um zu erkennen, dass die Örtlichkeit mehr eine kleine Stadtbücherei war als eine echte Bibliothek und dass ausgerechnet hier zu finden sein sollte wonach sie suchten, schien mehr unverschämtes Glück zu sein als alles andere.
An alten, abgegriffenen Regalecken vorbei, konnte Clarence in der Luft den Duft von modrigen Büchern und trockener Luft riechen, wie sie wohl in jeder Bibliothek der Welt ähnlich roch. Selbst die Sammlung im Hauptquartier der Kestrels wies einen ähnlichen Geruch auf, doch wirkliches Heimweh wollte sich deshalb nicht bei ihm einstellen.
„Du hast gesagt, du wünscht dir ein Haus am Meer“, ergriff er plötzlich wieder das Wort, scheinbar aus einem völlig unzusammenhängenden Gedankengang heraus. „Mit einer Veranda auf der ich morgens sitzen kann, bevor ihr alle wach seid. Aber wenn ich gar nicht ans Meer will, sondern… irgendwo anders hin. Ich meine… du würdest mit mir mit kommen, oder?“
Einige Reihen weiter hielt er plötzlich inne, schon längst an Gang Fünf vorbei.
„Ganz egal wohin. Du würdest mir vertrauen, dass es dort besser ist als am Meer. Nicht wahr?“
Ein knappes Nicken bestätigte Clarence was er wissen wollte, nämlich das Matthew bei ihm bleiben und ihm nicht verloren gehen würde.
Was auch immer genau in dieser Stadt vor sich ging, die Beharrlichkeit mit der Clarence sein Ziel im Fokus behielt war faszinierend und beängstigend zu gleichen Teilen. Es wäre ein Leichtes gewesen ihren Ausflug zu beenden und stattdessen woanders nach dem Lebenswerk der verrückten Autorin zu suchen. Nichts zwang sie dazu, jene Bücher heute und hier finden zu müssen und doch schien ein Rückzug nicht in Frage zu kommen.
Stattdessen führte der Blonde sie weiter, vorbei an den Überresten der alten Welt in der doch etwas ganz Entscheidendes fehlte.
Wohin man auch sah, überall lagen von der Natur vereinnahmte Trümmer. Zerstörte Straßen und Gehwege, umgefallene Figuren aus Stein, zerbrochenes Glas. Zwischen den Rissen im Asphalt blühten gelbe Blumen und Büsche und Bäume hatten sich in einer Ruine angesiedelt die einstmals ein Yacht- und Segelclub gewesen war. Es war eine Stadt der Millionen gewesen, unzählige Menschen hatten hier gelebt und unzählige waren auch hier gestorben.
Matthew, der sich so gut es ging nichts von seiner Anspannung anmerken ließ, suchte die Umgebung nach weiteren stillen Beobachtern und Verfolgern ab, aber die Straßen und Gassen schienen menschenleer. Sie hatten die Bibliothek erreicht, ein Gebäude aus Beton und Glas. Auf den Stufen vor der Tür war der Boden von Ruß geschwärzt.
„Claire... müssten hier nicht... müssten hier nicht mehr Menschen sein?“, fragte er den Größeren leise aber in relativ ruhigem Tonfall.
Das Fehlen von Leichen oder Skeletten war frappierend und während Clarence ihm eingangs noch hatte weismachen wollen, die meisten Menschen seien geflohen und die Überreste derjenigen, die in der Stadt gestorben waren, waren Tieren, Muties und der Witterung zum Opfer gefallen, war diese Erklärung längst nicht mehr stichhaltig.
So wie Matthew die Sache sah, hatte man alles versucht die Menschen an einer Flucht zu hindern. Man hatte Straßensperren errichtet um die Leute nicht wegkommen zu lassen und trotzdem hatten sie seit ihrer Ankunft nicht mal eine Handvoll Toter gesehen. Was bedeutete das konkret? Der Dunkelhaarige wusste es nicht, aber er wusste dass etwas hier ganz und gar nicht stimmte.
Auch dem Größeren fiel es zusehends schwerer die Fassung zu bewahren, eine Tatsache die Cassiel nicht gerade mehr Mut machte.
Doch die Entscheidung, das Gebäude zu betreten, war gefallen und mit einem hohen Kreischen bewegte sich die Türe als Clarence jene nach außen zog.
Dahinter lag, scheinbar seit Jahrzehnten unberührt, ein Raum der mit Holz verkleidet war.
Der Boden war relativ sauber, doch winzige Staubkörner tanzten in der Luft und schimmerten im Licht. Es roch modrig und abgestanden, der Geruch von altem Holz und Papier. Cassiel überblickte den relativ kleinen Raum schnell und aufmerksam und zuckte jäh zusammen als sein Gefährte den ersten Schritt nach vorne tat und das Parkett unvermittelt ächzte.
Clarence rempelte unsanft gegen ihn als er hastig zurücksprang und Matt war kurz davor zu entscheiden, dass sie besser gehen sollten. Sein Herz klopfte schnell und laut und seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
Einzig Kain und Abel schienen vollkommen unbeeindruckt zu sein.
Mutig oder leichtsinnig - wenn es denn da überhaupt einen Unterschied gab - ging Clarence voran, ignorierte das Knarren des Fußbodens und nötigte somit auch Matthew dazu ihm zu folgen. Der Jüngere machte sich schweigend auf den Weg, blickte nach links und zuckte mit einem Mal so heftig zusammen, dass er damit sogar die Hunde erschreckte.
„Verdammte Scheiße!“ entfloh es ihm ungehalten und er erwiderte den stierenden Blick der Frau strafend.
Die Angst die Clarence zu haben schien, war absurderweise gerade von Matthew abgefallen und zwar nicht etwa weil die Situation weniger bedrohlich erschien als eben noch, sondern weil die ältere Frau merkwürdig normal anmutete. Sah man von der Tatsache ab, dass sie in einer Bibliothek der Alten hockte und so tat als sei nicht längst alles den Bach herunter gegangen.
Ihre grauen Haare waren glanzlos aber ordentlich zurechtgemacht, ihre Augen auch irgendwie stumpf aber sie wirkte weder tot, noch wie jemand der Andere tötete.
Ungewohnt eingeschüchtert wirkte Clarence angesichts der Fremden und wagte es trotz seiner Angst, zu formulieren warum sie hier waren.
„Sie haben echt Nerven hier zu sitzen.“, entgegnete Matthew als die Dame ihnen bereits verraten hatte wo es die Steen Reihe zu finden gab.
Die Fremde beäugte ihn abschätzend und ein winziges Lächeln schien daraufhin ihre Lippen zu umspielen.
„Wo sollte ich denn Ihrer Meinung nach sitzen, junger Mann?“, fragte sie ihn, doch Cassiel gab ihr keine Antwort. Mit der Alten stimmte etwas nicht, genau wie mit der gesamten verdammten Stadt etwas nicht stimmte.
Er war noch immer verärgert darüber so erschreckt worden zu sein und behielt die Frau die ganze Zeit über im Auge, während Clarence ihn hinter sich her zog.
Erst als sie zwischen einer Reihe Bücherregale verschwunden waren, sah Cassie wieder nach vorne und begutachtete die Unmengen an Büchern.
Mochte ja sein, dass sie nur eine Bücherei statt eine richtige Bibliothek gefunden hatten, aber die Menge an Büchern war nichtsdestotrotz beeindruckend.
Der Größere führte ihn durch die beschrifteten Gänge, vorbei an Sachbüchern, Thrillern, Sci-Fi und letztendlich auch vorbei an Gang Fünf.
Doch noch bevor Matthew etwas sagen konnte um ihn auf den augenscheinlichen Fehler hinzuweisen, erhob Clarence wieder die Stimme
Scheinbar ohne jeden Zusammenhang kam er zurück auf ihre Pläne bezüglich des Hauses zu sprechen und Cassiel betrachtete ihn irritiert.
Das Verhalten seines Gefährten bereitete ihm zunehmend Sorgen, Clarence sprach in Rätseln weil er glaubte er müsse es tun, weil sie andernfalls in noch größere Gefahr kamen als sie ohnehin schon waren.
Matthew begriff, dass das Haus am Meer nur eine Umschreibung war und es gerade nicht wirklich darum ging.
Auch wurde ihm bewusst, dass Clarence nicht aus Versehen an Gang Fünf vorbeigeeilt war. Gang Fünf war das Meer, an das er plötzlich gar nicht mehr wollte.
„Ich würde mit dir überall hingehen.“, erwiderte er. „Wenn du nicht...ans Meer möchtest, sag mir wohin du willst, dann kann ich die Augen danach offenhalten. Vielleicht finde ich dann genau...das Richtige für uns.“
Deckenhoch spannte sich Regal an Regal, bildete Gänge und Reihen, doch was noch wichtiger war: Es bildete auch einen Schutz, den ein riesiger offener Laden oder ein überschaubares Büro nicht bot.
Sorgsam zog er Matthew ein paar Schritte weiter in eine der seitlichen Sackgassen hinein, überflog mit dem Blick unaufmerksam die bunten Buchrücken, welche sich ihnen entgegen wandten. Farben und Formen sprangen sie an, manche der Lettern größer, andere kleiner. Einige Buchstaben waren besonders schön verschnörkelt und boten einem ungeschulten Auge, wie Clarence es besaß, nichts anderes als Kauderwelsch doch für einen Matthew Cassiel, der all diese Schriftstücke zu lesen vermochte, musste das hier sicher das reinste Paradies sein – selbst unter derart zunehmend unglücklichen Umständen, derer selbst sein Mann sich nicht mehr länger verschließen konnte.
Sich die Lage schön zu reden lag sicher in der Natur des Menschen und hatte sie über Generationen hinweg dazu gebracht, selbst unter misslichsten Umständen noch ein kleines Fünkchen Hoffnung zu erkennen. Optimismus trieb einen an, der Lichtschimmer am Horizont war es der einen immer weiter machen ließ, ganz egal wie sehr einem die Füße vom Rennen bereits schmerzten… denn man gehörte nicht an einen stickigen Ort, an dem es immer düster war.
Auch das Herz des Blonden war einmal ein solcher Ort gewesen, bis zu jenem Tag als der freche Taugenichts in sein Leben getreten war. Matthew hatte die Finsternis vertrieben um wieder Licht in sein Dasein zu bringen, er hatte ihn Freude und Liebe spüren machen in einem Ausmaß vom dem Claire gar nicht wusste, dass ein einziger Mensch dazu in der Lage war. Für den Mann an seiner Seite würde er so ziemlich alles tun, er würde mit ihm bis ans Ende der Welt folgen wenn Cassie es denn sehen wollte, würde ihm bis an den Grund des Meeres hinterher tauchen wenn er von Bord ging und allem voran sein eigenes Leben aufs Spiel setzen wenn es nur darum ging, das des anderen zu retten.
Matthew war sein vorlauter Schimmer am Ende eines viel zu langen Tunnels, seine Erlösung aus Jahre andauerndem Leid. Aber allem voran war dieser Mann sein Mann und nichts würde ihn je davon abhalten können alles zu tun was in seiner Macht lag, um Cassie unbeschadet auch aus der misslichsten Lage zu retten.
Völlig unerwartet stahl sich ein warmes Schmunzeln auf die Lippen des Bärtigen, als die Worte seines Partners seine Aufmerksamkeit wieder einforderten. Egal ob in Rätseln und unter dem vorsichtigen Deckmantel unscheinbarer Worte ausgesprochen oder nicht, doch zu wissen, Matthew würde mit ihm überall hingehen, ließ selbst in der Kälte der angespannten Situation ein warmes Gefühl in seiner Brust aufkeimen.
„Ich liebe dich unbeschreiblich, weißt du das?“, fing er sachte wieder an mit dem Daumen über den Handrücken des Jüngeren zu streicheln und zog ihn sanft etwas näher zu sich heran, Matthew mit dem Funkeln warmer Verliebtheit in den Augen betrachtend. „Wer weiß schon in welchem düsteren, stickigen Raum wir jetzt wären, wenn wir uns nicht hätten. Du bist… mein Zuhause, Cassie. Und egal wohin wir gehen, solange wir zusammen bleiben, dann… fühlt sich die Welt echt an. Verstehst du, was ich meine…?“
Vorsichtig hob er die freie Hand an die stoppelige Wange des Mannes vor sich, genoss das Gefühl der fremden Haut auf seiner und strich liebevoll hinauf durch das dunkle Haar, in dem er sich noch so gerne vergriffen hatte als es noch länger gewesen war.
Oh wie sehr Cassie ihm gefiel, gleich wie viele Narben er trug, ganz egal wie es um sein Augenlicht bestimmt war oder um seine Ohren oder sonst irgendein Detail, das ihn in seinem gesamten Sein letztlich doch nicht entstellen konnte – all das ahnte der junge Mann an seiner Seite nicht im geringsten. Schon vom ersten Moment an hatte sich Clarence zu diesem Kerl hingezogen gefühlt, sicher noch nicht annähernd so sehr wie heute, aber ausreichend um zu erahnen, wie wichtig dieser ihm einstmals sein würde.
Zart drängte er Cassies Kinn zu sich hinauf und suchte für einen Moment seinen Blick, bevor er die Lippen des anderen mit den seinen suchte und fand. Warm und weich war der Kuss, den er sich von seinem Mann einforderte und beinahe schien es so, als wolle Clarence ihn am liebsten nie mehr enden lassen. Wie sehr das in Wirklichkeit der Tatsache entsprach, konnte Matthew wohl kaum erahnen und selbst als er ein zweites Mal etwas kürzer die Lippen des Jüngeren küsste, schien der Hunger des Bären nach seinem Geliebten nicht annähernd gestillt zu sein.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich… das Richtige für uns bereits gefunden habe. Aber nur wenn wir zusammen gehen, denn alles andere wäre nur wie ein… Traum, aus dem es ansonsten kein Erwachen gibt.“
Behütend küsste er die Stirn seines Partners, gefühlvoller dieses Mal, bevor er sich letztlich von ihm löste und auch Cassies Hand nach all der Zeit endlich wieder los ließ. Ein paar Schritte nur trennten ihn von der Ecke des Regals, wenige Meter nach denen er vorsichtig über die Schulter den Gang hinunter spähte, doch den Eingangsbereich noch immer als weitestgehend verlassen vorfand, wenn man von der grauen Dame absah die ihren Schreibtisch hütete.
Vorsichtig öffnete er den Verschluss seines Holsters und zog den Revolver hervor, den er schon auf offener Straße nach ihrem Besuch in den eigentümlichen Büroräumen in der Hand gehalten hatte. Die Trommel war vollgeladen und noch immer schimmerten die Patronen ihm selbst im fahlen Licht der Bibliothek golden entgegen, als er vier der sechs Kugeln lautlos und gut sichtbar für Matthew in seine andere Hand gleiten ließ.
Golden, nicht Silber – so wie sie eigentlich schimmern sollten, wenn auch nur irgendetwas mit dieser Stadt hier in Ordnung wäre.
Ein letztes Mal noch blickte er hinüber zu seinem Mann, sich dem schmalen Grat, den er betrat, durchaus bewusst. Es war nicht das erste Mal für den Jäger sich in einer derartigen Lage zu befinden und trotzdem konnte es immer das letzte Mal sein, wenn er sich seiner Sache nicht zu hundert Prozent sicher gewesen wäre.
An seiner Schulter konnte er ein Vibrieren im Bücherregal spüren, an dem er lehnte - beinahe schon einem zornigen Zittern gleich, bevor ein großer Ausbruch folgte. Selbst die alten Holzdielen unter seinen Füßen begannen lautlos zu beben als Clarence den Revolver verschloss um den kalten Lauf unter sein Kinn zu pressen… bis der laute Schuss, mit dem er sich selbst tötete, plötzlich die Stille der Bücherei zerriss.
Augenblicklich sackte der leblose Körper des Älteren an den Regalen hinab zu Boden und tränkte Buchrücken, Holz und die Dielen. Die zähe Mischung aus Blut und rosigem Fleisch hatte sich bis in den Gang verteilt und aus der Eingangshalle ertönte ein spitzer Schrei, zunehmend geschluckt durch das Dröhnen des bebenden Gebäudes und dem dumpfen Aufschlag von Büchern, die durch die Vibration der wütenden Stadt von ihren Brettern getanzt wurden.
Irgendetwas an der Art wie Clarence mit ihm redete gefiel Matthew nicht.
Es war, als würde der Größere Lebewohl sagen wollen ohne sich wirklich zu verabschieden und überhaupt, wohin sollte er schon gehen?
Sie hatten in die verdammte Bücherei gewollt und nun waren sie in der verdammten Bücherei, sie würden die Bücher holen und dann wieder verschwinden. Das hier war nicht das Ende der Welt, nicht das Ende ihrer Reise.
„Ich weiß und ich liebe dich auch.“, entgegnete Matthew unsicher auf die Worte des Älteren hin. Nicht etwa seine Gefühle für Clarence waren es, die er anzweifelte, sondern die Richtung in die ihr Ausflug zu verlaufen begonnen hatte.
Das sanfte Streicheln des fremden Daumens über seinen Handrücken, die Art wie Clarence ihn ansah, sein Lächeln, sogar sein Kuss... in alledem schwang unterschwellige Angst mit. Es waren nur Nuancen, aber für Matthew waren sie deutlich zu sehen und zu spüren.
„Wer weiß schon in welchem düsteren, stickigen Raum wir jetzt wären....“
Matthew verengte seine Augen ein bisschen und versuchte zu verstehen was Clarence meinte.
Er wusste, der Größere wählte jedes Wort mit Bedacht, er wusste auch es war wichtig zu begreifen was er meinte und doch konnte Matthew Cassiel Sky ausgerechnet heute nicht verstehen, was genau los war.
„Du bist... mein Zuhause, Cassie.“ kam es Clarence über die Lippen und der Kleinere nickte zögerlich. Was auch immer hier vor sich ging, die Angst seines Geliebten übertrug sich auch auf ihn und alles was er mittlerweile noch wollte war diesen Ort wieder zu verlassen. Er wollte raus aus der Bücherei, runter von den gespenstisch leeren Straßen Miamis, raus aus der Stadt.
Er wollte nach Hause gehen.
„Lass uns heim gehen...“, flüsterte Matthew kaum hörbar und sah flehentlich zu seinem Mann empor. Er wünschte er würde besser verstehen, er wünschte er wäre eine Hilfe und dass er begreifen würde, was Clarence versuchte ihm mitzuteilen.
Nähe suchend schmiegte er sich der Hand entgegen, die sein Liebster an seine Wange gelegt hatte. Die Berührung war vertraut und tröstlich, obgleich Cassie gar nicht richtig benennen konnte warum er traurig war.
Ohne zu zögern und so als habe er die ganze Zeit schon darauf gewartet, umarmte Matthew mit der freien Hand seinen Geliebten vor sich, drängte sich an ihn und erwiderte den melancholischen Kuss energisch, so als könne er jedes ungute Gefühl und jede Angst allein schon durch einen beherzten Kuss besiegen.
Aber dem war nicht so und als Clarence erneut die Stimme erhob, da stachen die Worte wie Glasscherben in Matthews Herzen.
Noch immer verstand er nicht was los war, aber er verstand auf irgendeiner Ebene was Clarence vorhatte.
Endlich machte der Kummer des Blonden Sinn, seine Angst und seine Unruhe.
Wie angewurzelt und als wäre er nicht er selbst stand Cassiel da und starrte seinen Mann an. In seinem Kopf hallten die Worte des Anderen nach.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich… das Richtige für uns bereits gefunden habe. Aber nur wenn wir zusammen gehen, denn alles andere wäre nur wie ein… Traum, aus dem es ansonsten kein Erwachen gibt.“
Die Hand, die Clarence bis eben noch gehalten hatte, fühlte sich leer und nutzlos an, nun da der Größere sie freigegeben hatte und Cassie dachte noch daran ihn zu bitten seine Hand wieder zu nehmen, aber er sagte nichts - nicht weil er nicht wollte, sondern weil alles viel zu schnell ging.
Clarence öffnete sein Holster, schon unendlich oft hatte Matt ihn das tun sehen und noch immer kam ihm alles so schrecklich surreal vor.
„Baby?“, aber Clarence sah ihn nicht an, er entfernte vier der sechs Kugeln aus der Waffe, klappte die Trommel wieder zu - begleitet vom charakteristischen Klicken.
Erst jetzt hob er wieder den Kopf und schenkte Cassiel einen entschuldigenden Blick. Er musste nichts sagen, musste keine weiteren kryptischen Brotkrumen in die richtige Richtung verstreuen. Es war letztlich dieser eine Blick, der Matthew mit Entsetzen begreifen ließ was sein Geliebter zutun gedachte.
Binnen dem Bruchteil einer Sekunde schaltete der Dunkelhaarige, machte einen Schritt nach vorn um Clarence die Waffe aus der Hand zu reißen, doch dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt. Der Schamane war schneller.
Der Knall welcher auf die Betätigung des Abzugs folgte war ohrenbetäubend, zerriss die Stille und fror zugleich alle Bewegungen des Jüngeren abrupt ein.
Warmes Blut war Cassie an die Wange gespritzt, aber er registrierte es nicht einmal. Mit weit aufgerissenen Augen und mit sich überschlagendem Herzen starrte er auf den Leichnam seines Mannes.
Er schrie, schrie so laut und kraftvoll und doch hörte er seine eigene Stimme nicht.
Eben noch hatten sie sich geküsst, eben noch hatte Clarence ihn gestreichelt, zu ihm gesprochen und ihm versichert ihn zu lieben. Jetzt, nur wenige Augenblicke später, lehnte er tot an dem Bücherregal. Unwiederbringlich von ihm entrissen.
Das Grollen und Beben der Wände und des Bodens war zur Nebensache verkommen, keine Erschütterung konnte so heftig und alles verändernd sein wie Clarence‘ Tod. Wie in Trance überwand Cassiel die wenigen Schritte die ihn von seinem Mann trennten, er fiel auf die Knie, griff nach dem schlaffen Handgelenk des Größeren und zog ihn unter heftigem Schluchzen an sich.
„Nein, nein, nein, nein...“, wiederholte er weinend. Seine Atmung drohte zu versagen, weil sich seine Lungen einfach nicht mehr mit Sauerstoff füllen wollten.
„Nein...!“, dieses Mal schrie er das Wort laut und verzweifelt heraus. Er drückte Clarence an sich, der sich noch immer warm anfühlte aber vollkommen leblos war.
Wie bei einer kaputten Puppe sank sein Kopf nach vorn auf die Brust, offenbarte das faustgroße Loch am Hinterkopf welches das Projektil gerissen hatte und ließ Matthew abermals lauthals schreien. Nicht vor Ekel über all das Blut, sondern vor unendlichem Schmerz.
Den Arm um Clarence‘ Oberkörper gelegt, drückte er den Toten an seine bebende Brust, legte die freie Hand an die bärtige Wange und verschmierte sie dabei mit Blut.
„Oh Gott nein...bitte, bitte nicht....“, flehte er Clarence an, doch dieser war fort. Er öffnete nicht erneut seine Augen, fand nicht überraschend zurück zu ihm.
Tränen perlten von Matthews Wangen auf die des Anderen herunter und er fing an, ihn hin und her zu wiegen.
„Warum tust du mir das an, Baby? Warum tust du mir so weh?“, wollte er wissen, erhielt jedoch keine Antwort mehr.
Schon einmal hatte er Clarence tot gewähnt. Schon einmal hatte er geglaubt die Liebe seines Lebens verloren zu haben. Doch dieses Mal lagen die Dinge anders.
Keine Spinne hatte ihn betäubt und egal wie sehr er suchen würde, dieses Mal würde er keinen Puls mehr finden - und sei er noch so schwach.
Endgültig war das Wort welches sich in seinem Kopf festsetzte, während Bücher um ihn herum aus den Regalen fielen. Einige von ihnen fingen Feuer auf ihrem Weg hinab, aber selbst das bemerkte Matthew kaum.
Er presste das Gesicht an Clarence‘ Hals, sog den Geruch seiner noch warmen Haut ein und schrie abermals vor Schmerz auf. Sein Herz schien nicht nur in tausende Splitter zersprungen, es war zerstört.
Niemand konnte sich auch nur im Entferntesten ausmalen wie groß das Loch war, dass der Anblick seines Mannes in Matthews Seele gerissen hatte. Mitansehen zu müssen wie der einzige Mensch den man liebte sich das Leben nahm, war nichts das zu ertragen Cassiel im Stande war.
Die Augen fest zusammengepresst schrie er noch immer gegen Clarence‘ Hals während die Regale und die Wände um ihn herum mit einem Mal lodernd in Flammen aufgingen. Die Hitze ließ Schrauben und Scharniere der Schränke schmelzen und binnen weniger Augenblicke verwandelte sich der gesamte Raum in ein Inferno. Mit tränennassen Wangen hob Matthew den Kopf von der Halsbeuge seines Liebsten und blickte sich um. Die Flammen spiegelten sich in seinen bis auf den Schmerz leeren und Augen und reglos blickte er den Flur hinab.
Dort wo zuvor noch das Vorzimmer der grauen Dame gewesen war, war nur noch eine flammende Hölle zu erkennen, aus welcher sich die Gestalt der Alten zu schälen begann.
‚Nicht menschlich...´, dachte Cassiel abgeklärt und blickte zurück nach unten, auf den Mann in seinen Armen. Wenn das hier das Ende war, dann war es das Ende für sie beide und wenn sein Liebster nur im Tod einen Ausweg gesehen hatte, dann würde Matthew ihm auch dorthin folgen.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich… das Richtige für uns bereits gefunden habe.“, hatte der Größere zu ihm gesagt, Worte deren Bedeutung sich Matthew erst jetzt erschloss. Er presste die Lippen aufeinander, ein klägliches Schluchzen unterdrückend. Ein letztes Mal strich er mit den Fingern durch den blonden Schopf, so als müsse er Clarence beruhigen...
Damn griff er nach der Waffe am Boden, die von der Hitze des Feuers heiß geworden war und setzte sich den Lauf an die Schläfe.
Er hatte keine Angst davor zu sterben, er hatte keine Angst davor einem Irrtum seines Liebsten zum Opfer zu fallen.
In seinen letzten Sekunden hatte Matthew Angst, leben zu müssen - ohne Clarence.
Und so folgte mit dem zweiten lauten Knall, die Erlösung für ihn. Schwärze und Vergessen, Stille und Frieden. Der unerträgliche Schmerz verebbte in jener Sekunde da er den Abzug betätigte und sein letzter Gedanke war mehr ein Gefühl als alles andere...
Es war die Hoffnung, Clarence wiederzufinden, wohin auch immer dieser gegangen war.