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Strand

13. Juni 2210


Clarence B. Sky

Leise klimperte und rieb es, während längst zu Kies zerfallenes Gestein dumpf vor sich hin knirschte. Es war ein Geräusch, welches lange nicht mehr auf diese Art ertönt war und das wohl doch nie so recht in Vergessenheit geraten würde; trotzdem hatte sich an jener Kulisse unlängst etwas geändert, denn die Dinge waren schon seit einigen Monaten nicht mehr so, wie sie einst gewesen waren.

Heute mochte es noch immer das Metall von gut geölten Waffen in einem Holster sein welches leise sein Klimpern ertönen ließ und noch immer konnte man das Reiben eines vollen ledernen Köchers auf dem Rücken eines jungen Mannes vernehmen, aber das rhythmische Knirschen von Gestein und zertretenem Gras rührte nicht länger nur von einem einzigen Paar Schuhe her. Seit ihrer Hochzeit war kein einziger Tag vergangen, an dem die Füße des bärenhaften Hünen den Boden außerhalb ihres Bootes nackt berührt hätten und was noch viel wichtiger war: Ihre vernehmbaren Schritte hallten nicht weit entfernt voneinander vor sich hin – die einen auf dem befestigten Weg, die anderen abseits in Büschen oder hohen Gräsern – sondern dicht an dicht in einer Nähe zueinander, wie man sie sich früher in den kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können.

Die Finger des Jägers, unvollständig von all dem Kummer den das Leben ihm einst beschert hatte, hatten sich bereits seit Aufbruch gen Ruinen mit denen der Hand seines Mannes verwoben und wenngleich es unerlässlich gewesen wäre allzeit bereit für die Gefahr zu sein und die Fingerspritzen an den Waffen zu haben, so konnte Clarence an diesem sonnigen Tag partout nicht von seinem Mann ablassen. Vielleicht lag es daran, dass die Meeresprise ihm frischer erschien als sonst, die Sonne wärmer, die Ruinen ruiniger, das Gras grüner und die Vögel am Himmel zwischernder als sonst -  oder es lag ganz einfach nur an Cassie selbst, der völlig unerwartet und frei von jeglichen Berechnungen an diesem Morgen den grauen Schleier vom Leben des Christen genommen hatte, um ihn die Welt mit völlig neuen Augen erleben zu lassen.

An einem Ort, den anderen Menschen aufgrund der unbekannten Gefahren mieden wie die Pest, spazierten die beiden jungen Männer Hand in Hand nebeneinander her als wäre es das Normalste der Welt und angesichts dessen was sie schon alles hinter sich gebracht hatten in ihrem Leben, war es das vielleicht auch.

Noch nüchtern und mit einem großen Loch im Magen, hatte Clarence seinen Rucksack dieses Mal nicht mit seinen überschaubaren Habseligkeiten gefüllt, sondern mit einem kleinen Frühstückspaket und einer Kanne frisch aufgebrühtem Kaffee. Lautlos wippte auf seinem Rücken das zusammengerollte Berglöwenfell im Takt seiner Schritte um später den Untergrund ihres kleinen Lagers bilden zu können, das er für die Mahlzeit mit seinem Mann aufzuschlagen gedachte.

Wenngleich sie schon seit einer gefühlten Ewigkeit miteinander unterwegs waren und ihren Alltag miteinander teilten, so nahmen sie sich doch nur selten Zeit für einen bewussten Moment des Friedens und der Zweisamkeit. Meistens ergaben sich die Dinge einfach so aus dem Geschehen heraus – eine Nacht zu zweit an heißen Quellen nach einem Streit etwa oder eine spontane Hochzeit inmitten einer Metropole – was nicht hieß, sie würden diese Augenblicke deshalb weniger in vollen Zügen genießen können. Etwas miteinander zu planen, gemeinsam einen Ausflug zu machen fernab der Zivilisation war aber neu geworden und alte Ruinen zu erkunden ein Privileg, das sie in diesem Umfang noch nie miteinander zelebriert hatten,

„Weiß du, ich denke gerade über einen kleinen Kräutergarten nach“, erhob der Bär von Mann wieder seine Stimme nach einem Moment der Stille, während dem er in den Himmel geblickt und den weißen Wolken beim Vorüberziehen zugesehen hatte. „Die Küche halb offen zur Wohnstube, aber eher nach hinten raus im Haus. Mit einer Hintertür zu einem kleinen Garten, sodass der Weg kurz ist wenn man noch was braucht zum kochen.“

Seit Monaten schon hatten sie kein Wetter mehr über ihnen gehabt das so sonnig und warm war wie hier. An manchen Tagen, insbesondere vor Coral Valley, hatte er wirklich gedacht, er würde die eisige Kälte vermutlich nie mehr aus seinen alten Knochen heraus bekommen. Der Winter konnte sich ziehen wie altes Gummi, insbesondere dann wenn er besonders unnachgiebig für mehrere Jahre am Stück überm Land lag und kein Ende in naher Sichtweite war. Angeblich sollte es manche wandernde Familien geben, die regelmäßig vor Eis und Schnee das Weite ergriffen, immer auf der Flucht vor dem ewigen Weiß und ihr Lager dort wieder aufschlagend, wo es besser war; früher hatte er nie verstanden wie man Leben konnte ohne einen festen Ort auf der Welt, aber mittlerweile fand er deren Lebensweise gar nicht mehr so abwegig, seitdem er selbst dank des Bootes den kalten Jahren entflohen war.

„Immer wenn wir mit den Kleinen im Wald unterwegs sind und was Neues finden, könnten wir ihn ein bisschen vergrößern und du bastelst dann kleine Schilder mit den Kindern. Dann lernen sie direkt wie sich das Zeug schimpft und wie man es schreibt.“

Mit einer Schnute im Gesicht als würde er sich gerade selbst darüber klar werden dass seine Idee gar nicht so schlecht war, schaffte er es seinen Blick aus dem blauen Himmel zu lösen und wieder neben sich auf den wohl schönsten Mann der Welt zu blicken, der selten so begehrenswert ausgesehen hatte wie heute. Seitdem sie am Morgen begonnen hatten erstmalig ernsthaft über ihre gemeinsame Zukunft zu reden, sah er Matthew aus völlig neuen Augen – und in eben diesen lag unlängst ein ganz besonderer Schimmer von Verliebtheit, wie man ihn selbst in den Iriden des Bären bislang kaum in diesem Umfang erblickt hatte.

Nur zu gut erinnerte sich Clarence noch an ihr Gespräch in der Villa der Hurenkönigin über Hafersuppe und Milchbrötchen und daran, wie enttäuscht Cassie darüber gewesen war, seinem Klotz das Lesen nicht beibringen zu dürfen. Bislang hatte sich an dieser fragwürdigen Einstellung noch nichts geändert, aber das bedeutete nicht, ihr Nachwuchs sollte das gleiche Schicksal ereilen… eine Entwicklung, die vielleicht bemerkenswerter kaum hätte sein können für jemanden wie Clarence, der eine völlig andere Erziehung und Prägung genossen hatte wie jene, die hierzulande vorherrschte. Die Weltanschauung der Fanatisten hatte in der Welt hier draußen nichts zu suchen und ihre Kinder sollten die Letzten sein, die darunter zu leiden hatten.

Still streichelte er mit seinem Daumen über den Handrücken des Jüngeren, wohl wissend wie sehr ihre Ansichten in manchen Dingen doch auseinander gingen. Der eine war ein Heide wie er im Bilderbuch stand, der andere hielt unerbitterlich an seiner Religiosität fest, egal wie oft das Leben ihn schon gezeichnet hatte; Matthew war penibel was Reinlichkeit anging, während es Clarence lange Zeit völlig egal gewesen war wie dreckig seine nackten Fußsohlen waren, mit denen er sich abends zum Schlafen niedergelegt hatte.

Gemeinsam Nachwuchs zu planen war das eine, etwas völlig anderes war es jedoch einen gemeinsamen Nenner zu finden, was die Erziehung anging. Im wahrsten Sinne wusste der Allmächtige, dass Kinder im Madman Forest auf eine ganz andere Weise erzogen wurden als hier draußen. Neben einem strengen Glauben war eine harte Hand, durch welche die unschuldigen kleinen Dinger groß gezogen wurden, das A und O; nicht umsonst hieß es in der Bibel schon: Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald.

Ephraim Sky war ein viel zu euphorischer Verfechter jenes Grundsatzes und hatte seinen Enkel nicht nur einmal spüren lassen, wie zwiespältig sich die Liebe seines Großvaters anfühlen konnte auf dem Weg gen Adoleszenz. Sandfort hingegen hatte die Zügel vergleichsweise locker gelassen, was aber nicht bedeutete, Clarence hätte niemals Schläge von ihm zu spüren bekommen; erst mit dem jüngsten männlichen Nachkommen dieser Blutslinie sollte diese fragwürdige Tradition durchbrochen werden, sehr zum allgemeinen Empören manch anderer Väter seiner Gemeinde.

Claire war schon immer anders gewesen als andere seiner Zunft, hatte niemals Hand anlegen können an ein solch wehrloses kleines Wesen, das eh schon aus angsterfüllten Augen zu ihm empor sah wenn es sich dessen gewahr wurde, etwas falsch gemacht zu haben. Seine Befürchtungen hielten sich also in Grenzen, sein Mann und er könnten sich voneinander entfremden, waren sie nur erst einmal nicht mehr alleine miteinander und der Blonde hoffte sehr, dass auch Matthew sich dieser unerwartet positiven Eigenschaften seiner eigentlich fragwürdigen Herkunft gewiss war.

Leise brummte der Bär, hob Cassies Hand an seine Lippen und hauchte ihr einen zart kratzenden Kuss auf den Rücken. Noch immer befanden sie sich in Küstennähe und ließen den schier endlosen Strand nur schleppend hinter sich; um sie herum aber häuften sich zunehmend die verfallenen Gebäude, die den von Gras durchbrochenen Weg zu ihren Seiten säumten. Clarence wusste nicht genau was der Untergrund einst gewesen sein mochten auf dem sie liefen. Nicht Stein, nicht Pflaster, kein zu Staub getretener Erdgrund war es auf dem sie liefen und doch waren es dicke zerbrochene Platten, die selbst nach all den Jahren noch dunkel dann und wann zwischen den dichten Grasbüschen hindurch schimmerten, den Weg in den wesentlich dichteren Kern der einstigen Riesenstadt ebnend, von der heute nicht mehr zurück geblieben war als eine traurige verlassene Geisterstadt.

„Ich hab keine Ahnung wie wir dahin finden sollen, aber ich würde gerne in die Bibliothek, wenn du die hier irgendwo auftreiben kannst“, eröffnete sich kurz darauf ein recht eigentümlicher Vorschlag seitens des Älteren, für den Bücher sonst nie mehr gewesen waren als brauchbares Brennmaterial für den Ofen im Winter. „Sollten deine Adleraugen also irgendwo ein riesiges Schild erspähen wo Vergleichbares drauf steht, ich wär dein Mann für dieses staubige Abenteuer voller Motten, skelettierter Bücherwürmer und garstige Papierseiten, die einem die Finger aufschneiden.“


Matthew C. Sky

Glasscherben knirschten unter ihren Stiefelsohlen und glitzerten trüb im Sonnenlicht, wo immer die goldenen Strahlen auf sie trafen.

Zwischen dem dunkelgrauen Straßenbelag wuchsen Gräser die sich im lauen Wind bewegten, Grillen zirpten und Vögel zwitscherten. Wer glaubte, dass an solch einem Ort Totenstille herrschte würde in den Ruinen Miamis eines Besseren belehrt werden.

Aufmerksam sah Matthew sich um, wenngleich nicht so aufmerksam wie er für gewöhnlich in fremdem Terrain war. Schuld daran war Clarence, der ihm in den zurückliegenden Stunden mit jeder Minute mehr den Kopf verdreht hatte. So gut gelaunt, so voller Tatendrang und positiver Energie hatte Matthew den Blonden noch nie erlebt und der Frohsinn des Bären steckte Cassie unweigerlich an.

Seit ihrem Gespräch sich irgendwo niederzulassen, ein Zuhause aufzubauen und eine Familie mit Kindern zu gründen, hatten sie beide ihre Pläne immer weiter gesponnen. Die Ideen waren ihnen bisher nicht ausgegangen und noch immer schien Clarence an nichts anderes zu denken. Sein neuester Geistesblitz betraf einen Kräutergarten, beschriftet mit Schildchen die Matthew mit ihren Sprösslingen gebastelt hatte.

Cassie schnaubte amüsiert und wandte den Blick von einem rot-weiß gestreiften Zaun ab, der umgekippt war und vermutlich seit einer kleinen Ewigkeit auf dem Boden lag wo er keinerlei Funktion mehr hatte. 

„Bevor wir über einen Kräutergarten reden, sollten wir erstmal über einen Grundriss unseres Hauses nachdenken und über die Anzahl und Aufteilung der Zimmer.“, dass erschien ihm wichtiger, jedoch kam Matthew trotzdem nicht umhin sich vorzustellen wie er mit den Kindern jenes Kräuterbeet beschriftete. 

„Bei der Gelegenheit lernst vielleicht sogar du lesen.“

Sie hatten den Strand noch nicht weit hinter sich gelassen und noch begleitete sie das Rauschen der Wellen. 

„Damit du einen kleinen Vorsprung hast, könnten wir schon eher damit anfangen dir das beizubringen...heute Abend zum Beispiel.“, strahlend bis über beide Ohren schaute er zu dem Mann neben sich. Und man musste ihm nicht in die Augen sehen können um zu erkennen wie unbeschwert glücklich ihn Clarence machte. 

Es schien nichts mehr unmöglich zu sein und wenn sie schon soweit waren Kinder zu planen, dann konnte es doch kein Akt sein, dass Clarence sich einen Ruck gab und mit ihm lesen übte. 

Dass Clarence nach wie vor seine Hand hielt war ungewöhnlich, aber Cassie würde den Teufel tun und sich darüber beklagen. Es tat gut so mit ihm zusammen zu sein und wie sehr er sich innerlich danach gesehnt hatte, wurde ihm erst jetzt klar, da er in den Genuss jener Art der Zweisamkeit kam. 

Die Trümmer der alten Welt breiteten sich derweil vor ihnen aus und ja, wahrscheinlich wäre es besser gewesen die Sonnenbrille abzunehmen um die Umgebung besser im Blick zu haben und ja, auch ihre Hände voneinander zu lösen um stattdessen darauf vorbereitet zu sein ihre Waffen zu benutzen, wäre nicht unklug. 

Aber so wie Matthew die Sache einschätzte lauerten die Gefahren - wenn überhaupt - eher im Inneren der einstigen Metropole. 

Trotzdem versuchte er bestmöglich ihre Umgebung im Blick zu behalten, auch wenn ihm klar war, dass Clarence ihn ablenkte wie selten zuvor. Man konnte über Le Rouge wahrlich viel erzählen und ihm etliches vorwerfen - seinen Schüler jedoch schlampig unterrichtet zu haben was es hieß in einer Welt wie der ihren zu überleben, zählte aber nicht dazu. Der Rote hatte stets viel Wert darauf gelegt, dass Matthew sich konzentrierte wann immer die Situation es erforderte - und eine Stadt der Alten zu betreten war definitiv eine solche Situation. 

Vorausschauend sein, unter Stress einen kühlen Kopf bewahren, fokussiert sein statt sich Kopflosigkeit zu erlauben, wach zu sein statt Tagträumen nachzuhängen. All das und noch etliches mehr hatte der berühmte Söldner und besungene Held dem Dunkelhaarigen beigebracht und doch marschierte Matthew gerade ohne den nötigen Ernst an der Seite seines Mannes durch Miami. 

Warum? Ganz einfach: Clarence sorgte mit seiner Art schon den ganzen Tag über hinweg dafür, dass sich negative Gedanken einfach gar nicht manifestierten. Der Teil in Cassie der skeptisch und zurückhaltend war, abwartend und pessimistisch hatte keine Lobby in den Emotionen des Jüngeren und so war es auch nicht verwunderlich, dass er ungehemmt auflachte als Clarence ihn auf alberne Weise darauf hinwies in eine Bibliothek zu wollen.

Er sei sein Mann für jenes staubige Abenteuer voller Motten, skelettierter Bücherwürmer und garstiger Papierseiten.

Das Lachen des Dunkelhaarigen bildete einen scharfen Kontrast zu dem Ort und unterstrich die gute Laune und die Ausgelassenheit die zwischen ihnen herrschte.

Die zwei Hunde sahen kurz zurück zu ihnen, beäugten ihre Herrchen und trotteten weiter in dem Wissen alles war gut so lange einer von ihnen lachte.

„Ich könnte dieser Auflistung noch weitere Punkte hinzufügen wenn du willst, du bist immerhin auch mein Mann für ganz andere Dinge…“, entgegnete Cassie vielsagend und nun war es an ihm, ihre ineinander verschränkten Hände zu heben und Clarence Handrücken zu küssen.

„Verrätst du mir was du da willst, hm? Ich meine…ich hab nichts dagegen, aber im Gegensatz zu dir kann ich mit Büchern auch was anderes anfangen als sie unter kippelnde Schränke zu legen.“ Nicht dass die Fähigkeit des Lesens von essenzieller Bedeutung war in ihrer Gesellschaft. Ein Großteil der Menschen lebte ohne diese Fähigkeit und auch Clarence war bisher ohne große Einschränkungen über die Runden gekommen.

Aber wenn Matthew seinem alten Lehrmeister, der längst verrottet und vermodert war, für etwas Dankbarkeit zollen sollte, dann würde er es tun für all die Bildung die Le Rouge ihm gewährt hatte.

Die Geschichte ihrer Vorfahren, Mathematik, Geografie... Wissen war ein unerschöpflicher Schatz, unendlich da man niemals alles erlernen und wissen konnte und es einen dennoch immerfort bereichern konnte. 

„Ich halte die Augen danach offen.“ 

Ihr Weg führte sie schließlich durch eine vergleichsweise schmale Gasse, die gesäumt war von riesigen Häusermauern. Grau und trist rahmten sie ihren Weg ein, Dreck und Geröll lag auf dem eigenwilligen und dunklen Bodenbelag. Auf einer der Wände prangte verblasst der Schriftzug A.C.A.B., darunter hatte jemand einen stilisierten Totenkopf gemalt. Im Schatten der Häuserwände schob Cassie seine Sonnenbrille nach oben. Vor ihnen, dort wo die Gasse endete und es wieder heller wurde, versperrte ein merkwürdiges Gebilde den Weg. 

„Was ist das?“, fragte er seinen Nebenmann ohne davon auszugehen das dieser eine Antwort wusste. 

Kain und Abel schlawenzelten mit ihrer üblichen Neugierde die Gasse entlang, die Nasen auf den Boden gedrückt. Anders als die beiden jungen Männer interessierten sich die Hunde weder für ihre Familienplanung noch für Bücher.

„Sieht aus wie… keine Ahnung was es sein soll… vielleicht eines dieser Dinger in denen die Alten früher gefahren sind?“, plapperte er weiter, so wie er es oft zutun pflegte in der Gegenwart von Menschen denen er blind vertraute... also nur in der Gegenwart des Hünen. Vor anderen legte er meist eine verschlossene Seite an den Tag. 

Rouge hatte ihm irgendwann mal Bilder von den Fahrzeugen der Alten gezeigt, in Büchern und alten Heften. Aber die Abbildungen dort hatten nicht mehr allzu viel gemeinsam mit dem Ding das ihnen den Weg versperrte.

Beide Türen standen offen, verblichene rostbraune Flecken verunzierten graue Sitze – ein besonders Großer auf der Seite wo irgendwann mal der Fahrer gesessen haben mochte. Das Glas der Frontscheibe war durchschlagen von zahllosen kleinen Löchern, trotzdem war es nicht zerborsten sondern lediglich an den Rändern der Löcher gesprungen.

Dort wo die Zeit noch die Farbe des Lacks übrig gelassen hatte war ein fahles Blau zu erkennen in dem sich müde die Sonne spiegelte.

Notgedrungen – und gepackt von Entdeckergeist – löste Matthew seine Hand von der des Größeren und machte mit der alten natürlichen Eleganz einen Hüpfer auf die verbeulte Schnauze des Gefährts, von dem er mittlerweile ausging es war eines der sogenannten Autos.

Kaum die Motorhaube erklommen entkam ihm ein erstauntes „Ach du heilige Scheiße…“, in einem Ton den man nur selten von Cassie hörte, weil ihm nur wenige Dinge wirklich Respekt abringen konnten. 

Ihr beschaulicher Weg vom Strand und durch die Gasse hatte sie auf eine riesige Straße geführt. So breit und lang wie Cassie sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Doch nicht nur die schieren Ausmaße der Straße waren es, die ihn beeindruckten sondern vor allem das unüberschaubare Chaos darauf.

Unzählige Autos standen auf dem Weg und verstopften ihn. Auf der gegenüberliegenden Seite steckte ein Fahrzeug in einer Wand aus Glas, an einer anderen Stelle war eines gegen einen Pfosten gerauscht. Die schiere Masse an Eindrücken war erschlagend und am liebsten wäre Matthew sofort losgelaufen um die Umgebung zu erkunden…

Und da sich viele Dinge ändern mochten, seine unbezwingbare Neugierde aber nicht dazu zählte, tat er schließlich auch genau das. Er sprang von der Motorhaube herunter und mit einem kurzen Satz auf die des nächsten Autos hinauf um über dessen Dach zu laufen und so einen Weg zur gegenüberliegenden Seite zu finden.

„Das ist ja sowas von cool!“, ließ er seiner Begeisterung freien Lauf und sah über seine Schulter zurück zu Clarence. „Komm schon, lass uns sehen was da hinten drin ist!“ – gemeint war damit der kleine Elektronikladen in den einer der unzähligen Wagen gerauscht war und damit das Schaufenster zerstört hatte. Damals, am Ende der Welt.


Clarence B. Sky

Sicher plante Clarence gerade Details, die sowas von unwichtig waren angesichts dessen, dass sie noch nicht mal einen imaginären Grundstein für ihr Haus besaßen. Aber war das wichtig, durfte er keine Träume haben die man mal in den Raum werfen durfte, damit sie später nicht in Vergessenheit gerieten bevor sie unumsetzbar wurden? Abgesehen davon wusste er schon jetzt, stritten sie sich erst mal um einen Grundriss, wurden sie sich sowieso nicht einig bevor sie beide alt und grau waren, dafür würde der Jäger sogar seine unvollständige Hand ins Feuer legen.

Gab man Matthew erst mal die Macht über etwas zu entscheiden, dem Jungspund würde so schnell keiner mehr den Wind aus den Segeln nehmen. Ein Zimmer hier, ein Kämmerchen dort – und wo sie schon dabei waren, warum nicht noch ein separater Ankleideraum für all die hässlichen Designermäntel mit Bärenohren die er sich bis dahin in den Metropolen dieser Welt angeschafft hatte und obendrauf noch eine kleine hauseigene Bibliothek, wenn man sich den Luxus schon erlauben durfte? Am Ende hauste Clarence wahrscheinlich mit den Hunden draußen in einem Zwinger weil sein eigener Gatte ihn bei der Einplanung der Schlafzimmer völlig vergessen hatte, wenn man ihn dabei nicht überwachte.

Trotz dieser düsteren Zukunftsprognosen konnte Clarence sich gerade nichts Schöneres vorstellen als all das.

Er wollte mit dem Mann neben sich über Zimmer streiten, über Bodenbeläge, Fassadenfarben und Dachziegel, darüber ob vor dem Haus ein weißer feiner Zaun stehen sollte oder ob es auch ein paar einfache Holzlatten taten wie draußen auf der Koppel ihrer Pferde. Was vor ihnen lag war ein langweiliges, schnödes und einfaches Leben wie schon tausende Menschen vor ihnen es geführt hatten und noch abertausende es führen würden und es wäre völlig in Ordnung sich über die Details dessen uneinig zu sein – sei es sogar das eigenwillige Thema Lesen, von dem der Dunkelhaarige selbst heute noch nicht ablassen konnte.

Mit einem unerwartet bereitwilligen Ausdruck in den blaugrauen Iriden blickte Clarence auf seinen Partner hinab, die Hand seines Liebsten zärtlich drückend, und tatsächlich schien sein Enthusiasmus auch bei diesem sonst eher unliebsamen Angebot an diesem wundervollen Tag keinen Abriss zu nehmen.

„Heute Abend, mh? Ich meine, falls wir bis dahin nicht zu müde sind von unserer Erkundungstour und noch Kraft dafür haben einem alten Bären das Lesen beizubringen… warum nicht, es könnte einen Versuch wert sein“, unschuldig zuckte Clarence mit den Schulter, ganz so als wäre sein fehlender Widerwille das Normalste der Welt. „Wir kuscheln uns im Bett ein, ich heize den Ofen ein bisschen an und sobald ich mir die Augen mit dem glühenden Schürhaken ausgebrannt hab, können wir gleich damit loslegen.“

Vergnügt ließ er ihre miteinander verbundenen Arme zwischen ihren Körpern umher schwenken, ließ das Ganze tatsächlich so klingen als sei es sein Ernst und hätte man ihm nur mit halbem Ohr zugehört, vermutlich hätte man die Ironie seiner Worte nicht mal ernsthaft begriffen. Aber Clarence wäre nicht Clarence, wenn er nicht wenigstens diesem einen Grundsatz treu bleiben würde.

Mit dem Schalk im Nacken sah er verliebt auf seinen Partner hinab, genoss seinerseits den gehauchten Kuss auf seinem Handrücken und wüsste er es nicht besser, all das hier hätte auch einfach nur ein Traum sein können wie er mit dem Mann den er liebte durch die Trümmer einer längst verfallenen Welt marschierte.

Das interessiert dich, oder? Was jemand wie ich um alles in der Welt ausgerechnet in der Stadtbibliothek will? Vielleicht lasse ich dich noch ein bisschen über diese Frage grübeln, ein paar Geheimnisse halten ja bekanntlich das Feuer der Leidenschaft in einer Ehe lodern.“

Mit sich selbst zufrieden über die Neugierde, die er in Cassie geweckt hatte, schnalzte der Bär vergnügt mit der Zunge, zog weiter mit ihm durch die Gasse und es dauerte nur wenige Sekunden, da hatte bereits etwas viel Spannenderes als ein Paar schnöde alte Wälzer die Aufmerksamkeit des Jüngeren erregt: Die Wunder der alten Zivilisation.

Oh, Clarence wusste noch genau wie es ihm selbst ergangen war als er zum ersten Mal in der Ruinen der Alten gewesen war und deshalb konnte er es Cassie auch nicht übel nehmen, als dieser sich mir nichts, dir nichts aus seiner Hand löste um von dannen zu springen – nur um schließlich unvorangekündigt von einem der wohl fulminantesten Anblicke erschlagen zu werden, die ihre heutige Welt für einen einfachen Menschen wie sie noch zu bieten hatte.

Aus dem Schatten der eben noch schmalen Gasse tretend, folgte Claire dem Jüngeren auf die breite Hauptstraße hinaus und ließ seinen Blick schweifen.

Nichts von alldem hier war mit dem zu vergleichen, was ihre heutige Generation vom Leben kannte. Die riesigen Gebäude, die einfach unüberschaubare Anzahl an Fortbewegungsmitteln, die einstmals feste Straße die so groß anmutete wie es nicht mal der Stadtpark in Coral Valley tat…

Wenn man glaube, man hätte mit einer der Metropolen die größten Städte dieser Welt gesehen und es könnte keine größere Menschenansammlung auf einem Haufen geben, dann besaß man definitiv keine Vorstellungskraft. Was sie hier vor sich fanden war nicht eine Stadt für ein paar Tausend Menschen, sondern für Millionen von ihnen, wenn man sich nicht nur auf den beliebten Stadtkern begrenzte… für eine Anzahl von Lebewesen, wie sie vielleicht heute noch gerade so auf ihrem gesamten Kontinent existierte, wenn überhaupt.

Die Ausmaße, in denen die Alten gelebt hatten, waren nicht zu begreifen wenn man sie nicht wenigstens ein einziges Mal mit eigenen Augen erblickt hatte. Straßen so breit wie Weizenfelder lagen vor ihnen, in der Ferne erstreckte sich über den Häuserdächern andere Gebäude, so hoch wie ein kleiner Berg und alleine vor ihnen reihten sich Wracks von Automobilen aneinander wie Perlen an einer Kette in einer so hohen Anzahl, wie es heute gefühlt nicht mal Pferde in ganz Nordamerika gab.

Vor ihnen lag ein wahrer Spielplatz für Abenteurer, Erkunder und Waghalsige, so viel stand fest, und weil Cassie seine ausgeregten Füße weder still halten noch die Gefahren abschätzen konnte die er mit seinem Krach potentiell anlockte, war es auch kaum verwunderlich, dass der Jäger sein Gewehr von der Schulter nahm, während sein Mann noch immer durchdrehte wie ein kleines Kind im Süßwarenladen.

„Ja, ziemlich cool… wenn man das als passenden Begriff für ein Massengrab sieht, jedenfalls“, warf der ewigwährende Pessimist von Bär dem Jüngeren die Realität vor die Füße und konnte ihm über dessen fehlende Pietät doch nicht wirklich böse sein, immerhin hatte der Kerl unterm Strich ja recht. Was hier passiert war, war nicht etwa ein Genozid gewesen, kein Anschlag und auch kein böser Wille. Es war Krieg, so wie er früher überall auf der Erde Gang und Gebe gewesen war, bis von allem Leben nicht mehr übrig geblieben war als das vergleichsweise mickrige bisschen Etwas, das heute noch atmete und über der Erdoberfläche vor sich hin vegetierte.

Es wäre gelogen gewesen zu behaupten der Jäger würde sich an all den Menschen stören die hier ihr Ende gefunden hatten und so wie er New York erlebt hatte, würde es nicht lange dauern bis sie in geschlossenen Gebäuden über das erste verrottete Skelett stolperten. Weniger die Toten waren es, über die er sich Gedanken machte, sondern viel eher über alles was noch lebte und hier sein Unwesen trieb.

„Mit den Dingern hier sind die früher gefahren… wie Kutschen, nur ohne Pferde vorgespannt. Manche mit Elektrizität wie sie heute wieder in den Metropolen durch die Glühbirnen fließt und manche mit Öl, ähnlich wie in Lampen“, rief er Cassie zur Erklärung zu, der bereits von Dach zu dach hüpfte wie bei einem Spiel unter Kindern, bei dem der Boden aus flüssiger Lava bestand und dringlich gemieden werden musste, wollte man nicht sterben. „Automobile haben sie die Dinger genannt… aber sie hatten auch Motorräder, das war eine Art Fahrrad nur… automatisiert und wesentlich schneller eben, wohl das Gegenstück zum Pferd denke ich.“

Mit der Spitze seines Stiefels grub er sich unterdessen in ein vom Wagenrad abgeblättertes Stück Gummi, das selbst nach über hundert Jahren kaum etwas seiner ursprünglichen Form verloren hatte. Wenn man den Alten eines lassen musste, dann, dass sie ihre Welt für die erhoffte Ewigkeit erschaffen hatten – nicht in der geringsten Ahnung dessen, dass all die Mühe und die darin investierte Geduld am Ende doch vergeudet sein würde.

„Wundert mich nicht, dass hier früher alles aufgegeben wurde um woanders neu anzufangen. All das Chaos hier, das Geröll, die Infrastruktur… ist einfach nicht geschaffen um sicher vor irgendwas zu sein“ – jedenfalls nicht vor den Gefahren, die heute auf die Menschheit lauerten.

Mit einem kratzenden Kreischen gab das rostige Metall unter dem Hünen nach als er es dem Dunkelhaarigen gleich tat um ihm zu folgen, dem zersplitterten Schaufenster entgegen auf welches Cassie gedeutet hatte. Seiner Erfahrung nach fand man in den beschädigten Gebäuden am wenigsten, zu sehr hatten Wind, Wetter und das Tierreich die Hinterlassenschaften der alten Zivilisation bereits verändert und doch würde er Cassie in seinem Erkundungswahn nicht aufhalten, immerhin hatten sie – wenn sie es denn wollten – alle Zeit der Welt um die Ruinen zu erkunden.

Während er zu seinem Mann aufholte, kam Clarence nicht umhin zu spüren wie das verliebte Lächeln auf seinen Lippen erneut aufflammte um seine sonst so ernsten Züge zu erhellen. Es war gar nicht allzu lange her, da hatten sie bereits einmal den Sommer miteinander verbracht und Matthew hatte sich in weit definierenderer Kleidung vor ihm präsentiert als im dicken Wintermantel und Handschuhen. Egal welches dünne Hemd und welche enge Hose er dabei über seinen athletischen Leib gestreift hatte, diesen verboten heißen Kerl hatte einfach immer ein gewisser Flair umgeben und nicht selten war es vorgekommen, dass Clarence sich selbst dabei erwischt hatte seinen Weggefährten zu beobachten… oder schlimmer: Dass er von Cassie selbst dabei erwischt worden war.

Es war nicht immer einfach für einen Mann wie ihn gewesen so einen Taugenichts an der eigenen Seite zu wissen und letztlich hatte es darin geendet, dass er, um seinen eigenen Stolz zu schützen, lieber in einiger Entfernung zu Cassie marschiert war. Heute aber, endlich offen miteinander umgehend und - viel gewichtiger - sogar miteinander verheiratet, da konnte es weder Cassie ihm, noch er sich selbst es zum Vorwurf machen, den Jüngeren mit derart unverhohlenem Genuss zu begutachten wie ein ziemlich exquisites Stück Frischfleisch nach der Fastenzeit.

„Gib deinem Mann einen anständigen Kuss und er erzählt dir vielleicht noch ein paar andere nützliche und unnützliche Dinge über das Leben der Alten, über die Bücher die er in der Bibliothek finden will und über Patrick Miller, den Gründervater von Prism Shore“, unterbreitete Clarence schließlich ein Angebot das kaum abzuschlagen war und setzte erwartungsvoll den Lauf seines Gewehres auf dem Boden ab, kaum dass er vor seinem Angebeteten angekommen war. „Dein Mann steckt nämlich voller interessantem Wissen, von dem du vermutlich gar keine Ahnung hast.“


Matthew C. Sky

Automobile und Motorräder wurden von Clarence genannt, womit er sich sofort die Aufmerksamkeit Matthews sicherte, wenn auch nur kurz.

„Mit Elektrizität oder Öl?“, fragte er ungläubig nach und sah auf das Wrack unter sich. Das Auto auf dem er stand war dunkelgrün und übersät von Kratzern und Rostflecken.

Es fiel ihm schwer sich vorzustellen wie dieses Ding mal gefahren war, aber er zweifelte keine Sekunde an Clarence‘ Worten.

„Du meinst die Alten hatten gar keine Pferde mehr? Sie sind immer mit…diesen Dingern gefahren?“ skeptisch ließ er den Blick schweifen. „Erscheint mir irgendwie nicht richtig.“

Die unüberschaubare Vielzahl an Autos war derart beeindruckend, dass sie ihn für einen Augenblick vollkommen gefangen nahm. Wie war es hier gewesen als die Alten noch Gegenwart und nicht staubige Vergangenheit waren?

Erst als der Schamane sich bei ihm eingefunden hatte, konnte er seine Aufmerksamkeit wieder ihm zuwenden. Dass der Ältere so viel über die verlorene Welt ihrer Vorfahren wusste, überraschte Cassiel einerseits und tat es andererseits auch wieder nicht.

Sein Mann war ein kluger Kopf, aufmerksam und mit einer scharfen Auffassungsgabe gesegnet.

Ihm das Lesen beizubringen würde sicher weit weniger anstrengend sein als sich Clarence ausmalte. Umso unsinniger war seine beharrliche Weigerung diesbezüglich.

„Hat Nagi dir das alles erzählt?“, wollte er schließlich wissen, Clarence um seinen Vorsprung an Kenntnissen offen beneidend. Der Blick seiner dunkelbraunen Augen hatte sich unterdessen wieder auf seine Umgebung geheftet und er fixierte das Geschäft mit der zerbrochenen Fensterfront. „Und wenn ja, woher hat er das alles gewusst?“ hakte Cassiel nach ohne Clarence anzuschauen, so als könne er sonst noch etwas interessantes verpassen. Den Vorschlag seines Mannes hatte er bisher unkommentiert gelassen, ganz so als habe er für derartige Deals gerade keine Zeit. Dass dieser Eindruck täuschte, zeigte schließlich sein schiefes Lächeln, welches sich just in dem Moment auf seinem Gesicht einfand als er wieder zu Clarence neben sich schaute.

Da standen sie nun. Beide auf dem Dach eines kaputten Automobils, mitten in der riesigen Geistermetropole Miami und sein ihm angetrauter Ehemann schien trotz der gewaltigen Kulisse vorrangig nur Interesse an Matthew zu hegen.

Dies war zweifellos schmeichelhaft und wie er da so stand, in seinen Jeans und dem rot karierten Hemd, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und mit einem kecken Schmunzeln im Gesicht, war es nicht nur schwer sondern gar unmöglich ihm zu widerstehen.

„Patrick Miller, hm?“, wiederholte Matthew nachdenklich und hob beide Hände. Unverfroren wie er war schob er beide unter das Hemd seines Mannes, verschaffte sich ungefragt innigen Zugang zu seinem muskulösen Bauch und kratzte mit den Fingern leicht darüber. „Mein Mann ist ein raffinierter Kerl wie mir scheint… und wenn ich an etwas noch mehr Vergnügen finde als an christlichen Jungs, dann sind es raffinierte christliche Jungs.“

Noch immer auf dem Autowrack stehend, reckte Cassie sich hinauf zu den Lippen des Blonden und gab ihm einen überaus anständigen Kuss, was bedeutete das er gänzlich unanständig war. Mit einem Hunger der vermuten ließ sie hätten sich wochenlang entbehren müssen, verbiss er sich neckend in der Unterlippe seines Mannes nur um den Bruchteil einer Sekunde später die Chance zu nutzen und seine Zungenspitze in den Mund seines Geliebten zu drängen.

Energisch und mit einer Leidenschaft die angesichts ihres Aufenthaltsortes vielleicht unangemessen war küsste Matthew seinen Mann. 

Clarence‘ Geschmack- obgleich schon unzählige Male auf der Zunge gehabt - betörte Cassiel noch immer. Der Blonde übte eine nicht zu leugnende Anziehungskraft auf ihn aus. Und der Art und Weise nach zu urteilen wie er den Hünen vereinnahmte, hatte sich jene Anziehung noch verstärkt seit dem gestrigen Tag. 

Es war das blecherne Poltern eines metallenen Gefäßes voller undefiniertem Geröll, welches Matthew dazu brachte umgehend von Clarence abzulassen.

Erschrocken drehte er den Kopf in die entsprechende Richtung, zog die Hände blitzartig unter dem Hemd des Größeren hervor und stieß beinahe zeitgleich ein erleichtertes Seufzen aus als er erkannte wodurch das Geräusch verursacht worden war. In einer Art Tonne ohne Deckel, die randvoll gefüllt war mit irgendwelchem Zeug, hockte ein Streifenhörnchen.

Es besaß zwei Köpfe, mit jeweils zwei Augen – von denen ein Paar jedoch vollkommen trüb und blind war. Das Tier hatte sich auf die Hinterbeine aufgerichtet und blickte neugierig in ihre Richtung. Das Fell an seinem Schwanz war nur noch rudimentär vorhanden, dafür war sein Körper umso buschiger mit grau-schwarzem Pelz besetzt.

In den zwei Vorderbeinen hielt es einen undefinierbaren Fetzen den es aus der Tonne gefischt hatte, vermutlich in der Hoffnung man könne es fressen. 

Matthew wandte den Blick wieder seinem Mann zu, hob die Hände zurück an dessen Bauch und strich das Hemd glatt, unter das er sich vorhin noch so frech gestohlen hatte.

„Komm, mein Großer… Dein Mann will sich die Stadt ansehen… und du schuldest ihm jede Menge Geschichten.“, er sprang von der Motorhaube, sah nochmal zu dem unansehnlichen Kleintier und dann zurück zu Clarence auf dem Wagen. „Sieh nur, sogar das Eichhörnchen schaut dich vorwurfsvoll an weil du noch da oben bist und mir immer noch nicht verraten hast woher du dein Wissen hast.“

Herausfordernd und keck blickte er zu dem Größeren auf, der ihn dank seiner Position aktuell wirklich reichlich überragte und ging langsam ein paar Schritte rückwärts – in Richtung des Autos das mit der Nase in der Glasscheibe steckte. Seine Lippen kribbelten noch von dem Kuss und sein Herz klopfte noch immer voller Verliebtheit, dennoch siegte jetzt und hier die Neugierde über ihn und er konnte und wollte keine Sekunde länger stillstehen.

Schließlich war es das verunglückte Automobil das er ansteuerte und durch dessen intakte Seitenscheiben er blickte. Die vorderen Sitze waren leer, die Tür die in das Innere des Geschäfts führte geöffnet.

Auf dem Rücksitz befand sich ein Insasse, dessen Identität höchstwahrscheinlich für immer im Verborgenen bleiben würde.

„Na an dem hier hat definitiv mehr als nur der Zahn der Zeit genagt.“, stellte Matthew nüchtern fest und öffnete die Tür. Das Skelett hatte einen Gurt um die Brust gelegt welcher oben aus der Rücklehne kam und unten wieder verschwand. Die Beine waren beide auf unnatürliche Weise verdreht, das ließ sich sogar trotz zerfetzter Hose erkennen. Letztere und auch das Shirt waren nicht nur kaputt gerissen sondern auch mit alten Blutflecken übersät. 

Auf dem Schoß der armen Seele lag ein lederner Rucksack und um die Knochen der Finger glänzten zwei goldene Ringe.

„Tut mir leid, Schönheit …aber die brauchen wir dringender als du.“, erklärte Matthew dem Toten und zog ihm erst die Ringe von den Fingern und schließlich den Rucksack vom Schoß.

Pietät war etwas das Cassie noch nie so wirklich gelegen hatte und obendrein war es nichts dass er sich leistete. Natürlich waren sie Dank Jeyne Copper finanziell reichlich abgesichert, aber wenn Matthew die Gelegenheit hatte leicht an Wertgegenstände zu kommen, dann ließ er diese Chance weder verstreichen noch zierte er sich aufgrund moralischer Bedenken.

Die Ringe wanderten direkt in seine Tasche, den Rucksack stellte er auf der Motorhaube ab und kippte ihn aus. Alles mögliche Zeug kam zum Vorschein, aber zuerst erregte eine Mütze sein Interesse.

Ohne zu zögern knickte er den Schirm etwas sodass die gerade Fläche etwas rundlich wurde.

Sein altes Basecap hatte er schon letztes Jahr verloren, bei einer ihrer unmenschlichen Routen hatte Clarence sie beide durch einen Morast geführt und dort war er mit dem guten Stück an einem Ast hängengeblieben. Die Mütze war heruntergefallen – in den Matsch hinein und war damit versaut und unrettbar geworden.

Die unerwartet neue Errungenschaft wurde prüfend von Cassie berochen, ein paar Mal hin- und hergeschwenkt um den leicht muffigen Geruch zu vertreiben und schließlich aufgesetzt. Mit dem Schirm nach hinten gedreht sah er gen Clarence auf das dieser ihm seine Meinung zu der neuen Mütze verriet. „Und? Was sagst du?“

Die Sorglosigkeit die Matthew an den Tag legte passte zu ihm und fast könnte man meinen er könne gar nicht anders sein. Es war jenes Maß an naivem Selbstverständnis, gepaart mit der Sicherheit eines von sich überzeugten jungen Mannes, welches ihn nach außen hin auf viele unwiderstehlich wirken ließ und mit dem er sich dann und wann ebenso viele Feinde machte. Der Insasse im Fahrzeug wäre sicherlich einer von letzterer Sorte...aber er blieb stumm, wie die zahllosen anderen Gerippe der Stadt. 


Clarence B. Sky

Ja, auch Clarence erschienen viele der Dinge nicht richtig, welche die Alten betrafen. Keine Pferde auf den Straßen zu haben sondern den Lärm irgendwelcher metallischer Maschinen unterm Arsch kreischen zu hören, Elektrizität überall, keinerlei Leben in den Gassen außer Millionen seelenloser Hüllen die durch die Straßen brandeten, völlig desinteressiert aneinander…

So oder so ähnlich zumindest stellte es sich Clarence vor, wenn man in diesen Stahlkapseln saß und völlig abgeschottet von allem über den Asphalt eilte. Keiner grüßte einander mehr, es ergaben sich im Schutze dieser Automobile keine unterwarteten Gespräche, niemand blieb mehr im Kontakt zu seiner Umwelt.

Vermutlich war diese Vorstellung pessimistisch, genauso wie der Jäger auch auf viele andere Bereiche des Lebens eher mit düsterer Meinung niederblickte als auch nur annähernd die Sonne am Horizont zu sehen. Doch für Unbeschwertheit hatte er ja Matthew geheiratet der nun für die nötige Prise Optimismus in seiner Weltanschauung zuständig war, sodass Claire nicht mal mehr des Anstands halber so tun musste als ob – stattdessen konnte er sich zunehmend voll und ganz seiner neuen Tätigkeit als raffinierter christlicher Junge widmen, die ihm zunehmend besser gefiel als alle anderen seiner Jobs.

Selbst hier, selbst umgeben von der Höhe der Errungenschaften welche die Menschheit jemals zustande gebracht hatte und die schon lange wieder vergangen war, verblasste die Faszination auf die Welt der Alten just in den Moment, als sein Mann die Lippen des Bären aufspaltete um ihn zum Einschlag in den dargebotenen Deal zu küssen.

Wer dachte der Zauber der frischen Liebe sei nach über einem halben Jahr Ehe bereits verflogen, der hatte für keine einzige Sekunde in der Haut des Blonden gesteckt der sich den Lippen des Kleineren entgegen drängte wie einem glasklaren Tropfen Wasser in der Wüste. Es schien, als könnten kein ausuferndes Intermezzo, keine wohlige Morgenstunde im Bett und selbst das wildeste und verruchteste Abenteuer seinen Hunger auf Matthew auch nur im Ansatz stillen und so wie selbst heute noch jede Faser seines Leibes zu kribbeln begann wie damals, als er dem einstmals Fremden zum ersten Mal geküsst hatte, mochte man meinen sein Appetit auf den anderen sei wider Erwarten sogar nur noch schlimmer geworden statt gelindert worden zu sein.

Der plötzliche Lärm, der die beiden jungen Männer schlagartig auseinander trieb, war Strafe und Segen zugleich und erinnerte daran, dass ihre Umgebung die denkbar ungünstigste war um sich nun ernsthaft in trauter Zweisamkeit zu verlieren. Eine einzige Unaufmerksamkeit konnte in einer verlassenen Geisterstadt, fernab jeglicher Hilfe und frei von Maßnahmen zur Abschreckung von Mutanten und Übersinnlichem, einen schnellen und grausamen Tod bedeuten und Selbiges hätte beinahe für das arme Streifenhörnchen gegolten, so schnell war das Gewehr in Clarence‘ grausamen Händen auf die Stirn des armen Tieres gerichtet… oder… nun ja, zumindest auf einen der beiden unschuldigen Köpfe.

„Das Vieh schaut mich nicht an weil ich noch hier stehe, sondern weil es genau weiß was es verbrochen hat und die Konsequenzen fürchtet“, konterte der Jäger nüchtern und wahrlich, wäre die Liste seiner Feinde nicht schon lang genug, dieses kleine Drecksbiest würde er gerade noch darunter setzten. Ihn bei aufkeimenden Schmuddeleien mit seinem Mann zu unterbrechen kam der Gewichtigkeit nach direkt nach dem Versuch seinen Partner mit einem Stein zu erschlagen und was aus Sally Mitchell geworden war, wussten die verlassenen Wälder in Cascade Hill sicher bis heute noch im Wind zu flüstern.

Noch immer konnte er das sanfte Kratzen der fremden Finger auf seinem Bauch kribbeln spüren. Lediglich der Sprung vom alten Autowrack milderte das geliebte Gefühl ein wenig, gänzlich ließ es sich jedoch nicht von der Haut des Älteren vertreiben, gepaart mit dem geliebten und vertrauten Geschmack des Anderen auf der Zunge.

„Nagi…“ - Der letzte Mensch auf Erden, an den Clarence so kurz nach geteilten Liebkosungen mit seinem Geliebten denken wollte, war dieser verfluchte Nagi Tanka und doch lag die Frage Cassies nahe angesichts der Dinge die Clarence wusste und der Tatsache, dass dies hier nicht die erste brach liegende Großstadt war die er schon mal in Begleitung besucht hatte.

„Erzählt, vorgelesen, gezeigt… Das Rundum-Sorglos-Bildungspaket. Ich war nur ein paar Jahre mit ihm unterwegs, aber…“, ein kurzes Zögern lag in seiner Stimme, während dessen er Cassies geschickte Finger dabei beobachtete wie diese den armen Hund ausraubten, welcher das Knochengerippe eines Tages gewesen sein mochte. „Aber er und seine Frau haben so ziemlich jede freie Minute dazu genutzt, mich mit brauchbarem und sinnlosen Wissen zuzuschütten und meine Bildungslücken zu füllen.“

Und das waren viele gewesen, gar keine Frage. Wer aus dem Madman Forest stammte, der hatte so ziemlich nicht die geringste Ahnung von dem was außerhalb der Wälder vor sich ging und gegebenenfalls wichtig sein konnte, um Land und Leute besser zu verstehen – ähnlich wie man sich auch nicht unter den Fanatisten zurecht finden würde, kannte man sich mit der Bibel nicht aus.

Kritisch beäugte Clarence den jungen Trottel mit der Eselskappe vor sich, unfähig zu begreifen wie sich sein Mann mit dem hässlichen angemoderten Teil auf dem Schädel schicker finden konnte als vorher und schüttelte desinteressiert den Kopf.

„Siehst aus wie der miese kleine Leichenfledderer der du bist“, fasste er seine Gedanken auf den Punkt gebracht zusammen und ließ dabei bewusst außer Acht, dass als Jäger er sonst manchmal derjenige war, der zum Salzen und Anzünden mit seinem rostigen Klappspaten alte Gräber aushob um die Ruhe jener Leichen zu stören, die als Geistergestalt über der Erde herum spukten. „Aber das sei dir verziehen, kannst das Ding behalten wenn du dafür den Schmuck, den du findest, an mich abtrittst.“

Weil er schon während er die Worte aussprach wusste, dass das nie im Leben freiwillig geschehen würde, stupste der Hüne seinem Mann die Basecap mit dem Gewehr am Schirm wieder vom Kopf um zeitgleich mit der anderen Hand nach der Umhängetasche des Jüngeren zu haschen und seine gierigen Diebesfinger darin zu versenken.

„Wegen dir werde ich noch zum Gespött aller Jäger wenn wir je wieder die Zivilisation erreichen. Ich hab nicht mal mehr die zwei Silberarmreifen seitdem wir in Cascade Hill City waren“, fasste er den Notstand und die Rechtfertigung für die Plünderung seines eigenen Partners zusammen, ihn noch an der Tasche ein Stück weiter gen Laden ziehend, während sein Tasten im Klimmbimm des Kleineren unerwartet erfolglos blieb.

Seufzend entließ er Cassie wieder in die Freiheit, ihm widerwillig die Ringe wie auch das hässliche Cappi überlassend das seine Haarpracht eher verunzierte anstatt Cassie ernsthaft zu schmücken, und ließ seinen wachsamen Blick stattdessen in das Innere des Ladens schweifen auf den der Dunkelhaarige sich eingeschossen hatte.

„Hab bis heute die Logik der Leute hier nicht verstanden. Das Teil sieht nicht aus als hätten die hier früher Lebensmittel verkauft, trotzdem hängt da ein Apfel über dem Eingang“, nickte Clarence dem Logo des Geschäfts entgegen und machte damit den Widerspruch offensichtlich.

In der Welt, in der sie heute lebten, war die Gabe lesen und schreiben zu können selten geworden; Läden wurden stattdessen vermehrt mit einfachen Bildern über der Tür verziert um selbst dem letzten Hinterwäldler begreiflich zu machen, was man dort erwerben konnte. Bierkrüge für Kneipen, ein Bett für eine Herberge, gekreuztes Besteck für einen Gasthof… die Symbole waren simpel und umso einfacher zu verstehen - doch was Clarence unter dem Schutt der einstmals gut sortierte Regale gewesen war erkennen konnte, was so ziemlich alles aber sicher nichts zu essen was bei einem Apfel nahe gelegen hätte.

„Ich glaub nicht, dass du da drinnen sinnvolle Recherchen betreiben kannst… lass uns lieber weiter Stadtmitte ziehen. Die hatten früher riesig große Gebäude wo hunderte von diesen Läden drin waren und wo vielleicht weniger geplündert worden ist.“

Die Geschäfte lagen hier alle zu nah an den Straßen, waren zu offensichtlich für durchreisende Plünderer und zu gut erreichbar, außerdem waren viele der Schaufenster derartig zerstört, dass über die letzten hundert Jahre Wind und Wetter ihr übriges getan hatten um die Relikte der Vergangenheit zu zerstören. Je weiter sie in die Stadt vordrangen, umso höher stieg die Wahrscheinlichkeit dass kaum jemand vor ihnen das ehemalige Sperrgebiet so tief erobert hatte und umso besser waren ihre Chancen, dass Matthew noch mehr hässlichen und sinnlosen Kram abstauben sowie seinen Mann neu mit Wertgegenständen ausstaffieren konnte.

„Außer du hast Angst vor ein paar Mutanten, Riesenspinnen und kannibalischen Eingeborenen, dann können wir natürlich auch im Kinderbecken für Nicht-Schwimmer bleiben. Was sagst du?“


Matthew C. Sky

Clarence Bartholomy Sky war ein fürchterlich gefährlicher Zeitgenosse, aber es. Bräuchte Eibe Weile um das zu begreifen.
Er konnte nämlich sehr überzeugend den unbescholtenen und braven Christen mimen und einen in Versuchung führen zu glauben, der fromme Mann könne kein Wässerchen trüben.
Höflich kam er daher, naiv und gab sich so manches Mal entrüstet über die Lasterhaftigkeit der Welt und ihrer Bewohner.
Einmal jenem Irrglauben erlegen, wurde man nachsichtig mit der ein oder anderen Bemerkung des Größeren... freche Worte, flapsige Kommentare. Man hielt dem Burschen zu Gute es nicht besser zu wissen, es vielleicht nicht so zu meinen - oder man tat es einfach als Lappalie ab.
Aber in Wahrheit war dieser brave Kerl ein durchtriebener frecher Schwerenöter und Cassie ließ sich nichts mehr vormachen.
Er kannte Clarence mittlerweile besser, als das er sich noch von dem unschuldigen Charme des Blonden einlullen ließ und trotzdem gelang es Clarence, Matthew mit unerwarteter Unverschämtheit zu überraschen.
Einen miesen kleinen Leichenfledderer nannte er ihn und das, obwohl Matthew mit dem Basecap und der Sonnenbrille verdammt stylisch aussah. Zumindest fand er das selbst.
Und tatsächlich: wenn man ihn so sah, in seiner hellen Jeans, dem Oberteil mit auffälligem Print und seinen Accessoires, gab er ganz und gar nicht das Bild ab welches man sonst überall auf der Welt sah. Wären da nicht die robusten Stiefel und sein Köcher samt Bogen, hätte man meinen können er sei ein Bewohner des alten Miamis. Nicht das Miami das in Schutt und Asche lag, sondern so wie es einst gewesen sein mochte. Modern, vielseitig, laut und belebt.
Der Dunkelhaarige hatte schon immer eine Schwäche gehabt für das Zeug der Alten. Kleidung und Krimskrams, Zeug das oftmals das doppelte oder dreifache kostete wie das zeitgenössische Pendant. So war das Feuerzeug das er besaß ein waschechtes Zippo Feuerzeug wie die Prägung an der Unterseite bewies und damit eindeutig als steinalt zu identifizieren.
Über den Sinn und Unsinn seines Faibles ließ sich vortrefflich streiten - was sie auch schon oft getan hatten. Und auch heute sah Matthew gar nicht ein, warum er seine Fundstücke dem Blonden überlassen sollte.
„Warum sollte der miese kleine Leichenfledderer dir etwas schuldig sein?“, erwiderte Cassiel ohne das er sich an der Beleidigung zu stören schien.
„Geh und such dir dein eigenes Skelett zum ausrauben, dass solltest du hinkriegen. Bist ja immerhin schon ein großer Junge.“ An seiner Tasche wurde er weitergezogen während Clarence nach den Ringen suchte und erfolglos blieb. Dass Matthew noch gar nicht damit fertig war den Wust an Krempel zu untersuchen den er auf die Motorhaube geschüttet hatte, kümmerte den Blonden überhaupt nicht - was einmal mehr bewies wie wenig ihm an dem Zeug der Alten lag.
„Heee! Ich war noch nicht soweit!“, zeterte der Dunkelhaarige, machte sich aber keine Mühe wieder zu dem geplünderten Rucksack zurückzukehren nachdem Clarence ihn wieder freigelassen hatte.
„Weißt du was dein Problem ist?“, fragte er den Größeren schließlich und schaute zu ihm empor, während sie den Laden betraten.
„Dir fehlt die Fantasie und der Blick für das große Ganze!“ erörterte er ungefragt.
„Du siehst einen angebissenen Apfel und schon denkst du ans Essen.“, er deutete mit dem Finger auf ein verblichenes aber dennoch bemerkenswert scharfes Bild an der Wand des Ladens.
Darauf zu sehen war eine Art…Barren mit bunter Front, daneben war der selbe Gegenstand – vermutlich von hinten - zu sehen. Da war er glatt und schwarz und es war ebenfalls ein angebissener Apfel darauf.
„Ich glaube, der Apfel hat eine andere Bedeutung. Er könnte eine Art…Markenzeichen sein, denn wenn ich mich hier umsehe…ist der fast überall drauf. Vielleicht ist er das Signum von dem Menschen der all diese Dinger hier hergestellt hat.“
Wie nah und gleichzeitig fern er mit dieser Einschätzung an der Wahrheit lag, konnten die beiden jungen Männer nicht wissen. Aber Fakt war, dass dieser Laden – ob nun geplündert oder nicht – sehr viel interessanter war als Clarence in seiner Naivität suggeriert hatte.
Ungeachtet der Bemerkungen umrundete Matthew einen gläsernen Verkaufstresen, der an mehreren Stellen eingeschlagen war. Splitter lagen überall auf dem Boden verstreut und knirschten unter den Stiefelsohlen. Viel war von der ausgestellten Ware nicht mehr da, nur vereinzelt lagen noch die komischen Barren da. Manche mit Apfelsymbol, andere mit komischen Namen wie Huawai oder Samsung.  
Auf dem Boden hinter dem Tresen lag eine Art Brett, dass augenscheinlich aus demselben Material war wie die kleineren Geräte in der Auslage. Der Bildschirm war gesprungen und schwarz.
„Was denkst du, ist hier passiert, hm?“, fragte Cassiel leise und holte einen der kleineren Barren aus einer Vitrine. Auf dem Bild an der Wand leuchtete die Vorderseite bunt, aber das Gerät das er in der Hand hielt blieb dunkel.
Er schüttelte es einmal, was aber nicht dazu führte das sich irgendetwas änderte. Mit der gleichen Beiläufigkeit mit der er vorhin den Schmuck eingesteckt hatte, steckte er nun das unbekannte Ding in seine Tasche und folgte dann der Ladenwand. Viel interessantes war wirklich nicht mehr zu finden. Neben dem Hauptraum gab es noch ein weiteres Zimmer mit vielen Kisten und Regalen. Einige waren voll, andere leer. Von diesem Raum aus ging eine Tür ab die in ein Bad führte, die Wände waren beschädigt, in dem Waschbecken stand dreckiges Wasser.
Leichen oder Wertgegenstände fanden sich keine mehr und so gab der Dunkelhaarige schließlich sein Einverständnis dazu, das Nichtschwimmer Becken zu verlassen.
„Von mir aus können wir gehen. Wenn wir auf Mutanten, Riesenspinnen oder Kannibalen stoßen lass ich dich einfach zurück und rette mich selbst. Nichts für ungut.“, so frech und unbehelligt wie er es sagte war es freilich nicht gemeint und das wussten sie beide. Im Laufe ihrer Reise hatte es schon oft kritische Situationen gewesen und besonders im letzten halben bzw. dreiviertel Jahr war eine Menge passiert. Aber einander zurückzulassen oder den anderen zu opfern um selbst mit dem Leben davonzukommen war nie eine Option gewesen. So oft wie Clarence ihm schon den Hintern gerettet hatte, waren über die Loyalität des Größeren keine Zweifel erlaubt und was Matthew anging…so hatte auch er schon das ein oder andere Mal sein eigenes Leben riskiert um das seines grummeligen Barbarenbären zu retten.
Ein kurzer Pfiff beorderte die Hunde wieder zu ihnen beiden und Matthew kam zurück an Clarence‘ Seite. Gemeinsam traten sie wieder aus dem Geschäft hinaus ins Freie. Ungefragt legte Cassie seinen Arm um den Rücken des Hünen und steckte seine Hand in die Gesäßtasche der Hose seines Mannes. „Schön bei mir bleiben, Großer.“
Was auch immer sie in Miami erwarten mochte, Matthew hatte nicht vor schon wieder von Clarence getrennt zu werden.
Seit ihrer Hochzeit waren sämtliche Ausflüge die sie an Land unternommen hatten in Chaos und Blut geendet. Clarence humpelte noch immer leicht, auch wenn es für Außenstehende nicht sichtbar war und was Cassie anging, so war die Sehkraft seines einen Auges auch noch nicht voll wiederhergestellt. Unterm Strich musste man feststellen, dass sie beide nicht gerade vom Glück verfolgt waren was ihre Flitterwochen anging.
Sich auf dem Boot einzumotten sah ihnen beiden aber nicht ähnlich und so blieb nichts anderes übrig als dieses Mal sicherzustellen, dass sie nicht wieder blind in ihr Verderben rannten. Und Clarence bei sich zu behalten war der erste Schritt in die richtige Richtung.
„So wie ich das sehe, Blondi…. Schuldest du mir noch immer eine ganze Menge Antworten. Ich hab meine Seite der Abmachung jedenfalls mehr als erfüllt und ich kann dir nicht raten mich zu verprellen. Ein ruchloser Kopfgeldjäger und Leichenfledderer wie ich es bin, würde die gesuchten Antworten schon irgendwie aus dir rauskitzeln.“ – und weil das so war, zwickte er seinen Begleiter in den Hintern. Die erste von nicht vielen Warnungen die er Clarence zugestand.


Clarence B. Sky

Früher, zu einer Zeit in der er seinen vorlauten Gefährten weit weniger gut gekannt hatte als heute, war Clarence mit dem Dunkelhaarigen teilweise überhaupt nicht gut zurecht gekommen. Matthew war ihm oberflächlich erschienen und exzentrisch, seine Vorliebe für teuren und exklusiven Tand hatte der Jäger nicht nachvollziehen können – und verschlimmert worden war jene Unliebsamkeit noch durch den Umstand, dass sie damals weit weniger finanzielle Mittel besessen hatten als heute. Das bisschen, was sie sich tatsächlich zusammen verdient hatten für unbedeutende Aufträge in unbedeutenden Dörfern, hatte sein Kumpane bei zwielichtigen Glücksspielen auf den Kopf gehauen und nicht selten einen Streit mit den Einwohnern vom Zaun gebrochen, nur um das wenige was geblieben war direkt zu reinestieren. Für noch unbedeutenderen Schund.

Sein Interesse für auffällige Kleidung war unangebracht gewesen, zumindest für die rauen Welt der Jäger aus der Clarence stammte und angesichts dessen dass er doch lieber recht unerkannt durch die Welt ziehen wollte aufgrund seines unbekannten Verbleibens im Clan, hatten ihm die Neigungen des Jüngeren noch weniger in den Kram gepasst.

Oberflächlich, laut, frech und ziemlich frei aller charakterlichen Tiefen, so was Matthew Cassiel Reed damals daher gekommen. Doch wer dachte der junge Mann hätte nicht mehr zu bieten, der hatte sich definitiv getäuscht – und auch Claire hatte früher oder später einsehen müssen, dass sein kleiner Taugenichts mehr an sich hatte als nur sein Gehabe oder sein gutes Aussehen, welches den Blonden von Beginn an zu faszinieren gewusst hatte.

Je besser er Matthew kennengelernt hatte und je näher sie sich dabei gekommen waren, umso unbedeutender waren die einstmals unliebsamen Eigenschaften des Jüngeren geworden. Ja, wenn Clarence ehrlich war, hatte er an der ein oder anderen sogar mittlerweile Gefallen gefunden und rückblickend wirkte selbst der unglaublich abscheuliche Wintermantel mit den Ohren mehr drollig als wirklich noch abstoßend auf den Hünen. Cassie war ein Mann, der sich für Dinge begeistern konnte mit einer Leidenschaft, die Clarence manchmal fehlte und womöglich passten sie gerade deshalb auch so gut zusammen; denn dadurch dass dem Bären von Mann jegliche Sammelleidenschaft fehlte, hatte sein plünderwütiger Mann umso mehr Platz auf dem Boot um sie bis zum Hals in Müll und fragwürdiger Designerkleidung zu versenken.

„Warum du mir was schuldig bist?“, rief er seinem Taugenichts hinterher, doch im Gegenteil zum Jüngeren blieb er vor den eingestürzten Scheiben des Ladens stehen, ihre Hunde auf der Straße im Blick behaltend, damit die beiden Quälgeister ihrem neugierigen Herrchen nicht hinterher liefen und sich die Pfoten verletzten. „Weil ich dir ein unglaublich guter Mann war und dir ein wunderschönes Schlafzimmer hergerichtet habe als du krank warst. Das hat sich nicht von alleine bezahlt, also walte deines Amtes und schmücke mich wieder mit Geschmeide, undankbarer Flegel!“

Selbst unzähliger Aufforderungen seines Mannes zum Trotz, hatte Clarence bis heute kein einziges Mal Hand angelegt an den Batzen Bargeld, der gut versteckt dank Cassie auf ihrem Boot ruhte und nur darauf wartete ausgegeben zu werden. Warum er sich nicht an diese Münzen heran traute, konnte er dabei gar nicht mal so genau sagen, immerhin hatten sie auch sonst von Beginn ihrer Ehe an alles miteinander geteilt was sie besaßen. Trotzdem gab er lieber seinen Schmuck und dadurch auch seinen Status als erfolgreicher Jäger her, als auch nur einen Heller von Cassies verdientem Gold anzurühren.

„Ich glaube was hier passiert ist, ist Folgendes: So ein gieriger Kerl wie du hat sich gedacht Jetzt oder nie, aber sein Plan ist eindeutig nach hinten losgegangen.“

So war es sicher nicht gewesen und das wussten sie beide; Matthew ein wenig zu necken war jedoch eine Freude, die er sich nicht nehmen ließ. Jedoch lagen die Tatsachen auf der Hand, vermutlich war Panik ausgebrochen und die Menschen hatten versucht zu flüchten als die ersten Bombenalarme losgegangen waren, zumindest wenn man bedachte wie voll die Straßen selbst heute noch voller Automobile standen. Dass der ein oder andere Ausreißer in seiner Hektik in einem Geschäft oder einer Mauer gelandet war, schien daher selbstverständlich.

Während sein raffgieriger Räuber sich darum kümmerte den Müll im ausgestorbenen Laden zu plündern, wartete der Bär geduldig vor dem Laden – ein Bild wie es selbst heute noch der Fall war wenn die kaufwütige Ehefrau zu lange beim Schneider brauchte und sie den Ehemann währenddessen nicht seines Weges ziehen ließ – und war dafür umso erstaunter, als Cassie schon nach kurzem wieder zu ihm hinaus ins Tageslicht trat. Der flapsige Seitenhieb seines Mannes war dabei natürlich schon fast obligatorisch.

Gespielt entrüstet zog Clarence die Brauen empor und musterte den Jüngeren abschätzig und würden sie die Zeiger der Uhren um ein Jahr zurück drehen, vermutlich hätte er ihm sogar geglaubt, er würde einfach abhauen und den Jäger sich selbst überlassen. Jüngste und ältere Ereignisse hatten jedoch das Gegenteil bewiesen und so kam Claire nicht umhin, seinem Gefährten die süßen Frechheiten an diesem Tag ausnahmsweise durchgehen zu lassen.

Ein undurchschaubares Schmunzeln stahl sich auf die Lippen des Größeren kaum da er den Arm um seinen Rücken und die vorwitzigen Fingerspitzen Cassies schließlich in seiner Hosentasche spüren konnte, eine Geste die noch in Coral Valley völlig undenkbar gewesen wäre. Nicht nur mit Matthew oder einem anderen Mann, sondern ganz generell hatte Clarence noch nie etwas übrig gehabt für Menschen, die nicht mal in der Öffentlichkeit ganz offensichtlich die Finger oder die Lippen voneinander lassen konnten und lange hatte es so ausgesehen, als gehörten sie beide einfach nicht zu dem Schlag Paar, das ständig eng umwoben irgendwo gemeinsam zu zweit durch die Straßen flanieren musste.

Dass dem anders war, hatte sich nur sehr langsam heraus kristallisiert und auch für Claire selbst war es ein Lernprozess gewesen zu begreifen, dass er sich durchaus nach kleinen aber feinen Liebesbekundungen mit seinem Partner sehnte, ganz egal wo sie waren. Es reicht sich in den kleinen Finger des anderen einzuhaken wenn sie in der Metropole waren oder unauffällig seine Finger auf ein freies Fleckchen Haut seiner Prinzessin zu legen, wenn sie gemeinsam nebeneinander bei Tisch saßen; hier aber, gefühlt in der Zivilisation und am Ende doch ganz alleine mit sich, schien nicht mal mehr der Arm seines Liebsten um seinen Rücken für den Jäger eine Unliebsamkeit darzustellen und so kam es, dass auch seiner um die Schultern des Kleineren nicht lange auf sich warten ließ.

Keine Angst, ich komm dir nicht abhanden“, wisperte er seinem Geliebten leise zu und zog ihn eng an sich um ihm einen Kuss auf die Schläfe zu hauchen – so weich und sanft, dass darin alle Liebe der Welt lag. Aller Guten Dinge sollten dieses Mal nicht drei sein, nicht in ihrem Fall, und selbst wenn es garantiert sichere Abenteuer gab als einen Ausflug in eine Geisterstadt zu wagen, so wollte er seinem Mann heute nicht schon wieder irgendwelche Sorgen bereiten sondern unerwartet artig an dessen Seite verweilen.

Ein überraschtes „Hey!“ drängte sich seine Kehle empor als er die frechen Fingerspitzen in seiner Hosentasche zwicken spürte, ein Umstand der regelrecht dazu einlud dass man ihn sich zu seinen eigenen Vorteilen auslegte.

„Und wenn ich deine Fragen offen stehen lasse, fummelst du mir dann weiter an mir rum? Erscheint mir nicht wie eine gut durchdachte Drohung, mein Lieber“, kritisierte Claire die angedachten Vorgehensweisen, immerhin schien die bevorstehende Bestrafung gerade wesentlich lohnenswerter als tatsächlich brav Rede und Antwort zu stehen.

„Aber was hab ich auch erwartet, du warst noch nie gut im Pokern. Na ja gut, die geistig Armen soll man nicht hinhalten, ich will also mal nicht so sein.“ – Achtsam scannte er die Umgebung auf ihre zwei neugierigen Anhängsel ab, doch diese hatten seit dem Abenteuer auf der Spinneninsel ihren Teil dazu gelernt und blieben erstaunlich vertrauenswürdig in Sichtnähe, wenn man sie erst mal zu sich zurück gerufen hatte und auch sonst schienen die Gassen ruhig und frei von Mutanten oder wütigen Tieren, die schon längst ihre laute Fährte aufgenommen hätten wenn sie es denn wollten.

„Bei uns im Clan ist es Tradition, dass man abends nach dem Essen noch ein wenig beieinander sitzt um was miteinander zu machen. Manchmal, wenn jemand von seinen Aufträgen ein gutes neues Buch mitbringt, liest man das zusammen beim Kartenspielen oder so“, weihte der Jäger Matthew in die beschauliche Welt eines Clanlebens ein, das aber sicher in anderen Gruppierungen auch ganz anders gehandhabt werden konnte.

„Wir haben mal einen Fantasie-Roman der Alten gelesen, das war schon halb zerfleddert aber nett geschrieben. Die wenigsten haben zugehört, aber ich fand den Klappentext über die Autorin recht unterhaltsam.

Das Buch hieß Scherben aus Glas und es ging um eine – aus Sicht der Alten -alternativen Welt. Um eine Großstadt, die sich nach dem Ende der Menschheit aus dem Nichts neu erhoben hat und die Hoffnung vieler war, die nichts besaßen und etwas aus sich machen wollten. Mit Gebäuden so hoch wie in keiner anderen Stadt und gläsernen Mauern, in denen sich das Sonnenlicht in Prismen bricht. Eines Tages fängt die Erde immer wieder an zu Beben und Panik bricht aus, die Menschen wissen nicht was sie tun sollen. Es beschreibt den Verlauf in zwei verschiedenen Familien - die eine wohlhabend und fähig, sich sicherheitshalber aus der Stadt zu evakuieren und die andere, einfache Menschen aus niederen Verhältnissen, die sich einreden müssen dass alles in Ordnung ist, da sie ihre Lage sowieso nicht verändern können.

Die Geschichte endet damit, dass sich mit dem letzten und heftigsten aller Beben die Erde unter der Stadt auftut und alles in sich verschlingt, was jemals auf Zivilisation hätte hinweisen können.“

Kurz schwieg der Jäger, ließ der Zusammenfassung etwas Raum um zu wirken und hoffte, dass nicht nur ihm alleine eine gewisse Ähnlichkeit zu einem Vorfall von vor etwas über einem Jahr auffiel, als man sich in den Kneipen begonnen hatte zu erzählen, die Erde hätte plötzlich die Metropole Prism Shore verschlungen, größte ihrer Art.

„Die Autorin war ein junges Mädchen, die ihre Bücher aus einem Sanatorium heraus veröffentlicht hat. Sie wurde dort behandelt wegen Halluzinationen und Wahnvorstellungen, wegen Schizophrenie… alles Dinge, die sie in ihren Büchern verarbeitet hat und Scherben aus Glas war wohl… ich weiß nicht mehr genau. Ich glaube es war der vierte Band einer ganzen Reihe. Ich frage mich schon seit ein paar Monaten, ob die Kleine wirklich verrückt war oder…“, das Offensichtliche lag auf der Hand weshalb er vielsagend mit den Schultern zuckte. Hexen und übersinnliche Mächte waren heutzutage für alle normal, aber ebenso wussten sie trotz verlorener Geschichtsteile wie etwa einem Ladengeschäft mit Apfel-Logo, dass all diese Veränderungen erst mit dem Untergang der Alten Einzug in die Welt gehalten hatte. Dass es vielleicht damals schon Hexen gegeben hatte von denen niemand etwas hatte ahnen können, etwa einem jungen unbedeutenden Mädchen das in die Zukunft sehen konnte und aus Unwissenheit als Verrückte abgestempelt wurde, erschien Clarence daher nicht weit hergeholt.

„Ich würde gerne die Bücher in der Bibliothek hier finden, falls wir das schaffen, und herausfinden ob dieses eine Buch das wir gelesen haben Zufall war oder ob mehr hinter der Sache steckt. Was denkst du darüber?“


Matthew C. Sky

So sehr Matthew auch wollte, er konnte sich nicht erinnern jemals positiver gestimmt zu sein als am heutigen Tage.

Alle anderen wunderbaren Momente die er mit Clarence schon geteilt hatte, waren für ihn mit beinah unerträglicher Aufregung verbunden gewesen. Ihr zweiter Kuss, am Morgen nach der alles veränderten Nacht am Lagerfeuer, sein Geständnis im Blauer Hund und natürlich allem voran der Tag ihrer Hochzeit wo er nicht nur einmal kurz davor gestanden hatte in Panik zu verfallen.

Aber heute war so ein Tag an dem er nicht nervös war. Es gab keine Unsicherheiten, es gab keine schwerwiegenden Themen die anzuschneiden er sich nicht getraute. Wenn er neben sich sah, sah er Clarence, seinen Ehemann und sein Ehemann war nicht einfach nur erfüllt von einem warmen Gefühl der Zufriedenheit – so wie er seinen Zustand mal beschrieben hatte – sondern er war glücklich.

Was das für Clarence bedeutete, konnte Matthew sich nur vorstellen, aber er wusste was es für ihn hieß.

So unbeschwert wie sie beide waren, waren sie vielleicht noch niemals gewesen und falls doch, so lag es sicherlich viele viele Jahre zurück.

Als Clarence wortlos seinen Arm um Matthews Schultern legte, ihn dichter an sich heranziehend, zauberte er auf Matthews Lippen und in seine Augen ein unübersehbares Strahlen.

Der Junge mit den traurigen Augen schien nicht mehr da zu sein und bei Gott, jeder der ihn kannte würde sich fragen was passiert sein musste um jenen tiefsitzenden Kummer zu vertreiben, der so selbstverständlich und fortwährend in seinem Blick gelegen hatte, sodass man meinte der Schmerz gehöre einfach dorthin.

Aber Melancholie war nicht das Wesen des jungen Mannes, zumindest nicht seit Clarence ihn geheiratet hatte und damit die letzte Bastion der Selbstzweifel im Innern des Jüngeren zum Einsturz gebracht hatte.

Es war frappierend wie sehr die beiden einander zum positiven verändert hätten und heute waren sie vielleicht mehr sie selbst, als in den letzten 20 Jahren. 

Doch bei allen guten Wendungen und aller Unbeschwertheit, so war Matthews Angst, der Größere könne ihm abhandenkommen, natürlich sehr wohl berechtigt. Und sie entsprang auch nicht irgendeinem Hirngespinst.

Auch wenn ihr Ausflug auf die vermaledeiten Spinneninsel schon Monate zurücklag, so hatte Cassiel nicht vergessen wie knapp sie davongekommen waren. Er hatte nicht vergessen wie sein Liebster kopfüber von einem Baum gehangen hatte, eingewebt in feste, weiße Fäden. Seine Haut war kalt und wächsern gewesen, das blonde Haar schmutzig, sein Antlitz leb- und reglos.

Für Clarence, der sich sowohl der Flucht als auch der Tage davor und danach nicht richtig entsinnen konnte, war es freilich leicht zu sagen ‚Keine Angst, ich komm dir nicht abhanden.‘ – aber was es mit Cassiel gemacht hatte ihn so zu sehen wie die Spinnen ihn zurückgelassen hatten, davon wusste er nichts, ein Segen für den Größeren welchen Matthew ihm gönnte.

Der Blonde hatte schon genug düstere Erinnerungen, da brauchte er jene nicht auch noch zu haben und Matthew verzichtete ganz bewusst darauf, ihn an das Drama zu erinnern, dass sein Mann mit seiner Abenteuerlust damals heraufbeschworen hatte. Die Angst von damals würde sich rückwirkend ohnehin nicht ändern lassen und irgendwie hatte das das Erlebte ja auch sein Gutes. 

Denn heute würde es nicht soweit kommen, sie beide waren beide klüger geworden, ihr Glück derart herauszufordern, ihr Leben derart aufs Spiel zu setzen... dergleichen würden sie heute nicht mehr tun. Zumindest hoffte Cassiel das, für Clarence aber auch für sich. Der unschuldige und zugleich unbeschwerte Kuss auf seine Schläfe bestätigte Matthew die Richtigkeit seiner Entscheidung und ließ seinen Bauch kribbeln und sein Herz hüpfen. Ein helles Lachen durchbrach die Grabesstille der Straße und Matthew schüttelte grinsend den Kopf über die unverschämt freche Bemerkung seines Mannes.

„Dein geistig armer Ehemann wird die ganze Woche nicht mehr an dir rumfummeln wenn du deinen Teil des Deals nicht einhältst – eine Folter von der ich nicht sicher bin, dass du sie überstehst.“, konterte er heiter.

Ob nun jene Drohung oder das Ehrgefühl seines Mannes dafür verantwortlich war, tatsächlich setzte Clarence schließlich zu einer Erklärung an und schaffte es – wie immer wenn es um Vergangenes ging – sofort Matthews uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu gewinnen. 

Matthew, der eigentlich immer mehr Einzelgänger gewesen war als Clarence, auch wenn dieser das wohl nicht so sehen würde, konnte sich nur schwer vorstellen wie es war in einem Clan zu leben.

Wann immer der Größere von dieser Zeit berichtet hatte, hatte er in Matthew eine Art Neugier geweckt die sich nicht so ganz beschreiben ließ. Sie pendelte zwischen aufrichtigem Interesse, dem Wunsch mehr über das frühere Leben seines Mannes zu erfahren und einem unbequemen Pieksen von Eifersucht.

Clarence hatte eine lange Zeit seines Lebens mit diesen Leuten verbracht, hatte mit ihnen den Lebensunterhalt bestritten, den Alltag gelebt, die gleichen Ziele verfolgt. Die Clan-Mitglieder waren ihm eine Art Familie gewesen, nicht alle mochten einander aber trotzdem saßen sie alle im selben Boot und kämpften an den selben Fronten wenn es hart auf hart kam.

Aber damit nicht genug – nein, es gab auch Leseabende, von denen Matthew sich vorstellte sie würde vornehmlich an einem gemütlichen Lagerfeuer in trauter Runde stattfinden. Grüppchen fanden sich zusammen, erzählten sich was sie erlebt hatten und lauschten zu leiser Gitarrenmusik dem Vorlesenden.

Ob diese Vorstellung nun der Realität entsprach oder er sich in seiner Fantasie ein viel zu harmonisches und romantisches Bild zurechtgesponnen hatte, war längst zweitrangig. Denn Matthew stand längst mit den Mitglieder von Clarence‘ Clan in Konkurrenz.

„Scherben aus Glas…“, echote Matthew nachdenklich, wobei seine Gedanken nicht so sehr um die auffälligen Parallelen zu Prism Shore kreisten, als vielmehr um die Vorstellung von Abenteuerromantik am Lagerfeuer der Kestrels.

Dieser Verein, obgleich nur aus Geschichten bekannt, gefiel Matt aus vielen Gründen nicht. Manche waren offensichtlich – der Anführer Nagi Tanka zum Beispiel – andere hingegen weniger nachvollziehbar.

Es war daher wenig verwunderlich, dass er alles andere als erpicht darauf war, sich mit den Mitverschwörern des Mordkomplotts in Rio Nosalida zu treffen.

„Klingt für mich nicht anders, als all die anderen Geschichten der Alten. Manche haben sich wirklich komische Titel für ihre Bücher überlegt.“, gab er zu bedenken und versuchte seine sinnlose Eifersucht bei Seite zu schieben.

„Es gibt abertausende Bücher über die Apokalypse, Geister, wandelnder Toter und auch über Magie.“, wahrlich er hatte nur einen Bruchteil gelesen, aber genug um sich ein vages Urteil über die Themen erlauben zu können, über die damals so geschrieben wurde.

„Du glaubst die Autorin hat die Zukunft vorhergesagt?“, das klang einigermaßen weit hergeholt und der zweifelnde Tonfall in Matthews Stimme machte das auch ziemlich deutlich.

Anders als Clarence, war Matthew Cassiel Sky ein absoluter Agnostiker. Er negierte weder die Existenz von Gott, noch glaubte er an ihn. Was nicht bewiesen war, war für ihn schlichtweg unwahrscheinlich und damit zu vernachlässigen – und die Annahme, eine junge Autorin der untergegangenen Zivilisation habe das Ende von Prism Shore vorhergesagt, war ebenso unwahrscheinlich wie der Glaube an eine höhere Instanz.

„Claire, dass ist selbst für einen Schwachkopf wie dich eine sehr weit hergeholte These, aber…wir beschaffen dir diese Bücher wenn wir sie irgendwo auftreiben können.“ – und wenn sie sie einmal hatten würde Matthew den perfekten Anreiz haben damit er Clarence dazu verdonnern konnte Lesen zu lernen.

„Und du hast Glück, dass du zufällig mit dem begnadetsten Grabräuber Amerikas hier bist. Wenn dir jemand deinen verlorenen Schmuck und deine nostalgischen Erinnerungen in Form von Büchern beschaffen kann, dann bin ich das. Sei unbesorgt, Blondi“. - leicht, beinahe kumpelhaft stieß er mit seiner Schulter gegen die des Größeren. 

„Du kannst dich auf mich verlassen, Grabräuber-Ehrenwort.“


Clarence B. Sky

Ganz und gar unzweifelhaft liebten sie einander und das nicht erst seit gestern. Vermutlich schon Wochen oder gar Monate mussten sich diese Gefühle füreinander aufgebaut haben, bereits vor ihrem ersten Kuss ein undefinierbares Empfinden für den Mann an ihrer Seite hinauf beschwörend, das bis dato nicht zu beschreiben oder zu verstehen gewesen war.

Aber einander zu lieben bedeutete nicht gleich, dass die Welt von heute auf morgen eine andere war und man reibungslos miteinander funktionierte, als wäre es nie anders gewesen. Stille Ängste hatten sie weiter kontrolliert, hatten sie beide davon abgehalten gewisse Fragen zu stellen aus Angst vor der Reaktion des anderen und am Ende waren sie sich dabei in gewissen Bereichen doch immer noch fern gewesen, so groß ihre körperliche und emotionale Nähe auch sein mochte.

Heute aber, just in diesem Moment, den Arm seines Mannes an seinem Rücken spürend und den eigenen um dessen Schultern gelegt, hatte der Blonde sich Matthew niemals näher gefühlt als am hiesigen Tag. Clarence konnte es nur ahnen, aber sich vorstellen welche Sorge seinen Mann ergriffen gehalten hatte jemals ein Thema wie Familie anzuschneiden aus Angst, darunter Traurigkeit oder gar Zorn in seinem Bären zu schüren. Er hatte nicht wissen können, dass es vielleicht gerade dieses kleine Quäntchen gebraucht hatte um den Christen zu öffnen und noch weiter für sich zu gewinnen als er es eh schon getan hatte – und für seinen Mut die Hürden zwischen ihnen immer wieder aufs Neue zu überwinden liebte Clarence ihn so sehr, dass es mit Worten kaum zu beschreiben war.

Der Mann in seinem Arm war nicht mehr der Mensch von letztem Jahr und doch noch immer der völlig gleiche in den Clarence sich verliebt hatte. Was sich geändert hatte, war nicht das freche Mundwerk des Jüngeren oder gar dessen Gebärden zu denen sich der Blonde – so zwiegespalten er sich auch manchmal darüber äußern mochte – ganz besonders hingezogen fühlte, sondern die Art und Weise wie Cassie heute nicht nur in die Welt, sondern auch auf den Älteren blickte.

Er war ein Mann geworden frei von Kummer, erlöst von der Last die bereits viel zu lange Jahre auf seinen Schultern geruht zu haben schien. Ein Mensch, der sich mit ihm zusammen freuen konnte auf das was vor ihnen lag und mit ihm gemeinsam eine Zukunft erkannte, die es noch vor wenigen Monaten überhaupt nicht gegeben hatte. Was wären sie für zwei Gestalten gewesen, ohne einander, ohne Hoffnung und das Glück, das sie im anderen fanden?

Sein ganzes Dasein wäre trist und grau geblieben ohne seinen Freund und Geliebten, frei von Zielen die es zu erstreben galt und Wünschen, die man versuchte wahr werden zu lassen. Und wenn der Tag kam, an dem alle Wünsche erfüllt und alle Träume geträumt waren, dann würde er Matthew Cassiel noch immer lieben… alleine deshalb, weil ihnen nichts und niemand die Erinnerungen an all diese gemeinsam verlebten Augenblicke stehlen konnte.

Die Eifersucht, welche in dem Jüngeren zu kochen begann kaum da der Jäger seinen Clan erwähnte, konnte letzterer weder erahnen noch für einen kurzen Moment in Cassies Augen aufblitzen sehen. Zu weit entfernt schien ihm der Gedanke, sein Mann könne neidisch auf solche Lappalien sein nach alledem was sie bereits miteinander teilten und was im Vergleich viel mehr wog als das, was Claire jemals mit anderen Menschen erlebt hatte. Aber was er unumstößlich wusste war, dass er eine ganze Woche ohne Fummeln garantiert nicht überleben würde, so wie die Dinge derzeit standen.

„Klar gibt es abertausende Bücher über den ganzen Kram. Aber genauso wenig wie man damals daran geglaubt hat, konnten die Leute ahnen, dass später mal Ernst daraus werden könne“, gab der wohl wesentlich Neugierigere der beiden zu bedenken und zuckte leicht mit den Schultern, immerhin war für ihn eines klar: Sollte sich seine Erkenntnis als Flop erweisen, würde es ihnen am Ende ja auch keinen Schaden einbringen. „Außerdem stammen tatsächlich die meisten der heutigen Praktiken aus den alten Wälzern von damals. Du kannst mir erzählen was du willst, aber denkst du wirklich es ist Zufall, dass ausgerechnet all diese ausgedachten Sachen am Ende tatsächlich funktionieren? Ich denke… dieses Chaos hat sicher schon viel früher angefangen, wenn auch nicht in diesem Umfang. Aber unter den Alten haben zu wenige Augen die Wahrheit erblickt um daran zu glauben, also hat man es als Humbug abgetan. Genauso wie man es heute auch noch tut.“

Nicht selten gab es in jedem kleinen Örtchen einen Dorftrottel den man als Säufer abtat wenn er mysteriöse Dinge im Wald oder auf dem eigenen Hof erlebt hatte. Aber das hieß nicht, er wäre nicht vielleicht einfach etwas Übernatürlichem begegnet, das bis heute noch völlig unbekannt für den Rest der Welt war – so unglaublich das auch schien nach all dem, was in den letzten hundert Jahren über die Menschheit nieder gefahren war.

Trotzdem oder gerade wegen ihrer unterschiedlichen Denkweise, versperrte sich sein Mann schließlich nicht gegen die Bitte ihm diese Bücher aufzutreiben und ein siegreiches Schmunzeln legte sich über Claires Lippen, während sein Nebenmann ihn neckisch anstieß. Zufrieden mit sich und seinem fürsorglichen Gefährten, löste er die Pranke von Cassies Schulter um ihm am Rand des Cappis durchs geliebte dunkle Haar zu wuscheln, wobei er ihm die fragwürdige Kopfbedeckung beinahe ein zweites Mal hinab stieß.

„Keine Ahnung was ich ausgerechnet von deinem Ehrenwort erwarten kann, aber ich werde dich daran erinnern“, zog der Bär von Mann den Taugenichts an seiner Seite begründet auf, denn Clarence konnte sich auch an sehr viele Lagerfeuerwächter-Ehrenwörter erinnern, die Matthew am Ende doch gebrochen hatte um einfach liegen zu bleiben, wenn der Schichtwechsel drohte.

„Aber da sieht man mal wieder, dass einfach kein Jäger-Blut durch deine Adern fließt. Ein bisschen Neugierde und Fantasie statt Kritik würde dir wirklich nicht schaden, oder denkst du, ein Jäger sitzt einfach nur rum um die typischen Fälle A, B und C abzuarbeiten bis es wieder von vorne los geht?“

So war das vielleicht bei Söldnern, das konnte er sich gut vorstellen. Auf den einen Auftragsmord folgte der nächste, am besten alle nach Vorgabe, komplikationslos und immer auf die gleiche Art. Bloß keine Abwechslung erleben, denn dann könnte ja etwas Unerwartetes passieren und die Sache könnte tatsächlich mal spannend werden – gegen Adrenalin war Matthew ja eh allergisch, das wusste der Blonde nicht erst seit gestern.

„Stell dir nur vor, wir finden diese Bücher und die Geschichten passieren alle etwa auf der gleichen Zeitebene. Manche Dinge sind vielleicht schon passiert, aber anderen werden noch passieren. Interessiert dich das so gar nicht?“

Gerade von so einem neugierigen Kerlchen wie Matthew hätte der Jäger das wirklich am aller wenigsten erwartet, aber gerade dadurch dass er so unberechenbar war, liebte Clarence ihn ja besonders. Leise knirschte der lose Straßenbelag unter seinen Stiefeln und der Blonde deutete mit der Hand über die Schulter seines Mannes hinweg die Straße entlang auf all die Gebäude, die Zeugen einer derart zerstörerischen Zeit waren.

„Ich weiß nicht wie es dir geht, aber wenn ich die Wahl hätte irgendwo mit dir zu sein und plötzlich tut sich die Erde unter uns auf und wir sterben oder vorher davon zu wissen und mich in der Zeit ganz wo anders mit dir zu befinden… dann würde ich lieber die zweite Option wählen, ganz sicher. Du kannst mich verrückt und naiv nennen, aber du glaubst doch nicht ernsthaft dass ich mir die Chance entgehen lasse dir den Arsch zu retten wenn sowas ansteht, oder?“


Matthew C. Sky

Miami eine der großen Metropolen der Alten, ein Sperrgebiet und Hort unzähliger Gefahren, präsentierte sich bisher kein bisschen furchteinflössend. Sie schlenderten die Straße entlang, vorbei an Autos und Motorrädern, an gläsernen Häusern und steinernen Mauern. Das unheimlichste das sie bisher gesehen hatten war ein Nagetier mit zwei Köpfen - und das war vermutlich noch nicht mal für ein dreijähriges Kind aus der Provinz Anlass sich zu fürchten. Aber wenn es nach Cassie ging brauchte es keine Steigerung an Gefahr oder Aufregung. 

Den einzigen Nervenkitzel auf den er aus war, war der in den Ruinen dieser Stadt spannende Dinge aufzutreiben und zu erkunden. Und so wie es bisher aussah, schienen die Chancen ganz gut, dass sie beide einen friedlichen Ausflug vor sich hatten. Einen Ausflug ganz ohne monströse Spinnen oder steinewerfende Irre. 

Ob sie sich nun erst seit letzter Woche liebten oder schon ihr ganzes Leben lang spielte bei der Vertrautheit ihres Umgangs im Grunde keine Rolle. 

Sie mussten einander vertrauen, andernfalls wäre ein Besuch jener Stadt nichts anderes als ein potentielles Himmelfahrtskommando, denn auch wenn es bisher nicht so schien: rein theoretisch  konnte hier alles mögliche passieren und dann war man besser nicht mit jemandem hier, der einen gern loswerden wollte. 

Doch die Angst verraten zu werden war schon lange nicht mehr existent in der Gedankenwelt des Jüngeren. 

Es hatte unendlich viele Chancen für Clarence gegeben abzuhauen, ihn reinzulegen oder zurückzulassen. Am Anfang ihres Kennenlernens hätte es sogar nicht mehr gebraucht als noch ein bisschen Untätigkeit und Matthew wäre, aufrecht am Baum lehnend, verreckt. Clarence hätte sich dafür noch nicht mal die Finger schmutzig machen müssen. Über den Punkt, dem Hünen zu misstrauen war Matthew folglich schon lange hinaus. 

Und selbst der größte Zweifler würde angesichts des Bildes das sie beide abgaben erkennen müssen, dass sie füreinander geschaffen waren - auf jede nur erdenkliche Weise. 

Die Art wie sie einander offen anhimmelten, hatte nichts Gestelltes, nichts Erzwungenes. Stattdessen waren sie gerade wirklich echt zu sich selbst, aber auch zueinander. 

Clarence, der viel zu lange Freude und Glück hatte missen müssen, hatte den Kummer und die Selbstgeißelung aufgegeben, hatte sich befreit von dem, was ihn zu Boden gedrückt hatte. 

Und Matthew zählte nicht länger die Dinge die sie beide trennten und voneinander unterschieden. Die Stimme in seinem Kopf die ihm beharrlich gesagt hatte, er dürfe nicht und Clarence würde sowieso nicht, war verstummt. Mittlerweile wusste Cassie, dass er sich geirrt hatte. Es verband sie mehr als sie trennte und es gab kein Thema dessen sie sich fürchten mussten es anzusprechen. 

Clarence würde ihn nicht verlassen für ein dummes Wort, eine flapsige Bemerkung, eine Haltung oder etwas das in der Vergangenheit lag. 

Es ging nicht um Einigkeit in allen Dingen, es ging viel eher um die Erkenntnis, dass sie füreinander nicht nur ein Begleiter auf Zeit waren bis sich etwas Besseres auftat. Nein. Clarence war Matthews Zukunft und Matthew war die Zukunft des Blonden. Cassie, der bisher nie für jemanden eine Zukunft gewesen war, hatte sich dieses Gefühl immer gewünscht, auch wenn er es nie gekannt hatte. 

Nun kannte er es, Clarence sei Dank und Matthew wollte es nicht mehr missen. 

„Du wirst dich wohl auf mein Ehrenwort verlassen müssen, ein anderes wirst du nämlich nicht zu hören bekommen.“

Diese Tatsache sagte rein gar nichts über die Qualität des Versprechens aus und so wie Cassiel grinste wusste er das ganz genau. 

Das Clarence derart fasziniert war von einer Buchreihe die er noch nicht mal vollständig gelesen hatte war überraschend und schon allein weil er jene Neugierde gern in den grau-blauen Iriden seines Mannes sah, würde Matthew sich alle Mühe geben sein Ehrenwort in dieser Hinsicht zu halten. 

„Es gibt weit mehr Bücher in denen Unfug steht. Und nur weil irgendwann irgendwer zufällig eine Idee für ein Buch hatte und über etwas geschrieben hat das später eingetreten ist, macht ihn das noch lange nicht zu einem Propheten.“, Cassie schüttelte den Kopf und musste schließlich dafür sorgen, dass Clarence ihm sein neues Basecap nicht schon wieder vom Schädel stieß. 

„Möglicherweise hat man es also als Humbug abgetan, weil es Humbug ist.“  Es schien augenscheinlich gar nicht zu Clarence zu passen, dass er sich derart für solchen Kram interessierte. Allerd8mgs musste man auch festhalten, dass Matthew wirklich nicht viel Ahnung davon hatte wie das alltägliche Leben und Arbeiten als Jäger aussah. 

Bestand es darin jeden Auftrag zu hinterfragen? Darin immer aufs Neue das scheinbar Unmögliche in Frage zu stellen ob es nicht vielleicht doch irgendwie möglich war? 

„Wenn ich mir vorstelle das irgendjemand von den Alten vorhergesehen hat dass die Welt die er kannte buchstäblich zum Teufel gehen wird, dann...dann frage ich mich automatisch auch warum dieser Jemand nicht ernsthaft versucht hat diese Geschehnisse abzuwenden.“ Vielleicht betrachtete Matthew die Sache wirklich viel zu nüchtern, auf der anderen Seite war er einfach nicht der Typ Mensch, der sich mit Vorhersehungen, Geistererscheinungen und irrationalen Ritualen identifizierte. 

„Ich meine, ich habe schon eine Menge Dinge gesehen, die....ich nie verstanden habe, aber ich glaube für die Meisten gibt es eine logische Erklärung. Wenn ich einen Mutie sehe, dann weiß ich der ist real. Irgendwann waren die Vorfahren von dem Viech mal ganz normale Tiere, aber was immer auch die Zivilisation der Alten ausgelöscht hat, hat auch die Tiere nachhaltig verändert. Es sind...Tiere, keine Monster, keine Dämonen.“

Für Clarence, der seinen Lebensunterhalt die letzten Jahre mehrheitlich damit verdient hatte Dämonen zu jagen und Geister zu exorzieren, musste Matthew wie ein völliger Narr klingen, der das Offensichtliche verneinte. 

Da zogen sie schon so lange gemeinsam durch die Welt und Cassie hatte noch nie derart unverblümt gesagt wie er die Arbeit seines Gefährten einschätzte. 

Aber es war tatsächlich auch einfach das erste Mal, dass sie beide darüber redeten. Fragte man Matt, so glaubte er nicht an Geister, nicht an Monster aus der Hölle oder irgendeinem finsteren Nimbus. 

„Wie dem auch sei, ich tu‘ dir trotzdem nicht den Gefallen dich verrück und naiv zu nennen. Ich würde eher sagen...du hast viel Fantasie was sowas angeht und berufsbedingt einen Faible dafür mehr in Dinge reinzuinterpretieren.“

Matthew stritt nicht ab, dass es Begebenheiten gab für die er keine Erklärung finden konnte und vielleicht hatte sein Mann auch recht und er brauchte in dieser Hinsicht mehr Vorstellungskraft. 

„Also ich schließe nicht aus, dass diese Autorin irgendwie....geahnt hat was passieren wird. Aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Weißt du wie viel Unsinn die damals aufgeschrieben haben? Ich glaube wir könnten jedes beliebige Buch nehmen und versuchen davon etwas für unser jetziges Leben abzuleiten - und wir würden immer etwas finden. Nimm Moby Dick zum Beispiel.“ - Cassie umfasste den Schirm seiner Mütze und hob sie kurz von seinem Kopf um sie dann verkehrtherum wieder aufzusetzen. 

„Bestimmt hätte dir in Cascade Hill irgendein Fischer erzählen können, dass er schon mal einen weißen Wal gesehen hat. Vielleicht wurde sein Boot zerstört, vielleicht hat er ein Bein verloren oder kennt jemanden dem das passiert ist. Das macht den Schreiberling von Moby Dick aber noch lange nicht zu einem Mann der in die Zukunft geblickt hat.“

Matthew zuckte die Schultern. „Es heißt nur, er hat sich etwas ausgedacht das jederzeit überall passieren könnte. Und so ist es vermutlich auch mit Scherben aus Glas.“ - aus dem Augenwinkel sah er zu Clarence. 

„Wir werden die Bücher lesen müssen um mehr darüber zu erfahren.“, bereitete er schon jetzt vorsichtig den Boden vor, auf den er hoffte schon bald die Saat des Lesen-Lehrens ausbringen zu können. 

Nie standen die Chancen dafür besser und auch wenn man Matthew vieles nachsagen konnte, aber leicht aufzugeben wenn er sich einmal was in den Kopf gesetzt hatte, zählte nicht dazu. 


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