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Schlafkoje

13. Juni 2210


Clarence B. Sky

Schon seit geraumer Zeit kitzelten seine Haut die wärmenden Sonnenstrahlen, welche durch das Dachfenster auf ihn hinab schienen. Nach und nach hatten sie zugenommen, waren aus der Dämmerung des Morgens heraus erwacht und über die zerwühlte Decken- und Kissenlandschaft gekrochen, einem ungreifbaren Monster gleich, vor dem man nichts zu befürchten hatte. Es hatte erst das kleine Bücherregal an ihrem Bettende verschlungen, dann ihre miteinander verwobenen Füße und schließlich sogar Clarence‘ Arm, der sich gleichsam besitzergreifend wie behütend über seinen Mann gelegt hatte; eine ungewohnte Wärme hielt ihn seitdem ergriffen, die der eigenwillige Bettdeckendieb ihm in der vergangenen Nacht nicht wirklich durchgehend gegönnt hatte.

Dicht angeschmiegt an seinen Partner lag der Blonde da, hatte versucht nach seinem Erwachen nochmals zur Ruhe zu finden und dabei das spitze Näschen vertraut in die dunklen Haarspitzen seines Vordermannes eintauchen lassen. Normalerweise schlief er auf diese Weise am ehesten noch mal ein, vom geliebten Duft seiner Schlafmütze umgeben und das safte Heben und Senken der fremden Brust unter sich spürend. Doch so lange und komatös wie Matthew war der Hüne bei weitem noch nie in seinem Leben gewesen wenn es um einen gesegneten Schlaf ging – und noch weniger hatte er am gestrigen Tag vergleichbaren Grund dazu bekommen, Cassie seinen Titel des Dornröschen streitig zu machen.

Kurzfristig hatte Clarence sogar überlegt, ob er ein schlechtes Gewissen hätte haben sollen seinen Mann derartig zu verausgaben. Was sie gestern miteinander erlebt hatten, war mit kaum einem Tag des zurückliegenden halben Jahres vergleichbar gewesen und womöglich sogar etwas übertrieben wenn man bedachte wie exzessiv er seinen heißen geliebten dazu genötigt hatte, sich unter seinem Zutun zu ergießen. Aber letzten Endes blieb doch immer eine Frage offen:

Konnte es wirklich ein zu viel des Guten geben?

Die Antwort war definitiv Nein wenn man den Jäger fragte und es dabei darum ging, Cassie für verdorbene Gelüste zu missbrauchen.

Ein selbstzufriedenes Schmunzeln legte sich bei diesem Gedanken über Claires Lippen, bevor er mit selbigen einen weichen warmen Kuss auf Matthews Schläfe hauchte, nachdem er sich über den Jüngeren gebeugt hatte. Eigentlich war Matthew viel zu schön anzusehen wenn er schlief, als dass es einen plausiblen Grund dafür gegeben hätte sich von ihm zu lösen so lange er noch tief im Land der Träume versunken war.

Aber nur weil ein Matthew Cassiel Sky über einen dreiviertel Tag hinweg durchgehend schlafen konnte ohne einmal aufstehen zu müssen, hieß das nicht, dass auch Clarence als bekannter Frühaufsteher jemals dieses Talent erringen würde. Es gab zwei ungeduldige Junghunde die nur darauf warteten wieder vor die Tür gejagt zu werden, es gab Sachen zu packen und Snacks vorzubereiten wenn sie heute doch noch irgendwann aufbrechen wollten in die abenteuerliche verlassene Welt, welche vor ihrer Reling darauf wartete entdeckt zu werden – und einen prächtigen goldenen Bart, der seine Schönheit nur dadurch erlangte, dass er mindestens zwei Mal am Tag aufmerksam gepflegt wurde.

Vorsichtig und möglichst unmerklich versuchte Clarence sein Bein zwischen den Schenkeln seines Partners hervor zu ziehen wo er es vor Sonnenaufgang deponiert hatte um sich am Deckendieb zu wärmen, ein gewagtes Vorhaben welches dadurch unterstützt werden musste, dass er den Schnösel wachsam im Blick behielt. An manchen Tagen konnte der Frechdachs Ohren haben wie ein Luchs, da hörte er jedes noch so kleine Knarzen des Holzes das eventuell geplante Schandtaten des Bären würde verraten können… aber an anderen Tagen wiederum würde Matthew vermutlich nicht mal dann erwachen, würde Clarence ihm mit einer Halbautomatik das ganze Schlafgemach entzwei schießen. Vorzüglich war das an jenen Tagen, an denen Cassie mit Haushalt und Wäsche dran war.


Matthew C. Sky

Noch niemals in seinem ganzen Leben war Matthew erschöpfter gewesen als nach dem letzten Tag. Clarence hatte ihn über seine Grenzen hinaus getrieben und ihm zu viel zugemutet. 

Bei aller Lust und aller Gier, Cassie war am Ende vollkommen überfordert gewesen und zwar auf einem Level jenseits des guten Tons. 

Cassie konnte sich noch gut daran erinnern das sie danach beide an Deck geblieben waren, sie hatten sich nebeneinander gelegt und dann...dann war er eingeschlafen und ab da wurden seine Erinnerungen schwammig. Ganz am Rande hatte er mitbekommen geweckt worden zu sein, er erinnerte sich an einen kurzen Dialog- den er aber mehr verschlafen hatte als alles andere. 

Wie er nach unten gekommen war, daran hatte er keine Erinnerung mehr. 

War er gelaufen oder hatte der Größere ihn sogar tragen müssen? 

Einmal war er in der Nacht aufgewacht und hatte sich - statt an Deck - im gemeinsamen Bett wiedergefunden. Mit Clarence direkt bei sich, also musste er irgendwie hergekommen sein. Ob auf eigenen Füßen oder nicht war dabei fraglich. Wie auch immer der Größere ihn nach unten gebracht hatte, war im Endeffekt aber auch einerlei. 

Lange hatte sein nächtlicher wacher Moment nämlich auch nicht angehalten, zu schnell war er wieder eingeschlafen als das er großartig über das hatte nachdenken können was passiert war.  

Alles was er in jenem Augenblick unumstößlich sicher gewusst hatte war, dass er noch nie so müde gewesen war. 

Mit diesem Gedanken, der mehr empfunden als wirklich gedacht war, hatte er sich etwas unter Clarence bewegt, die Nase wieder an Clarence’ Hals gedrängt und war binnen Sekunden wieder eingeschlafen. 

Traumlos und erholsam, sowie bitter nötig waren die nachfolgenden Schlummerstunden, die erst ihr Ende fanden als er spürte wie das vertraute Gewicht des Größeren ihn allmählich verließ. 

Ein verschlafenes „Mhhhh?“ war das erste Geräusch das Cassie seit dem Einschlafen von sich gab noch bevor er seine Augen öffnete. 

Die Sonne beschien seine eine Schulter und die Flanke, die andere Seite war bisher von Clarence gewärmt worden, etwas das Matthew selbst im Schlaf nicht verändert haben wollte. 

Ohne das er die schweren Lider aufschlug, legte er beide Arme um den nackten Rücken seines Geliebten und murmelte ein leises „Mein Bärchen...“ 

Noch mehr schlafend als wach hinderte er den Größeren daran sich elegant und unmerklich aus dem Bett zu schleichen. Jeder Versuch in dieser Richtung würde nun mehr unweigerlich von ihm bemerkt werden. Cassie suchte und fand mit dem eigenen Fuß den seines Mannes und strich langsam an ihm auf und ab, zufrieden brummelnd. 

Oh wie sehr er den blonden Hünen liebte, dafür gab es keine Beschreibung und selbst benommen von Schlaf, fühlte sich Matthew in den Armen jenes Mannes so wohl und behütet wie er es nirgends sonst empfinden konnte. 

Dennoch war es irgendwie an der Zeit aufzuwachen, die Erschöpfung vom Vortag hatte zwar ihren Tribut gefordert, doch er hatte dem Schlaf lange genug gefrönt um nun mehr den neuen Tag zu begrüßen. 

Zögernd, beinah vorsichtig - als könne das Tageslicht ihm die Netzhaut verbrennen - öffnete der junge Mann seine Augen schließlich. 

Über ihnen fiel das wärmende Sonnenlicht hinein, der blaue Himmel grüßte sie und einzelne Schleierwolken hingen am Blau. 

Doch die Schönheit des Morgens definierte sich für Cassie nicht über strahlende Sonne oder einen makellosen Himmel. Auch nicht die weichen Laken und die Behaglichkeit des Bettes waren die entscheidenden Komponenten. Sein Mann war es, der den perfekten Tag erschuf durch seine Gegenwart und es war sein Mann, dem das Lächeln Matthews galt, noch in jener Sekunde in welcher der Kleinere ihn ansah. 

„Guten Morgen.“, begrüßte er Clarence leise ohne ihn loszulassen. Statt ihn freizugeben strichen seine Hände hinauf zu den definierten Schultern und er schmiegte seine Stirn an Clarence‘ Schlüsselbein, darunter einen Kuss hauchend.

„Hmmm....du riechst so gut...“ murmelte er gegen die Haut des Größeren. 

„Ich fühle mich als hätte ich drei Jahre geschlafen.“, diese Feststellung ging in ein kurzes und verschmitztes Kichern über, das ihm einerseits ähnlich sah und doch wieder untypisch anmutete. 

Nachdem Clarence das erste Mal weiter mit Cassie geschlafen hatte nachdem dieser einmal gekommen war, hatte Matthew sich für sein Begehren eindeutig geschämt. Es hatte ihn nicht einfach nur irritiert, es hatte ihn auf mannigfaltige Weise zweifeln lassen. 

Heute Morgen allerdings war von Zweifeln keine Spur und auch nicht von irgendeinem Schamgefühl. Was sie erlebt hatten war ihm vollkommen bewusst, aber er bereute es nicht und es verunsicherte ihn auch nicht. 

Verliebt glitt er mit einer Hand zum fremden Nacken empor, suchte und fand eine der goldenen Haarsträhnen und begann damit diese behutsam um einen seiner Finger zu wickeln. 

„Ich sehe dir an, du wolltest gehen...“ - kein Vorwurf, nicht mal ein leiser schwang in dieser Feststellung mit, nur Bedauern. „Bleib noch ein bisschen, hm? Bleib noch ein bisschen mit mir hier liegen. Du musst auch nichts sagen, wenn du nicht willst.“ - manchmal, dass wusste Cassie ganz genau, genoss Clarence einfach die Ruhe und das Schweigen. 

Es war nicht mehr so das er den ganzen Tag in Stille verbrachte, doch dann und wann hatte er es gern, wenn man zusammen war und einfach nichts sagte. 

„Und ich kann auch ganz leise sein.“, flüsterte er und schmunzelte ein wenig keck. 

„Ich könnte einfach gar nichts sagen...aber dann wirst du vielleicht nie erfahren wie unglaublich schön ich gestern fand...“  - verliebt schmiegte er seine Nase wieder gegen Clarence‘ Brust und inhalierte den Duft seiner warmen Haut. 

Schon wenige Minuten nach dem Aufwachen merkte man Cassie an, dass er seinen Mann jeden Tag mehr liebte und das es für ihn auch kein Zurück mehr gab.

Clarence war keine Option, er war längst eine Bedingung für Matthew geworden. Clarence war sein Heim und sein Glück. 


Clarence B. Sky

Irgendwo tief in seiner Seele, und da war Clarence sich sicher, war Cassie noch immer ein kleines Kind geblieben. Jeden Tag dazu aufgelegt um Schabernack zu treiben, frech wie ein Haufen Welpen der seine Grenzen austestete und zu faul und mit anderen Dingen beschäftigt, um sich aktiv um Dinge wie Ordnung oder den Haushalt zu kümmern. Wenn er eingeschlafen war, konnte man diesen Kerl wie ein Kleinkind durch das gesamte Boot schleppen und umziehen, ohne dass sich dessen schwere Lider auch nur für den Bruchteil einer Sekunde hoben – aber wehe man versuchte sich aus dem Bett zu schleichen wenn der Kleine schlummerte. Dann war er plötzlich feinfühlig wie ein Wachhund und Gnade dem, der versuchte ernsthaft das gemeinsame Schlafgemach zu verlassen.

Weich und zielstrebig schlangen sich die Arme des Jüngeren um seinen Rücken. Noch immer war Cassies Haut warm von der Sonne und der heimeligen Hitze unter der gemeinsamen Decke, trotz allen zurückliegenden Stunden voll des Komas jedoch so kräftig wie nicht zu erwarten. Wenn Cassie ihn nicht gehen lassen wollte, stand er der Bissigkeit eines waschechten Bären in nichts nach und selbst wenn jenem vom langen Liegen schon alles weh tun sollte… Clarence würde kaum noch aufstehen wollen, gesellte sein Geliebter sich auch lediglich nur im Halbschlaf wieder an seine Seite.

Vorsichtig ließ er sich zurück ins Bett sinken kaum dass sein Kosename leise über seine Haut wehte und ein wohliges Seufzen drang dabei die stattliche Brust des Bären empor, der ein warmes Nest noch nie so sehr geliebt hatte wie seit jenem Tag, an dem Matthew ihnen das gemeinsame geschenkt hatte.

Was in einem Lager mit zwei voneinander getrennten Schlafstätten begonnen hatte, versteckt in Wäldern mit prasselndem Feuer in der Mitte, war längst zu einem liebevollen Miteinander geworden, das sich wohl keiner von ihnen beiden jemals wieder anders wünschen würde.

Anfangs noch, damals in dem verlebten Zimmer des Blauer Hund, hatte es sich merklich seltsam angefühlt abends neben Matthew einzuschlafen und morgens neben ihm aufzuwachen. Es war nicht etwa unangenehm gewesen oder auf irgendeine Weise unnatürlich, sondern es war eher unwirklich das richtige Wort für diese Übergangszeit. Schon seit geraumen Wochen war ihr Umgang miteinander weniger hart gewesen als sonst, das Sticheln bis zur Aggression hatte deutlich nachgelassen und auch das altbewährte Prinzip der strikten Gütertrennung war irgendwie schwammig geworden, spätestens mit dem plötzlichen Einbruch der Kälte und des Morgenfrosts.

Unwirklich war nicht die plötzliche Änderung ihres Beziehungsstatus‘ zueinander gewesen, sondern eher der Umgang miteinander, der sich eigenartig reibungslos und unkompliziert hatte. Sie waren beide unterschiedlich gewesen wie Tag und Nacht – der eine laut, der andere leise; introvertiert war auf extrovertiert getroffen und ein Mann, der nicht jedem Rock hinterher rannte sondern seit Jahren schon auf rastloser Suche nach einem Zuhause war, hatte sich mit einem sündigen Schürzenjäger eingelassen der nicht gerade schien, als würde er den Unterschied zwischen Sex und Vertrautheit so wirklich begreifen.

Auf Cassies Liebeserklärung einzugeben war ein Wagnis für Clarence gewesen, denn nur weil man Gefühle für jemand anderen hegte hieß das nicht augenblicklich auch, alles würde reibungslos miteinander funktionieren. Unterschiedliche Wünsche und Ansichten konnten schnell zum Chaos führen und ihre Zukunftsideen hätten so weit voneinander entfernt gehegt sein können, dass ein gemeinsames Leben daraus unmöglich wurde.

Doch Matthew Cassiel Reed, so fern und unnahbar er sich anfangs angefühlt hatte als er noch in den frühen Morgenstunden aufgestanden und erst spät zurück gekehrt war um den Auftrag Jeyne Coppers zu entsprechen, hatte sich zu einem völlig anderen Mann entwickelt als der Jäger jemals gedacht hätte. Er musste keine Bedenken haben ihn sich erst zähmen zu müssen, noch hatte sich mit der Zeit Enttäuschung bei Clarence breit gemacht, ihr Umgang miteinander wäre vielleicht nicht so vertraut wie der Blonde es sich immer gewünscht und vorgestellt hatte für sein eigenes Leben mit einem Partner an seiner Seite. Cassie war schon immer anders gewesen als andere Männer – und vielleicht gerade weil er so anders war in den Augen des Bären, war er letztlich auch der einzig Richtige für den einst so bibeltreuen Christen geworden.

Matthew war sein Ruhepol, der ihn nicht dazu zwang sich Schuhe zu kaufen wenn er nicht wollte, sondern ihn frei von Wertung wissen ließ, es würde ihn erfreuen wenn er es denn endlich tat. Der seine wilden Abenteuer nicht wertschätzte, aber ihm auch keine Vorwürfe machte, wenn sie am Ende in die Hose gingen und Clarence am Ende für mehrere Tage nicht mehr brauchbar war als Mensch und Mann. Der seinen Bären gerne reden hörte… aber ihm auch die Erlaubnis gab in den schönsten Momenten einfach nur zu schweigen, weil er die friedliche Stille zwischen ihnen an manchen Tagen mehr genoss als jedes noch so aufschlussreiche Gesprächsthema.

Still schlossen sich die blaugrauen Augen wieder vor der Welt als die warmen Fingerspitzen des Dunkelhaarigen sich zart in seinem Haar verloren und die Nasenspitze sich zurück gegen seine Brust drückte.

Es stimme, Claire roch an diesem Morgen ganz besonders gut, was aber weniger am Schlaf lag sondern vielmehr an seinem gestrigen Bad im offenen Meer. Lange nachdem er seinen Mann ins Bett bugsiert hatte, war der Jäger nochmal mit den Hunden an Land gewesen um die beiden für den restlichen Abend auszupowern und erst nachdem die Sonne hinterm Horizont verschwunden war, hatte er die lasche Strickleiter von der Reling geworfen und sich in die Tiefe begeben.

Schwarz und ruhig hatte das Wasser ihr Boot umschlossen und nichts anderes von sich preis gegeben als den Sternenhimmel und den Mond, deren fahler Glanz sich auf den feinen Wellen gebrochen hatte. Wie eine kalte Decke hatte es den Hünen eingehüllt, gespenstisch und faszinierend mit seinem Ruf nach der endlosen Freiheit lockend die sich bis zu jenem Punkt erstreckte, an dem vom Ende des Meeres nichts anderes mehr übrig blieb als eine schwarze glatte Linie, die es vom Himmel trennte. Viel zu oft hatte er als Kind und Jüngling darüber nachgedacht wie es wohl sein mochte, dieses Meer von dem man so viel aus der Bibel hörte und das man sich doch nicht recht vorstellen konnte, wenn man nichts anderes kannte außer Festland und den ein oder anderen kleinen Teich – doch bis heute hatte ihn die Faszination für jenes Thema noch nicht losgelassen, selbst wenn sie schon seit Monaten gemeinsam mit dem Boot unterwegs waren.

Nichts wurde seit geraumer Zeit selbstverständlich für Clarence, weder der Ozean, noch Matthew; es waren die Momente des stillen Innehaltens, die ihn das immer wieder spürbar erkennen ließen.

Auch nun hüllte sich der Jäger in Schweigen, lauschte mit geschlossenen Augen und einem seichten Schmunzeln auf den Lippen dem Flüstern seines Partners und genoss den Klang der fremden Stimme, die er schon seit Stunden nicht mehr zu hören bekommen hatte. Sicherlich, die Ruhe an Bord war manchmal ein wahrer Segen wenn er vor seinem Mann wach wurde und sogar Kain und Abel noch schliefen. Aber irgendwann, da fehlte einem sogar das teils sinnbefreite Plappern seiner besseren Hälfte, und das musste schon was heißen wenn man Clarence Bartholomy Sky kannte.

Ein leises, wohlwollendes Brummen drängte sich die Kehle des Bärtigen empor, kaum da sein Liebster ihn beinahe verschwörerisch wissen  ließ, auf welche Weise er den zurückliegenden Tag empfand. Beinahe war es ja schon etwas offensichtlich, dass Cassie auf die Erlebnisse mit seinem Bärchen derart positive Rückmeldung geben musste. Immerhin – und das durfte man nicht vergessen – hatte Clarence ihm einen Tag mit den ausnahmslos drei wohl liebsten Komponenten eines Mannes beschert: Schlafen, Essen, Sex.

Wirklich, so wirklich mehr hatte Matthew gestern tatsächlich nicht erlebt, sogar wenn man es ganz genau nahm. Auf Schlafen war Sex gefolgt, dann Schlaf, dann Essen, noch mehr Sex und noch mehr Schlaf. Das war ein Tag gewesen, den Clarence seinem Mann auf diese Weise bloß nicht regelmäßig zumuten durfte. Nicht etwa weil der Kleine sich sonst an dieses Verwöhnprogramm zu gewöhnte, sondern weil der Arme ihm am Ende aller Zeiten sonst noch von all dem Schlafen und Vögeln verhungern und verdursten würde angesichts der überschaubaren Portion, die er an Deck zu sich genommen hatte.

Zärtlich reagierte er auf das Streicheln des geliebten Fußes an seinem, stupste die fremden Zehen sachte an und schob schließlich seinen Schenkel wieder zurück zwischen die von Cassie, wo er auch schon vor seinem frevelhaften Aufstehversuch geruht hatte. Einfach nur mit ihm hier zu liegen, sich zu halten und einander nahe zu sein, all das waren Dinge die viel zu kitschig und zu luxuriös anmuteten für die furchtbar raue Welt in der sie lebten und die von einem erwartete, dass man genauso rau und erbarmungslos wurde wie sie es war. Doch trotz all der schrecklichen Erlebnisse, die in ihrer beider Vergangenheit zurück lagen, hatten sie den Wert solcher Gesten nicht vergessen. Sie wussten darum wie schnelllebig die Tage sein konnten, wie grausam und unaufhaltsam der Tod hinter jeder Ecke lauern konnte. Gemeinsame Zeit war kostbar, nicht nur vor dem Aufstehen in ihrem Bett, sondern auch zu jeder anderen Zeit ihres Tages.

Es waren die unscheinbaren Momente die Clarence so sehr schätzte, egal ob es das gemeinsame Erwachen am frühen Morgen war oder gemeinsame Stunden am Abend, in denen sie am Tisch beisammensaßen und jeder seinen Angelegenheiten nachging, scheinbar völlig für sich. Schweigend und in Stille versunken saß der Jäger dann über den Landkarten, sortierte Kräuter zum trocknen oder zerlegte konzentriert seine Waffen, um sie einer gründlichen Reinigung zu unterziehen – und nicht selten in den vergangenen Wochen, insbesondere nach ihrem Abstecher auf die Insel voller Arachnoiden, saß Matthew an der anderen Seite des Tisches und las geduldig ein paar Seiten aus einem der Bücher, die er aus Coral Valley mitgenommen hatte. Die Geschichte von Captain Ahab und seinem Wal neigte sich unlängst dem Ende zu und Clarence war bemüht sich nicht – wie noch zu Beginn – ein paar weitere Seiten einzufordern, auf dass sie auch bloß ein Kapitel am Tag schafften. Die Gefahr war ihm zu groß, dass sie mit dem Ende des Buches auch das vorläufige Ende solcher heimeligen Abende miteinander erreichten, denn immerhin war der Schatten eines Hünen ziemlich groß und es ließ sich nicht so einfach darüber hinweg springen um zu fragen, ob sie danach ein weiteres miteinander lesen konnten.

Zufrieden mit sich und der Welt legte der Bär seine Pranke zurück über den vertrauten Leib des Jüngeren, die Augen noch immer geschlossen, ganz so als habe er es sich nun doch anders überlegt und plane ein zweites Nickerchen mit seinem Partner einzulegen. Dass dem noch lange nicht so war, bewies jedoch schließlich ein leises aber durchaus genüssliches Brummen, das sonor in des Bären Brust vibrierte.

„…irgendwann, ganz egal ob morgen, in einem Jahr, in fünf oder in zehn…“ – Tief atmete Clarence ein, schob seinen Arm weiter über Cassie hinweg und drückte den Kleinen etwas fester an sich.

„Da werden wir vielleicht an einen Punkt kommen, an dem wir uns nicht mehr daran erinnern, warum wir überhaupt geheiratet haben. Weil du dich wieder hast von einem Stein erschlagen lassen oder weil ich mir wieder die Rübe angehauen hab… oder weil wir uns nur noch streiten, warum auch immer. Und sag jetzt nicht… dass du mich immer lieben wirst und dass das nicht passiert, denn das weißt du nicht. Genauso wenig wie ich nicht sagen kann, ob du mir nicht doch irgendwann mal so sehr auf den Keks gehst, dass ich dir nur noch den Hals umdrehen will.“

Oh, Matthew war verdammt gut darin ihm auf den Keks zu gehen, das wussten sie beide nur zu gut – alles andere wäre eine glatte Lüge.

„Wenn wir jemals an diesen Punkt kommen… versprich mir, dass wir für einen Moment in uns gehen und uns zusammen an all das hier erinnern. An die ruhigen Morgen in unserem Bett… an die friedlichen Tage auf See… und an all die glücklichen Momente die wir hatten, als wir frisch verheiratet waren. Ich will dich ansehen und mich daran erinnern… dass sich keine Trennung der Welt lohnt, wenn wir dadurch auch keine Möglichkeiten mehr haben werden solche Momente zu schaffen.

Meinst du, wir bekommen das hin, mh…? Dass wir uns im größten Streit zusammen hieran erinnern werden?

Jetzt mochten die Zeiten noch rosig sein, aber das würden sie nicht immer bleiben. Wäre es im Haus von Bennett nach Cassie gegangen, sie wären selbst jetzt schon nicht mehr zusammen vor lauter Angst, dem Jäger nicht mehr auszureichen; doch ein Leben ohne Cassie morgens neben sich im Bett, ohne ihn abends bei sich zu haben wenn er einschlief, das war für den Bären keine Option mehr, der den Jüngeren noch etwas näher an sich heran drückte.


Matthew C. Sky

Sie waren ein eigentümliches Paar. Der Schnösel und der Christ. 

Der eine war laut, der andere leise. 

Aus der Ferne muteten sie an, als seien sie nicht in der selben Welt zuhause und als teilten sie nicht mehr miteinander als den zufälligen Augenblick. Aber das stimmte nicht. Was sie verband war weitaus mehr. 

Clarence der lieber schwieg als sprach, der lieber allein war als sein Lager mit einer anderen Menschenseele zu teilen, schien nicht kompatibel zu sein mit dem vorlauten Kopfgeldjäger der darüber hinaus noch Schürzen jagte. Clarence war so anders als andere, dass er in der Zivilisation unweigerlich auffiel und man ihn mit Argwohn beäugte. 

Und Matthew selbst? Seine Vorstellungen von Gesellschaft und Zwischenmenschlichkeit waren über weite Felder nicht mit denen der Allgemeinheit zu vereinbaren. 

Cassie war ein Einzelgänger der sich gern mit anderen umgab, so lange sie ihm nicht zu nahe kamen. Er pflegte keine tiefen Freundschaften, hatte niemanden dem er sein Herz ausschütte und hielt Liebe für die dämlichste aller Arten sich selbst ins Grab zu bringen.

Alles was er über Gemeinschaft wusste, hatte ihn der gütige Mann gelehrt und wahrlich: 

nichts davon ließ sich in Einklang zu dem bringen was der Christ erfahren hatte.

Ihre Vergangenheiten waren so grundverschieden, dass auch beide Männer es sein sollten doch ließ man alles Tamtam und allen Schickschnack beiseite, so erkannte man das sie allen Unterschieden zum Trotz im Kern aus einem Holze geschnitzt waren.

Der fromme Christ, der in seinem Leben auf viele Wiedersprüche gestoßen war und dem die Welt früh die Zähne gezeigt und ihn aus der Idylle seines Forts gerissen hatte, war nicht rau und verbittert wie es zunächst den Anschein machte. Und Matthew, der Opfer zahlloser Gewalt- und Missbrauchsexzesse war, war nicht so taff wie er die Welt gern glauben ließ.

Sie spielten beide ihre Rollen und sie taten es so perfekt, dass sie beinahe auch den jeweils anderen damit überzeugt hatten.

Für die Augen von Fremden war Clarence ein Barbar, ein Jäger der sich nicht scheute mit bloßen Händen zu töten wenn man ihm in die Quere kam – wie so viele seiner Zunft. Gewissenlos und weder anderes suchend noch kennend als Gewalt.

Die nach außen getragene Fassade hatte auch Matthew zu Beginn ihres Kennenlernens beeinflusst, Wochen nachdem er wieder halbwegs genesen und Clarence wieder besser genährt war. Mit jedem Gramm das der Hüne zunahm und je stattlicher er wurde, umso sicherer wurde Matthew das dieser Kerl ihn umbringen würde.

Es hatte einige Zeit gedauert bis er begriffen hatte: die graublauen Augen blickten gar nicht streitlustig und finster in die Welt, sondern resigniert und wehmütig. Der Ernst auf den fremden Gesichtszügen rührte nicht von Mangel an Empathie, sondern von Selbstvorwürfen und das oft zelebrierte Schweigen zeugte nicht von tumber Einfallslosigkeit sondern von Zorn auf sich selbst und von Enttäuschung.

Um Haaresbreite hätte Cassie sich mit dem Offensichtlichen zufrieden gegeben, doch aus eigener Erfahrung kannte er sich aus mit schlechten Menschen. Er kannte die Bosheit, er kannte die Gewalt, die Erbarmungslosigkeit. Er kannte brutale, einfache Menschen und er kannte geisteskranke Mörder, er kannte Schlächter und Schläger und er kannte verschlagene Charaktere deren Worte wie Gift und deren Taten wie Messerschnitte waren.

Kurzum: der junge Mann kannte sich aus mit dem Bösen und Clarence…er passte nicht in das Schema.

Die Gabe mehr zu sehen als das was offensichtlich war, besaßen sie beide und so hatten sie mit der Zeit hinter die Fassade des anderen geblickt, die sie so lange aufrecht erhalten hatten und für fremde Menschen noch immer aufrecht hielten.

Doch hier in ihrem Zuhause, umgeben von der Wärme die sie sich schenkten, waren ihre Rollen nicht wichtig und was irgendwer irgendwo über die denken mochte einerlei. 

Weich legten sich die Lippen Matthews an die Brust seines Mannes und während sie beide schwiegen, dachte er nach über alles was hinter ihnen lag.

Hier, behütet und geliebt, tat die Vergangenheit weniger weh und war auch viel weniger wichtig. Clarence war wichtig und mehr gab es für Cassiel nicht. Erneut küsste er die warme Haut vor seinem Mund und atmete tief den Geruch seines Liebsten ein.

Natürlich war ihm irgendwie bewusst, dass sie den Tag unmöglich komplett verschlafen konnten nachdem er das schon am Vortag getan hatte, trotzdem wollte er die Welt mit all ihren Abenteuern noch ein wenig aussperren.

Aus eigener Erfahrung wusste er wie schnell Glück zerbrechen konnte und wie tief man sich an den Scherben dann schnitt.

Natürlich wusste er aber auch, dass Clarence ein Überlebenskünstler war. Er hatte die Reflexe einer Raubkatze und einen Instinkt der ihn selten täuschte. Ohne Zweifel kannten sie sich beide gut genug in der Welt da draußen aus um viele tödliche Fehler zu vermeiden – aber war das eine Garantie für ihr Überleben?

Cassie zog sich die Bettdecke etwas weiter über den Kopf, verdeckte teilweise die Narben die das Spinnengift ihm beigebracht hatte und schmiegte sich enger gegen den Vorderen.

Es gab keine Garantie – nicht für ihr Überleben, nicht für ihr Glück. Aber das war kein Grund in Trübsal zu verfallen, dazu war Cassie viel zu zuversichtlich so lange er an Clarence‘ Seite war.

Die Stille zwischen iHnnn war anheimelnd, das Brummen des Bären tief und beruhigend und zauberte dem Jüngeren ein seichtes Lächeln auf die Lippen.

Schließlich erhob sich aus dem Schweigen doch noch des Größeren Stimme. Samtig und weich, eine Gelassenheit ausstrahlend wie Matthew sie nur von Clarence kannte und von niemandem sonst.

Er streckte sich mit einem leisen Stöhnen, spannte für einen Moment die Muskeln seines Körpers an und ließ sie dann seufzend wieder locker – weitere Küsse auf Clarence‘ Schlüsselbein und Brust verteilend während dieser redete.

Und was er da sagte… war so fürchterlich ernst wie es dem Kleineren gerade gar nicht passte.  

Hmmm…“, machte er überlegend, so als müsse er erst ganz genau abwägen wie er seinem Bären antwortete.

Viel lieber als das, küsste er ihn aber – ein Dilemma aus dem es keinen Ausweg gab, außer dem eigenen Willen nachzugeben. Behutsam legte er seine Lippen zurück an die begehrte Hautpartie, wohlwissend wie sehr der Blonde den Kontrast zwischen seinen zarten Lippen und dem kratzigen 3-Tage Bart liebte.

Für einen kurzen Moment schien es, als würde Matthew überhaupt nicht mehr antworten, doch schließlich ließ er sich doch zu ein paar Worten hinreißen, wenngleich sie unterbrochen waren vom leisen Schmatzen kleiner Küsschen.

„…aber was ist… wenn ich heute schon weiß… dass ich dich immer… lieben werde?“ – fragend spähte er von unten zu dem Größeren auf und musterte ihn. Rückblickend betrachtet konnte er nicht verstehen wie sie manchmal miteinander umgegangen waren. Er war oft provozierend gewesen, verletzend und unsensibel und er hoffte inständig das Clarence ihm all seine Fehler nicht mehr nachtrug.

„Denn zufälligerweise…weiß ich das. Aber für den Fall das ich einen Stein an den Kopf bekomme und alles vergesse…“

Eigentlich boten seine Worten keinen Anlass zum Schmunzeln, doch Matthew lächelte trotzdem. So sanft und doch so einnehmend, dass es unmöglich schien ihm böse zu sein.

„…so verspreche ich dir, so wahr ich hier bei dir liege, dass ich innehalten werde. Und selbst wenn ich die Worte unseres Versprechens nicht mehr wissen sollte… so werde ich wissen was es bedeutet hat, als wir geheiratet haben.“

Es war ihm ernst, das sah man ihm an, selbst wenn er noch immer lächelte.

„Hast du jemals gedacht…mal mit einem anderen Mann so zusammen zu sein wie wir es sind? Ich meine…ich weiß, dass du nicht durftest, aber ich meine… hast du es dir gewünscht?“, dunkelbraune Augen musterten das Graublau seines Gegenübers, forschten in ihnen nach einer Antwort bevor Clarence‘ Mund sie vielleicht geben mochte.

„Ich habe es mir niemals vorgestellt, wenn ich ehrlich bin.“, oh Gott und wie glücklich er mit Clarence war une wie wenig er sich das hatte vorstellen können. „Ich dachte immer… wenn überhaupt… ist es eine Frau mit der ich irgendwann zusammen bin.“

Wieder küsste er Clarence‘ Brust, fester dieses Mal um ungefragt zu bekräftigen, dass er nicht bereute neben einem stattlichen Mann zu liegen statt neben einer zierlichen Frau.


Clarence B. Sky

Ja Vergangenheit, das war ein Thema das sie schon früh begleitet und ihre Beziehung zueinander geprägt hatte. Es war das Vergangene, das es Matthew lange verboten hatte einem Fremden wie dem Jäger sein volles Vertrauen zu schenken und später, da hatte Cassie vor der Vergangenheit seines Partners solche Angst gehabt, dass er geglaubt hatte niemals sein Herz vollends erobern zu können angesichts der Schatten, welche noch immer darin wohnten.

Nur zu gut erinnerte sich Clarence noch an den Nachmittag im Blauer Hund, zurückgekehrt vom Hafenmarkt und die beiden damals noch winzig kleinen Welpen eingerollt auf dem schäbigen, abgenutzten Bett. Sein heutiger Mann hatte vor ihm im Zuber gesessen und das erste Mal seine größte Sorge verbalisiert – und Claire damit hart getroffen, der die Gründe für seine Zurückhaltung selbst niemals als potentielles Problem wahrgenommen hatte.

Loslassen sollte er, sollte Altes ruhen lassen, damit endlich Platz für Neues geschaffen wurde und er sich ganz und gar auf Matthew einlassen konnte.

Es stimmte, selbst ein bemühter Clarence Sky hätte einem geliebten Menschen niemals gerecht werden können, wenn er sich selbst doch immer innerlich teilte. Einige Zeit mochte es gedauert haben, aber letzten Endes hatte er es bewältigt manch alten Ballast ruhen zu lassen und spätestens mit seinem Hochzeitsgeschenk bewiesen, er war bereit sich von veralteten Schwerpunkten zu trennen um dafür neue zu schaffen.

Was zu Beginn ein Aufhänger für Reibungspunkte gewesen war, sowohl die Toten die in Clarence‘ Vergangenheit lagen als auch jene aus den frühen Jahren seines Partners, hatte sich irgendwann im Sande verlaufen und schien für kurze Zeit bedeutungslos geworden. Versunken in ihrem neuen Glück waren die beiden jungen Männer gewesen, zu sehr miteinander beschäftigt als noch in der Lage über den Horizont ihres Tellerrands zu blicken um neuen Streit zu provozieren – aber auch zu beschäftigt um zu erkennen, wie wertvoll die Details aus dem Leben des anderen doch eigentlich waren.

Erst nach und nach, als habe sich in der völligen Vergessenheit ein Knoten gelöst der längst überfällig gewesen war, hatten sich erste Gesprächsfetzen aus Erlebtem zurück in ihren Alltag geschlichen. In ihre Zweisamkeit, ihr Bett, in Miteinander; aber auch in ihre Neugierde, die nicht mehr länger aus betretenem Schweigen bestand aus Angst eines der vielen Fettnäpfchen zu erwischen das sich vor ihnen ausbreitete, sondern aus ehrlichem Interesse das davon lebte offen zueinander zu sein und einander zu lieben, wie man war.

Ihre Vergangenheit war weniger wichtig geworden seitdem sie einander wahrhaftig hatten und gerade weil dem so war, schien es den beiden Männern seitdem einfacher zu gelingen sich einander zu öffnen. Clarence brauchte keine Angst mehr haben den Jüngeren zu verschrecken indem er alte Erinnerungen mit heutigen Taten weckte und Matthew, dieser brauchte nicht länger zu befürchten, es könne etwas wichtigeres für seinen Bären geben als ihn.

Ein genüssliches Brummen drängte sich die Kehle des Bärtigen hervor kaum da die ersten sanften Küsse seines Partners auf seine Brust auftrafen. Spürbar hob sich sein Brustkorb unter einem tiefen Atemzug mit dem er sich den weichen Lippen entgegen drängte, wohlig seinen Arm tiefer am Leib des Jüngeren hinab schiebend. Hätte man ihn noch vor einem Jahr gefragt ob er sich vorstellen könnte, dass dieser freche Matthew Reed eines Tages bei ihm liegen und seine Haut küssen würde als wäre sie das kostbarste der Welt, hätte seine Antwort eindeutig Nein gelautet – und hätte man sich im Anschluss danach erkundigt ob er sich auch vorstellen könnte, dass es nicht länger Matthew Reed sondern Matthew Sky war der dies tat, vermutlich wäre Clarence schon damals plötzlich in helles Gelächter ausgebrochen.

Doch unverhofft kam oft und so hatten sich die Dinge am Ende gefügt, wie sie vielleicht schon immer vorgesehen waren. Nämlich mit dem bartbedingten Kribbeln auf Claires Brust, das gelindert wurde durch zärtliche Liebkosungen die der Bär von Mann am frühen Morgen zu genießen wusste wie kaum etwas anderes auf der großen weiten Welt.

Die  Worte seines Geliebten boten definitiv keinen Anlass zum Schmunzeln, jedenfalls nicht nach all dem, was Clarence im Haus des Quacksalbers hatte durchstehen müssen. Es war nicht nur keine kleine Platzwunde gewesen die Cassies Stirn geziert hatte, sondern ein waschechter Schädelbruch und all die möglichen Konsequenzen, die Doktor Bennett ihm aufgezählt hatte, waren alles andere als unterhaltsam gewesen. Über Tage hinweg war Matthew bewusstlos gewesen, hatte sich kaum etwas Flüssiges zuführen lassen und das Ganze war so weit gegangen, dass der Arzt sogar das besonders gefürchtete Was-wäre-wenn-Gespräch mit Clarence hatte führen müssen. Der ehemalige Söldner war nicht nur arm dran gewesen, sein Leben hatte tatsächlich am seidenen Faden gehangen – und all die Angst um den Dunkelhaarigen nahm Claire ihm selbst heute noch übel, selbst wenn Cassie dafür gar nichts konnte und es ihm mittlerweile wieder besser ging.

Will ich schwer für dich hoffen, dass du dich dann noch an die Bedeutung erinnerst“, murmelte der Bär von Mann leise, die Augen noch immer geschlossen und den blonden Schopf tief in sein Kissen gebettet. Die Sekunden nach Cassies Erwachen, in denen der Kleine sich ernsthaft erdreistet hatte ihn auf den Arm zu nehmen und so zu tun, als könne er sich nicht mehr an ihn erinnern… das war einer der schlimmsten Augenblicke seines Lebens gewesen. Alles was er sich mit Matthew aufgebaut hatte… all das Glück, das er in Cassie gefunden hatte… von einem Augenblick auf den anderen schien es dahin gewesen zu sein, als hätte ihre Bindung zueinander nie auch nur einen Heller bedeutet.

Missmutig hob Claire eines seiner schweren Lider und schielte zu seinem Mann hinab, der noch immer lächelnd in seinem Arm lag so als könne kein Wölkchen am Himmel jemals ihr gemeinsames Glück auf Erden trüben. Es war ihm unbegreiflich wie Matthew nach allem was er erlebt hatte – egal ob in der Zeit mit Clarence, oder in den Jahren davor – noch immer derart naiv in die Zukunft blicken konnte. Ganz so als hätten sich mit ihrer Hochzeit alle potentielle Probleme in Luft aufgelöst. Aber sie waren weder aus Stahl, noch aus Granit, selbst wenn man letzteres von einem waschechten Klotz vielleicht denken mochte.

Beinahe schon trotzig brummelte Clarence, einem Kind gleich das erkannt hatte mit seinen Argumenten nicht länger gegen die fiesen Erwachsenen anzukommen, schloss wieder seine Augen und ließ sich etwas tiefer an Matthew hinab rutschen, bis er mit seiner Pranke unter dem zweifelhaften Schutz der Decke die geliebten Rundungen seines Mannes ertasten konnte. Besitzergreifend legte sie sich über das feste Gesäß, drängte Cassie enger an sich und bedeutete dem Jüngeren damit wortlos, dass er selbst unter völliger Amnesie niemals die Erlaubnis von ihm bekommen würde, sich vom Hünen loszusagen - und wenn er Matthew dafür im Bad einsperren musste, damit er ihm nicht abhaute.

Nein, der dunkelhaarige Taugenichts gehörte ganz alleine ihm, egal ob mit oder ohne Stein am Kopf. Selbst die unliebsame Erinnerung an jenen Zwischenfall konnte ihn aber nicht davon abhalten die Nähe zu seinem Mann zu suchen, zu genießen was sie noch immer miteinander hatten und hoffentlich noch lange haben würden.

Für einen langen Moment schwieg Clarence, die Augen langsam wieder öffnend, ließ auf sich wirken wie es war so vertraut beieinander zu liegen und ließ sich dabei von den neugierigen Worten seines Partners berieseln. Es war immer wieder faszinierend auf welch eigentümliche Fragen Cassie in diesem Bett kam, wenn man ihm nur genug Raum dazu ließ seine Gedanken schweifen zu lassen. Bislang hatte er es weder bereit wenn das sture kleine Böckchen neugierig wurde, noch fühlte er sich auf den imaginären Schlips getreten, wie Matthew vermutlich zu Beginn ihrer Reise über lange Zeit gefürchtet hatte. Stattdessen genoss Clarence es regelrecht zu spüren, dass sie mit jedem vertrauen Morgen und den kurzen Gesprächen bevor der Tag richtig startete, näher zusammen rutschten und zunehmend zu einem ganzen wurden statt zwei unbekannten Teilen, die einfach nur zufällig ineinander passten.

„Wegen mir, kannst du auch irgendwann mit einer Frau zusammen sein. Falls wir beide die letzten noch lebenden Männer sind und du dazu beitragen musst die Erde neu zu bevölkern, zum Beispiel“, bekräftigte der Bär die früheren Zukunftsvorstellungen seines Mannes und glänzte dabei mit gewohnt trockenem Humor. Man konnte nicht sagen konnte ob seine Worte ernst gemeint waren oder lediglich ein Scherz; das einzige, was unumstößlich sicher war, war die wohlige Gänsehaut auf Claires Brust als sich Cassies Lippen zurück auf seinen Leib auflegten.

„Früher - also damals, als ich nicht durfte… mhh… ich weiß nicht…“, brummte es leise hinter dem vom Schlaf noch wirren Bart hervor, bevor Clarence lautlos seine Lippen befeuchtete. Manchmal kam Matthew auf Ideen von solcher Sorte, dass man so früh am Morgen regelrecht Kopfschmerzen davon bekam, so wenig hatte der Blonde jemals über Derartiges nachgedacht.

„Mir war zwar klar, dass Frauen mich nicht so sehr interessieren, aber… ich denke damals, da wollte ich keinen Mann und deswegen kam ich nie in die Versuchung an sowas zu denken. Ich wollte eine Familie gründen und daher… war alles andere keine Option für mich.“

Alles andere war natürlich kein heimeliges Leben mit einem anderen Mann, sondern offiziell ein Leben als Einsiedler, alleinstehend auf einem Hof. Was hinter geschlossenen Türen passierte wäre ein anderes Thema gewesen, ähnlich wie Benedict es für sich bevorzugt hätte – und manch andere Menschen in ihrer Gemeinde, deren Entscheidung er rückblickend in einem ganz anderen Licht zu betrachten wusste. Manche waren tatsächlich einmal verheiratet gewesen, hatten ihre Liebsten durch Krankheit verloren und so an dem Schmerz zu beißen gehabt, dass sie sich deshalb dazu entschieden hatten nicht noch einmal zu heiraten. Aber manch anderer Mann, in der Blüte seines Lebens, niemals auch nur einmal verheiratet gewesen…? Aus heutiger Sicht kam es ihm wahrlich verblendet vor wie naiv er gewesen war, auf der anderen Seite war die Menge an Einsiedlern im Fort auch verdammt überschaubar.

„Später, als ich nicht mehr in meiner Heimat war, hatte ich lange Zeit andere Probleme als mir den Kopf über andere Kerle zu zerbrechen. - Vielleicht gab es da schon mal den ein oder anderen auf meiner Reise, der mir in der Menge durchaus aufgefallen ist…“, gab Clarence nach kurzem Zögern verhalten zu, denn immerhin war er ein Mann mit zwei funktionstüchtigen Augen im Kopf und einer bekanntermaßen gesunden Libido. Es wäre gelogen zu behaupten, er wäre niemals jemandem über den Weg gelaufen der ihn nicht auf diversen Ebenen angesprochen hätte.

Doch abgesehen davon, dass er sich auch nach seinem Aufbruch aus seiner Heimat über lange Zeit hinweg nicht eingestanden hatte wonach es ihn wirklich sehnte, konnte Clarence – völlig unzweifelhaft – auch ein ziemlich tumber Typ sein, der so schwer auf dem Schlauch stand, dass kein Tröpfchen Information mehr in sein Spatzenhirn durchfloss. Sollte es wirklich jemals einen Mann gegeben haben, der ihm schöne Augen gemacht hatte, so hatte er das schlicht und ergreifend nie registriert, ebenso wenig wie der gutgläubige Christ es nur selten verstand, wenn sich ihm gerade eine Frau akut an den Hals warf.

„Aber mir wirklich gewünscht mal so bei einem Mann zu liegen wie wir es jetzt tun… das hab ich erst getan, als ich dich kennengelernt habe.“

Matthew war von der ersten Sekunde an anders gewesen als andere Männer, auch wenn er optisch seinem Beuteschema durchaus entsprach. Hätten sie sich auf weiter Flur irgendwo in der Zivilisation kennengelernt, vermutlich hätten sie niemals miteinander angebändelt – was wollte ein Jäger schon mit solch einem Schnösel, die Klappe größer als die Populationszahl in Prism Shore, sich zu fein sich auch mal die Finger schmutzig zu machen und Widerworte geben wie jemand, der sich für alles zu gut war was das Leben forderte?

Cassie war in den ersten Wochen und Monaten nicht gerade der angenehmste Geselle gewesen. Dennoch hatte er bewiesen, dass er aus mehr bestand als nur der offensichtliche Summe seiner Teile und schließlich, da hatte er seine oftmals überzogene Art als die schöne Fassade entlarvt, die so gar nichts mit seinem eigentlichen Inneren zu tun hatte.

Sein Mann war vielschichtig, interessant, hingebungsvoll und trotzdem eigenständig. Man konnte sich auf ihn verlassen wenn man ihn brauchte, aber ebenso wurde man von ihm gebraucht, ganz ohne dass der Jüngere sich dafür zu schade war sich und dem Blonden das auch einzugestehen.

„Wärst du mir mal früher über den Weg gelaufen, du treulose Tomate. Wir hätten nicht all die Jahre ohneeinander verschwendet und ich wäre nicht in Falconry Gardens verrottet. Wir könnten schon längst über alle Berge sein, hättest du dich mal etwas mehr ran gehalten...“


Matthew C. Sky

Eine Familie gründen hatte Matthew nie gewollt, dieses Ziel hatte es in seinem Kosmos nicht gegeben. Was die Jahre beim gütigen Mann von ihm übrig gelassen hatten, war kaum mehr gewesen als Scherben. Seine Gedanken waren zerrüttet, seine Gefühle schwankend zwischen Angst und Verzweiflung. Er hatte nie darüber nachgedacht was er in der Zukunft sein oder machen wollte. Seine Pläne erstreckten sich selten über den Augenblick hinaus. 

Und obgleich er den Wunsch nach der Gründung einer Familie nicht mit Clarence geteilt hatte, so konnte er seinen Mann dennoch verstehen. 

Dort wo Clarence herkam war es das Natürlichste zu heiraten und Kinder zu zeugen. Aber es war nicht nur eine Art Pflicht für jeden anständigen Bewohner der Gemeinde, es war zugleich das Schönste was das Leben zu bieten hatte. Und vielleicht war das nicht nur im Fort so. 

In aufmerksames Schweigen gehüllt lauschte Matthew auf Clarence und versuchte sich vorzustellen wie dieser seinen Blick interessiert auf Männer lenkte die ihm gefielen, nur um Sekunden später bestürzt von sich selber zu sein und die Rache Gottes zu fürchten. 

Jahrelanges verstecken und bekämpfen was man eigentlich wollte, damit hatte Clarence eine Menge Lebenszeit verschwendet, doch Cassie wäre nicht er selbst, wenn er nicht eine positive Sicht auf die Dinge haben würde. 

Verliebt küsste er die Brust seines Liebsten und strich mit der einen Hand höher durch den blonden Schopf. Den anderen Arm zog er unter dem Größeren hervor um die Decke zu umfassen und etwas über sie beide zu ziehen. Nicht weit genug um das Licht auszusperren, gerade so das sie ein bisschen abgeschirmt waren. 

„Wäre ich eher aufgetaucht...“ fing er flüsternd an und konnte nicht umhin einen winzigen Kuss auf das bärtige Kinn zu drücken. „Wärst du noch nicht bereit für mich gewesen. Vielleicht ich auch nicht für dich...wer weiß.“  Ohne Frage, die Vorstellung eines frühen Kennenlernens hatte ihren Reiz und barg eine wehmütige Romantik, der sich auch Matthew schon ergeben hatte. 

„Ich glaube...“  An diesem Morgen und an einer Vielzahl davor seit sie sich hatten, verspürte Matthew nichts als Glück und Zuversicht. Eine, die er erst sein eigen nannte seit sie beide verheiratet waren. Und so sah er Clarence auch an. 

„...wir haben alles Gute vor uns, mein Herz. Was uns passiert ist bevor wir uns gefunden haben...erscheint mir rückblickend wie ein Alptraum. Ich erinnere mich an ihn, aber ich habe keine Angst mehr das er zurückkommt. Und du...“ sanft die Augen schließend drängte er die Nasenspitze gegen Clarence’ Hals und genoss dessen Wärme und Duft und die Vertrautheit die der Größere ihm bot.

Fast hätte man meinen können er ließ das Gesagte so stehen, da hob er den Blick wieder in das Gesicht seines Liebsten. „Du...hast alles Glück der Welt verdient und ich werde tun was ich kann um die Jahre die vor uns liegen zu den Glücklichsten zu machen.“ 

Behutsam streichelte er durch das weiche Haar am Hinterkopf des Hünen, sich nicht länger fragend ob er das denn durfte oder vielleicht zu weit ging. 

„Ich glaube...nein, ich weiß, dass alles richtig ist wie es ist mit uns. Vor uns liegt so viel Zeit, dass die Jahre ohne dich irgendwann nichts weiter mehr sein werden, als ein Vorwort zu meinem Leben. So wie in den Büchern meistens eins steht, bevor die eigentliche Geschichte losgeht.“

Voller Zuversicht blickte er zu Clarence auf, ein Lächeln auf den Lippen das zu besagen schien wie unerschütterlich sein Glaube daran war, dass sie beide ein langes und glückliches Leben führen würden. Auch wenn er bewusst nicht soweit ging und sich anmaßte auch Clarence‘ Leben vor ihm als Vorwort zu bezeichnen. 

Erneut empfing der Hüne nun einen sanften Kuss auf seine Haut und Cassie seufzte wohlig. Er schmiegte sich an ihn und machte die Augen wieder zu, sinnierte nach über das was hinter ihnen lag aber auch über das was vielleicht noch kommen mochte. 

„So wie du dir vor mir nie gewünscht hast so mit einem Mann zusammen zu sein wie wir es jetzt sind... So konnte ich mir niemals vorstellen eine Familie zu haben. Aber von Zeit zu Zeit... stelle ich mir vor wie es wohl wäre wenn...“ 

Clarence war ein wunderbarer Mensch und Cassie wusste er war ein großartiger Vater. Seine beiden Mädchen hatten kein langes Leben gehabt und ihr Tod war grausam gewesen. Doch die Jahre davor...hatte ihr Daddy ihnen sicher die Sterne vom Himmel geholt. 

“Hmmm...ich weiß auch nicht, aber du hast vieles an mir geändert, wie ich die Dinge sehe, meine Ziele und Wünsche.“ Was es hieß wahrhaft am Leben zu sein, dass wusste er erst seit Clarence ihm in der wunderschönen Kirche sein Eheversprechen gegeben hatte. Und ganz egal wie kitschig das auch anmuten möchte, es war genau das was Matthew fühlte. 

Clarence war mehr als nur sein Ehemann, auch wenn für viele das allein schon ausreichend großartig gewesen wäre.

Er war sein Vertrauter, sein Seelenverwandter und vor allem war er die Person der Cassiel alles anvertraute was er besaß und für den er alles zu tun bereit wäre.

Le Rouge hatte lange und sehr beharrlich versucht jene Form der Hingabe in ihm zu entfachen, ihn für sich und seine Pläne so zu gewinnen das Cassie für sie brannte – doch er war gescheitert. Nie war es dem Roten gelungen den Burschen so sehr an sich zu binden, dass dieser ohne zu zögern sein Leben hergeben würde, war es der Sache oder Rouge dienlich.

„Du hast mich auf jede erdenkliche Weise gerettet wie man einen Menschen nur retten kann. Ich weiß nicht warum… ob es nun Zufall war oder göttliche Fügung.“ Für ihn, der er nicht an Gott glaubte war der Fall klar, trotzdem zog er für Clarence auch dessen Gott in Betracht. Einfach, weil der christliche Glaube zu ihm gehörte wie das wohlige Brummen das er manchmal von sich gab und weil Matthew alles an ihm respektierte und liebte, selbst Gedanken und Ansichten die er nicht mit dem Größeren teilte.

„Aber ich weiß, dass ich dich liebe, Clarence Sky. Mehr als ich sagen kann. Und ich weiß, dass alles gut wird.“ Wieder lächelte er, so als wisse Matthew mit unumstößlicher Sicherheit richtig zu liegen. Gefahren? Klar, die gab es. Aber die hatte es immer schon gegeben und trotzdem waren sie hier.

„Erzähl mir von Falconry Gardens, hm? Wie genau bist du an deinen Clan geraten und was hat dich dazu bewogen dort zu bleiben? Ich meine…“, er zögerte und senkte nun erstmals an diesem Morgen den Blick aus Unsicherheit heraus.

„…nachdem das mit deiner Familie geschehen ist, hättest du auch entscheiden können woanders ganz neu anzufangen. Du hättest dich irgendwo niederlassen können. Aber das hast du nicht getan. Warum nicht, warum bist du den Kestrels beigetreten und… wie war deine Zeit bei ihnen?“

Sie teilten seit Jahren den Alltag miteinander und als Liebende waren sie dabei immer enger zusammen zu wachsen.

Er las Clarence vor während dieser Seekarten studierte oder seine Waffen ölte, Clarence wusch ihm den Rücken wenn Cassie im Zuber saß oder er fungierte für ihn als Heizkissen, wenn er mal wieder in ihrem Bett fror. Sie waren albern zueinander wenn sie es sein konnten und ernst wenn der Moment es gebot. Viele Geheimnisse hatten sie einander schon anvertraut, aber noch immer lag in der Vergangenheit des anderen mehr Nebel noch als enthüllte Landschaft.

Beide jungen Männer waren ein eingespieltes Team, eine Tatsache die auch schon vor ihrer Ehe bestanden hatte. Doch die Art und Weise wie sie miteinander umgingen hatte sich vollkommen geändert. Cassie wusste, dass allein schon die Erwähnung des Todes seiner Familie – allen voran seiner Kinder – für Clarence schmerzhaft sein musste und wehtun wollte er dem Größeren nicht. Deshalb blickte er auch so betreten nach unten. Früher hätte er sich aus eben diesem Grund nie getraut gewisse Fragen zu stellen, aus Furcht davor zu weit zu gehen. Doch Furcht musste er nicht vor seinem Bären haben, diese Gewissheit hatte er mittlerweile. Angst hatte keinen Platz zwischen ihnen, noch nicht einmal bei unangenehmen Themen.


Clarence B. Sky

Nachdenklich blickte der Blonde auf den Mann herab der eng an ihn geschmiegt bei ihm lag und das Bett mit ihm teilte. Schon einmal hatte Matthew die melancholische Idee in den Raum geworfen wie es wohl wäre, hätten sie sich früher kennengelernt – sie wären zusammen ausgerissen, hätten sich als Halbstarke schon irgendwie so durchgeschlagen und würden heute auf einem großen Gut leben, umgeben von den vier Wänden die sie selbstständig hochgezogen hätten und den Pferden, die sie ihr Eigen nannten.

Die vage Fantasie, die Cassie damals im Hinterzimmer einer unbedeutenden Gaststätte gezeichnet hatte, noch immer verschwitzt und wohlig unter dem Bären von Mann auf dem alten Schreibtisch liegend, hatte den Jäger nachhaltig geprägt und zum Nachdenken gebracht. Der Dunkelhaarige war den Rest des Tages sauer auf ihn gewesen, warum auch immer, Claire konnte es sich tatsächlich bis heute nicht erklären. Doch wenig später, vielleicht hatte der Jüngere da verstanden warum der Bär so in sich gekehrt gewesen war – denn noch am gleichen Abend hatte er ihn gefragt ob er ihn heiraten wollte und diese Bitte war nicht einer plötzlichen Eingebung entsprungen.

Das Bild von ihnen beiden in trauter Sesshaftigkeit, lebend auf einem Grundstück das sie sich gemeinsam als Paar hart erarbeitet hatten und höchstwahrscheinlich glücklich miteinander, hatte etwas in Clarence bewegt von dem er gedacht hatte, es bereits lange verloren zu haben. Sich eine Zukunft vorzustellen, Ziele im Leben zu haben und etwas mit einem anderen Menschen erreichen zu wollen den er liebte, all diese Dinge hatten bis zu jenem Moment im Hinterzimmer keine Rolle für ihn gespielt, seitdem der Wind sie mit den Rauchschwaden seines brennenden Hofes Jahre zuvor einfach davon geweht hatte. Seine eigene Zukunft war vor seinen Augen zu Schutt und Asche verbrannt und seitdem hatte sich der Blonde weder vorstellen können noch wollen, dass das Leben für ihn irgendwann wieder eine gute Wendung nehmen würde.

Auch heute lagen derartige Errungenschaften noch in weiter Ferne, auch wenn Cassie schon mehrmals betont hatte, dass in ein paar Jahrzehnten eine alte Veranda darauf wartete spannende Geschichten von jenen zwei senil gewordenen Abenteurern zu erfahren, die heute ruhelos noch auf einem Boot lebten.

Aber ein Haus bauen, Acker bewirtschaften, Vieh züchten und endlich wieder sesshaft werden…?

Matthew wollte die kommenden Jahre lieber die Welt bereisen, Sagen und Mythen hinterher jagen und Legenden zu Gesicht bekommen, bevor sie ihren jugendlichen Leichtsinn verloren und derartige Träumereien nicht mehr wagten auszuleben. Dieser Wunsch stand ihm durchaus zu und Clarence hatte sich nicht dagegen verwehrt den Vorstellungen der kommenden Jahre nachzukommen, dafür liebte er seinen Mann zu sehr und war zu ambitioniert darin ihm sein wohlverdientes Glück zu gewähren, welches er im Reisen und Erleben für sich finden wollte.

Es mochte an ihrem bislang völlig unterschiedlich verlaufenen Leben liegen, dass der Christ derartige Wünsche nie gehegt hatte und ihm kaum etwas im Leben reizte bis auf das Meer – was er unlängst dank seinem Partner hatte erleben und in sich aufsaugen dürfen. Und es mochte an ihrer völlig unterschiedlichen Art zu denken liegen, dass ihm ein irgendwann viel zu vage war, als dass er damit etwas brauchbares anfangen konnte. Dennoch arrangierte er sich mit diesem eines Tages, weil ihm das Hier und Jetzt viel zu kostbar war, dass er es mit Diskussionen und Streitereien verschwenden wollte.

In diesem Kontext hatte der Jüngere völlig Recht: Zu einem früheren Zeitpunkt wären sie nicht füreinander bereit gewesen und in manchen Denkweisen waren sie es sicher auch heute noch nicht. Wo der Eine reisen wollte, wollte der Andere ankommen und wo sie ursprünglich geplant hatten heute möglichst früh in die Pötte zu kommen, lagen sie nun doch irgendwie wieder gemeinsam hier im Bett, wo es unterm Strich immer noch am schönsten war. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, ihre grundlegenden Bedürfnisse gingen oftmals überhaupt nicht miteinander konform, dennoch funktionierten sie miteinander – weil sie sich beigebracht hatten sich auf den anderen einzulassen, mit all ihren Schrullen, Macken und Ansichten, die oft völlig anders waren als die eigenen… und gerade deshalb schien es umso weniger zu dem Mann, den Clarence kannte, zu passen, dass er sich von Zeit zu Zeit vorstellte, wie es wohl wäre wenn.

War es das was ein Matthew Cassiel sagte, wenn er eventuell vielleicht meinte?

Wenn er sagen wollte Wann anders, okay?

Es war dieses scheinbar unbedeutende Nebensatz, dieses noch kleinere und noch unbedeutendere Detail, das die restlichen Worte seines Mannes überschattete und Clarence derart nachdenklich dreinschauen ließ, egal wie bewegend die Erkenntnisse Cassies zu seinem eigenen Prolog waren. In ihrer Zukunft würde die Sonne scheinen oder nicht, tatsächlich könnte von hier an Glück auf sie warten oder die Voraussichten seines Partners würden getrübt werden, die Grausamkeiten ihrer Vergangenheit noch übertrumpfend. Was in der Ferne lag konnte man nicht ändern und doch ließ sich ebenso wenig die Saat einer Idee ersticken, wenn sie bereits gekeimt war.

„Falconry Gardens…?“, wiederholte Clarence schließlich leise und suchte den längst hinab gesenkten Blick seines Mannes, gleichfalls wie er versuchte den Faden wiederzufinden, der ihm längst aus den Fingern geglitten war. Der Sprung vom einen auf das andere kam ihm viel zu weit daher geholt vor und für einen Moment fragte er sich, wie Matthew plötzlich auf jenen Punkt seines Lebens gekommen war; es brauchte ein paar Sekunden bis es dem Jäger wie Schuppen von den Augen fiel und er begriff, jenen Ort selbst zur Sprache gebracht zu haben.

„Damals, da… war ich ein anderer Mann. Nagi hat mich aus meiner Heimat fort gerissen und ich… hatte Angst und keine Ahnung vom Überleben.“

Schon einmal hatte er Cassie von der Panik erzählt die ihn ergriffen hatten angesichts dessen, wie Fanatisten über die Außenwelt dachten. Nichts anderes als das Fegefeuer wartete da draußen auf die Menschen und wer auch nur einen einzigen Fuß über die sicheren Grenzen reckte, wäre auf alle Ewigkeit verdorben.

„Die Menschen hier sind anders als bei mir Zuhause. Ich kannte mich nicht aus in der Welt mit ihren Gepflogenheiten und ich kannte niemanden außer diesen einen Mann, der mich mitgenommen und mir angeboten hat, bei ihm zu bleiben“, erinnerte sich der einstige Fanatiker an jene Zeit seines Lebens, von der viel im Nebel seines Wahns verloren gegangen war. Er war nicht Herr seiner Sinne gewesen, was die teils fehlenden Finger seiner Hände bewiesen und doch war er klar genug gewesen um zu begreifen, er wäre ohne diesen geheimnisvollen Nagi Tanka an seiner Seite untergegangen.

„Als wir in Falconry Gardens angekommen waren… hat der Clan mich eine Weile bei sich wohnen lassen, freundlich ausgedrückt. Nagi wollte mich zum Schamanen ausbilden damit ich lerne mich nicht länger von einer Gemeinschaft abhängig zu machen, was aber auch zur Folge hatte, dass ich meinen Alltag mit den Jägern geteilt hab. Irgendwann, da… hat sich mit der Zeit heraus kristallisiert, dass ich für das eine wie das andere ein gewisses Talent besitze und es schien mir damals Sinn zu machen, dass ich diesen Weg für mich einschlage. Ein Clan ist genug Gemeinschaft um nicht alleine zu sein wenn man im Heimatort ist und trotzdem hat man immer wieder seine Ruhe, wenn man mit einer Handvoll Kameraden für Aufträge auf Wanderschaft geht.“

Es war eine Abwechslung die sich - für einen kauzigen Klotz wie Clarence Sky es geworden war -gut die Waage hielt und die sich seitdem als roter Faden durch sein Dasein gezogen hatte. Auch später war er ein derartiges Abkommen mit Matthew eingegangen, keine Frage; ihre abendlichen Lager waren genug Gemeinschaft gewesen um nicht alleine auf Reisen zu sein, wobei er fernab der Wanderwege in den Hölzern oder hohen Gräser trotzdem immer verlässlich die Einsamkeit gefunden hatte.

Erst mit den Gefühlen, die für Cassie erwacht waren, hatte sich in ihm auch die Sehnsucht danach manifestiert wieder irgendwo anzukommen. Ein festes Dach über dem Kopf zu haben, abends in warmen Armen eines anderen zu versinken oder einfach nur miteinander wilde Spinnereien zu fabrizieren, so wie sie beide es ganz besonders gut konnten.

„Das Leben in einem Clan ist anders als sonst wo. Es gibt mehr Freiheiten, aber auch strenge Regeln… plötzlich gehörst du zu einem wild zusammengewürfelten Haufen, mit völlig unterschiedlichen Hintergründen. Manche sind freiwillig zum Jäger geworden, andere über Umstände dort gelandet wie ich. Du hast Freunde und Feinde unter deinen Brüdern und Schwestern, aber am Ende steht jeder für den anderen ein wenn es hart auf hart kommt“, eröffnete er Matthew einen sehr groben Einblick in das, was einen Clan ausmachte.

Jäger waren ein sehr verschworenes Volk, nur wenig drang über ihr Leben nach außen und selbst wenn Clarence versuchen würde seinem Mann das Miteinander und den Alltag zu erklären, vielleicht würde er nie ein echtes Gefühl dafür bekommen.

„Ich musste mich damals auf völlig neue Dinge einstellen und bin nicht selten gescheitert. War ein ziemlich hageres Kerlchen als ich dort ankam und meinen Tag mit Sachen wie Training beginnen oder nachts zur Torwache aufbrechen… das war lange nicht mein Ding. Aber man gewöhnt sich daran, so wie man sich an alles andere auch gewöhnt und irgendwann kommt der Tag, wo man wieder zu einem Auftrag aufbrechen und alles andere hinter sich lassen kann. Wo man Dinge zu Gesicht bekommt, die sonst kaum eine Menschenseele je erblickt hat… und Sachen erlebt, die man sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.“

Über einige Jahre hinweg war das sein Leben gewesen und Clarence bezweifelte nicht, dass die offenen Vorgaben und Abenteuer des täglichen Miteinanders ihn in gewisser Weise erfüllt hatten – und wenn nur, um im wahrsten Sinne die Stunden seines erbärmlichen Tages zu bekleiden.

Wirkliches Glück hatte er jedoch erst mit Matthew gefunden und jeder anbrechende Tag ließ ihn aufs Neue unmissverständlich spüren, zu welchem dieser zwei Leben es ihn tatsächlich hinzog. Hätte er die Wahl sich zwischen einem der beiden zu entscheiden, er hätte seinen Schwestern und Brüdern den Rücken gekehrt um nie mehr zu ihnen zurück zu blicken… doch so einfach waren die Dinge nicht, auch wenn Clarence nicht müde wurde verlässlich anders zu behaupten.

Für einen langen Moment waren seine Worte in Stille übergegangen, während er seinen Partner schweigend betrachtete und sich dabei gewusst wurde, welch unverschämtes Glück es bedeutete Cassie gefunden zu haben. Kaum ein Mensch der heutigen Welt fand jemanden, den er so bedingungslos liebte wie Clarence den Jüngeren und noch seltener wurden einem diese Gefühle erwidert. Und noch seltener, traten diese Zufälle alle überhaupt ein, ging sich die Geschichte so einvernehmlich und harmonisch aus wie mit ihnen beiden.

Sie waren wie zwei Zahnräder die ineinander griffen, alleine unfähig zu funktionieren und doch gemeinsam die ganze Welt bewegend. Bei Matthew zu sein hieß nicht nur der Einsamkeit zu entfliehen, sondern sich wieder heil und geborgen zu fühlen – wie ein Mensch, der endlich nach langer Suche seine zweite und wesentlich bessere Hälfte gefunden hatte.

Lautlos löste er seine Pranke aus den betörenden Rundungen seines Geliebten, führte sie hinauf zu Cassies vertraut verschlafenen Gesicht und strich ihm mit den Fingerspitzen zärtlich über die stoppelige Wange. Wahrlich, Matthew war ihm das größte Heiligtum seit langer Zeit und für nichts auf der Welt würde er ihn je wieder hergeben wollen, weder für mögliche, noch unmögliche Dinge.

„Du hast gesagt, von Zeit zu Zeit stellst du dir vor… was wäre wenn.“

Er hätte sich lange Zeit nicht vorstellen können eine Familie zu haben, das hatte er gesagt. Trotzdem hatte er mit seinen Vorstellungen nicht in der Vergangenheit gesprochen, obwohl sie längst durch ihre Hochzeit zu einem Ganzen zusammengewachsen waren und die beiden Quälgeister Kain und Abel sie als Gespann komplettierten. Sie waren längst zu einer Familie geworden, alles andere zu behaupten wäre nicht nur nicht richtig, sondern einfach unglaublich traurig. Trotzdem spürte Clarence dass sein Mann mit dieser unüberlegten Aussage weit mehr meinte als nur sie vier, auch wenn sein Vorstellungsvermögen dahingehend eine begrenzte Kapazität besaß.

„Erzählst du mir, was du damit meinst und… was genau du dir vorstellst, hm?“


Matthew C. Sky

Schon in dem Augenblick, da seine Frage nach Falconry Gardens über seine Lippen gekommen war wusste Matthew, dass dieses Thema keines war über das sein Geliebter gern sprach.  

Und wären sie einander nicht so nahe wie sie es in den letzten Wochen und Monaten  geworden waren, Clarence hätte mit Schweigen und Distanz reagiert so wie früher, da war Matt sich sicher. Doch die Sorge mit einer unangenehmen Frage die gesamte Stimmung zu zerstören war nichts mehr das Matthew fürchten musste. Sie waren nicht mehr die zwei Vagabunden von früher, die neben den Vorräten und der gleichen Marschrichtung nichts miteinander teilten. Dass Clarence antwortete tat er Cassiel zu Liebe und dieser wusste es durchaus zu schätzen. Trotzdem war es nicht nur was Clarence sagte, sondern auch das wie er es tat, was Matthew ganz genau hörte und aus dem er seine Schlüsse zog. 

Und fast noch wichtiger war, was der Blonde nicht erwähnte. 

Der Clan hatte ihn bei sich wohnen lassen - freundlich ausgedrückt. Der Clan bot Freunde und Feinde. Nagi hatte ihn zum Schamanen ausbilden wollen. Nähe und Distanz hatte die Gemeinschaft bereit gehalten, gespickt mit unzähligen Regeln und Anforderungen an denen er so manches Mal gescheitert war. 

Das war, was er sagte. Er sagte nicht, dass er freiwillig bei den Kestrels gewohnt hatte, er sagte nicht, dass seine Freunde mehr waren als seine Feinde und er sagte nicht, dass er Schamane hatte werden wollen. Es hatte ihm Sinn gemacht, aber er erwähnte mit keiner Silbe, dass es sein Wunsch gewesen war.

Es waren die Dinge die ungesagt blieben, die das Gesamtbild zeichneten und die ihm mehr über die Zeit verrieten in der Clarence dort gewesen war. 

Einen rostigen Nagel, so hatte der Blondschopf seinen ehemaligen Meister mal genannt und damit hatte er Cassie viel über den Menschen verraten dem die American Kestrels gefolgt waren und dem sie noch immer folgen würden, hätte Clarence ihn nicht getötet. 

An einem solchen Mann war vermutlich nicht viel Gutes dran und an Menschen die mit ihm zusammenarbeiteten auch nicht. 

Ein Mann wie Nagi Tanka es gewesen war, passte hervorragend zu einem Mann wie Le Rouge und wenn man die Dinge erstmal aus diesem Blickwinkel sah, dann wirkten ihre beiden Geschichten gar nicht mehr so unterschiedlich und ihre Charaktere auch nicht. 

Nachdenklich betrachtete Cassie dem Größeren und suchte in dessen Blick irgendeine Spur von positiver Erinnerung. Vielleicht der Gedanke an einen treuen Freund, oder an ein Abenteuer das ihm Spaß gemacht hatte, eine Geschichte die witzig war. Aber egal wie tief Matthew auch in der stahlgrauen See der Irdiden seines Liebsten versank, er fand keinen glimmernden Funken Freude darin. 

Die Erkenntnis hätte Matthew traurig gestimmt, wäre sie denn überraschend für ihn gewesen, doch so naiv war er längst nicht mehr. Seine jugendlichen Flausen und sein kindliches Gemüt hatte man ihm schnell und mit Nachdruck ausgetrieben. 

„Du musst...nichts freundlich ausdrücken wegen mir. Ich habe zwei Augen und Ohren und ich kann mir denken das... es schwer für dich war.“ Clarence brauchte nichts zu beschönigen nur damit Cassie es bequem hatte und sich nicht mit dem auseinandersetzen musste was wirklich in Clarence vor sich ging. 

„Du hast mal über Nagi gesagt, er sei wie ein rostiger Nagel gewesen.“, flüsterte Cassie und mit einem Mal fühlte er die Trauer doch, von der er bis eben geglaubt hatte von ihr verschont zu bleiben, weil die Erkenntnisse nicht neu für ihn waren. 

„Du hast nicht verdient was passiert ist, Clarence. Mein ganzes Leben lang haben mir irgendwelche Fremden vorgeschrieben was ich zutun und zu lassen habe, was ich denken und sehen soll. Und wenn nur eine einzige Fähigkeit von all dem Erlernten hängengeblieben sein sollte, dann ist es die, zu erkennen wenn jemand gegen seinen Willen dazu gebracht wurde einer Idee oder einem Anderen zu folgen.“, 

Matthews Stimme war leise, aber fest und in seinen Augen funkelte Wut über das was man seinem Mann angetan hatte. 

Es gab elende Menschen dort draußen, Menschen die sich wie Parasiten an andere hefteten und sie aussaugten bis nichts mehr übrig war als die leere Hülle die sie daraufhin mir den eigenen Vorstellungen befüllten. 

Wie oft schon hatte er den entrückten Blick in den Augen seines Mannes gesehen und wie oft hatte er so getan als bemerke er nichts? Zu oft. 

Cassie hatte sich nicht die Probleme des Blonden aufladen wollen, so egoistisch war er gewesen bis zu dem Moment an dem Clarence mehr geworden war als eine praktische Leibwache. Nie wieder - das hatte Matthew sich selbst geschworen- würde er wegsehen und es sich im Nichtwissen bequem machen, ging es um seinen Liebsten. 

Denn ebenso wie dieser nicht verdient hatte Familie und Hof zu verlieren um dann gegen seinen Willen einem Jägerclan beizutreten, hatte er einen Ehemann verdient der seinen Schmerz und sein Leid nicht sehen wollte. 

Doch statt weiter über das Vergangene zu sprechen, lenkte Clarence ein und fragte nach dem, was Matthew so beiläufig im Nebensatz erwähnt hatte. 

Von Zeit zu Zeit stellte er sich vor, was wäre wenn... 

Damit meinte der Dunkelhaarige nicht mehr und nicht weniger als genau das Gesagte. Es war kein wann anders, okay? und auch kein eventuell vielleicht. 

Cassie, der sehr wohl um den Verlust wusste den Clarence erfahren hatte, wollte sich nicht auf das dünne Eis begeben welches eine ehrliche Antwort mit sich brachte. Aus mehr als einem Grund scheute er selbige - denn neben dem Schmerz des Blonden seine Kinder verloren zu haben, gab es eine Reihe weiterer - für Cassie sehr persönlicher Gründe. 

„Ein Philosoph der Alten hat mal geschrieben ‚Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.‘" musternd sah Matthew in das Antlitz des Älteren und hoffte irgendwie darauf, dass dieses Zitat als Erklärung soweit dienlich war, als das Clarence verstand was ihn umtrieb. 

„Ich war vier Jahre in White Bone und elf Jahre mit Rouge zusammen.“ mehr als die Hälfte seiner Lebenszeit hatte er unter Männern verbracht die ihn im besten Fall ausgenutzt und im schlimmsten Fall schwer misshandelt hatten. Sein Vertrauen in Männer war quasi nicht vorhanden und Autorität verband er unwillkürlich mit Gewalt. 

Kleinlaut und schuldbewusst, so als trug er auch nur ein Fünkchen Mitschuld an dem was hinter ihm lag, fuhr er schließlich fort und versuchte vorsichtig in Worte zu kleiden was er meinte. 

„Wer unter Monstern lebt, läuft Gefahr...selbst ein Monster zu werden, deshalb... deshalb hab ich für mich nie in Erwägung gezogen Kinder zu haben.“ - Matthew seufzte leise und suchte verstohlen des Anderen Blick, nur um zügig wieder nach unten zu sehen, kaum da er ihn aufgefangen hatte. 

„Ich wollte nie... nie riskieren...so zu werden wie...diese Männer.“ - Oh er hatte keine abartigen Neigungen, er war weder Sadist noch Choleriker und trotzdem gab es da diesen Teil in sich, der jedem misstraute, sogar sich selbst. Ein Teil der flüsterte, dass er nichts konnte außer töten, dass er nicht gut genug war um für kleine Wesen Verantwortung zu tragen. Es waren Ängste gegen die er mit Vernunft nicht ankam und die dafür gesorgt hatten, dass er sich nie mit dem Thema Familie auseinander gesetzt hatte.

Aber mit dir...Ich weiß das du nicht so bist und mit dir... ich weiß auch nicht...“,  so unstrukturiert er auch vor sich hin stammelte, so unmissverständlich klar wurde worauf er hinauswollte. 

„Manchmal stelle ich mir vor wie es wäre...wenn es anders gekommen wäre... oder wenn... du und ich...wenn wir trotz allem...Kinder zusammen hätten. Ich weiß du warst ein großartiger Dad und ich... ich könnte es vielleicht lernen, zumindest... male ich mir das aus...“, unsicher biss Matthew sich auf die Unterlippe und hoffte inständig Clarence nicht verschreckt zu haben. Sein Herz schlug aufgeregt und schnell, während er seinen Gegenüber ohne das übliche Maß an Selbstsicherheit anschaute. 

„Nicht falsch verstehen, bitte...“


Clarence B. Sky

Clarence Bartholomy Sky war ein Mann, der wusste was er wollte. Hatte er sich eine Route auserkoren, wurde diese auch gegangen, egal wie tief sich auf dem Weg die Dornen auch in seine Waden bohrten oder wie unwegsam das Gelände vor ihm war. Hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt, dann bekam man diese Idee nicht mehr aus dem Jäger heraus geprügelt und war er sich einer Überzeugung erst einmal gewiss, brachte ihn nichts mehr von seinem Standpunkt fort.

Das war zumindest das, was er nach außen hin vermittelte.

Die Wahrheit war: Clarence hatte nicht die geringste Ahnung was er vom Leben erwartete, noch was er sich für sich selbst wünschte.

Seitdem ein junges Mädchen namens Ruby-Sue auf ihn zugekommen war und ihn mit ihrem frevelhaften Zauber belegt hatte, schienen Wünsche und Ziele wie weggeweht. Mit seinem freien Willen zu lieben und zu entscheiden, hatte sie ihm auch Trauer und Sorgen hinfort geweht. Keine einzige Träne hatte der junge Barthy Sky vergossen als er dabei zugesehen hatte, wie seine Jugendliebe vor seinen Augen in Flammen aufgegangen und schreiend gestorben war.

Die einzige Angst, die er über lange Jahre hinweg hatte verspüren können, war jene seine über alles geliebte Frau zu verlieren, begünstigt durch ihren Liebeszauber der allzeit auf ihm ruhte.

Der Tod jener Hexe und seiner beiden Töchter hatte ihn in pure Verzweiflung getrieben, begünstigt durch den beschwerenden Knoten, der zu einem großen Teil über seiner Gefühlswelt geplatzt war. Es hatte kein Sehnen mehr gegeben auf das er sich als einziges hatte verlassen können, kein schützender Schirm, der ihn vor allen Bedenken und Beklemmungen schützte. Was über acht Jahre lang kontrolliert und gelenkt hatte, war von jetzt auf gleich fort gewesen – und was geblieben war, war eine Freiheit, mit derer der junge Christ nichts anzufangen gewusst hatte aufgrund fehlender Optionen.

Was er hatte wollen sollen hatte er nicht gewusst, hatte nicht verstanden wie die Welt jenseits der behüteten Heimat funktionierte und wohin er hatte ziehen sollen. Zeit und Möglichkeiten für eigene Wünsche hatte er nicht gehabt. In Falconry Gardens bleiben oder in die unbekannte Welt hinaus ziehen, in der er nicht überleben würde? Dem Schamanismus folgen und schließlich Jäger werden oder hoffen, dass auf irgendeinem Bauernhof eine billige Arbeitskraft gebraucht werden könnte, ohne Aussicht darauf je wieder selbstständig zu werden?

Irgendwann, treibend in seiner Ahnungslosigkeit wie in einer kleinen Nussschale auf offenem Meer, hatte Clarence für sich eine Entscheidung getroffen. War er nicht in der Lage zu begreifen was er selbst wollte, dann entschied er sich für das Naheliegendste. Und damit das funktionierte, musste er es sich nur lange genug einreden, bis die Vernunft einem Mantra gleich durch seine Gedankenwelt schallte.

Es war vernünftig gewesen bei den Kestrels zu bleiben. Die Ausbildungen zu absolvieren, so hart sie auch gewesen sein mochten. Es war sinnvoll gewesen Nagi Tanka trotz seiner äußerst zweifelhaften Weltanschauungen zu folgen, immerhin war er der Anführer ihres Clans gewesen und von diesem als Schüler ausgewählt zu werden, eine hohe Auszeichnung. Es war naheliegend gewesen, sich keine Gedanken mehr um Frauen oder irgendeinen Lebenspartner sonst zu machen.

Letztlich, da war es vernünftig gewesen sich einzureden, dass er keine Kinder mehr in seinem Leben wollte – immerhin ließen sie sich sowieso nur schlecht in ein Leben als Jäger integrieren.

Und dann war Matthew in sein Leben getreten.

Er hatte nicht gewollt ihn küssen oder mit ihm schlafen zu wollen. Clarence hatte, bedingt durch seine Herkunft, nicht gewollt ihn heiraten zu wollen. Er hatte nicht gewollt diesem Mann von Nagi Tanka oder den Jägern zu erzählen, von Ruby-Sue, seinen Kindern oder von Benedict. Es war ihm vernünftig erschienen mit Cassie einen ganz klaren Cut zu machen, zu ignorieren was hinter ihm lag als hätte es nie etwas bedeutet was er erlebt, verloren oder geliebt hatte. Wäre der Inhalt ihrer Gespräche jemals auf das Thema Kinder gefallen, so zumindest die Vorstellung des Blonden, er hätte seinen Mann ganz klar verprellt und das Kapitel im Keim erstickt, noch bevor irgendeiner von ihnen sich mehr Gedanken darüber hätte machen können als nötig.

Doch Matthew Cassiel Sky, so unscheinbar und lebendig er auch sein mochte, schien, als hätte er eine naturgegebene Anleitung für den schweigsamen Jäger in der Hand. Egal was Clarence sagte oder tat, wie oberflächlich freundlich er seine Formulierungen wählte, wie nichtssagend er auch brummen mochte, wie defensiv seine schlechten Vorsätze auch immer sein mochten… Matthew öffnete den Mund, er sprach… und er machte den Blonden begreifen, dass der Jüngere durch jeden schönen Schein hindurch zu blicken vermochte um zu erkennen, was sich hinter der Maske verbarg. Und anstatt ihm Vorwürfe zu machen oder ihn zu korrigieren, da redete Cassie einfach weiter mit ihm, so als habe Claire ihm tatsächlich sein Herz ausgeschüttet – ablesbar alleine in seinem Blick, seiner Mimik und seiner Seele, auf deren Grund sein Mann hinab blicken konnte.

Schon lange machte es sich Cassie nicht mehr bequem neben ihm und ignorierte, was für seine kandisfarbenen Augen so offen auf der Hand lag. Egal wie dünn das Eis auch erschien, welches sich vor ihm ausbreitete, er betrat es. Vorsichtig und bedacht vielleicht, aber voller Mut um ans andere Ufer zu gelangen, an dem der Bär auf ihn wartete.

Clarence wusste nicht wie es ihm jemals möglich sein sollte diesen Mann nicht zu lieben der bei ihm lag, halb verborgen unter der Bettdecke und so unsicher in seinen Äußerungen, dass es selbst einem eisigen Klotz beinahe das Herz zu brechen vermochte.

Er hatte nicht geahnt welche Ängste und Selbstzweifel in Matthew tobten, geschuldet der bequemen Annahme, dass ein Mann wie Cassie sowieso nicht über so etwas Unsinniges wie Kinder nachdachte. Er war ein Lebemann, genoss den Moment, liebte Luxus genauso wie die Einfachheit, die sich aus einem rastlosen Leben wie sie es derzeit führten ergab. Irgendwann würden sie sich irgendwo niederlassen und sich etwas aufbauen – aber Nachwuchs? Das schien Claire immer zu weit hergeholt gewesen und dadurch hatte er nie den Schmerz erkennen können, der aus derartigen Gedanken in Verbindung mit einer Vergangenheit wie sein Partner sie erlebt hatte erwuchs.

Schmerz, den Cassie einfach nicht verdient hatte und der völlig ungerechtfertigt war.

Ohne es zu spüren sah Clarence seinem Mann an wie schnell sein Herz schlagen musste und mit welch Unsicherheit Matthew behaftet war, fürchtend, dass das schmelzende Eis jederzeit unter ihm wegbrechen konnte. Dabei sollte es eigentlich nichts geben dürfen das zwischen ihnen stand, das Angst untereinander schürte oder sie gar auf einzelnen Schollen voneinander fort treiben ließ. Im Moment konnte der Ältere nicht sagen, ob Cassie so eingeschüchtert war weil er seine Sorgen vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben laut ausgesprochen hatte oder weil er nicht wusste, wie sein Bär auf diese leise Selbstoffenbarung reagieren würde. Doch wenigstens für eines konnte Clarence Sorge tragen: Dass er Matthew keinen Grund gab, an der Liebe seines Mannes zu zweifeln.

Schweigend griff er nach dem Saum der schützenden Bettdecke, zog sie ein Stück weit von ihnen hinab und gab dem Jüngeren keine Möglichkeit mehr sich vor seinem Bären zu verstecken, während dieser sich sanft über ihn beugte. Auch wenn Matthew es am frühen Morgen nicht besonders schätzte, so konnte Clarence nicht anders als die Lippen des Dunkelhaarigen zu suchen und zu finden, ihn mit einem weichen, liebevollen Kuss bedenkend. Er hatte Cassie nicht geheiratet weil es sich so ziemte oder weil seine Religion es ihm als Unabdingbarkeit auferlegt hatte; er liebte diesen Mann, wollte mit ihm zusammen sein und sein Leben mit ihm teilen. Clarence wusste, er war verschroben und in der Öffentlichkeit viel zu zurückhaltend aufgrund ihres gleichen Geschlechts – ihre Ehe war sein Versprechen an den Jüngeren trotzdem immer zu ihm zu stehen, sich zu ihm zu bekennen und bei ihm zu bleiben, in guten Zeiten ebenso wie dann, wenn Verrückte seinen Geliebten mit Steinen bewarfen oder Cassie sich traute erstmals Dinge anzusprechen, welche zuvor keinen Raum zwischen ihnen gefunden hatten.

Sorgsam löste er sich von den fremden Lippen, hauchte einen Kuss auf Matthews Nasenspitze und schließlich auf seine Stirn, während die Pranke des Bären unter ihre Decke abtauchte um sich auf den warmen Rücken seines Partners niederzulegen. Einen Moment lang ließ er seinen Mund an das Haupt des anderen gelehnt, die Augen geschlossen und im Raum stehen lassend was Cassie nicht nur an Sorgen, sondern auch an stiller Hoffnung für ihre Zukunft von sich gegeben hatte. Clarence wusste, nichts von alledem war etwas das man mit seinem gewohnten Schweigen beantworten sollte, noch konnte er es länger nach alldem, was sein Partner aus den verblümten Worten über seine Zeit bei den Kestrels gelesen hatte. Cassie war anders als all die anderen Menschen die er jemals in seinem Leben getroffen hatte und weil dem so war, sollte die Stille schließlich der brummenden Stimme des Bären weichen.

Als meine Mädchen gestorben sind… konnte ich nicht mehr über Kinder nachdenken. Danach hatte ich keine Zeit dafür und keinen Grund und schließlich… kurz, bevor wir uns kennengelernt haben… hat Nagi mich gegen meinen Willen sterilisieren lassen. Und nein, das ist nichts worüber ich reden will“, griff er seinem Mann das Naheliegende vorweg, welches sich daraus ergab. Das war rein gar nichts was er aufwühlen oder - wenn auch nur in Gedanken - noch mal durchleben wollte; aber es spielte eine Rolle für seine Gefühlswelt und derer ihrer Beziehung. Denn so ehrlich wie Cassie mit ihm gewesen war, verdiente der Jüngere genau das gleiche.

Es gab danach keinen triftigen Grund mehr für mich meine Gedanken an Frauen zu verschwenden und als du in mein Leben getreten bist… mhh…“, nachdenklich leckte sich Clarence über die Lippen, mit ernstem aber zugewandtem Blick den seines Partners suchend. „Es war nicht einfach mich für dich zu entscheiden, aufgrund meiner Religion… und ich glaube kaum, dass Gott es gut finden würde wenn zwei Männer zusammen Kinder großziehen. Darauf und auf der Vorstellung, dass du bestimmt eh keine willst… hab ich mich ausgeruht. Weil es einfacher ist und weil… ich denke, weil… ich Angst hatte vor exakt diesem Moment hier.“

Es war einfach sich für die Vernunft zu entscheiden wenn man alleine war. Etwas völlig anders war es, wenn neben den eigenen Parametern noch die eines anderen hinzu kamen.

Es gibt so viele gute Gründe dafür, keine Kinder mehr zu haben. Der Schmerz, den ich nicht noch einmal ertragen würde wenn jemandem was passiert… mein Clan… die Gefahren in der Welt da draußen… ein fehlender Ort, an dem man welche großziehen könnte oder einfach nur… ein weibliches Vorbild…“ – ein Boot war schön und gut und irgendwie würde er ihnen sogar zutrauen das hinzubekommen. Doch auf Dauer, da brauchten Kinder Beständigkeit, Sozialkontakte, Freunde zum Spielen… all das, was sie nicht bieten konnten.

Die Liste seiner Bedenken und all der Punkte dafür, wieso Kinder keinen Platz mehr in seinem Leben hatten, waren endlos. Sie hatte begonnen mit dem Tod seiner Töchter und war immer länger geworden, selbst bis heute noch, wo sein Leben an der Seite von Matthew endlich wieder die richtige Richtung einnahm.

Nicht nur hatte er es sich nicht gestattet über Kinder nachzudenken, es war ihm nicht mal ernsthaft in den Sinn gekommen seitdem sie nebeneinander vorm Altar gestanden hatten. Clarence war unglaublich kurzsichtig gewesen und seltsamerweise hatte sich in ihm die Vorstellung manifestiert, dass mit ihrer Hochzeit das Thema endgültig vom Tisch war – es fehlte die Frau in ihrer Konstellation wie auch längst seine Zeugungsfähigkeit und mit diesen Tatsachen schien sich das Mantra bestätigt zu haben, das sich so lange in ihm eingebrannt hatte. Doch mit Cassies leisen Worten hatte sich plötzlich vor seinen Augen eine Brücke über dem schier unüberwindbar erscheinenden Abgrund enthüllt, vor dem er jeher gestanden hatte und dem sonst so klugen Bären von Mann wurde erst just in diesem Augenblick bewusst, dass ein Kind nicht einer Ehe selbst entspringen musste. Es gab genug verwaiste Sprösslinge da draußen die irgendwo unterkommen mussten und denen man einen Platz zum leben und sich entwickeln bieten konnte – wenn man denn dafür bereit war.

Der Mensch kann zwar tun, was er will. Er kann aber nicht wollen, was er will. – Matthew hatte von den Philosophen der Alten gesprochen und auch dieser Satz rührte von ihnen. Clarence hatte jahrelang gewollt seine Wünsche zu unterdrücken und hatte dies tun können, doch an seinen Wünschen, an seinem tiefsten Wollen, daran ließ sich nicht rütteln. Es ließ sich nicht ändern dass er sich zu Männern hingezogen fühlte statt zu Frauen, ebenso wenig wie man seiner Liebe zu Matthew würde einen Abbruch tun können.

Und so vehement wie er es sich auch all die Zeit über versucht hatte einzureden, es ließ sich nicht ändern wonach es ihn noch sehnte.

Fahrig löste er die Hand von Cassies Rücken, fuhr sich mit den Fingerknöcheln über die feucht gewordenen Augen aus deren Winkeln sich eine stille Träne gelöst hatte und atmete tief durch, das leichte Zittern in seiner eigenen Brust spürend welches einen überkam, wenn man versuchte sich zusammenzureißen. All die Bilder, die er sich selbst verboten hatte aus Furcht verletzt zu werden, fluteten ungefiltert seine Vorstellungskraft und ließen ihn das einzige und wohl gewichtigste Argument ergreifen, welches sich gegen all die Kontrapunkte auf seiner Liste stellten:

Das Bild von seinem Mann mit einer kleinen Hand in der eigenen, von Cassies geliebtem Lachen unter das sich kindliches Gackern mischte, von strampelnden Beinen auf seinen Schultern und einer faulen dreisten Meute die sich kollektiv bedienen ließ wie Matthew schon an Deck gestern Mittag… machte ihn unglaublich glücklich.

Ich hätte… unglaublich gerne Kinder mit dir…

Es spielte keine Rolle ob Gott das alles wollte oder nicht. Er wollte auch nicht dass zwei Männer einander heirateten und trotzdem hatte Clarence sich dafür statt dagegen entschieden. Seitdem er Matthew hatte, mochte sich an seinen Überzeugungen nichts verändert haben, aber seine Entscheidungen waren andere geworden. Cassie hatte ihn zu einem besseren Mann gemacht, einem glücklicheren Menschen und angesichts ihrer Anfänge unzweifelhaft zu einem besseren Liebhaber. Es gab wirklich keinen Aspekt den dieser Kerl an ihm nicht positiv beeinflusst hätte und gerade weil dem so war, fiel es dem Jäger schwer stur an seinen veralteten Grundsätzen festzuhalten.

Ein leises Schluchzen drang seine Kehle empor, welches er unter Kontrolle zu bekommen versuchte während er den Saum der Bettdecke schützend ein Stück zurück über ihre Köpfe zog. Das half zwar weder sich vor der Welt, noch vor Cassie zu verstecken; diente im Umkehrschluss jedoch fabelhaft um sich damit über die Augen zu wischen, in der Hoffnung, dass sein Mann ihn nicht gerade für völlig durchgedreht hielt angesichts dieses emotionalen Themas und seiner plötzlichen Kehrtwende.

D-Du wärst ein… ein so wundervoller Vater… du w-würdest ihnen Lesen und Schreiben b-beibringen und… Reiten… und Bogenschießen… und ihnen v-vorsingen, wenn… wenn sie krank sind… und ihnen S-Suppe k-kochen…“, zählte Clarence leise die Gaben seines Mannes auf, die Matthew vermutlich alle überhaupt nicht als seine Qualitäten als potentieller Vater bewusst waren. Er war so gut zu seinem Bären gewesen als es ihm nicht gut ging, er trieb mit ihm Unsinn wenn sie in Plauderlaune waren und wusste ihn aufzubauen, wenn der Größere traurig war. Er versuchte sich mit Strenge durchzusetzen wenn ihm eine fixe Idee des Bären mal wieder überhaupt nicht in den Kram passte – doch unter all diesen Vorzügen hatte Cassie nie, aber auch wirklich niemals auch nur den geringsten Schatten eines Monsters oder eines Abgrundes in seinen Augen aufblitzen lassen.

D-Du würdest mich zusammen mit… mit i-ihnen ständig in den Wahnsinn treiben und… mit ihnen im W-Winter… Schneeballschlachten austragen… - Ich weiß n-nicht w-wie du nicht… nicht sehen kannst, wie… wie viel Liebe du zu geben h-hast du… du furchtbar liebenswerter T-Trottel…“


Matthew C. Sky

Das hier war er: der Moment vor dem Clarence sich immer gefürchtet hatte, so sagte er es leise - und zugleich der Moment der Matthew das Herz brach. 

Die unheimliche Aufregung die er empfunden hatte als er zum ersten Mal laut ausgesprochen hatte welche Angst er vor sich selbst hatte, gäbe es erst Kinder in ihrem Leben, mutete winzig an im Vergleich zu dem unsäglichen Gefühl seines zerreißenden Herzens als Clarence die schrecklichsten Worte sprach, die er hätte aussprechen können. 

„...und schließlich… kurz, bevor wir uns kennengelernt haben… hat Nagi mich gegen meinen Willen sterilisieren lassen...“

Der eigene Schmerz den Matthew mit sich trug konnte in seinem Ausmaß niemals mit dem des Blonden verglichen werden und doch spürte der Dunkelhaarige wie die Worte tief in sein Innerstes schnitten und ihn auf eine Weise verletzten, dass er glaubte zu ersticken. 

Es wäre das Eine gewesen, hätte Clarence für sich beschlossen das Kapitel Kinder für sich zu schließen. Diese Entscheidung hätte Cassie geschmerzt, doch er hätte sie respektiert - und noch wichtiger: er hätte den Größeren verstanden. 

Alles was Matthew nie gehabt hatte und wonach sich ein Teil in ihm zu sehnen begonnen hatte, in dem Moment als Clarence ihm sein Hochzeitsgeschenk offenbart hatte, all das hatte der Blonde schon einmal gehabt. Einen Hof, einen Ehepartner, Kinder. Ein geordnetes Leben, so wie man es im Idealfall eben hatte. 

Für ihn war Vergangenheit was für Matthew Zukunftsgespinst war und hätte er aus diesem Grund eine Wiederholung ausgeschlossen, so hätte der Jüngere das hingenommen. 

Aber so war es nicht. 

Mit einem Mal fühlte sich Matthew zurückversetzt nach Coral Valley, in die schöne Villa der Madame Cœur in der Clarence ihn vor die vollendete Tatsache gestellt hatte, niemals mehr glücklich sein zu können. Man hätte ihm die Fähigkeit Glück zu empfinden ausgebaut und Matthew solle daran nicht rütteln und es stattdessen hinnehmen. 

„Du hast mich doch noch nie himmelhoch jauchzend erlebt …und ich will auch nicht, dass du dir dahingehend irgendwelche Hoffnungen machst, die sich nie erfüllen werden.“ 

Das hatte er gesagt - und Cassie den Boden unter den Füßen weggezogen. 

„Ich kann nicht glücklich sein. Dieses Gefühl stellt sich bei mir einfach nicht mehr ein, als hätte sie es mir ausgebaut, wie die Ingenieure bei einem Zeppelin Sachen ausbauen und einfach wegwerfen. Es ist nicht mehr da.“

Damals hatte Matthew mit Zorn reagiert, Zorn über die Ungerechtigkeit aber auch Zorn über die Gleichgültigkeit mit der Clarence die Sache hinnahm und von ihm forderte das selbe zu tun. So als ginge ihn all das gar nichts an. 

Doch heute, etliche Monate und ein Eheversprechen später, reagierte der Dunkelhaarige nicht wütend und laut, klaubte sich keinen Tand zusammen um ihn in Rage nach dem Anderen zu werfen - sondern er reagierte mit Stille und mit lautlosen Tränen. 

Sein größter und einzig wirklicher Wunsch war es, Clarence glücklich zu sehen. Er wollte ihm zurückgeben was man ihm weggenommen hatte - und das war so viel mehr als offensichtlich war und auch mehr als sogar der Blonde wusste. 

Wenn Cassie seinen Liebsten ansah, dann sah er viel zu oft Kummer in den graublauen Augen oder hörte Schwermut aus der vertrauten Stimme heraus. Selbst dann wenn sich der Größere dem nicht bewusst zu sein schien, strahlte er eine Art melancholischer Würde aus. Er war ein Mann der gelernt hatte mit dem Schmerz zu leben, sich mit dem Verlust zu arrangieren - aber das hieß nicht, dass es weniger wehtat, es hieß lediglich das man sich mit ihm abfand und sich fügte. 

Irgendwann hatte Cassiel Clarence erzählt, dass er sich auskannte mit bösen Menschen. Mit kranken, widerlichen Charakteren, mit Leuten deren ganzes Leben darauf gründete andere zu unterjochen. Zweifellos stimmte das, doch das war nicht alles. Zu jener Medaille gehörten zwei Seiten und sie waren ihm beide vertraut. 

So wie Matthew das Böse kannte, so kannte er auch das Verletzte und Schwache. 

Und sein Bär, der Hüne, der schweigsame Berg von Mann... er war verletzt. 

Das war keine Schande, es war nicht verwerflich. Es war menschlich. 

Was man Clarence angetan hatte war nicht weniger als eine Entmündigung seiner ganzen Person. Man hatte ihn bestohlen und ihm die Chance genommen sich dagegen. aufzulehnen und als wäre das nicht schon schlimm genug, so hatte man ihn derart leidensfähig gemacht, dass Clarence angefangen hatte den Schmerz als Teil von sich selbst anzunehmen. 

Ruby Sue hatte ihn mit ihren Flüchen entmündigt. Zuerst in dem sie gemacht hatte, dass er sie abgöttisch liebte und später als sie ihm die Fähigkeit genommen hatte glücklich sein zu dürfen. Sie hatte sich über ihn erhoben, ihm das Recht abgesprochen eigene Entscheidungen aus freiem Willen heraus zu treffen. Und selbst Jahre nach ihrem Tod hatte Clarence ihren Worten Folge geleistet, so als hinge er an unsichtbaren Strippen an denen seine verstorbene Frau heimlich zog. 

Aber jene Frau war nur die erste von weiteren Gestalten gewesen die sich über Clarence erhoben hatten, sich anmaßend für ihn zu entscheiden was gut war, was er zu wollen hatte und wie seine Pläne aussehen sollten. 

Die Entscheidung, dass eigene Kinder fortan nicht mehr zum Leben des Blonden gehörten, hatte nicht Clarence getroffen und das machte es umso bitterer. 

Es war Nagi Tanka gewesen der beschlossen hatte seinem Schützling die Fähigkeit zu nehmen eine neue Familie zu gründen. 

Das war nicht richtig, es war verdammt nochmal nicht fair - doch statt Wut empfand Matthew nur maßlose Trauer. 

Kurz bevor der dürre Kerl ihn gefunden hatte, hatte man ihm dieses Verbrechen angetan und plötzlich ergab die Todessehnsucht des Größeren Sinn. Es war schlicht und ergreifend zu viel gewesen. Natürlich hatte er Kinder seither gemieden, natürlich hatte er versucht sich so weit wie irgendwie möglich von ihnen zu distanzieren um nicht daran erinnert zu werden was er verloren hatte ... und was er nie mehr haben würde. 

In den Vorstellungen, denen Matthew sich von Zeit zu Zeit hingab, war Clarence leiblicher Vater ihrer Kinder. 

Es waren zwei blondgelockte Jungen und zwei Mädchen, mit hellblauen Augen und spitzbübischem Lachen. Sie waren abenteuerlustig und aufgeweckt und sie würden alles hinterfragen was man ihnen erklärte.

Clarence würde ihnen beibringen was es hieß in der Natur zu sein, er würde sie den Respekt vor dem Leben einer jeden Kreatur lehren, er würde sie zu aufrechten und ehrlichen Menschen formen - mit Nachsicht und Liebe und dennoch mit Beharrlichkeit. 

Er würde der perfekte Vater sein, voller Güte den kleinen Geschöpfen gegenüber und wann immer er konnte, würde er ihnen die Sterne vom Himmel holen. Und sie würden alle auf ihrem kleinen Hof leben, auf dem jeden Tag Kinderlachen durch das Haus und über das Grundstück wehte. 

Aber soweit würde es nicht kommen. Nicht weil der Blonde es nicht wollte, sondern weil er es nicht mehr konnte, weil Nagi für ihn entschieden hatte. 

Wie viel konnte ein Mensch ertragen, bevor er aufgab und sich emotional einigelte sodass man als Außenstehender nichts mehr weiter zu Gesicht bekam als Stacheln?

Es wäre nachvollziehbar gewesen hätte Clarence genau das getan und es hatte eine Zeit gegeben in der Matthew geglaubt hatte an den Älteren käme sowieso niemand heran. 

Aber auch da hatte es sich der Dunkelhaarige zu bequem gemacht, bis zu dem Augenblick an dem er wirklich hingesehen und wirklich hingehört hatte und ihm klar geworden war, der ach so eiserne Hüne war voller Kummer und seine Verschlossenheit diente nur der Abwehr von neugierigen Blicken und sensationslüsternen Fragen. 

Er war nicht wirklich kalt, er war verletzt. Zu oft hatte man ihn auseinander gebrochen, sodass er irgendwann nicht mehr richtig zusammengewachsen war.

Die zarten Küsse die der Blonde ihm gegeben hatte und die zu sagen schienen alles ist gut, es gibt nichts was du sagen oder dir wünschen könntest, das mich von dir wegtreibt konnten im Augenblick nur oberflächlich die Wunde bedecken, die die durch die offenen Worte des Schamanen gerissen worden waren.

Es gab so viele gute Gründe das Thema Kinder zu begraben, so viel was sie nicht bieten konnten, so viel was sie nicht hatten. Es fehlte ein weibliches Vorbild, es fehlte ein festes Zuhause, es fehlten Strukturen. Der Clan, welchem sein Mann angehörte, reihte sich ebenso in diese Liste ein die wahrscheinlich noch lange nicht vollständig war.

Für den Jüngeren jedoch schienen all diese Gründe nicht wichtig, auch wenn jeder einzelne ihm vor Augen hielt wie unsinnig seine Gedanken doch waren. 

Aber – und auch das wusste er – es ging hier nicht um ihn und so traurig es auch war, aber Matthew wusste mit Enttäuschungen umzugehen. Er hatte nie Kinder gehabt und wenn er sie mit Clarence nicht haben konnte, so wollte er auch keine. Eine einfache Rechnung deren Ergebnis ihn zwar schmerzte, aber sein Schmerz stand in keiner Relation zu dem Leid seines Gegenübers.

Schweigend hob er eine Hand an die Wange des Größeren und half ihm dabei, die winzige Träne fortzuwischen, die sich klammheimlich aus dem Augenwinkel des Blonden gelöst hatte. 

Er liebte diesen Mann so sehr und er wünschte sich mit jeder Faser seines Herzens und mit jedem Atemzug, Clarence glücklich zu machen.  

Aber niemand auf der ganzen Welt – das wurde Cassiel in jenen Sekunden klar – konnte wieder gut machen was seinem Mann an Unrecht widerfahren war. Egal wie sehr er es wollte, egal wie oft sie gemeinsam lachen würden und ganz gleich welche Abenteuer sie erlebten: Clarence würde die verlorenen Jahre nicht zurückerhalten und auch nicht die Chancen, die man ihm genommen hatte.

Ganz vorsichtig strich Cassiel über die weiche Haut unterhalb von Clarence‘ Augenwinkel. Er sagte kein Wort, wusste nicht wie er seine Gedanken ordnen sollte und ebenso wenig fiel ihm ein, wie er auch nur ein Quäntchen der Last von den Schultern seines Geliebten nehmen konnte.

Der Tod seiner Töchter war ein schrecklicher Verlust, der Schmerz der Gewissheit nie wieder Töchter oder Söhne haben zu können, vielleicht noch gewaltiger.

„Ich weiß nicht…“, setzte der jüngere der beiden jungen Männer schließlich an und verfiel augenblicklich wieder in Schweigen. Was sollte es Clarence bringen, wenn er ihn wissen ließ nicht zu wissen welchen Schmerz er litt und mit welchem Kummer er seit vielen Jahren lebte? Nichts. Und so ließ er den Satz unvollendet.

Mit einem Herzen das sich anfühlte als sei es in tausend Splitter zersprungen von denen jedes Fragment wie wild pochte, dachte es sich schlecht nach und Cassie war gut beraten nicht weiter zu reden, sondern lieber zuzuhören.

Denn all die guten Gründe, alle nur so vor Vernunft strotzenden Argumente wurden von wenigen simplen Worten zur Nichtigkeit verdammt. Nicht durch Matthew, dem doch naturgemäß immer irgendetwas einfiel um die Stille zu füllen, sondern durch Clarence.

„Ich hätte…unglaublich gerne Kinder mit dir..“

Die Tragweite des Gesagten wurde Matthew schlagartig bewusst, kein Nebel schenkte ihm noch Sekunden während er sich erst noch lichtete, er brauchte keine Zeit um zu verstehen was sein Mann ihn wissen ließ. Das Begreifen setzte unmittelbar ein und es brachte zu Fall was ohnehin schon gewankt hatte – die Selbstbeherrschung des Dunkelhaarigen.

Er hatte so beiläufig erwähnt woran er von Zeit zu Zeit dachte und es nur auf die Frage des Größeren hin so kleinlaut präzisiert. Vorsichtig und bedacht, wissend das seine Vorstellungen möglicherweise nicht mit denen des Anderen deckungsgleich waren. Clarence hatte sich nicht unter Druck gesetzt fühlen sollen, er hatte nicht glauben sollen die Erfüllung seiner Gedanken sei die Bedingung für irgendetwas. Eigentlich – und auch das wurde Cassiel nun schlagartig bewusst – hatte er gar nicht damit gerechnet das Clarence dazu überhaupt etwas sagte, geschweige denn ihn wissen ließ, dass er seinen Wunsch teilte. Ein Wunsch, von dem Matthew bis eben gar nicht gewusst hatte ob er ihm überhaupt zustand.

Er war ein Kerl der selber keinerlei vernünftige Erziehung genossen hatte, er hatte nichts was er weitergeben konnte, er hatte keine gute Weltsicht, er ging keinem tatsächlichen Beruf nach, konnte nichts womit er in einer Gemeinde nützlich sein könnte, hatte keine Wurzeln. Alles was er bieten konnte war... nun... er selbst. Und was war das schon, wenn man allen Schnickschnack außen vor ließ? 

Viel, eine ganze Menge sogar, schenkte man den Worten des Älteren Glauben. 

Verunsichert blickte Cassiel seinen Mann an, einen Augenblick lang nicht wissend was er tun oder sagen sollte während Clarence weitersprach und ein Bild von dem zeichnete was sie vielleicht haben könnten – trotz der Tatsachen die Nagi Tanka geschaffen hatte.

Woher Clarence die Kraft nahm ihm Zuspruch zu geben, war dem Jüngeren ein Rätsel das zu lösen er nicht in der Lage war. Aber das war schon immer so gewesen. Clarence gab ihm Halt und Clarence sah ihn auf eine Weise wie Matthew sich selbst nicht sehen konnte. Er hatte ihn nie wie Duzendware behandelt, hatte ihm nie das Gefühl gegeben beschmutzt, weniger wert oder austauschbar zu sein. Clarence sah ihn an und er schien keinen Makel an ihm zu entdecken, weder äußerlich noch in seinem Wesen. 

Einem inneren Impuls folgend, war es nun Cassiel der sich über den Blondschopf beugte um ihn innig auf die schönen Lippen zu küssen. Beide Hände legte er dabei sanft an die Wangen seines Mannes, hielt die Augen geschlossen und gab sich den widersprüchlichen Gefühle in seinem Innersten hin. Da waren Ängste und da war Mitgefühl, Unsicherheit und auch kindische Wut auf all die Menschen die Clarence wehgetan hatten. 

Aber vor allem war da Liebe.

Alles was wichtig war, war dieser Mann und Matthew konnte nicht aufhören ihn zu küssen und er könnte auch niemals aufhören ihn zu lieben.

Niemand konnte ermessen was die Ehrlichkeit des Blondschopfes in ihm ausgelöst hatte und wie tief ihn die gefundenen Worte berührten, aber als er sich nach einigen Augenblicken wieder von den Lippen löste, da hatten Zweifel und Ängste nicht länger die Oberhand. Viel zu lange waren sie den Pfaden gefolgt die andere für sie bestimmt hatten, hatten Charakterzüge wie die eigenen gepflegt obgleich sie ihnen eingeimpft worden waren und nichts mit ihrem wahren Ich gemein hatten.

Sie hatten anderen gedient, hatten die Drecksarbeit erledigt oder Gräuel über sich ergehen lassen. Nichts davon ließ sich rückgängig machen, dies war ihnen beiden klar. Aber Matthew wusste, dass das aufhören konnte und das es aufhören würde wenn sie es nur schafften zusammen zu bleiben und offen miteinander zu sein. 

„Wohin möchtest du mit mir gehen, wo möchtest du mit mir unsere Kinder großziehen? Lass uns dahin gehen, ganz egal wohin das ist…“, wisperte er leise und sah seinen Geliebten an, voller Tatendrang und voller Entschlossenheit den Weg zu gehen den sie gehen wollten. Andere hatten lange genug ihr Handeln in irgendeiner Weise bestimmt.  

„Lass uns aufbrechen, jetzt gleich. Lass deinen Clan Clan sein... Du brauchst diese Leute nicht und ich brauche... ich brauche nur dich. 

Ich hab schon immer nur dich gebraucht.

  


Clarence B. Sky

Über lange Zeit hinweg hatte der Jäger stets versucht über den Dingen zu stehen. Mit jedem Verlust, dem er erlitten hatte, hatte er ein Stück von sich selbst weg gegeben um nicht an dem Schmerz zugrunde zu gehen, der in ihm tobte.

Mit seinem Einzug in die Freie Welt hatte er erkennen müssen, viele seiner Sorgen waren völlig überflüssig gewesen und einer fragwürdigen Erziehung geschuldet, die keine Ausnahmen bot. So viel Angst und Furcht hatte er seit seiner Kindheit erlitten, alleine aufgrund eines Glaubens der nirgendwo sonst Fuß fand außer in der kleinen Gemeinde die sich Fort Martyrdom schimpfte. Er hatte lernen müssen, dass er nicht zittern musste vor einem Fegefeuer das es gar nicht gab und hatte sich einst vorgenommen: Wenn sich dieses Prinzip auf einen Großteil seiner Gottesfurcht anwenden ließ, ließ es sich auch auf andere Wunden transportieren, die über seiner Seele lagen.

In den vergangenen Jahren hatte Clarence mit dieser Einstellung den Verlust seiner Eltern vergessen gelernt, hatte das gähnende Loch gefüllt welches von seinen Kindern in sein blutendes Herz gerissen war und all die Schmerzen und die Pein die ihn durchströmt hatten in der Ausbildung zu einem neuen Leben, das man ihm aufgedrängt hatte – in seine Streben nach absoluter Gefühlslosigkeit stets unterstützt durch seinen tatkräftigen Lehrmeister Nagi Tanka.

Schmerz gehörte zum Leben und wer nicht lernte darüber zu stehen, der würde früher oder später daran unter gehen. Also hatte sich der Christ erhoben über Trauer, Depression und Einsamkeit. Hatte sich damit getröstet, all die wirren Empfindungen waren nicht mehr als ein steiniger Weg im irdischen Sein, das eines schönen Tages sowieso vom Leben danach abgelöst wurde. Wen interessierte es immerhin in einer zerstörten Welt wie der hiesigen schon, wen er verloren hatte oder nicht. Menschen starben, die einen früher, die anderen später. Auch andere verloren ihre Liebsten ohne daran zugrunde zu gehen; niemand nahm Rücksicht auf ein einzelnes Schicksal, wenn es sich nicht einfügte.

Und letztlich, die vielleicht schlimmste Irrung die er sich erfolgreich in sein Denken eingebrannt hatte:

Warum sollte ihn die Gewalttat durch Nagi Tanka in irgendeiner Art und Weise berühren, wenn er sowieso beschlossen hatte, dass Kinder kein Thema mehr in seinem Leben sein sollten.

So viele Emotionen hatte er aus seinem eigenen Sein heraus geschnitten und abgekapselt, dass er sich doch nur umso mehr mit ihnen identifiziert hatte und dass ihn andere Menschen, die ihm begegneten, als kühl und unnahbar sahen. Seine graublauen Augen zeigten keine Einladung, keine Wärme, kein Quäntchen von Vertrauen oder Menschlichkeit. Man hielt Distanz zu ihm wenn man sich von dieser Fassade nicht auf gewisse Weise angezogen fühlte etwa wie es bei manch junger Dame in diversen Schänken gewesen war.

Erst Matthew hatte diesen Teufelskreis durchbrochen, indem er sich über die alles und nichts sagenden Floskeln des Jägers hinweg gesetzt und ihn im Blauer Hund aufgesucht hatte, schweigend den Erzählungen lauschend die erstmals einen Bruchteil dessen freigelegt hatten, warum Clarence Bartholomy Sky zu dem Mann geworden war, wie er sich noch in Coral Valley dargestellt hatte.

Seitdem hatte Cassie ihn wieder zusammengesetzt, hatte ihm Stück für Stück kleinere und größere Details entlockt und aus den Bruchstücken das Bild desjenigen geformt, der er mal gewesen war. Ein Mann der Liebe empfinden konnte, der Nähe brauchte und der Vertrautheit über alles schätzte; aber auch ein Mensch, der zusammen mit seinem Partner Ziele erarbeiten wollte, die weit über einen anzufahrenden Ort auf einer Landkarte, Reichtum oder Prunk hinaus gingen.

Als sein Mann über ihn kam, weder verschreckt durch die Ansichten die ihm zu Matthew durch den Kopf gingen, noch durch die potentielle Zukunft welche sein Bär ihm gezeichnet hatte, empfing er dessen Lippen bebend und hungrig nach der Nähe, die der Dunkelhaarige zu schenken hatte. Er wusste nicht zu sagen ob Cassie begriff wie viel dem Älteren die Reaktion seines Partners bedeutete oder ob er ahnte wie sehr Clarence ihn liebte, dass er diesen Schritt zu wagen überhaupt bereit war. Für Matthew würde er alles fahren lassen – jeden falschen Stolz, jeden sonst unerschütterlichen Glauben und jedes veraltete Weltbild, das viel zu lange von seinem Bedenken Besitz ergriffen hatte.

Mit ihm wollte er keine neue und nicht wieder Familie gründen, wollte nichts aufwärmen was er schon einmal verlebt hatte.

Mit seinem Mann wollte er die Familie haben… diejenige die zählte, die hier und jetzt war und hoffentlich immer sein würde.

Seine Lippen kribbelten noch von dem energischen Kuss den der Jüngere ihm hatte zuteilwerden lassen und Clarence konnte nicht verhindern dass sich neue Tränen in seine Augen stahlen, als sich erneut die geliebte Stimme seines Mannes erhob. Selten zuvor hatte er Matthew derart voller Tatendrang erlebt, so völlig brennend für etwas und absolut frei jeden Zweifels. Er ließ seinen Bären unzweifelhaft spüren, diese Kinder nicht nur um seinetwillen vorzuschlagen, sondern weil Cassie sie selbst auch wollte und das war etwas, das Clarence in jenem Umfang niemals erwartet hätte. Alles was gewesen war, die Sorge des Dunkelhaarigen Claire könne seine Vergangenheit niemals loslassen um nur noch ihm zu gehören, die Angst ihm nicht mehr zu genügen nach den Unfällen ihrer letzten Abenteuer, ja selbst die dunklen Befürchtungen die er ihm eben noch gezeichnet hatte… nichts schien just in diesem Augenblick noch eine Rolle zu spielen, kaum da sie ihren gemeinsamen Standpunkt endlich offen ausgesprochen hatten. Alle Hürden, die jemals zwischen ihnen gestanden hatten, hatten sich umwerfen lassen kaum da sie in Coral Valley begonnen hatten einfach miteinander zu reden und Clarence bezweifelte dass sie überhaupt jemals an diesen Punkt gekommen wären, hätten sie nicht begonnen sich einander derart ehrlich und unverblümt füreinander zu öffnen.

Du bist doch völlig verrückt geworden…!“, kam es Clarence wispernd über die Lippen während er, unfassbar über die plötzliche Wendung, den Kopf schüttelte und schließlich ein leises, losgelöstes Lachen seine Kehle verließ. Immerzu hatten in den graublauen Iriden des Blonden dunkle Schatten geruht, geschuldet den Verlusten und Narben welche er im Laufe seines Lebens hatte über sich ergehen lassen müssen, und die ihm seine melancholische Würde verliehen, ohne dass er es jemals bemerkt hatte. Doch als er Matthew in diesem Moment über sich musterte, ließ sich in ihnen nichts anders als Liebe, Erleichterung und unendliches Glück ablesen.

Amüsiert über seinen übermütigen Ehemann, hob Clarence die Arme über die Schultern des Oberen und schlang seine Beine um eines von Matthew, nicht gewillt ihn in den nächsten Minuten je wieder von sich herunter weichen zu lassen. Noch vor wenigen Minuten hatte er dem Jüngeren heimlich unterstellt, vom Leben nichts anderes zu fordern als Spaß und Freiheit; stattdessen strafte Cassie seinen Pessimismus wie immer Lügen und verdiente sich dadurch einen weiteren warmen Kuss, unter dem der Bär ein hingebungsvolles Raunen von sich gab.

Jetzt gleich, mh?“, wollte er sicherheitshalber nochmal von seinem Partner wissen, ihn trotz dem feuchten Schleier in seinen Augen aufmerksam musternd.

Gerade fühlte er sich, als hätte er – im Gegensatz zu seinem Mann - noch gar nicht richtig verstanden was hier gerade geschah und vermutlich stimmte das sogar angesichts des ungläubigen Ausdrucks in den Iriden des sonst so hellen Bärenkopfes. Für den Bruchteil einer Sekunde stahl sich eine hoffnungsvolle Stille zwischen ihnen ein, die Clarence dazu nutzte um seine wirren Gedanken zu sortieren und zu sondieren ob das hier wirklich wirklich war oder ob er nicht doch noch schlafend im Bett lag, in unglückselige Träume versunken.

L-Lass uns… lass uns irgendwo hin wo es uns beiden gefällt, egal ob Norden, Süden… oder ein völlig anderer Kontinent. Mir egal, solange wir uns dort zusammen wohlfühlen“, schlug er leise vor und kraulte mit den Fingerspitzen die warme Haut auf Cassies Rücken, die Arme fester um ihn drängend. „Ich will, dass d-du… einen Ort hast um deine Pferde zu züchten. Ein Zuhause mit ein b-bisschen Land, das wir bewirtschaften und… ein bisschen Nutzvieh, um das ich mich kümmern kann. Mit einem See in der Nähe, wo wir ihnen das Schwimmen beibringen und mit ihnen angeln können… oder Schlittschuhlaufen im Winter. Einen Platz, an dem… an dem unsere Kinder sicher und geborgen aufwachsen können. Wo sie draußen auf den Feldern spielen können, ohne Angst vor Muties… und wo sie ruhig in ihren Betten schlafen können, ohne Angst vor Fremden haben zu müssen…“

Matthew und er, sie hatten beide schon in jungen Jahren genug Schlimmes auf dieser Welt erlebt, was nicht für Kinderaugen bestimmt gewesen wäre. Sie kannten die Gefahren die dort draußen lauerten und doch wusste Clarence unumstößlich, dass sie es schaffen konnten ihren eigenen Kindern diesen Horror zu ersparen – gemeinsam. Sie würden einen sicheren Fleck Erde für ihre Familie schaffen, würden sie beschützen können wann auch immer nötig. Kein einziges dieser wachen Äuglein würde jemals dabei zusehen müssen wie einer von ihnen beiden leblos in einen Teich geworfen oder geschändet in der Wohnstube zurück gelassen wurde; noch würde jemand von ihnen beiden jemals zulassen, dass einem der kleinen Wesen auch nur ein einziges Haar gekrümmt wurde. Clarence kannte seinen Mann viel zu gut um anderes von ihm zu denken, er hatte Cassie erlebt wie er in der Metropole aus den Kerkern entlassen worden war und warum. An Matthews Seite empfand der Bär von Mann alles, aber keine Angst – weder vor dem was vor ihnen lag, noch vor dem was gewesen war.

Ich will nicht, dass du… wegen uns die Welt verpasst und all die Dinge, die du noch sehen willst. Lass uns was von dem Papier und ein paar deiner Stifte mit raus in die R-Ruinen nehmen, mh? L-Lass uns… lass uns bei einem Frühstückspicknick in Ruhe planen… was wir nun machen, unser Zuhause, unseren Hof… uns überlegen, wo es am klügsten wäre anzusiedeln. Was wir brauchen… und wie viele Kinderzimmer du für unser Haus p-planst, okay…?“

Im Moment war Clarence alles recht – von einem kleinen Bett bis zu einer ganzen Hütte voller Kinder stand der Blonde hinter seinem Geliebten, unfähig sich all der Liebe, der Hoffnung und dem Glück zu verwehren, das Cassie in ihm schürte.

Ich bin so froh, dich damals gefunden zu haben, Matthew…“


Matthew C. Sky

MAll der Schmerz und all der Kummer, alle Schatten der Vergangenheit und alle Stimmen die ihm sagten

‚Das kannst du nicht, das wirst du niemals...‘ sie verstummten in dem Augenblick als Clarence so leise und doch so befreit auflachte. 

Die Tränen, die in seinen Augen schimmerten, waren keine Tränen die von Verlust und Gram zeugten, sondern es waren Tränen puren Glücks. Die Vollkommenheit des Moments war Matthew in jeder Sekunde bewusst und die schier endlose Freude über das was sie gerade miteinander teilten machte, dass er sich selbst so unbeschreiblich heil und glücklich fühlte wie noch nie zuvor. 

Aus irgendeinem Grund, der ihm gerade vollkommen bescheuert vorkam, hatten sie bisher kaum einen Blick in die Zukunft gewagt. Ihre Pläne hatten sich auf Reisen und Tagträume beschränkt, ganz so als sei das alles was die Welt zu bieten hatte, dabei wollten sie beide so viel mehr als das. 

Von den klammheimlich gehegten Unterstellungen des Blonden zu seiner Person ahnte Cassie nichts und selbst wäre das anders gewesen, an der überschwänglichen Freude hätte das rein gar nichts geändert - wusste Matthew doch selbst, dass er oftmals wirkte wie jemand der lieber ungebunden war um jederzeit tun und lassen zu können wonach ihm der Sinn stand. 

„Jetzt gleich.“ bestätigte er leise aber nicht ohne das Funkeln des Tatendrangs in seinen Augen. Seine Lippen kribbelten noch von dem süßen Kuss den Clarence ihm gegeben hatte. Und während der Größere seinen Rücken kraulte, strichen Cassies Finger unablässig durch das goldene Haar an Clarence‘ Schläfen. 

Wie konnte es sein, dass sie all die Zeit nebeneinander hergelaufen waren ohne zu erkennen das sie ineinander das größte Glück finden würden, wenn sie doch nur bereit dazu wären von ihren hohen Rössern zu steigen? Monatelang hatte sie ein Graben aus Stolz und Vorurteilen getrennt, dabei war beides so überflüssig gewesen. 

Leise schniefte der Jüngere während er Clarence lauschte und sich eben jenen Ort vorstellte den der Größere da beschrieb. Einen Platz zum Pferde züchten, einen Platz für Felder und Wiesen, für Nutzvieh aber vor allem einen Platz für ihre Kinder. 

Was ihm Clarence gerade schenkte war nichts anderes als den Ausblick auf eine Welt die Cassiel nie gesehen hatte und auf ein Glück welches ihm bisher verwehrt gewesen war. 

Er war wie ein offenes Fenster, das ihm erlaubte zu sehen was vor ihnen lag. 

Und was er sah, war Sonne und Freude. 

Ihre Kinder würden niemals das Leid und die Angst erleben müssen, die sie beide erduldet hatten. Weder würden Fremde kommen und sie abschlachten, noch würde man sie von daheim fortreißen. Ohne das sie es in Worte kleiden mussten, so wusste Matthew ganz genau das auch Clarence niemals zulassen würde das ihnen etwas passierte. 

Behutsam neigte Cassie sich zu den Lippen seines Mannes hinab und küsste ihn zärtlich und doch energisch. Eine einzelne Träne löste sich aus seinen dunklen Wimpern als er die Augen schloss und er küsste den salzigen Tropfen schlug weg, als sich sein Mund von dem des Unteren trennte. 

Voller Liebe und Sanftmut blickte er auf Clarence herunter, ein Lächeln auf den Lippen das nicht überschattet wurde von irgendwelchen Zweifeln oder Sorgen. 

Clarence konnte nicht wissen wie unendlich er von Matthew geliebt wurde und das es allein ihm zu verdanken war, dass der Dunkelhaarige sich so entwickelte wie er es tat. 

All die Unbeschwertheit die schon viel zu früh sein Wesen verlassen- und in seinen Augen stattdessen einen tiefsitzenden Schmerz hinterlassen hatte, war dank Clarence zurückgekehrt. 

Wäre irgendein Mensch aus Cassiels Vergangenheit zugegen, eine Jeyne Copper, ein Le Rouge, eine Kali Delgado oder selbst ein Ramires Keoni...Niemand aus dieser Liste der glaubte Matthew zu kennen, würde jetzt noch Trauer und Verunsicherung in seinem Blick finden. Es waren nicht länger die Augen eines Menschen der seinen Jahren weit voraus war. Er war heil, zur Gänze.

Und seit dem Weggang seines Bruders David, hatte niemand mehr Matthew so gesehen wie Clarence ihn nun sah. 

Sachte schüttelte er den Kopf und gab dem Unteren einen Kuss auf die Nasenspitze. 

„Du kleines Dummerchen... verstehst du denn nicht, dass ihr die Welt seid die ich sehen will, hm? Kein fremder Kontinent, keine Metropole, kein noch so großes Wunder da draußen könnte es wert sein darauf zu verzichten was du mir bedeutest...was ihr mir bedeuten würdet.“

Er war vielleicht so manches Mal schon ein Narr gewesen, aber er war nicht dumm genug um die Augen vor dem zu verschließen wonach er sich am Meisten sehnte:

ein gemeinsames, glückliches und sesshaftes Leben mit Clarence. 

Und wer sagte überhaupt, dass sie nicht würden gemeinsam reisen können? Ihre Kinder, waren sie erst alt genug, würden mit ihnen kommen, sollten sie einmal einen Ausflug in die ein oder andere Stadt machen. 

Und was die Suche nach tödlichen Gefahren und Riesenspinnen anging, davon hatte Matthew genug gesehen und erlebt für ein duzend Leben. 

„Hmmm weißt du was ich möchte?“ Cassie neigte den Kopf, dann lachte er kurz ungläubig auf, denn er wusste gar nicht wohin mit all seiner Euphorie. 

„Ich möchte ein Haus an der Küste, nah am Wasser.“ , verliebt streichelte er durch Clarence‘ Haar, löste eine Hand und fuhr mit dem Daumen behutsam die Augenbrauen des Unteren nach, ihn voller zärtlicher Liebe im Blick musternd.  

„Du sollst jeden Morgen aufwachen und das Rauschen der Wellen hören. Weil ich schon jetzt weiß, dass du immer derjenige von uns sein wirst, der als Erster munter ist...und dann gehören diese ersten Minuten des Tages nur dir und dem Meer. 

Und wenn du aus dem Fenster siehst oder auf der Veranda sitzt...sollst du das Wasser riechen und sehen können. Es hat dich...all die Zeit über so fasziniert, ich finde... du solltest es immer in der Nähe haben. 

Und später mal, wirst unseren Kindern das Segeln auf der Harper Cordelia beibringen. An manchen Tagen...segeln wir vielleicht die Küste entlang, schlagen am Ufer ein Lager auf und verbringen den Tag in der Natur. Wir bringen ihnen das Jagen bei...du zeigst ihnen wie man ein Lagerfeuer richtig aufschichtet...“ - bei dem Gedanken musste er schief grinsen, war er doch bis heute noch nicht in der Lage ein ordentliches Feuer zu machen.

„Und im Winter... spannen wir eines der Pferde vor den Schlitten und ziehen die Kinder durch den Schnee. Vermutlich wirst du auch das ein oder andere Mal Opfer eines Schneeballhinterhalts werden, aber dieses Opfer muss erbracht werden.“ - energisch gab er seinem Geliebten einen weiteren Kuss, einfach nur dafür das er hier war und es ihnen beiden ermöglichte zusammen zu sein. 

„Und abends, nachdem wir alle ein warmes Bad genommen haben um wieder aufzutauen, da sitzen wir alle gemeinsam in der Wohnstube, es gibt Kakao mit Sahne für die Kleinen... und für dich, weil du so eine Naschkatze bist. Und während draußen der Schnee fällt, erzählen wir drinnen Geschichten oder spielen, oder versuchen uns daran Schokokuchen zu backen.“

Es würde in ihrer gemeinsamen Zukunft keinen Platz geben für Gram oder Leid. Weder ihnen beiden, noch ihren Zöglingen würde je etwas passieren. 

„Wenn ich die Augen schließe... dann...sehe ich zwei Jungs vor mir. Sie sind aufgeweckt und furchtlos, keine Gruselgeschichte ist ihnen zu unheimlich, auch wenn sie danach nachts manchmal in unser Bett gekrabbelt kommen. 

Und die zwei Mädchen die ich mir mir vorstelle, sind frech und wild wie der Wind. Keine Ladys oder Prinzessinnen, sondern frech und gescheit. Sie und die Jungs werden die selben Freunde haben, die jeden Tag zum Spielen vorbeikommen. Und...wenn unsere mal zu ihren Freunden wollen... dann geht das natürlich auch, aber wir werden sie immer hinbringen und abholen. Wahrscheinlich bis sie Mitte Zwanzig sind... sicher ist sicher.“

Selbst wenn sie das Paradies auf Erden fanden, so würden sie kein Risiko eingehen. Wahrscheinlich würden sie den Ruf als übervorsichtigste Eltern im Umkreis von tausend Meilen haben, aber das war schon in Ordnung. 

Wenn ich...daran denke, dass wir all das zusammen haben können...dann macht mich das...so unbeschreiblich glücklich, Claire. Und weißt du warum ich mir alles so genau vorstellen kann?“ Doch auf eine Antwort seines Liebsten wartete Matthew nicht erst.

„Weil ich darüber nachdenke seit du mich geheiratet hast. In dem Moment als du mir...dein Geschenk gemacht hast, habe ich mich zum ersten Mal gefragt ‚was wäre wenn?‘ . Ich habe mich gefragt ob ich das will, ob ich es überhaupt könnte... weil... du weißt warum. Aber mir ist klar geworden, dass ich, so lange ich dich habe keine Angst haben muss. 

Du wirst mir beibringen was ich wissen muss, so wie du es schon machst seit du mich gefunden hast. Was ich nicht kann, dass zeigst du mir und zusammen...zusammen gibt es nichts was wir nicht können, oder? Wir werden aufeinander achtgeben und sie beschützen. Wir werden glücklich sein. 

Und seit ich das weiß...habe ich von Zeit zu Zeit darüber nachgedacht.“


Clarence B. Sky

Gerade, so kam es Clarence vor, erwachten sie beide gemeinsam aus einem langen und viel zu tiefen Traum. Einem Gespinst ihrer Gedanken, das träge und dunkel begonnen hatte, genährt durch einen Nachtmahr und schließlich aufgebrochen war in weitaus hellere Gefilde. Doch wirklich erwacht waren sie nie; sie hatten sich mit weiteren Spinnereien versucht aus der Dunkelheit fern zu halten, hatten die Alp- durch Tagträume ersetzt und waren doch niemals mutig gewesen die Augen vollends aufzuschlagen um zu erblicken, was jenseits des Horizonts auf sie wartete.

Oberflächlich hatten sie an der Zukunft gekratzt. Irgendwo sesshaft werden, ja, aber konkrete Pläne und Ziele hatten sie niemals formuliert. Es hatte kein Datum gegeben das festsetzte wann sie ihre Reisen beenden würden, keine definitiven Ziele die sie planten anzusegeln oder ein allgemeines Lebenskonstrukt das ihnen sagte, bis wann sie was gemeinsam erreicht haben wollte.

Die Angst, welche sie einst vorm Leben gehabt hatten, hatte sich auch über sie selbst gelegt und sie beide davon abgehalten handfeste Vorschläge zu unterbreiten. Einerseits weil ihre Erfahrung es sie besser gelehrt hatte – alle guten Absichten wurden früher oder später von einem Schicksalsschlag durchkreuzt – andererseits auch, weil ihre Furcht vor dem anderen und diesen zu verlieren noch größer gewesen war, als die Bange die eigenen Wünsche unerfüllt in ihrem Innersten zerbrechen zu spüren.

Heute Morgen waren sie nicht nur aus ihrem Schlaf erwacht, sondern auch aus der Trägheit, die sie die letzten Monate fest im Griff gehalten hatte.

Während Cassies Lippen sich von ihm lösten, konnte er das Salz der fremden Tränen schmecken unter die sich auch seine eigenen zunehmend wieder mischten, lautlos und getrieben durch die maßlosen Emotionen die mit jedem Herzschlag durch seine warme Brust entlassen wurden. Sie waren die Welt die Cassie sehen wollte, nichts konnte es wert sein darauf zu verzichten was sie Matthew bedeuteten…

Noch waren diese Kinder nicht mehr als ein erstmals laut ausgesprochener Wunsch, doch schon jetzt ließ der Dunkelhaarigen Clarence sich fühlen, als stünden sie jenseits des Ufers in Reichweite und würden nur darauf warten endlich wieder zu ihnen nach Hause zu kommen. Er zeichnete das Bild der Familie die sie mal sein würden und schon jetzt lag in seiner Stimme so viel Liebe und Sehnsucht nach diesem Leben, dass ein verzücktes Lachen über Claires Lippen drang.

Egal wie sehr er sich auch anstrengte, der Jäger konnte sich nicht daran erinnern wann er in den letzten Jahren jemals so glücklich gewesen wäre wie an diesen Morgen. Den Mann den er liebte über sich liegen zu haben, frei von Gottesfurcht oder der Angst ihn aufgrund einer Verletzung zu verlieren, war das eine; etwas völlig anderes war es, diese nicht enden wollenden Liebenswürdigkeiten aus dem Munde Matthews zu hören, der sich sonst die meiste Zeit des Tages mit Unsinn, Ansprüchen oder Selbstbeweihräucherung beschäftigte.

Mit glänzenden Augen, wach und weit wie die eines Kindes dem man zum ersten Mal von den großen Metropolen oder fliegenden Zeppelinen erzählte, blickte Clarence zu dem zauberhaftesten aller Ehemänner empor und folgte fasziniert und berührt den Wünschen, die sein Partner erstmalig mit ihm teilte. Man musste Cassie nicht kennen um erahnen zu können, all diese Gedanken machte er sich gerade nicht zum ersten Mal. Wie lange musste er diese Hirngespinste, diese Fantasien und Tagträume nur mit sich herum geschleppt haben, zu angsterfüllt um sie seinem Bären zu gestehen? Und noch schlimmer: Wie lange hatte er sich schon alleine daran gelabt, bevor er Clarence endlich daran hatte teilhaben lassen?

Nicht nur ihr Haus würde künftig nah am Wasser gebaut sein, der Bär des Jüngeren war es heute schon. Ohne dass er sich dagegen verwehren konnte, war er doch sonst immer der Besonnenere von ihnen beiden, ließen seine überschäumenden Emotionen all die Dämme bei Clarence brechen, die er über Jahre hinweg aufgebaut hatte.

Lautlos schloss der Jäger die Augen, filigrane Tränen sein Gesicht hinab perlend, während er sich all die Dinge vorstellte die Cassie gerade vor seinem inneren Auge formte. Die ersten Minuten des Tages sollte er genießen, am Meer während der Rest noch schlief, weil er sowieso immer der Erste auf den Beinen sein würde. Sie würden die Harper Cordelia noch immer besitzen, weil sie ja sowieso am Wasser wohnen würden… und auf diese Art würde ihr erstes gemeinsames Zuhause als frisch verheiratetes Paar doch immer noch Teil ihres Lebens sein.

All diese gewichtigen Dinge waren in der Vorstellung Claires immer an ihm vorbei gegangen, zu sehr war er aufs Festland fokussiert gewesen und davon ausgegangen, dass der Lauf der Zeit sie früher oder später dazu nötigen würde das Boot aufgrund von fehlender Nutzbarkein zu verkaufen. Ohne jede Frage wurde auch hier offensichtlich, dass sein Mann sich – ganz im Gegensatz zu ihm selbst – niemals verboten hatte allzu vielen Ideen zu potentiellen Kindern freien Lauf zu lassen und je länger Matthew sprach, umso mehr begriff Clarence wie sehr er diesen Kerl dort oben über sich liebte.

Vertraut und Nähe suchend schob er einen Arm weiter über Cassies Rücken hinweg und ließ die andere zurück zwischen ihre Körper sinken, die warme Pranke an die stoppelige Wange seines Geliebten legend. Zärtlich strich sein Daumen an dem schmalen Grat zwischen Haut und Bart hinweg, selbst dann noch als er hinter seinen geschlossenen Lidern den energischen Kuss des anderen empfing, den er im Augenblick eigentlich gar nicht mehr enden lassen wollte.

Über so lange Zeit hinweg waren sie nebeneinander her marschiert, schweigend oder mit sinnlosem Geplauder die Stille füllend. Hatten sich wahrgenommen als das was sie waren, nämlich lediglich zwei Menschen die durch die Sinnlosigkeit ihres Lebens nur durch einen gleichen Weg verbunden waren, der aber nicht mal ein Ziel besaß. Sie hatten nie beschlossen wohin ihre Reise führen sollte, hatten gemeinsam von Tag zu Tag gelebt, ohne darunter auch wirklich ihr Leben miteinander zu teilen.

Noch heute konnte Clarence sich ganz genau daran erinnern wie er Cassie gefunden hatte, kraftlos und verwundet an einen Baum gelehnt, dem Tode näher als dem nächsten Herzschlag. Mach’s schnell oder verpiss dich, damit hatte er den abgemagerten Blonden damals zur Begrüßung angegiftet… es waren die ersten Worte ihres gemeinsamen Lebens gewesen, doch der Christ hatte weder das eine, noch das andere getan. Er hatte sich nicht umgedreht um einfach wieder zu gehen, den Unbekannten zum Sterben dort liegen lassend – noch weniger hatte er etwas schnell gemacht, weder als Weggefährte, noch in den Wochen zwischen ihrem ersten Kuss und dem alles verheißenden Nachmittag im Zuber, als er um Cassies Hand angehalten hatte. Das einzige, was wirklich schnell gegangen war, war vermutlich ihr allererster Sex miteinander; doch selbst dieser Aspekt hatte sich mittlerweile geändert, wie der gestrige Mittag eindeutig bewies.

Ein amüsiertes Raunen drängte sich die Kehle des Bären empor angesichts des Versuches gemeinsam mit den Kindern Schokokuchen zu backen, ein Unterfangen von dem Clarence heute schon wusste, dass es unglaublich in die Hose gehen würde. Er war wirklich kein Meister an der Röhre wenn es nicht gerade um ein paar dahingeschlonzte Frühstücksbrötchen ging oder um einen Braten, aber das waren auch nicht die Kompetenzen, die in diesem Moment zählten. Was wirklich von Bedeutung war, waren Hoffnung und Zuversicht in Cassies Stimme, das Fernbleiben jeglicher Angst vor der Zukunft und auch sich selbst. Matthew würde einen fabelhaften Dad abgeben, dessen war der Ältere sich schon jetzt unumstößlich sicher. Er würde wachsam und aufmerksam sein, liebevoll, aber auch streng wo Strenge erforderlich war. Es gab keinen Grund sich darum zu sorgen, er könne so werden wie die Männer aus seiner Kindheit – weil Matthew Kinder schon immer vor solchen Männern beschützt hatte, wie der Zwischenfall in Coral Valley bewies.

„Du bist verrückt, weißt du das?“, wiederholte Clarence leise seine Feststellung und öffnete wieder die Augen, den Blick seines Mannes suchend und findend. „Vier Kinder willst du mit mir haben, obwohl du mit uns dreien schon fix und fertig warst, als ich dir nach den Spinnen nicht helfen konnte?“ – Ganz und gar verzückt ob dieser Vorstellung lachte er auf und strahlte seinen Liebsten dabei an, die Beine fester um ihn schlingend und dabei unablässig mit dem Daumen über die vertraute Wange des Jüngeren streichelnd. Cassie war völlig am Ende seiner Nerven gewesen bis Claire endlich wieder soweit war etwas Brauchbares im Haushalt mit anzupacken, aber letztlich war dieser Vergleich nichts anderes als ein liebevolles Necken – denn der Bär würde sich ganz sicher nicht darüber beschweren wenn sein Partner dazu bereit war, einen derart gewaltigen Schritt mit ihm zu gehen.

Verliebt musterte er Matthew aus feuchten Augen und genoss die Heimeligkeit, die über diesem Morgen lag. Hatte sich Clarence jemals so verheiratet gefühlt wie in diesen Minuten, in denen er mit dem Kleineren ihre Kinder plante und all die Liebe in den Iriden seines Geliebten ruhen sah?

Du wundervoller, wundervoller Mann, Matthew… wo hast du dich all die vergangenen Monate nur versteckt, mh?“, wollte Clarence von ihm wissen, auch wenn ihnen die Antwort schon längst klar sein dürfte. Versteckt hinter längst zerstört geglaubten, unsichtbaren Mauern hatten sie sich, stets auf der Flucht vor dem was sie sich heimlich wünschten und was sein könnte. Es war einfacher Fantasien zu hegen als sie auszuleben, das war nicht nur beim Thema Nachwuchs so, sondern vermutlich im gesamten Leben. Doch mit Matthew, da wollte er so ziemlich alles unternehmen wonach sein Herz sich sehnte… egal ob die Dinge gewöhnlich waren oder nicht.

Ein Stück Land am Meer… das gefällt mir. In einem kleinen Dorf, damit die Freunde unserer Kinder es nicht weit haben… und in der Nähe einer kleinen Stadt, damit wir handeln und Baumaterial beschaffen können. Wir können an den Wochenenden die Kleinen auf den Wagen setzen und mit zum Viehmarkt nehmen…“, spann er das bunte Bild, das Matthew begonnen hatte zu zeichnen, weiter aus und reckte sich empor, um seinem Mann einen kurzen Kuss zu klauben. „Ich versuche mit ihnen zu diskutieren, dass wir keinen Platz mehr haben für noch einen Hasen in unseren selbst gebauten Ställen, aber du… du wirst wieder vor mir stehen, mit diesen großen aufgeregten Augen wie bei Abel und Kain, und ich werde weder den Kindern, noch dir diesen blöden Hasen abschlagen können – auch wenn sich später nicht mal ein Braten daraus machen lässt, weil irgendeiner immer anfängt zu weinen sobald die Sprache darauf fällt…“

Bei einem schönen heißen Kakao, den Matthew ihm kredenzte, würde er wieder über das Geschreie hinweg sehen können bis sich am Abend die Gemüter beruhigt hatten und es Zeit war, die Rasselbande in den Zuber zu stecken. Voller Hingabe für ihre Kinder würde Cassie sie in ein Handtuch wickeln nachdem Clarence sie abgeschrubbt hatte und am Abend… da las Dad seinen Sprösslingen in der Wohnstube noch etwas vor, bevor sie zusammen die eingeschlafene Meute zurück in ihre Betten trugen.

Ich hab… niemals irgendwelchen Träumereien darüber nachgehangen, irgendwann Kinder mit dir zu haben. Aber manchmal, wenn ich die Augen zu gemacht habe… für den Bruchteil einer Sekunde…“, begann Clarence leise und löste seine Hand kurz von der fremden Wange, jedoch nur um die Decke etwas enger um sie zu ziehen – seinem Mann signalisierend, heute war er es, der das Bett nicht für eine Million Goldstücke verlassen würde um überhastet den Tag zu beginnen. „Manchmal, da… hab ich uns da sitzen sehen. An unserem Esstisch, gedeckt mit all den guten Dingen, die wir durch unsere harte Arbeit erwirtschaftet haben… du am einen Ende, ich am anderen… und zu den Seiten umgeben von unseren aufgeweckten Kindern, die sich mal wieder lautstark in den Haaren liegen wegen irgendetwas, das wir gar nicht mitbekommen haben. Du bist damit beschäftigt das Kleinste dazu zu bringen endlich den Schnabel aufzusperren für den Löffel mit Brei, während ich über das Geschrei hinweg versuche die Älteren dazu zu bewegen, endlich ihre fiesen Erbsen aufzuessen… und bestimmt war es ein furchtbar anstrengender Tag für uns beide, aber… wir sehen uns kurz an und wir wissen… wir haben alles richtig gemacht miteinander…“

Es wäre maximal vermessen zu glauben, in einem Haus voller Kinder wäre alles immer ruhig, alle wären brav und bis auf ein bisschen Spielen, Lernen und ab und zu die Tiere füttern, hätte das Leben keine Anstrengungen mehr für sie parat. Segen und Pein hielten sich an manchen Tagen recht unfair die Waage, das war nun mal so wenn man seinen Erziehungsauftrag adäquat erfüllen wollte und trotzdem… trotzdem wusste er, dass sie dafür mehr als geeignet waren gemeinsam eine Familie zu gründen und darin Erfüllung für sich zu finden nach alldem, was sie in der Vergangenheit über sich hatten ergehen lassen müssen.

Die Vorstellung wie wir dort sitzen mit unseren beiden Söhnen und unseren zwei Töchtern… in unserem Haus am Meer, mit unserem Hof und unseren Feldern… macht mich unglaublich glücklich, hörst du? Du machst mich glücklich, Cassie… ganz und gar.“


Matthew C. Sky

Vielleicht war Matthew ja wirklich verrückt, vielleicht war seine Vorstellung von vier Kindern zu weltfremd weil er ihnen eh nicht gewachsen war. 

Auf der anderen Seite jedoch würde er diese vier Zöglinge nicht allein bändigen müssen, sondern er hatte mit Clarence einen fähigen Ehemann an seiner Seite.

Insofern brachte die freche Äußerung des Schamanen den Dunkelhaarigen nicht aus der Fassung. Er zuckte leicht mit den Schultern während er Clarence anhimmelte. 

„Wenn ich verrückt bin, dann nur nach dir.“, zärtlich und dennoch energisch gab er seinem Geliebten einen Kuss, ließ ihn hoffentlich spüren wie innig seine Gefühle für ihn waren.  Nichts konnte ihn heute mehr von Clarence trennen, kein böser Geist aus ihrer Vergangenheit, keine Unsicherheit darüber ob ihnen ihre kleine Familie gelingen würde oder nicht - denn sie würde gelingen. Matthew wusste es. 

Er war so glücklich, dass es schon fast absurd anmutete und er konnte sich, wann immer sich seine Lippen von denen des Größeren lösten, sein verliebt-glückliches Lächeln nicht verkneifen. 

Mit seinem eigenen Enthusiasmus war Cassie jedoch bei Weitem nicht allein, denn kaum hatte er angefangen seine Wünsche und Träumereien laut auszusprechen, schienen Fesseln von Clarence abzufallen, zu deren Schlössern es keine Schlüssel gab. 

Was immer Ruby Sue ihm an Verwünschungen auch angetan hatte, sie hatten keine Macht mehr - und zwar gar keine. 

Selbst der letzte Schatten verflog aus den von Tränen feuchten Augen des Blonden und es war Cassie, als würde er zusehen wie die Sonne durch eine Wolkendecke brach, die sich seit Ewigkeiten schon am Himmel befunden hatte. So lange, dass man sich schon an den Anblick gewöhnt hatte. Doch mit einem Mal war da kein Zweifel mehr greifbar, die Sorgen die stets in Clarence‘ Herz gelauert hatten waren aufgelöst und was blieb war eine beinah jungenhafte Unbeschwertheit die ihm entgegen funkelte. 

Kein Himmel konnte makelloser sein, kein Sonnenstrahl heller. All die Wärme die Clarence ihm schenkte berührte Cassie so tief, dass sich auch in seine Augen neue Glückstränen schlichen. So wie sein Liebster zu ihm aufsah ließ er Matthew unmissverständlich wissen, dass sie beide ineinander genau das gefunden hatten was sie brauchten. 

Sie hatten sich nicht gesucht, wahrlich nicht. Und es war auch nicht immer leicht gewesen, zu unterschiedlich schienen sie zu sein. Aber alle Differenzen bedeuteten nichts, denn die Art wie sie liebten, die Ziele und Träume die sie hatten, darin waren sie einander so ähnlich, dass es nichts gab das sie entzweien konnte. 

Der Blonde heilte Wunden die so tief in seine Seele gerissen waren, dass Cassie sie schon gar nicht mehr als etwas wahrgenommen hatte das nicht zu ihm gehörte. 

Er hatte geglaubt an der Art wie er sein Leben lebte war nichts verkehrt, er hatte geglaubt es reichte aus mit flüchtigen Bekanntschaften den Zauber des flüchtigen Augenblicks zu teilen. Oberflächliche Freunde, heitere aber belanglose Festivitäten, das Gefühl von Heiterkeit für wenigen Stunden oder Tage. 

Aber unbeschwert? Das war er nie gewesen und er hatte auch nicht geglaubt das er es jemals sein würde, was glücklich sein bedeutete, wie es sich anfühlte mit ganzem Herzen zu lieben... dies wusste er erst seit er Clarence hatte. Ausgerechnet der Mann der selbst nicht hatte glücklich sein können, hatte Matthew glücklich gemacht und das lange bevor Cassie jenes Gefühl auch in ihm wieder erwecken konnte. 

In gewisser Weise hatte die Zeit mit Le Rouge Matthews Misstrauen in die Welt noch kultiviert. Aus dem schreckhaften und ängstlichen Burschen war ein wortgewandter und nach außen hin selbstbewusster junger Mann geworden, der gelernt hatte seine Skepsis hinter seinem jungenhaften Charme zu verbergen. Man traute ihm nicht zu, aufmerksam zu sein, die Leute zu beobachten die ihn umgaben und man traute ihm auch nicht zu ernsthafte Gedanken in Bezug auf irgendwas zu hegen. 

Er schien naiv zu sein, oberflächlich und wankelmütig wie ein Blatt im Wind. Keinesfalls traute man ihm zu ein Kopfgeldjäger zu sein, Spuren verfolgen zu können ohne eigene zu hinterlassen. Viel eher passte die Rolle des eingebildeten Abenteurers zu ihm. 

Selbst Clarence unterstellte ihm dann und wann noch Oberflächlichkeit - was dem Umstand geschuldet war, dass Cassie von seiner ganzen Art her nicht wirkte wie ein bodenständiger Kerl der sich mit bodenständigen Problemen befasste und der Erfüllung finden würde in einem Leben das sich nicht alleinig um ihn drehte. 

Aber damit tat man ihm Unrecht, was allerdings niemand zu wissen brauchte so lange zumindest Clarence niemals an der Ernsthaftigkeit von Matthews Gefühlen zu ihm zweifelte. Die ganze Welt könnte in ihm einen Schnösel sehen, es war ihm einerlei. 

Nur Clarence zählte, auf ihn kam es an - und so lange er Cassiel so verliebt und glücklich anstrahlte, wusste der Jüngere es gab nichts was besser sein könnte zwischen ihnen. 

Du wundervoller, wundervoller Mann, Matthew… wo hast du dich all die vergangenen Monate nur versteckt, mh?“, fragte der Ältere, aber wo er sich versteckt hatte wusste Cassie selber nicht. Er hatte sich einfach nicht getraut sich soweit vorzuwagen wie er es nun getan hatte, aus Angst Clarence damit zu verprellen und letztendlich zu verlieren. 

In seinem Leben hatte es mehr Zurückweisung und mehr Verluste gegeben als alles andere und unter keinen Umständen wollte er riskieren das Clarence sich irgendwann in eben jene Liste einreihte um zu etwas zu werden das Matthew nicht zurückholen konnte: Vergangenheit.

Der junge Mann schluchzte erneut auf und schüttelte seinen Kopf hin und her um wortlos sein Nichtwissen zu unterstreichen. Dass er so sehr weinte lag an all den Emotionen die sein Liebster in ihm weckte und an der Gewissheit, dass dieser Mann immer der seine bleiben würde. Er würde ihn nicht verlassen, würde nicht zu einer weiteren bitteren Erfahrung werden, auf die er irgendwann voll Wehmut zurückblicken würde. 

Dies zu begreifen war ein Lernprozess, welchen Matthew zwar begonnen hatte aber der noch immer nicht ganz abgeschlossen war, auch wenn sie sich auf einem guten Weg befanden. Beide jungen Männer lernten voneinander, wuchsen mit jedem Tag enger zusammen und Matthew zweifelte nicht mehr daran, dass sie jedes Hindernis überwinden konnten, behielten sie sich ihren Mut bei Fragen zu stellen... und Antworten zu geben. 

Das Glück in Clarence’ Augen...es war neu in seiner Reinheit und in seinem Überschwang. 

In den letzten Wochen hatte Cassiel es schon manchmal gesehen, für wenige Momente. Jenes Leuchten, welches seinem Mann die Wärme und Lebendigkeit ins Antlitz zauberte, das so viele Jahre lang gefehlt hatte. 

Jetzt war er da, Clarence Bartholomy Sky, ein junger Mann der kein Wässerchen trüben konnte, der frech war und albern, der träumte und liebte mit jeder Faser seines Herzens und der Matthew mit seiner kleinen Geschichte lachen und weinen zu gleich machte. 

„Und ich werde dir sagen, dass du den Stall einfach vergrößern sollst. Das wird auch unseren Babys einleuchten, weshalb sie dir das bei jedem neuen Tier vorschlagen werden von dem du behauptest wir hätten keinen Platz.“, verschmitzt lächelte Matt und gab seinem Geliebten einen kleinen Kuss auf dessen Nasenspitze. 

„Du wirst keine Chance haben und dich uns ergeben müssen...“ Diese Vorstellung gefiel ihm sichtlich und er lachte leise auf, ehe sich der Blonde noch einen Kuss auf die Nasenspitze verdiente. 

Dass dieser Kerl, der all die Zeit über so hart getan hatte, sie beide in Wahrheit auch schon dann und wann als Eltern gesehen hatte war ein Geständnis das für den Jüngeren vollkommen überraschend kam. 

Aufmerksam musternd, obgleich seine dunklen Augen noch immer glänzten, betrachtete er Clarence’ Gesicht, fasziniert, ungläubig und zugleich voller Dankbarkeit. 

Es war die eine Sache mit den eigenen Wünschen nicht abgewiesen zu werden. Etwas anderes war es jedoch zu erkennen, man träumte die selben Träume. 

„Wir haben...wir...haben schon jetzt alles richtig gemacht miteinander, Claire.“, flüsterte Cassiel leise und drängte sein Gesicht gegen das seines Liebsten, ihn zittrig küssend. 

Das Salz der fremden Tränen auf den Lippen schmeckend, küsste er nacheinander beide Wangen seines Mannes und schließlich dessen Lider. 

„D-du ... du machst mich auch glücklich. Ich k-kann nicht sagen w-wie sehr... Es ist wie...“, Clarence hatte seinem Leben etwas hinzugefügt von dem er lange nicht gewusst hatte was genau es war. Aber jetzt, in eben jenen Sekunden, da wurde es Cassie klar. 

„...man sagt immer man braucht...T-träume im Leben... aber v-vor dir...hatte ich k-keine. Du h-hast...du hast mir Träume gegeben. Du bist mein Traum.“

Ausnahmslos jede glückliche Zukunft die er sich ausmalen konnte und sich wünschte hatte als Grundlage Clarence.

„Du bist der Schlüssel, du b-bist...die unverhandelbare Bedingung für all meine Träume und Wünsche, die Erfüllten wie auch die, die noch nicht erfüllt sind.“ 

Einen Augenblick lang schaute er den Blondschopf nun mehr an, unbeschreiblich glücklich darüber jenen Menschen bei sich zu wissen, ehe er die Lippen auf die des Unteren legte. 

Innig küsste Cassiel ihn, schmiegte beide Hände an die Wangen seines Bären und streichelte in vertrauter Manier durch den weichen Bart hindurch, den er so sehr liebte wie alles an Clarence. 


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