Im Kerker

28. Mai 2210


Matthew C. Sky

Die Luft in dem dunklen Gebäude war kalt, feucht und schmeckte nach Schimmel.
In Matthews Kopf pulsierte der Schmerz. Er hatte Bennetts Angebot ausgeschlagen vorsorglich etwas einzunehmen und jetzt hatte er den Salat.
„Wir haben nich‘ oft jemanden in den Zellen.“, erklärte ein kleiner und untersetzter Mann, der den schmalen Flur entlangging und dabei mit dem Schlüsselbund klimperte. „Manchmal den ein‘ oder andren Trunkenbold. Kommt über Nacht rein, nüchtert aus und geht wieder.“ – Matthew hustete in seine Hand.
“Darauf wette ich, in diesem Loch leben ja nicht mal Ratten.“, dachte er beklommen und sah auf den Rücken ihres dicklichen Anführers. „Die Mitchell Schwestern war’n immer unauffällig.“, erzählte der redselige Mann weiter, dann stoppte er plötzlich und drehte sich zu ihnen um. „Aber unter uns gesagt, mir kam‘ die immer schon verdächtig vor. Sin‘ beide nich‘ ganz richtig im Kopp. Ihr Vater is’n feiner Kerl, aber seine Mädchen…“, er hob die Schultern und musterte Matthew.
Clarence hatte ihm vor drei Tagen die Haare geschnitten, wodurch er weniger wie ein Seefahrer als wieder wie ein verzogener reicher Schnösel aussah nachdem die Leute sich umdrehten.
Die Narbe die er der Mudandensbinne zu verdanken hatte, änderte daran erstaunlicherweise gar nichts und die Narbe von Sally Mitchell stach durch das langsam nachwachsende Haar an der rasierten Partie, immer weniger hervor.
Die Schwellungen und Hämatome hatten deutlich an Auffälligkeit verloren, waren aber noch immer sichtbar.
„Als se dich erwischt hat, stand ich am Obststand. Gleich nebm‘ euch. Hätt‘ nich‘ gedacht das du das überlebst. Aber hier stehste, aufrecht und fast wie neu. Die Götter schein‘ dich zu lieben.“, er grinste, boxte Matthew kurz auf den Oberarm und ging dann weiter. „Kommt, sin‘ gleich da.“
Ein paar Schritte und eine Türe später zeigte sich, dass der Mann recht gehabt hatte. Bisher waren die wenigen Zellen auf ihrem Weg leer gewesen, doch in der Hintersten lag – zusammengekauert auf der hölzernen Pritsche – Sally Mitchell.
Ihr Haar war zu dicken Strähnen verklebt, ihre Haut war blass. Matthew fiel auf, dass sie Ihre Fingernägel bis auf die Haut heruntergebissen hatte, an einigen klebte geronnenes Blut.
Der Anblick der jungen Frau löste in Matthew keinerlei Erinnerung aus. Er wusste von Clarence‘ Erzählungen das sie mit dieser Frau gesprochen hatten, dass sie dem Blonden Avancen gemacht und auf Matthews Kosten Witze gemacht hatte. Aber Matt erinnerte sich nicht, ihr schmutziges Gesicht kam ihm so wenig bekannt vor wie ihre Stimme.
„Bist du das, Feivi?“, fragte sie misstrauisch und setzte sich hin. Sie trug ein schmutziges, einfaches Kleid welches an mehreren Stellen schon verschlissen war. So wie sie da saß, empfand Cassiel Unbehagen und Mitleid, erstaunlicherweise aber keine Wut.
Das Aufeinandertreffen hatte dem Dunkelhaarigen ziemliche Sorgen gemacht. Er hatte aus unerfindlichen Gründen ziemliche Angst gehabt die Frau zu sehen, doch nun da er vor ihrer Zelle stand wurde ihm klar, dass es keinen Anlass dazu gab. Ihr argwöhnischer Blick wanderte von Matthew zu Clarence und sie schürzte die rissigen Lippen. „Hast dich nich‘ von ihm getrennt, wie ich seh’n tu‘.“ – ihre Stimme klang beleidigt und Matthew fragte sich unweigerlich ob diese Person überhaupt wusste warum sie hier war. Ob sie verstand wie ernst die Sache war.
„Er wird sich nicht von mir trennen, Sally.“, sagte Matthew und sofort betrachtete ihn die Frau wieder. „Wir sind verheiratet. Niemand kann uns scheiden, außer Gott persönlich.“ – nicht das er in diesem Loch spontan seinen Glauben gefunden hatte, aber auf Sally Mitchell zeigte die Erwähnung des Allmächtigen Wirkung.
Sie legte den Kopf schief, hob ihre nackten Füße auf die Bank und umschlang ihre Knie. Sie schien abzuwägen was sie darauf antworten sollte und Matthew fühlte sich an eines der Kinder von früher erinnert. Ein boshafter Junge mit beschränktem Horizont aber einem Faible für Grausamkeiten. Dumm war er gewesen – und in seiner Dummheit gefährlich.
„Der junge Herr wollte dich sehen, Sal‘. Entgegen dem Rat deines Pa’s. Weißt du warum er hier sein könnte?“ – fragte der Rundliche sie. Sally antwortete mit einem heftigem Kopfschütteln. „Hab dir ‘n fetten Stein an den Kopf gehaun‘. Bin gut im Zielen.“, sie bleckte die gelblichen Zähne zu einem Lächeln. „Hab’s für dich gemacht Quenty…“
Wusste sie worum es ging? Wusste sie, dass das ganze Dorf sie geächtet hatte? Matthew war sich nicht sicher, ob die Frau auf der Pritsche verstand was man ihr vorwarf oder ob ihr Geist dazu nicht in der Lage war.

Sally Mitchell

„Molly hat gesagt, Sal‘: wenn du den Quenty habm willst, musst du’n dir nehm‘.“ – „Und wenn man Molly fragt, dann sagt sie es war deine Idee.“, warf der Mann mit dem Schlüsselring ein, woraufhin Sally versuchte ihn mit ihren Blicken zu erdolchen. Ebenso böse und finster starrte sie wenig später zu Matthew, dann erhob sie sich von ihrem Platz und kam auf die drei Männer vor ihrer Zelle zu. „Willst du, dass ich mich entschuldigen tu‘? Willst du die arme Sally sag’n hör’n es tut ihr leid?“ – „Tut es ihr denn leid?“, fragte Matthew zurück, äußerlich unberührt und kalt wie Hundeschnauze.
Die Nähe zu Clarence beruhigte ihn mehr als die Gitterstäbe es taten, denn der Hüne hatte nicht mit seiner Meinung über Sally Mitchell, alias das verrückte Miststück hinterm Berg gehalten. Sollte die junge Frau auch nur versuchen ihm zu nahe zu kommen, würde es sie sein die sich freute das sie weggesperrt war, weil Clarence sonst kurzen Prozess mit ihr machen würde. Die Frage danach ob es ihr den leid tat, schien sie zu verwirren und zugleich zu amüsieren.
„Siehst mitgenomm‘ aus, Feivel.“ – „Mein Name ist Matthew.“ – „Ich weiß.“ – „Wenn du es weißt, warum nennst du mich dann Feivel?“ – „Weil er gesagt hat, ‘s is‘ egal wie man dich nennt. Du heißt überall anders und Namen sin‘…“, sie pustete über ihre Handfläche und zuckte die dürren Schultern. „…Schall und Rauch.“ – vollendete sie ihren Satz und blieb etwa einen Schritt vor den Gitterstäben stehen.
Aus dieser Nähe konnte man sie nicht nur besser sehen – was kein Segen war – sondern auch riechen – was noch viel weniger einen Segen darstellte. Ihr Schweiß roch sauer und beißend, außerdem umwehte sie der unverkennbare Gestank von getrocknetem Urin. „Was redest du da für wirres Zeug, Sal‘? Biste vollkommen übergeschnappt? Denkste nicht an deinen Pa‘ und das du ihm Schande machst?!“, warf der untersetzte Kerl ihr vor, aber wieder zuckte Sally mit den Schultern. „Is‘ nicht mehr wichtig. Die alte Sally weiß, dass ihr alle schlecht von ihr denkt.“
Ratlos betrachtete Matthew die junge Frau. Er hatte gehofft, wenn er sie sehen würde, würde sie es ihm leichter machen zu entscheiden was mit ihr passieren sollte. Entweder in dem sie auf ihn losging, oder in dem sie ihn um Entschuldigung bat – aber weder das Eine noch das Andere passierte und Matt wurde aus ihr nicht schlau. „Du hast vorhin gesagt, nur Gott kann euch trennen.“, ihre Stimme klang nachdenklich, so als fiele es ihr schwer sich zu entsinnen was sie sagen wollte.
„Aber du glaubst nich‘ an Gott. Quenty is‘ der, der an Gott glauben tut. Den der Christen, den Gott der Alten. Aber der is‘ tot. Verstehst du, Quentin? Er is‘ tot, dein Gott. Es gibt nur den Einen und er hat dein‘ ausgelöscht.“
Das zunehmend irre anmutende Gefasel der Gefangenen gefiel Matthew immer weniger und er suchte zum ersten Mal seit Ankunft in diesem Haus den direkten Blickkontakt zu Clarence.
„Ich denke… ich habe genug gehört. Wie steht es bei dir?“, unbehaglich trat er von einem Bein auf das Andere. Gerade so konnte Cassiel dem Drang widerstehen nach Clarence‘ Hand zu greifen und auffordernd daran zu ziehen. Aber was er mit den Fingern nicht tat, dass konnte er hoffentlich mit seinem Blick ebenso gut.
Wie man es auch drehte und wendete: es war Zeit zu gehen, wenn man Matthew fragte.


Clarence B. Sky

Clarence war weder damals noch heute begeistert gewesen von dem Plan seines Mannes. Er hielt mit seiner Meinung nicht hinterm Berg – und trotzdem standen sie nun hier, in diesem modrigen Loch von Kerker, von dessen Decke schmutziges Wasser tropfte und an dessen Wänden die kargen Schritte der drei Männer widerhallten.

Was vor ihnen lag und sie bereits hinter sich gelassen hatten, war nicht neu für den Jäger. Unzählige Zellen hatte er schon gesehen und im Schnitt glichen sie dabei einander wie ein Ei dem anderen. Manche der schmierigen, dreckigen Gitterstäbe hatte er schon von der anderen Seite betrachten dürfen. Einen geringen Teil selbstverschuldet, ein Großteil im Rahmen von unangenehmen Aufträgen. Nichtsdestotrotz hatte jeder Ausflug in die Parterre eines gemeinsam: Es war beklemmend und je schneller man wieder hier raus kam, umso besser.

Was die Löcher, die sich Gefängnis schimpften, mit den Insassen anstellten, wurde offensichtlich kaum dass die kleine Gruppe letztlich stehen blieb und der Hall ihrer Schritte verhallt war. Hinten im Dreck, zwischen Stroh, einem Brettverschlag der eine Pritsche darstellen sollte und Exkrementen, war sie. Sally Mitchell, das verrückte Miststück, welches beinahe ein Menschenleben auf dem Gewissen trug alleine aus gekränktem Stolz und falschem Selbstbild heraus.

Was veranlasste eine junge Frau dazu, derart rigoros die eigenen Vorstellungen von Glück und Unglück auf die Probe zu stellen obwohl dabei offensichtlich war, dass das ganze Spektakel nicht gut für sie enden würde?

Nun, einige würden sagen sie war geistig zurückgeblieben und verstand das Ausmaß ihrer Taten sowieso nicht. Andere würden sagen sie war verrückt und lebte in ihrer eigenen Welt. Vielleicht war sie ein beispielhafter Soziopath und sah
sich selbst als das Höchstmaß aller Dinge, aber vielleicht steckten auch völlig andere Gedankengänge hinter dem, was Sally vor einer überschaubaren Anzahl von Tagen angerichtet hatte.

Die Leute hier waren einfache Menschen, das wurde einem schon kurz nach Ankunft bewusst. Man duzte sich sofort, die Sprache war simpel und die Ausdrucksweise unverblümt. Wenngleich der Lebensstandart nicht unter dem anderer Dörfer und kleinen Gemeinden lag, herrschte durch den Hafen ein größerer Durchlauf von Fremden und vermutlich war eben jene Tatsache der Aspekt, der die hiesigen Bürger weniger distanziert gemacht hatte und sie schneller auf andere zulaufen ließ. Trotzdem war man sich schon vom ersten Tag an in einem einig gewesen: „Die Mitchell-Schwestern waren immer unauffällig gewesen.

Sally selbst war es, die das ungeplante Aufeinandertreffen durch ihre Worte eröffnete und während sein Göttergatte – noch immer im Glauben, der heutige Besuch würde in irgendeiner Form Früchte tragen – unumwunden das Gespräch mit seiner Peinigerin suchte, schwieg Clarence. Wie so oft.

Die Hände anlässlich der hiesigen Kälte in seinen Manteltaschen gebettet, musterte der Jäger die Gefangene und gewisse Veränderungen seit dem letzten Zusammentreffen waren recht offensichtlich, während andere Dinge gleich geblieben waren. Trotz Kälte, Dreck und deutlich wahrnehmbarem Schimmel in der Luft, hatte das verrückte Miststück nicht das Geringste von ihrer übergroßen Klappe eingebüßt. Ganz so als würde es sie nicht tangieren – und damit war nicht das Geschehene gemeint, sondern ihre neue Umgebung. Äußerst ungewöhnlich, nicht nur für eine Frau, sondern für jeden der hier unten festsaß. Die eisige Kälte hätte sie weich klopfen müssen, der Gestank und die Furcht vor schweren Erkrankungen schier wahnsinnig, noch mehr als sowieso schon. Doch Sally Mitchell, ihres Zeichens Geächtete der kleinen Hafenstadt, stand über den Dingen und ihrem neugewonnenen Ruf.

Ihre Nägel schienen beinahe inexistent, herunter gebissen bis aufs pure Fleisch, die Finger blutig vom Malträtieren und trotzdem fanden sich in der Nähe des viel zu schmalen Fensterchens keine blutigen Spuren, wie man sie vielleicht hätte erwarten können. Sie stank weit übermäßiger nach altem Urin und ihren Exkrementen, als es für einen vormals in die Gemeinschaft integrierten jungen Menschen zu erwarten und ertragen wäre und doch, sie kämpfte weiterhin mehr für ihre eigene Sache, als die weit höher positionierte Freiheit an sich.

Claire legte auf eigenartige Weise den Kopf ein wenig schief und musterte ihr Gegenüber vom Scheitel bis zu den nackten Sohlen und wieder zurück. Das Gespräch zwischen Matthew und ihr klang noch weit wirrer als es sich bei ihrem ersten Aufeinandertreffen angehört hatte und wo die Äußerungen der Mitchell-Tochter damals noch Hand und Fuß besessen haben mochten, klangen ihre Antworten heute wirr und verrückt. Man konnte das Gespräch mit ihr aufrecht erhalten wenn man es schaffte ihr zu folgen und gemäß des Falles man hörte ihr und ihrer Wortwahl dabei aufmerksam zu, konnte man noch ganz andere Dinge daraus herauslesen.

Es verwunderte den blonden Jäger nicht mal im Ansatz, mit welchem Unverständnis der beleibte Wächter seine Gefangene bedachte und dass auch Matthew nicht den allerhöchsten Genuss darin erfuhr, der Verursacherin seiner Verletzung gegenüber zu stehen. Während der Gestank von schwarzem Schimmel, Urin und Kot einem ausreichend den Magen im Bauch verdrehte, halfen die wenig sortierten Äußerungen der Frau nicht gerade dabei sich in ihrer Gegenwart häuslich zu fühlen und dennoch ignorierte Clarence den Ausdruck im Blick seines Partners der ihm eigentlich sagen sollte, es war an der Zeit dieses Gebäude zu verlassen. Matthew hatte dieses Weib unbedingt treffen wollen, nicht er selbst; entweder er hatte seinem Bären von Mann nicht geglaubt als es um den geistigen Zustand dieser Frau ging und hatte die Worte mit eigenen Augen und Ohren kontrollieren wollen, oder aber er sah sich von der Therapieresistenz der Gefangenen genauso überrumpelt wie deren Wärter.

Lautlos neigte Claire den Kopf zur anderen Seite, musterte Sally abermals und ließ sich die Äußerungen der jungen Frau nochmals durch den Kopf gehen. Ein Teil in ihm, nämlich der verheiratete Mann, hätte am liebsten durch die rostigen Stäbe nach dem Weib gelangt um ihr einen klaren Menschenverstand zurück in ihr Spatzenhirn zu prügeln; wenigstens der Jäger in ihm wusste noch immer genau welch dämliche Idee das war, denn wenn man solchen Leuten gegenüber stand, tat man alles – nur nicht zu einem aufgedrehten Affen in den Käfig springen.

„Sag mir,…“, erhob Clarence schließlich ruhig seine Stimme, ungeachtet dessen welch Zorn sie zu schüren versuchte. Sein Unterton verriet keinerlei Aggression noch Wut auf die junge Frau oder gar Belustigung über ihren Zustand geistiger Umnachtung, sondern wahrhaftes Interesse an dem, was sie zu erwidern hatte. „Zu wem hat der eine zuerst gesprochen? Zur alten Sally – oder zu der neuen?“

Es war bemerkenswert wie konträr sie manche Formulierungen benutzte im Gegensatz zu vorher und wenig verwunderlich, dass es Cassie nicht auffiel. Der arme Feivi hatte keine Erinnerung mehr an den Tag ihrer Ankunft, bis heute nicht, und so auch nicht an die junge Frau vor ihnen. Doch Erinnerung hin oder her, niemals hatte der Jäger davon gesprochen, Feivel würde überall einen anderen Namen tragen, noch wer von ihnen welcher Religion angehörte – oder eben nicht.

All das hatte ihr einzig und alleine der eine verraten und genauso gut wie diese Treffer der reine Zufall einer Geisteskranken sein konnte, schienen andere Aspekte ihres heutigen Aufeinandertreffens ganz und gar dagegen zu sprechen.

Nur wenig mit Berührungsängsten versehen, trat Clarence einen Schritt näher an die Gitter welche sie voneinander trennten heran, gerade so weit um mit Sally näher in Kontakt zu treten als nötig gewesen wäre.

"Ich frage mich das nur, weil die alte Sally so langwellig wirkte im Gegensatz zur neuen. So wenig… ansprechend - wenn du verstehst, was ich meine.“


Sally Mitchell

Je länger sie hier unten waren, desto weniger wohl fühlte sich der Dunkelhaarige in seiner Haut. Dabei war es nicht so, dass Matt noch nie in einem Gefängnis gewesen war. Bestimmt nicht so oft wie Clarence und bestimmt weitaus weniger häufig hinter den Gitterstäben, als vor ihnen, jedoch zu häufig um sich von ein bisschen Zwielicht und klammen Wänden irritieren zu lassen. Aber dieser Ort hier, mit dieser Insassin, hatte etwas zutiefst beklemmendes an sich und Matthew wollte wieder nach draußen. Clarence ignorierte den betretenen Blick seines Mannes jedoch, aber nicht etwa weil dieser ihm entgangen war, sondern weil irgendetwas an der wirren Frau plötzlich das Interesse des bis dahin sehr reservierten Hünen geweckt hatte. Matthew, der lange genug mit Clarence durch die Lande zog, erkannte sofort was mit dem Älteren los war, denn sowohl seine Art die Eingesperrte zu mustern, als auch seine vollkommene Ruhe waren beide Indikatoren dafür das Clarence seiner Profession nachging. Dennoch war es irritierend zu sehen wie sich der Blonde den Gitterstäben annäherte und versuchte die ungepflegte junge Frau in ein Gespräch zu verwickeln. Es war zwar nicht das erste Mal das Matt den Älteren bei der Arbeit sah, aber das erste Mal seit sie beide ein Paar waren... Und irgendwie veränderte das die Sache doch wieder ein bisschen. Verwirrt war auch der Wärter, der es sich nicht nehmen ließ auffällig zwischen Clarence und Sally hin und her zu sehen. Letztere hatte den Blick ihrer misstrauischen Augen nun direkt auf den Größeren geheftet. Sie schien aufmerksam aber nach wie vor vorsichtig und das obgleich Clarence doch eindeutig derjenige war, den sie für sich beanspruchen wollte. Aus unerfindlichen Gründen war sie vollkommen in ihn vernarrt, obgleich Cassiel sich nicht vorstellen konnte das Clarence ihr gegenüber bei ihrem Aufeinandertreffen besonderen Charme an den Tag gelegt hatte. Zumindest nichts, dass erklärte warum sie derart fixiert auf den Blonden war.  „Was fragst du Sally da für Sachn?“, wollte sie schließlich mit Argwohn in der krächzenden Stimme wissen und wischte sich mit dem Handrücken einmal unter der Nase entlang, wodurch sie Rotz auf ihrer Hand verteilte und breit schmierte. „Willste wissn ob ich sie nich‘ mehr alle haben tu?“, so abweisend wie sich die junge Frau auch gab, so ganz konnte sie sich nicht von Clarence lossagen. Sie blickte zweifelnd zwischen ihm und Matthew hin und her, so als wolle sie sicher gehen, dass beide sich nicht heimlich verständigten und gegen sie verschworen. „Sally is‘ Sally, war noch nie jemand‘ anders.“, diese Worte richtete sie wieder einzig und allein an den Größeren, wobei sie ihn weiterhin skeptisch beäugte, bis sie aus unerklärlichen Gründen zu beschließen schien, dass Clarence‘ Interesse ehrlich war und er sich nicht über sie lustig machte. Trotz des erbarmungswürdigen Zustands in dem sie sich befand und trotz der offensichtlichen Wirrungen ihres Geistes, war es ihr ausgesprochen wichtig in den Augen des Blonden keine Witzfigur zu sein. Absolut skurril, wenn man ihren Aufzug betrachtete. „Machst dich nich‘ über mich lustig, oder?“ - die Antwort kannte sogar Matthew und sie lautete nein. Nichts an ihrem Aufeinandertreffen war amüsant und Clarence nahm Sally Mitchell wahrscheinlich so ernst wie schon lange niemand anderes mehr. Genau das schien sie auch zu merken, denn obgleich die Skepsis nicht zur Gänze aus ihrer Mimik und Körperhaltung wich, so tat auch die verwahrloste Frau nun einen kleinen Schritt nach vorn. Ihre schmutzigen Finger umschlossen die Gitterstäbe und sie schaute ehrfürchtig zu dem Hünen empor.„Er hat zu mir gesprochen, zur alten und zur neuen. Verstehst du? Er ist der Eine. Man darf seinen Namen nicht nennen...“, langsam schüttelte sie ihren Kopf, dann richtete sich ihr Blick unvermittelt wieder auf Matthew. „Du bist der Ungläubige. Vor dir hat er mich gewarnt. Wo immer du bist, bringst du den Tod. Verlorener.“

Matthew C. Sky

Matthew zog missbilligend und unwirsch die Augenbrauen zusammen, allmählich würde er doch wütend und das hörte man ihm schließlich auch an, als er sagte:„Du hast sie doch nicht mehr alle! Wir haben uns noch nie vorher gesehen, du hast keine Ahnung wer ich bin, was ich mache, woran ich glaube und du hast sicher nicht mal eine Idee warum du mir den Stein an den Schädel geworfen hast!“ - Zu Matthews Erstaunen brachte sein Vorwurf die junge Frau dazu, gewinnend zu lächeln. Sie folgte keiner Logik und alles was er sagte schien sie zu bestätigen. „Siehst‘ Quenty? Er is’ ein böser Mann.“ - „Du kennst mich überhaupt nicht!“ - „Aber Er tut es. Der Einzige, der Erste. Ich hab dich im Traum gesehen, Feivi. Dich und Quenty.“, ihr Blick, eben noch hart und feindselig auf Matthew gerichtet, wurde weich und warm als sie Clarence bei dem für sie geläufigen Namen nannte und ihn auch wieder betrachtete. Sie löste die Finger von den Gitterstäben, streckte ihre Arme hindurch in Richtung des Hünen und berührte ihn hauchzart, beinah ehrfürchtig an seinem Händen. „Er hat mir dich versprochen, Quenty. Wenn Sal‘ ihre Sache gut machen tut, dann bekommt sie dich.“ Ihr breites Lächeln entblößte gelbe Zähne, derer sie sich aber nicht zu schämen schien. Das Verhalten der Frau war insgesamt so wechselhaft und ambivalent, dass es unmöglich war einzuordnen ob sie schauspielerte, verrückt war, oder einfach nur dumm. Ihr Gerede ergab keinen Sinn und war dennoch strukturiert. Sprach das nun für Besessenheit? Dafür das mit ihr etwas nicht stimmte und ein Jäger ihr helfen konnte? Vielleicht.  „Clarence....“, versuchte Matthew es dieses Mal mit einer direkten Ansprache des Hünen. Er hatte genug gehört und gesehen und selbst wenn Sally Mitchell eine Besessene war, so musste der Blondschopf ihr nicht jetzt den Teufel austreiben. Das Bild das beide zusammen abgaben war in jeder erdenklichen Weise falsch. Sally himmelte seinen Mann an und Clarence unterband das nicht. Im Gegenteil. Er war es gewesen der einen Schritt auf sie zugemacht hatte und jetzt standen sie beide da wie...ein verschrobenes Paar. Der Schöne und das Biest.Und auch wenn es lächerlich war, auch wenn Matthew wusste, dass Sally Mitchell gerade zu nichts anderem als Clarence‘ Job geworden war - so gefiel ihm der Anblick überhaupt nicht. Herzukommen war eine blöde Idee gewesen, genau wie der Wildling es von Anfang an gesagt hatte. Matthew hatte sich erhofft die junge Frau wäre klaren Verstandes, hätte begriffen was sie getan hatte und würde sich entschuldigen. So banal das auch anmuten mochte angesichts der Tragweite ihres Handelns, Cassiel hätte das vermutlich schon gereicht. Er war kein grausamer Mensch, kein böser Mann, auch wenn die Frau ihn dafür hielt. Die Methode Auge um Auge, Zahn um Zahn, war nicht sein Metier - sondern eher das des Schamanen den sie so anhimmelte. „Im Traum hab ich uns gesehen. Wir war‘n zusamm‘ und hatten Kinder. Ein Mädchen und ein‘ Jung’. Der da kann dir keine Kinder schenken Quenty, er kann kein Leben bring’, er bringt nur den Tod.“, redete die das blasse Frauenzimmer weiter auf den Hünen ein. „Deine erste Frau hat dir auch Kinder geschenkt.“, sie legte den Kopf zur Seite, musterte ihren Auserwählten und fing an mit ihren verschmutzten und blutigkrustigen Fingerspitzen über die Finger von Clarence zu reiben. Eine viel zu zärtliche Geste für Matthews Geschmack.„Ich weiß das du gern wieder Kinder hättest. Und du könntest sie haben. Sally würde sie dir schenken tun....“


Clarence B. Sky

Die Befürchtungen Sallys waren alles andere als weit hergeholt, wenn man die wenige Gesellschaft betrachtete, in derer sie sich befand. Ihr Wärter brachte nichts anderes für sie auf als absolutes Unverständnis ihrer Haltung gegenüber und ihr Vater – wenn er sie denn besucht hatte – war sicher ähnlich eingestellt gewesen angesichts dessen, dass sie und ihre Schwester bislang ein unauffälliges Leben geführt hatten. Oder zumindest so unauffällig, wie zwei zurückgebliebene Frauen es eben führen konnten.
Clarence allerdings, der von allen Besuchern den wohl triftigsten Grund besaß um die Inhaftierte zu verabscheuen wie die Pest, schien der Einzige zu sein, der das Weib zum ersten Mal seit langem beim Wort nahm.
Ihre Blicke gierten regelrecht danach endlich erhört anstatt für verrückt abgestempelt zu werden, ihre gebleckten gelben Zahnreihen sehnten sich nach Aufmerksamkeit und einem gleichgesinnten Geist, mit dem sie sich auf einer Ebene austauschen konnte. Wahnsinn war etwas für Anfänger, das wusste Sally vermutlich genauso gut wie der blonde Jäger ihr gegenüber und nichts von dem was sie von sich gab, wies auch nur mit einem einzigen Atemzug darauf hin.
Unmerklich zog Claire seine Brauen zusammen und legte erneut den Kopf sanft schief, Sallys Züge studierend während sie erzählte. Sie war sie selbst, nie jemand anderes gewesen und verweigerte den Namen ihres Meisters zu benennen, welcher zu ihr sprach. Obwohl sie sich derart hatte gehen lassen, bis aufs Blut sich selbst verletzend, schien sie nicht im Innersten zerrissen zu sein; nicht durch den Irrsinn, aber auch nicht in ihrer Seele und bei Gott, Clarence kannte Leute, deren Seele bis zur Unkenntlichkeit zersplittert war.
Hinter ihm zögerte Matthew keine Sekunde seine Meinung zu den Äußerungen des Weibes kundzutun und bewies damit einmal mehr seine Inkompetenz, Emotionen im Zaum zu halten. Es war noch gar nicht lange her, da hatte der Dunkelhaarige darum gebeten eines Tages von Clarence zum Jäger gemacht zu werden aber so wie sich Cassie heute gab, würde er vermutlich schon in seinem Einstiegsjahr drauf gehen. Er schien nicht zu verstehen wann es sinnig war den eigenen Zorn einzusperren in einer kleinen dunklen Kiste im hintersten Eck seines Herzens, verstand es nicht sich zu verschließen vor dem Unbekannten, das einen um Kopf und Kragen bringen konnte – und letzten Endes war es rückblickend gesehen gut so, dass der Jüngere rituelle Exorzismen schon kurz nach Beginn wieder verlassen hatte. Denn Dämonen kannten keine Grenzen.
Sie blickten in dich hinein, die sahen deine Unzulänglichkeiten, deine Fehler, deine Sünden und deine Schuld… vor allem Letzteres. Oh wie einfach war es geschehen, dass man als Jäger weit geschädigter aus einem Auftrag heraus ging als der Besessene selbst. Diese Biester sahen das dunkelste Schwarz deiner Seele und verdrehten es bis zur Unkenntlichkeit, machten dich durch ihre Worte glauben, du selbst seist der schlechteste Mensch auf Erden und verdientest den Tod weit mehr als sie es taten.
Doch Sally…? Was tat sie?
Sie griff weder den ihr gegenüberstehenden Jäger an, noch den Wärter – sondern ganz alleine Matthew, obwohl der Blonde nicht weniger Dreck am Stecken hatte als sein Partner.
Hauchzart spürte er die verkrusteten Finger der jungen Frau über seinen Handrücken streichen und ein blasses Lächeln wehte dabei über seine Lippen, während er sich dazu einladen ließ nun seinerseits die Hand um eine der schmierigen Gitterstäbe zu legen, ähnlich wie Sally es zuvor getan hatte. Wenn sie weder wahnsinnig noch wahrhaftig besessen war, was war sie dann?
Nur kurz neigte sich das blonde Haupt im Ansatz nach hinten als er seinen Namen vernahm, doch wo ihm Berge und wüste Meeresgischt fehlten die er derzeit bezwingen konnte, erschien ihm Sally Mitchell wie der schmale Lichtstreif am Horizont. Matthew schien mehr als zu ahnen was seinem Ehemann durch den Kopf ging, anders ließ sich dieser vielsagende Unterton in dessen Stimme nicht erklären und doch, so wirkten die Worte der Mitchell-Schwester im Moment weit mehr auf den Jäger ein als alles andere in diesem dunklen, tropfenden Gang.
Im Traum hab ich uns gesehen. Wir war‘n zusamm‘ und hatten Kinder. Ein Mädchen und ein‘ Jung’. Der da kann dir keine Kinder schenken Quenty, er kann kein Leben bring’, er bringt nur den Tod. Deine erste Frau hat dir auch Kinder geschenkt. Ich weiß das du gern wieder Kinder hättest. Und du könntest sie haben. Sally würde sie dir schenken tun...
Die blaugrauen Augen des Schamanen klebten regelrecht an den zerfetzten Lippen der Jüngeren, welche sich nur träge und in Silben vor ihm zu bewegen schienen. Wenn sie Dinge wusste die hier sonst niemand wissen konnte, wenn kein Wind und keine Vöglein die Informationen an ihre Ohren heran wehten, woher kamen sie dann? Was ließ sie diese Dinge wissen und für Taten Geschehnisse versprechen, welche im Gegenzug alles andere als wahr werden konnten?
Hinter den blassen Lippen Sallys sah Clarence die roten Locken hinter der feinen Haube hervor wehen, in deren Strähnen sich das Sonnenlicht wie lebendiges Feuer brach. Er sah die Hände, die ihn über Jahre ernährt hatten wie sie den Teig für ihr täglich Brot kneteten und kleine Finger, die durch Flos dichtes Fell kraulten. Er versuchte das pausige Knautschgesicht zu erkennen, welches sich verliebt in die wollenen Haare einer Puppe drückte, ohne Erfolg – und verfluchte zeitgleich im tiefsten Innersten Sally Mitchell dafür, dass sie sich als Fremde das Recht heraus nahm, über vergangene und beinahe weggeschlossene Tage zu sprechen.
Clarence erinnerte sich gut an den Tag in der Kirche, als das Licht mal wieder besonders fahl durch die dreckigen Fenster gefallen war und die alten Dielen ganz besonders mit jedem Schnitt geknarzt hatten. Der Vortrag des Pfaffen war den Verheirateten vorbehalten gewesen und so unverständlich wie oftmals seine Reden, in denen man die Moral der Geschichte mit nach Hause nehmen sollte, ohne sie jemals begriffen zu haben. Das erste Buch Mose, Kapitel Dreißig. Dort hieß es: Als Rahel erblickte, dass sie Jakob keine Kinder gebar, wurde sie eifersüchtig auf ihre Schwester. Sie sprach zu Jakob: Verschaff mir Söhne! Wenn nicht, so sterbe ich. Da wurde Jakob zornig auf Rahel und sagte: Nehme ich etwa die Stelle Gottes ein, der dir die Leibesfrucht versagt? Sie antwortete: Da ist meine Magd, geh zu ihr! Sie soll auf meinen Knien gebären, dann komme auch ich durch sie zu Kindern. Sie gab ihm also ihre Magd Bilha zur Frau und Jakob ging zu ihr. Bilha wurde schwanger und gebar Jakob einen Sohn.
Wenn man in die umherigen Gesichter geblickt hatte, so war einem schnell klar geworden, dass niemandem die Pointe so recht offensichtlich geworden war. Lediglich Ruby neben ihm hatte seine Hand ergriffen, die andere auf ihrem Leib, und gelächelt. Schon zum zweiten Mal hatte sie zu jener Zeit seine Frucht unter ihrem Herzen getragen und erst Jahre später hatte Clarence verstehen sollen, was der Pfaffe an jenem unheilvollen Tag zu erklären versucht hatte – denn Söhne mochte sie ihm geschenkt haben, doch er war mit ihnen allen tausend Tode gestorben. Genauso wie später mit seinen beiden Mädchen, die dieses Kapitel für immer geschlossen hatten.
Schweigend ließ er das Streichen der fremden Fingerreste über sich ergehen, uneins mit sich selbst, welche Schlüsse er aus den Worten der anderen ziehen sollte. Sein nicht zu deutender Blick hatte wieder damit begonnen das Frauenzimmer ihm gegenüber zu mustern, welche Worte und Gedanken benutzte, ohne sie in bösartiger Absicht gegen ihn zu verwenden. Irgendetwas stimmte mit Sally nicht, so ganz und gar nicht – nur war sich der Jäger noch nicht gewiss darüber, was genau es war.
„Sally… hat ihre Sache aber nicht gut gemacht. Das war die Bedingung für ihre Belohnung“, entgegnete Clarence ihr schließlich leise, beinahe verständnisvoll, anstatt ihr konkrete Vorwürfe für ihr Handeln zu machen. „Sally hat ihre Aufgabe nicht vollendet und das wird Ihn nicht erfreuen. Dessen bist du dir bewusst, oder?“
Vorsichtig hob er einen seiner Finger vom kalten Gitter und streifte damit den Daumen der Jüngeren.
„Spricht Er noch mit dir seitdem er weiß, du hast seinen Willen nicht zu vollster Zufriedenheit erfüllt? Oder ist dein Kerker Seine Strafe für dein Verfehlen? Sag mir, Sally… was muss geschehen, damit du wieder in Seiner Gunst stehst…?“


Matthew C. Sky

Die Worte die Sally Mitchell in der klammen und finsteren Zelle sprach, trafen Matthew wie ein Messerstich. Das Thema Kinder war emotional beladen und auch wenn Clarence sich äußerlich nichts anmerken ließ, so war Cassiel klar das es ihm wehtat sich an jene Zeit zu erinnern. Der Tod seiner Mädchen und auch der Tod seiner Frau, würde ihn allzeit quälen. Er war kein Mann der sein Herz auf der Zunge trug, aber das musste der Wildling auch nicht sein. Matthew wusste auch so, dass diese Wunde immer schmerzen würde und er wollte Clarence das Gerede der Frau nicht länger zumuten. Bei all den wirren Dingen die Sally von sich gab, schien sie doch bestimmte Sachen genau zu wissen. Und sie scheute sich nicht sie zu äußern. Matthew suchte den Blick zu Clarence, aber jener hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf die junge Frau gerichtet. Am Liebsten hätte Matthew nun nach seiner Hand gelangt, hätte den Größeren von den Gittern weggezogen und mit ihm das Gefängnis verlassen, Sally hinter sich lassend und sie vergessend. Sollte sie hier unten doch verrotten und auch noch den letzten Funken Verstand verlieren. Es tat ihm weh Sally zuzuhören, aber nicht etwa um seinetwillen, sondern wegen Clarence. Der Verlust seiner Familie sollte keinen Raum finden an diesem dunklen Ort. Die Vergangenheit seines Mannes war nichts in dem Fremde herumzuwühlen hatten um Dinge ans Licht zu zerren die schmerzlich waren. Doch genau das tat Sally, ohne das Clarence sie unterbrach, ohne das er sich anmerken ließ das es ihn traf. Also schwieg auch Matthew betreten, nahm den Blick von seinem Mann und sah nach unten auf den Boden. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, fand er in einer davon eine Münze und fing an sie unruhig zwischen seinen Fingern umherwandern zu lassen. “Sally… hat ihre Sache aber nicht gut gemacht. Das war die Bedingung für ihre Belohnung.“, hörte er Clarence sagen, ohne wieder aufzusehen. Sally, deren Blick sehnsüchtig an Clarence hing, verzog das Gesicht schmerzlich. Ihr Lächeln verblasste zu Gänze und wandelte sich. Sie wusste, dass sie versagt hatte und das sie ihr Geschenk nicht bekommen würde. Ihre Belohnung, den schönen stattlichen Quentin, würde sie nicht bekommen. Er war nicht zufrieden mit ihr. Konnte es nicht sein, denn ihr Auftrag war gescheitert. Und obgleich sie das wusste, war der Hüne noch immer da. Er war nicht gewichen, hatte sich nicht abgewendet. Hoffnungsvoll betrachtete sie ihn, als sei Clarence ihr persönlicher Heiland. Matt, der im Kosmos beider offensichtlich keinerlei Rolle mehr spielte, nahm die Münze aus seiner Tasche und ließ sie über die Fingerknöchel seiner Hand tanzen. Das glänzende Stück Metall wanderte scheinbar wie von Zauberhand darüber, vollführte Weg um Weg, immer wieder von vorne. Sein kleiner Finger senkte sich und es sah aus, als würde die Münze nun fallen, doch das tat sie nie. Irgendwie tauchte sie immer wieder auf, wurde von seinem Daumen wieder empor getragen und tanzte erneut über die Knöchel seiner Finger. Ein betörender Reigen, der eine einschläfernde Wirkung besaß wenn man ihm folgte. Clarence derweil streifte mit seinen Fingern die der Eingesperrten und beschwor damit die bis eben noch besiegte Eifersucht neuerlich empor. Mochte ja sein, dass der Schamane wusste was er da tat, aber war es nötig mit der Frau auf Tuchfühlung zu gehen? Matthew glaubte nicht, und seinem Blick nach zu urteilen verdammte er Sally Mitchell gerade neuerlich. Sein Ehemann bekam davon aber nichts mit, er war damit beschäftigt beruhigend und zugewandt Sallys Vertrauen zu gewinnen. Die junge Frau wollte ihm glauben, wollte das Clarence sie wahrnahm. Von ihm beachtet zu werden, war offensichtlich wichtiger als sich weiterhin dem Argwohn hinzugeben. Die Berührung des Blonden ließ ihr Herz flattern und trieb ihr die Röte auf die bleichen Wangen. Gleichzeitig haderte sie aber auch mit sich. “…Sag mir, Sally… was muss geschehen, damit du wieder in Seiner Gunst stehst…?“, wollte Clarence von ihr wissen und Sally sah wieder zu Matt, der nach wie vor mit der Münze spielte.

Sally Mitchell

Ein angsterfüllter Schrei verließ daraufhin unvermittelt ihre Kehle und sie wich hektisch von den Gitterstäben zurück, streckte den Arm aus und deutete mit ihrer blutigen Fingerspitze auf ihn. „Er ist ein Dämon! Er ist der Verlorene!“, kreischte sie und die Panik in ihren Augen war regelrecht greifbar. Der Zellenwärter sprang auch gleich einen Schritt zurück und Matthew zuckte ebenso zusammen. Er fing die Münze auf mit der er eben noch gespielt hatte und registrierte dabei wie durch Zufall die Buchstaben auf seinen Fingerknöcheln. Lost Soul - und wie nannte Sally ihn? Verlorener. Aber konnte die junge Frau lesen? Der Dunkelhaarige hatte daran erhebliche Zweifel. “Er ist gekommen mich zu töten! Er hat es prophezeit! Er muss sterben, der Ungläubige, der Verlorene!“ - panisch sah sie zu Clarence. Stürzte nach vorne, langte nach seiner Hand und zog sie durch die Gitterstäbe hindurch. Sie riss regelrecht an Clarence’ Arm und fiel dann mit tränenüberströmten Wangen vor ihm auf die Knie. „Siehst du nicht? Bist du blind, mein Liebster? Er verlangt seinen Tod, damit du wieder Leben zeugen kannst, damit wir beide glücklich sein können! Töte ihn, töte ihn und zerteile ihn!“ - unterdessen war Matthew ganz blass geworden. Und über das hysterische Geschrei der jungen Frau hinweg versuchte er ihr nun ebenfalls eine Frage zu stellen. „Was, wenn du dich irrst? Was, wenn ich nicht der Verlorene aus deinen Träumen bin?“ - „Lügner! Du bist es! Ich habe die Bilder auf deiner Haut gesehen, ich habe das Feuer gesehen! Du hast das Inferno entfesselt, du bist der Ungläubige und Scharen von Dämonen folgen dir nach!“ Ihre Finger vergruben sich fester in Clarence’ Ärmel und sie zerrte vehement daran.„Rette dich und rette mich, töte ihn! Dann verzeiht Er mir und wir dürfen leben. Sein Tod für unser Leben und das der Familie die wir haben werden. Geliebter, mein, so tu es!“ , forderte sie neuerlich voller drängender Verzweiflung. Matthew hatte jedoch nun ein für allemal genug gesehen und gehört. Was immer in diese Frau gefahren war, er wollte damit nichts zutun haben. Clarence mochte ihr Geplapper ertragen, mochte versuchen sich einen Reim darauf zu machen, er mochte es spannend finden oder zumindest wert ihr lauschen - doch für den Jüngeren galt das nicht. Er ertrug weder den Gestank noch länger, noch ihre hysterisches Stimme. „Ja, Clarence, rette dich und sie...Und wenn du damit fertig bist, komm hier raus.“, die Verärgerung in Cassiels Stimme richtete sich sowohl gegen Sally, als auch gegen seinen Mann. Die Frau war offensichtlich gut über sie beide informiert, auch wenn nicht alles Sinn machte was sie von sich gab. Jemand oder etwas musste ihr bestimmte Dinge verraten haben, wenn nicht, dann hatte Sally Mitchell ein verdammt glückliches blutiges Händchen für’s erraten richtiger Details. „ Wo hast du deine Informationen her? Wer hat dir diesen Zeug gesagt?!“ Aber er bekam auf seine Frage keine Antwort, Sally sah ihn nicht einmal mehr an. „Clarence, lass uns jetzt hier verschwinden, verdammt nochmal!“, forderte der Dunkelhaarige energisch. Er hatte genug gehört und gesehen und Clarence brauchte sich nicht einbilden, dass er hier allein mit Sally bleiben konnte um noch ein bisschen in ihrem Wahnsinn herumzuwühlen. 


Clarence B. Sky

Er wich nicht, fuhr nicht zusammen, schuf keine Distanz – auch wenn Letzteres das Erste war, was man in der Ausbildung lernte. Nur jemand der den Tod suchte war so naiv seinem Zielobjekt zu dicht auf die Pelle zu rücken wenn es dabei war den Verstand zu verlieren, aber Sally war anders.
Sie mochte nicht so hübsch oder gar so gebildet sein wie seine damalige Ehefrau, aber wenigstens den Wahnsinn teilten sie miteinander. Egal ob von Ruby verzaubert oder nicht, so war doch sie es gewesen, die den wahrhaften Narren an ihm gefressen hatte. Kein Halm, kein Blatt hatte sich zwischen sie und ihre Vernarrtheit in den jungen Blonden stellen können und einzig nur der Tod war es gewesen, der diese imaginäre Bindung gelöst hatte.
Ruby war aufbrausend gewesen. Laut. Dann und wann körperlich übergriffig den Kindern gegenüber und bei Gott, sie hatte es nicht gescheut den Sohn des Nachbarbauern auf den Scheiterhaufen zu entsenden, einzig und alleine aus purer Eifersucht heraus. Wer ihre Eitelkeit hinterfragte, hatte für ewig ihren Zorn auf sich gezogen und doch, über alle Tollwut und Irrsinn hinaus, so hatte sie es nie gewagt Clarence auch nur ein Haar zu krümmen. Er war ihr Juwel gewesen, ihr Augenstern, das Einzige wofür es sich zu leben lohnte und genau aus diesem Grund – weil der Jäger den Ausdruck in Sallys Augen als den seines einstigen Eheweibes wiedererkannte – scheute er sich nicht, ohne den Hauch einer Furcht an der Seite der verwahrlosten Mitchell-Schwester zu verweilen.
Beinahe schon blasphemisch ihrem alleinig erhörten Meister gegenüber, war sie weinend vor dem Jäger auf die Knie gesunken und hielt sich an ihm fest wie an einem Rettungsring auf hoher See. Der Hüne zweifelte nicht daran, dass jene bis vor wenigen Minuten noch verhasste Frau an ihrem eigenen Wahn ertrinken würde, überließ man sie im Abbruch des unerwarteten Besuches zurück der Einsamkeit und des Zorns, welcher sie umgab. Was brachte eine junge Bürgerin, vielleicht etwas zurückgeblieben aber bislang dennoch unauffällig dazu, derart zu eskalieren?
Nun, die Antwort auf jene Frage erschien dem Christen mehr als offensichtlich.
Egal wie selbstsicher sie auftreten mochte, zugewandt und sich nicht zu fein unbekannten Fremden auf den Schlips zu treten obwohl diese sie in Sekundenschnelle in den Boden würden stampfen können, sicher war sie sich mit einem einstmals unbedeutend kleinem Teil ihrer Gedanken der unausweichlichen Zukunft bewusst. Sally Mitchell war keine schöne Frau. Sie strotzte nicht vor Charme oder Talent. Sie war nicht gebildet, wusste nicht zu umschmeicheln und noch weniger zu verführen, so ungeschickt sie selbst und so gelb und krumm ihr Lächeln war. Niemanden hatte das Weib, außer Vater und Schwester und niemand konnte sagen, wie lange ihr Familienoberhaupt noch lebte. Ob es von der nächsten Reise auf See zurück kehrte oder sie fortan alleine blieb. Und was dann?
Sie würden eingepfercht sein. Molly und Sally Mitchell, die alten Jungfern, der schlimmste Ruf den man als Frau in einem kleinen Ort nur haben konnte, wo jeder jeden kannte. Sie würden in ihrem leeren Elternhaus verkommen, gemeinsam alt werden ohne weitere Familie, niemanden an der Hand der ihnen später die Behausung pflegte oder sie selbst. Sie würde keinen Kindern das Leben schenken wenn niemand sie schwängerte, würde keinen Besuch empfangen wenn sie gemeinsam mit ihrer Schwester versackte und letzten Endes würde sie, als jüngere Schwester, vermutlich die letzten Jahre alleine und in dunkelster Einsamkeit auf menschenunwürdige Art und Weise ihr Leben aushauchen.
Es verwunderte Clarence nicht, dass sich so ein Mensch an Träumen festhielt und an der leisen Stimme im eigenen Kopf, die einem Größeres versprach wenn man nur dazu bereit war für dieses Glück zu kämpfen. Was machten schon ein paar Jährchen im Kerker der eigenen Stadt aus, wenn man im Anschluss zurück in die Arme desjenigen kehrte, der einem mit Haut und Haar versprochen worden war? Derjenige, der einem ganz alleine gehörte und niemandem sonst? Zum Wohle Cassies hätte sogar der Schamane eine derartige Strapaze auf sich genommen, ganz ohne Frage – nur mit dem bedeutenden Unterschied, dass er Matthew schon längst besaß und ihm diese Zukunft so sicher wäre wie das Amen in der Kirche.
Mit nun sichtlich zusammengezogenen Brauen blickte Clarence auf die Jüngere hinab, schweigend, so wie es für ihn üblich war wenn man sich gewiss sein konnte, dass der Jäger gerade seine Gedanken sortierte. Noch vor wenigen Jahren, frisch belegt durch den Fluch seiner Frau, wäre es für niemanden ein großes Hexenwerk gewesen, ihn zu manipulieren und für die eigenen Zwecke zu nutzen. Seine Gedanken waren ein wechselhaftes Ding gewesen; seine Handlungen nervös, unkontrolliert und impulsiv. Damals hätte er womöglich nicht gezögert zur Erfüllung des auf ihn gelegten Fluches sein eigenes Unheil zu schüren, hätte vernichtet was ihm auch nur den Hauch von Glück versprach – insbesondere das weibliche Geschlecht. Hätte er Sally nicht sofort gemeuchelt und ausgeweidet, er hätte sie seinen innerlichen Zorn und seine Zerrissenheit spüren machen spätestens dann wenn ein Leben in ihr heran wuchs, völlig ungeachtet ihrer äußeren Erscheinung. Der Fluch war grotesk, er folgte keinem Muster, folgte nur wenig der Logik und noch weniger seinen heimlichsten Wünschen und Emotionen – und ehe sich Sally versah, hätte sie nicht nur durch die Hand von Quentin das Leben von Feivel beendet, sondern auch ihr eigenes.
Doch was ebenso wankelmütig war wie einstige, längst abgelegte Impulse, war Sallys Art sich auszudrücken. Sein keifender Mann schien auf die feinen Details dieser mehr als skurrilen Unterhaltung keinen Wert zu legen, aber wenigstens einer in diesem Raum hier blieb dabei klaren Verstandes und erkannte darunter durchaus die neu errungene Art, sich und die eigenen Beweggründe in Worte zu kleiden. Wüsste Clarence es nicht besser und hätte er diese Idee nicht bereits als ungültig abgetan, es wäre weiterhin nicht weit hergeholt gewesen, die junge Frau wäre besessen. Aber vielleicht stimmte das und stimmte gleichfalls auch nicht; vielleicht war es kein Dämon, der sich ihre Hülle als Behausung ausgesucht hatte, sondern etwas ganz anderes, das von ihr Besitz nahm.
Weder damals, noch heute folgte der Blonde der Aufforderung jener in ihn vernarrten Frau das zu töten, was ihr nach dem Leben trachtete. Clarence wusste aus Erfahrung, welch enormer Fehler diese Entscheidung darstellen konnte und was einem der am Leben gelassene auf immer und ewig nehmen konnte; es schien Glück im Unglück zu sein, dass die Rollen von Partner in Peiniger zum heutigen Tage ganz und gar nicht alten Erfahrungen entsprach und eben jener am Leben Gelassene es war, mit dem der Jäger heute ganz bewusst wieder von dannen ziehen wollte.
Mit einem kräftigen Ruck entwendete er seinen Ärmel Sallys Griff – vermutlich nur deshalb überhaupt möglich, weil sie ihre Krallen bis aufs Fleisch herunter gekaut hatte – und trat behutsam einen Schritt zurück in sichere Gefilde, in welchen sein Gegenüber ihn durch die Stäbe nicht würde erreichen können. Schlagartig war dieses Biest nicht mehr sie selbst, selbst wenn sie für die Ohren der anderen noch so klingen mochte; doch Sally befand sich nicht mehr mit absoluter Sicherheit in einem Zustand in dem er sie noch erreichen konnte, sondern in einem anderen, der beim falschen Wort womöglich sogar ihren bis eben noch vergötterten Quentin treffen konnte.
Mit einem tonlosen Brummen legte der Jäger den Kopf schief und musterte die junge Frau aus sicherer Entfernung mit leicht verengten Augen, uneins mit sich selbst, was er von dem Spektakel hinter Gittern halten sollte. Es wäre wesentlich einfacher gewesen nicht mit Cassie hier zu sein, sondern mit Brüdern und Schwestern aus seinem Clan, mit anderen Köpfen durch die man einen regen Austausch ob dem Erfahrenen erfuhr; doch diese Zeiten waren vorbei, wenngleich wenigstens Matthew noch immer so verlässlich wie früher Reißaus suchte, wurde ein Auftrag unangenehm oder fragwürdig. Manche Dinge änderten sich eben nie.
„Ja… lass uns gehen“, stimmte Claire dem Jüngeren über die Schulter gewandt zu, bevor er leise anfügte: „Vorerst.
Träge musterte er Matthew, dem der zarte Hauch einer ernstzunehmenden Blässe um die Nase wehte, und der von Tag zu Tag mehr zum Sorgenkind wurde. Eine vermeintliche Schwester, eine fremde Mutter, der eigene Beinahe-Mörder zum Vater, eine missglückte Steinigung mit Koma und nun das hier – man konnte Clarence‘ Blick ansehen, dass er sich unwillkürlich fragte womit er sich das nur hatte antun müssen. Und trotzdem stand er noch hier in diesem Kerker, denn vor Matthew und den zahlreichen Problemen weglaufen war keine Option und würde es nie werden.
Ein unmerkliches Nicken bedeutete der kleinen Gruppe nun aufzubrechen und wo Cassie die Aufforderung ohne Zögern annahm, benötigte der eingeschüchterte Wächter einen zusätzlichen Schubs in die Flanke, was den dicken Schlüsselbund an dessen Gürtel leise klimpern ließ. Matthew hatte Sally unbedingt treffen wollen, hatte darauf beharrt seiner Peinigerin in die Augen zu blicken, und nun? Was hatte er von diesem Treffen mitgenommen? Mehr Fragen als Antworten, mehr Fenster die sich geöffnet hatten als Türen, die er ruhigen Gewissens hinter sich schließen konnte.
Gespenstisch hallten die Tritte der drei Gestalten durch die kargen Bogengänge wider, untermalt durch das wilde Gestammel der Gefangenen, die angesichts des aprubten Aufbruchs nicht zu wissen schien, wie sie ihren Zorn und ihre Verzweiflung anderweitig kanalisieren sollte.
„Ich denke, wir haben genug gehört um zu wissen…“, erhob nach längerem Schweigen nun wieder Clarence seine Stimme, während sie die letzten Stufen hinauf zum Hauptgebäude erklommen, die die Wachstation von den Kerkern trennte. Nachdenklich war er den beiden anderen gefolgt und kaum dass Matthews zweite Sohle den Absatz zur Halle betreten hatte, ertönte hinter dem Dunkelhaarigen der metallische Schlag von zugeschmissenen Gitterstäben. „…dass es hier oben sicherer ist.“
Doch anstatt sich an der Seite von Sallys Hassobjekt zu befinden, harrte der Jäger noch immer hinter Cassie – getrennt durch kaltes Metall, welches vorhin erst hatte durch ihren Führer aufgesperrt werden müssen, um überhaupt in die modrige Gruft hinab steigen zu können.
„Bemüh dich nicht“, nahm er dem kleinen Dicken, welcher bereits suchend seinen Gürtel abtastete, sämtliche Hoffnung und hielt klimpernd den im Schubs entwendeten Schlüsselbund hinauf – bevor er Cassie kurz musterte, Sorge und Unvernunft gleichermaßen in seinem Blick liegend. „Versuch nicht wieder zu kollabieren während ich weg bin, okay? Setz dich irgendwo hin und… sei brav. Warte einfach.“
Abermals ließ er die Augen besorgt über seinen Partner hinweg gleiten. Über den Mann, den er abgöttisch liebte wie kaum einen anderen Menschen zuvor – und der so voller naiver Ignoranz war, dass es Clarence kaum aushielt. Vor allem rannte dieser Taugenichts davon. Vor jeder offensichtlichen Gewitterwolke, vor jeder Dunkelheit die unaufhörlich auf ihn zu kroch. Das hatte er bei dieser Harriet bereits getan, bei dem winzigen rehfressenden Spinnchen weshalb sie sich im Mutantenfeld verloren hatten und das tat er auch heute, im Angesicht von Sallys infamen Äußerungen. Aber es brachte nichts ewig fortzulaufen von den Dingen, die zwar keinen Sinn ergaben, aber langsam ein Muster zu bilden schienen.
Auf Matthew aufpassen musste Clarence, das hatte diese Harriet gesagt – ohne ihren Worten im ersten Augenblick mehr Glauben als nötig zu schenken. Aber heute standen sie hier, vor einer Frau, die ein nicht zu ignorierendes Geheimnis umgab, die Informationen besaß welche sie nicht hätte haben dürfen - an der etwas nicht normal war und dieses Etwas richtete sich gegen seinen Mann. Aus dem Nichts heraus. Völlig unangekündigt. Das konnte Zufall sein. Aber genauso gut konnte es sein, dass wenn sie jetzt davon liefen, es woanders wieder passieren konnte.
„Warte einfach“, wiederholte Clarence, griff mit seinen unvollständigen Fingern nach der schweren Eichentür auf seiner Seite des Kerkereinganges und ließ auch diese ins Schloss fallen, auf dass die Welt dahinter verschwand. Das Klacken, welches der dicke Schlüssel des Wärters formte als Claire die Tür von innen doppelt verschloss, klang endgültig – und in gewissem Sinne war es das auch, während sich der Jäger wieder dem leeren Gang zuwandte und den Rückweg zu Sallys Zelle einschlug.


Matthew C. Sky

Matthew hätte es wissen müssen, einfach wissen müssen. Rouge hatte immer gesagt, man konnte ein Raubtier aus der Wildnis reißen, aber man konnte nie die Wildnis aus dem Raubtier bekommen. Was in des Einzelnen Natur lag war unveränderlich. Als die Metalltür hinter ihm zugeschlagen wurde, brauchte Matthew sich nicht umdrehen um zu wissen das Clarence ihm nicht hinauf gefolgt war. Und während der Wärter hektisch nach seinem Bund mit den Schlüsseln tastete, wusste Cassiel das er im Besitz des Größeren war. Wortlos schloss er seine Augen, ballte die Hände zu Fäusten und spürte glühend roten Zorn in sich aufwallen. Als er die Stimme seines Mannes hinter sich vernahm, brachte dies das Fass zum Überlaufen und Matthew drehte sich wütend herum. „Sei brav?“, echote er gallig und schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Das laute Scheppern war sogar noch draußen auf der Straße zu hören. „Fick dich, Sky. Wenn du nicht auf der Stelle...“, Er schluckte, schüttelte den Kopf wohlwissend das keine Drohung der Welt seinen Mann davon abhalten würde wieder zu Sally Mitchell zu gehen. Und warum zog es ihn dorthin? Weil Clarence sich von den Geisteskranken und Bösartigen angezogen fühlte wie eine Motte vom Licht. Weil er den Nervenkitzel brauchte der sich einstellte wenn er sein eigenes Ding machte. Clarence würde niemals aufhören Jäger zu sein, er würde niemals damit aufhören Matthew auszusperren um freie Bahn zu haben. In der verschrobenen Welt des Größeren mochte er das mutig nennen, oder notwendig. Aber sah man die Wahrheit durch Matthews Augen, so wurde deutlich das nichts davon stimmte. Clarence ging nur wegen sich allein der Gefahr entgegen. Er war in das Spinnenfeld gekrochen, hatte ihn dort bereits allein gelassen und sein Leben wie auch das des Jüngeren aufs Spiel gesetzt. „...Mach was du willst, du scheißt sowieso auf alles was ich dir sage und auf alles was ich von dir will.“, Matthew war in seinem Leben schon endlos oft wütend gewesen, aber die Art wie er Clarence mit den Augen fixierte, wie seine Nasenlöcher bebten und wie gespannt er vor der Tür stand, all das untermalten eine Sache ganz deutlich: würde der Schamane nicht augenblicklich durch das Tor zu ihm auf die Seite treten, dann würde das ihrer Ehe ganz und gar nicht guttun. Aber Clarence entschied sich nicht um, entschied das Risiko einzugehen und letztlich auch die zweite Tür zu schließen. Zwei Worte gab er Matthew noch mit auf den Weg, zwei Worte die wie blanker Hohn und Spott waren. “Warte einfach.“ Es gab keinen Vergleich, keine Worte in irgendeiner Sprache, die zum Ausdruck bringen konnten wie ungehalten Matthew war, wie unglaublich zornig auf den Blonden. Wieder einmal hatte Clarence bewiesen das er zu jeder Zeit seinen eigenen Willen über den des Jüngeren stellte. Er machte was er wollte und noch nicht einmal sein ach so geliebter Taugenichts konnte ihn davon abhalten. Neuerlich schepperte es lautstark, als Cassiel in Rage gegen die Tür trat. „Ersatzschlüssel...im...Bürgerhaus liegen sicher noch welche...“, versuchte der untersetzte Mann zu beschwichtigen, aber Matthew hatte kein Interesse an Ersatzschlüsseln oder anderen kindischen Aktionen. Er würde Clarence ganz sicher nicht hinterherlaufen und er würde auch nicht hier oben warten wie ein braver Hund. Sollte Clarence doch dort unten bleiben so lange er wollte, sollte er doch tun und lassen was immer ihm in den Kram passte. Tobend vor spärlich unterdrückter Wut und Enttäuschung, wandte sich der junge Mann von den verschlossenen Türen ab, gefolgt von dem Kleineren. „Aber sollten wir nicht... Was ist wenn da unten was passiert?“ - „Seh ich aus wie seine verfluchte Amme?! Er wollte zu ihr, jetzt soll er bei ihr sein. Mir egal...“, keifte Matthew ohne in seinen Schritten innezuhalten und ohne das er den ratlosen Kerl noch einmal ansah. Draußen schlug ihm Kälte entgegen, die Luft war klar, der Himmel blau. Die Sonne schien ungehindert herab und ließ die Flocken frischen Schnees auf den Wegen, Dächern und Bäumen glitzern. Kain und Abel, die vorbildlich im Schnee gewartet hatten, sprangen auf und begrüßten Matthew, der sie beide kurz und abwesend streichelte und dann weiter stapfte.Zu behaupten er wäre wieder vollends auf dem Posten wäre gelogen, aber sich hinsetzen und auszuruhen kam nicht in Frage. Er hatte das Gefühl zu explodieren wenn er sich nicht bewegte und als er dieses Mal zu laufen anfing, da tat er das nicht um zu flüchten, sondern weil er unter keinen Umständen noch länger als nötig in der Nähe der Station der Friedenshüter sein wollte, sonst brach er das verfluchte Schloss doch noch auf und lief Clarence hinterher wie ein Köter. Zunächst vorsichtig und mit Bedacht, bald schon jedoch schnell und eilig, lief er los, rannte durch die Straßen und Höfe, verfolgt von den freudig bellenden Hunden. Cassiel lief so lange, bis die kalte Winterluft unerträglich in seinen Lungen brannte und seine Muskeln zitterten. Dann blieb er stehen, stützte sich auf seine Oberschenkel und beugte seinen Oberkörper nach vorn. Laut atmete er ein und ein, genoss das Rasen seines Herzens und fühlte sich - zum ersten Mal seit Sally Mitchells Angriff - wieder richtig lebendig. Es dauerte ein paar Sekunden ehe Cassiel sich wieder aufrichtete und sich umsah.

In einigen Metern Entfernung stand ein markantes Haus mit Stall und Hof. Aus dem Schornstein stieg kräuselnder Rauch. Auf der mit dicken Holzbrettern eingezäunten Wiese standen drei Pferde und ein halbes Duzend Ziegen. In jener Richtung gab es nur das eine Häuschen, danach kam nur Natur. Weiß überzuckerte Wiesen, ein weißer Hang mit vereinzelten Bäumen. Schnaubend setzte sich der junge Mann wieder in Bewegung, stapfte durch den Schnee, der an dieser Stelle recht hoch war  und näherte sich - aller Beschwerlichkeit zum Trotz - der eingezäunten Weide an. Er hatte den Zaun schon erreicht und war auf eines der unteren Bretter geklettert um die Barriere zu überwinden, da rief plötzlich eine Frau „Kann ich was für dich tun? Is‘ ne Weide, gibt’s bei euch auf‘m Festland wohl nicht?“Die Frau trug hohe Stiefel, eine wollne Mütze und einen weiten, alten Mantel. Sie mochte um die fünfzig sein, vielleicht auch älter, doch ihre Schritte waren fest und sicher als sie zu Matthew ging, der mittlerweile auf der Koppel stand. Die Pferde wieherten und kamen auf die kleine Frau zugelaufen, ihre Hufe donnerten über die Erde und Cassiel konnte das Schnauben hören was sie ausstießen. „Tut mir leid, ich bin nicht von hier...“ - „Dass ist offensichtlich.“ - sie musterte ihn, dann die Hunde. „Ich bin Gretchen und du bist der von Außerhalb, den die Mitchell Schwestern erwischt haben. Freut mich, dass du noch atmest.“

Sally Mitchell

Und während Matthew sich mit Gretchen bekannt machte, lauschte Sally in die Dunkelheit hinein die sie umgab. Die Schritte, die sich zuerst entfernt hatten, kamen nun zurück. Aber nicht alle...sondern nur die eines einzigen Mannes. Unruhig setzte sie sich in Bewegung, lief murmelnd in ihrer Zelle auf und ab. Ihre nackten Füße machten leise, tapsende Geräusche dabei, bis sie schließlich jäh wieder stehenblieb. Argwöhnisch starrte sie in die Richtung aus der ihr Besuch vorhin gekommen war. Würde es der Ungläubige sein der zurückkehrte, würde sie alles versuchen ihn zu erwischen und Ihren Auftrag doch noch zu erfüllen. Doch es war nicht Feivi der sie aufsuchte. „Quenty!“, rief sie aus und ihre Stimme überschlug sich fast vor Erleichterung. „Du bist zu mir zurückgekomm’, du hast die alte Sal’ nich’ allein gelassen.“ - Schnell strich sie sich ihr strähniges Haar über eine Schulterseite, als wolle sie sich schön machen für ihren Geliebten. „Hast du...den Andren getötet? Hast du den Verlorenen ausgemerzt? Sag das du’s gemacht haben tust und dass du gekomm’ bist um mich zu befrein’.“ 


Clarence B. Sky

Quenty!“, schallte ihm der freudig erregte Ausruf aus jener Zelle entgegen, die sie vor wenigen Minuten noch verlassen hatten. All der Hass und die Panik schienen wieder aus Sally Mitchell geschlichen zu sein, ähnlich schnell wie sie im Angesichte ihres Verlorenen gekommen waren; zurückerlangt hatte sie ebenso ihre alte Sprachform wieder, ihre gediegene und einfache Weise sich auszudrücken, die Art die sie mehr nach der alten Sal‘ klingen ließ – und wesentlich umgänglicher.
„Hallo, Sally.“
Beinahe vertraut fühlten sich die schmierigen Gitterstäbe unter seiner Haut an als Clarence die Finger erneut darum legte und ebenso vertraut war die Geste, mit welcher die junge Frau sich ihm präsentierte. Schon damals, bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, hatte sie scheu mit ihrem Haar gespielt und den Blonden dadurch lange im Ungewissen ihrer eigentlichen Absichten gelassen. Die Taktiken der Frauenwelt waren ihm noch nie so wirklich geläufig gewesen, eine fehlende Eigenschaft, wegen derer Cassie in den vergangenen Monaten mehr als nur ein Mal verständnislos den Kopf geschüttelt hatte. Wo der dunkelhaarige Schürzenheld nichts anbrennen ließ, erkannte Claire ein paarungswilliges Frauenzimmer wahrscheinlich nicht mal dann, wenn man ihn mit der Nase direkt zwischen ihre gespreizten Schenkel stieß – lediglich Sallys recht unverblümter Worte war es zu verdanken, dass sogar ein Mister Sky das mehr als Offensichtliche endlich begriff.
Wäre sein Mann nun hier, spätestens nach den ersten wenigen Worten der Eingesperrten hätte man den unverbesserlichen Jäger ungeduldig dazu aufgefordert, abermals wieder das Weite zu suchen und dieses Gebäude zeitnah zu verlassen. Doch Matthew war nicht hier. Clarence hatte ihn ganz bewusst ausgesperrt weil eines offensichtlich war: Der Jüngere hatte Recht damit die Sache beruhen zu lassen und keine weitere Zeit hier unten zu verschwenden. Doch wenn er auf ihn gehört hätte, wenn er Cassie gefolgt wäre – er hätte nicht dafür garantieren können, dass er es nicht wann anders in aller Vehemenz versuchte. Wie eine Motte in finsterster Nacht, die immer wieder mit Gewalt gegen ein geschlossenes Fenster prallte, immer dem flackernden Kerzenschein dahinter entgegen.
Dabei war es nicht so, dass ihm dieser Auftrag hier irgendetwas versprach, wenn es denn einer wäre. Niemand hatte ihn engagiert und noch weniger bot ihm irgendjemand dafür einige Münzen als Bezahlung an, wenn er sich für Sally Mitchell einsetzte. Der einzige Sold, den der Jäger für die gespendete Zeit erhalten würde, waren Informationen seinen Mann betreffend. Denjenigen der das wichtigste Ziel für die ergriffene junge Frau jenseits der Gitter darzustellen schien, denjenigen, den sie bis zum Tod verfolgen wollte, koste es was es wolle.
Sein Leben mit Matthew war ihm zu heilig geworden um es durch eine erneute Flucht aufs Spiel zu setzen, jedenfalls unter der alles überschattenden Aussage Harriets, welche ihn dazu angehalten hatte den Dunkelhaarigen mit allem zu beschützen was er hatte. Sollte sie recht behalten und irgendetwas oder irgendjemand war hinter Cassie her, dann waren sie nirgendwo sicher. Weder ihre Unversehrtheit, noch ihr gemeinsam geteilter Alltag miteinander. Wenn sogar eine zurückgebliebene Fischerstochter weit jenseits des Meeres so besessen davon sein konnte seinen Mann zu töten, wem konnten sie dann überhaupt noch vertrauen? Wo sollten sie eines Tages in Sicherheit ihren Lebensabend verbringen, wenn sie nicht mal wussten wovor sie sich zu fürchten hatten? Selbst eine Mitchell-Schwester, ihres Zeichens Tochter eines Fischers, würde wohl oder übel klug genug sein um bei einem Schiff die Segel zu hissen, sollten sie dem Spuk nicht noch hier auf dieser Insel ein Ende bereiten. Doch so löblich diese Absicht seitens des Blonden auch sein mochte, sie war nicht das einzige, was ihn hier unten in der Nähe der Anderen gefangen hielt.
„Ich hab den Verlorenen nicht getötet, Sally. Diese Aufgabe hat Er nicht mir erteilt, sondern dir“, ließ der Jäger sie nach kurzem Schweigen wissen und trotz aller innerer Unruhe bezüglich jenes skurrilen Gesprächsinhaltes, klang seine Stimme unerwartet besonnen und wenig berührt angesichts eines solchen Endes. „Ich habe nur dafür gesorgt, dass wir beide etwas mehr Zeit miteinander haben können. Sag bloß, das war nicht in deinem Sinne…?“
Es würde ihn ehrlich verwundern wenn nicht, denn auch wenn Zeit mit ihrem Quentin dem Ziel Feivel auszulöschen bestimmt untergeordnet war, so tat es ihr sicher mehr als nur gut ihre mögliche Belohnung ein wenig vor Augen gehalten und unter vier Augen genießen zu können.
„Ich will dir ein Geschenk machen, Sally. Damit du an mich denkst, solange du noch hier unten bleiben musst… lädst du mich zu dir ein, in deine bescheidene Unterkunft?“ - Mit leisem Klimpern erhob er die Schlüssel auf seiner Seite der Zellengitter, weit genug entfernt damit sie ihm nicht abgenommen werden konnten und nah genug, damit die verwahrloste Bewohnerin seine ernst gemeinte Absicht zur Schau stellen konnte. Sie freizulassen war ganz sicher nicht das, was er sich beim Klau des Bundes gedacht hatte – vielleicht eher noch sie doppelt und dreifach zu versperren, nur um die Schlüssel zu ihrer Zelle im Anschluss auf nimmer wiedersehen im Meer zu versenken.
Doch bevor dem so weit war, hatte er der jungen Frau etwas zu übergeben, das er keinesfalls für sich behalten wollte.
„Ich hoffe du nimmst mir nicht übel, dass ich mich selbst herein lasse… unhöflich, ich weiß.“
Es gab keinen absolut triftigen und unabwendbaren Grund hierfür. Sie hätten gehen können. Er hätte die Tür zum Kerker hinter sich, hinter Matthew und dem Wärter versperren und seinem Mann hinaus folgen können, an dessen Seite er gehörte. Sie hätten Sally die verrückte alte Sal‘ sein lassen können, gemeinsam fliehen, nur um zurück auf dem Festland ihr Glück zu versuchen. Und wären sie dort der nächsten ähnlichen Hürde über den Weg gelaufen… sei’s drum. Dann wäre es so gewesen und wahrlich, dann hätten sie sich noch immer gemeinsam darüber austauschen können.
Aber sie wussten beide, dass Cassie nicht so funktionierte. Wenn er die eigene Furcht auf sich zukommen sah, ganz alleine ihm an den Hals springen wollend, bevorzugte er es lieber kehrt zu machen und sich abzuwenden. Die Arachnidenmater im Feld besiegt zu haben war löblich, keine Frage, auch wenn er den epischen Kampf der zwei Giganten nur aus Cassies Erzählungen kannte – aber selbst da hatte sein Mann nicht um sich selbst gekämpft, sondern ganz alleine um seinen Bären. Er schien einen absoluten Neglect zu haben sobald es um sein eigenes schönes Haupt ging und so negativ dieser Gedanke auch klingen mochte, am Ende standen sich die beiden jungen Männer dahingehend in nichts nach.
Auch Clarence floh vor dem eigenen Offensichtlichen und er tat es gerne. Er flüchtete vor seinem Fluch, vor dessen Lösung - vor seinem eigenen Glück, das da noch immer oben irgendwo im Tageslicht über ihn fluchte und vermutlich bereits Reißaus vor ihm genommen hatte. Denn Matthew Cassiel Sky, geboren als Reed, war sein Glück. So sicher wie das Amen in der Kirche. Und es machte Clarence Angst – denn er wusste wie es gewesen war, glücklich zu sein. Welche Wünsche er angesichts seines Glücks gehegt hatte und welche Lebensereignisse dieses Glück perfekt gemacht hatten.
Ich weiß das du gern wieder Kinder hättest. Und du könntest sie haben…
Das war es, was die bigotte Frau hinter den Metallstäben zu ihm gesagt hatte, das was ihn an sie gebunden hatte. Zwei Sätze, so simpel und doch so furchteinflößend, dass Clarence sie nicht mal im Traum auszusprechen wagte. Ein Wunsch derart angsterfüllend, dass er ihn nicht mal zu Ende dachte. Denn Clarence wusste was geschah, wenn dem so wäre.
Es war nicht so, als hätte er all die sieben langen Jahre in denen er Cassie noch nicht gekannt hatte, keine Szenarien in seinem Kopf zusammen gesponnen. Ein Haus, eine Frau, Kinder. doch jedes Szenario hatte gleich geendet, in Blut und Tod. Der Jäger war in gewissen Bereichen seines Lebens nicht zurechnungsfähig gewesen, mit der Hauptgrund warum Nagi Tanka ihn nur sehr selten alleine irgendwo hatte hingehen lassen – und letztlich hatte sein Meister eben jenem gefahrvollen Bereich zum Großteil einen Riegel vorgeschoben, indem er seinen Zögling ungefragt hatte sterilisieren lassen.
Selbst wenn er sein Glück fand, selbst wenn sich der Fluch eines utopischen Tages von ihm lösen würde: Clarence würde nie wieder Kinder haben. Keine genetisch von ihm abstammenden. Keine die sein Mann ihnen zeugte. Keine Kinder, die sie aus einem der unzähligen Waisenhöfe und –häusern bei sich aufnahmen – denn es war ein offenes Geheimnis dass Cassie sie nicht zu mehr als zweit sah und unterm Strich würde Claire auf ewig die Gefahr viel zu groß bleiben, dass er einem dieser Kinder in einem Anflug von geistiger Umnachtung etwas antun würde.
Als ein Mensch, dessen größter Lebenswunsch in früher Jungend und im jungen Erwachsenenalter es immer gewesen war eines Tages Vater zu sein und Kinder groß zu ziehen, fühlte er sich an manchen Tagen seines Lebens heute wie ein Mensch, der durch Unfall oder Krankheit beide Beine und Arme verloren hatte. Natürlich wünschte er sie sich zurück, natürlich wäre es möglich gewesen diesen Wunsch laut auszusprechen, doch genauso lächerlich wäre es auch gewesen. Das einzige, was es einem einbrachte einen solchen Wunsch laut auszusprechen, waren endloser Schmerz, ewiges Leid und derartiges Elend, dass er auf Dauer daran zu Grunde gehen würde. Was fort war, würde nie wieder zu ihm zurück kehren und nichts Neues würde den leeren Platz einnehmen, der so schmerzlich am Loch seiner zerschundenen Seele nagte. Das einzusehen war gut – und nichtsdestotrotz tat es nach mittlerweile über acht Jahren der inneren Einsamkeit mindestens genauso gut, diesen nie ausformulierten Gedanken wenigstens durch fremde Lippen zu vernehmen, wenn schon nicht die eigenen.
Leise und metallisch kreischend quälte Clarence den rostigen Schlüssel gewaltsam in dem modrigen Schloss, das die befallenen Möchtegern-Mörderin seines Mannes und den potentiellen Mörder der Beinahe-Mörderin voneinander trennte.
„Ich will, dass du dein Kleid für mich ablegst, Sally… um dir ein Mal zu schenken, das dich zweifelsfrei als Seine Auserwählte markieren soll. Damit du nicht vergisst, welche Bedeutung du für Ihn hast… und für mich.“
Quietschend öffnete er das ruckelnde alte Tor, welches beinahe so etwas die die Wohnungstür zu Sallys neu bezogener Unterkunft darstellte, und ließ es langsam wieder hinter sich ins Schloss fallen, kaum da er es gewagt hatte ihr Reich zu betreten.
„Sei ein artiges Mädchen, Sally… zeig mir was es dir bedeutet, mich in naher Zukunft dein Eigen nennen zu können.“


Sally Mitchell

So dunkel es in ihrer schmutzigen und feuchten Zelle auch war, die Anwesenheit ihres Quentin brachte für Sally das Licht zurück. In ihren Augen leuchtete Erleichterung und Freude auf. Hätte ihr Vater sie so gesehen, wahrlich er hätte gesagt seine Tochter müsse den Heiland erblickt haben.
Die Nachricht, dass er den Anderen nicht getötet hatte war belastend und ein Wermutstropfen, doch gleichsam wusste die Fischerstochter auch, dass ihr Geliebter recht hatte. Es war ihre Aufgabe den Tod des Ungläubigen herbeizuführen. Eine Aufgabe die Er ihr unmissverständlich genannt hatte und von der es ihr nicht zu stand sie einfach an Quentin zu übertragen.
Beschämt ob seiner klaren Worte, senkte sie flüchtig den Blick und verschränkte ihre Arme hinter dem Rücken. Wie ein kleines Mädchen das getadelt wurde, so stand sie da - schuldbewusst und gleichsam unsicher darüber ob sie mit einer Entschuldigung davon kam. Aber nicht etwa eine Entschuldigung dafür das sie den Dunkelhaarigen angegriffen hatte, sondern dafür das ihr Treffer ihn trotz aller Wucht nicht auf der Stelle getötet hatte.
„Ich weiß, Quenty...Sally weiß. Ich hätte fester werfen sollen, so das er gleich tot umkippt. Hatte nur eine Chance, das hat Er mir schon prophezeit...“ und trotzdem hatte das letzte Quäntchen Kraft gefehlt und nun war sie hier gefangen.
Dass Quentin bei ihr war und ihnen ein bisschen Zeit zu zweit verschafft hatte war nichts das Er ihr schon verraten hatte, aber bewies das nicht nur, dass die Bindung zwischen Quenty und ihr schon jetzt unglaublich eng war?
Die derangierte junge Frau hob ihren Blick wieder. „Doch,doch! Du bist hier, das is‘ in Sally‘s Sinne, ganz un‘ gar!“, bekräftigte sie eifrig ihre Freude. Sie hing förmlich an den Lippen des Blonden, versuchte sich jede Mimik, jedes Wort und jede Nuance seiner Stimmfarbe genau einzuprägen. Er war ein prachtvoller Mann, ihr Quentin und wenn er sie herauslassen würde, dann würde sie es vielleicht noch schaffen den Ungläubigen zu töten. Derjenige der zwischen ihrem Glück mit Quentin stand und der für Andere immer nur Leid brachte. Eine solche Kreatur zu töten war kein Mord, es war eine Befreiung, da war sich Sally Mitchell sicher.
„Du willst reinkomm‘? Warum reinkomm‘ und nich‘ mich rauslassen?“ dass verstand sie nicht, aber das war in ihrer Welt nichts Neues. Schon als kleines Mädchen, als sie noch Vater und Mutter gehabt hatte, hatte sie die Gespräche und Beweggründe anderer nicht begriffen. Sie war ein bisschen langsamer, hatte versucht wie die anderen zu sein und hatte doch nie Erfolg damit gehabt. Aber trotzdem hatte Er zu ihr gesprochen und nicht etwa zu den klugen und hübschen Mädchen aus dem Dorf. Auch seine Bilder und Worte waren am Anfang undeutlich gewesen, so dass Sally sie nicht begriffen hatte. Aber Er hatte das gemerkt und so war Er irgendwann ganz direkt geworden, hatte einfache Worte und einfache Bilder genommen um mit ihr zu sprechen - und das hatte sie begriffen.
Dass sich ihr Versprochener nun Zutritt in ihre Zelle verschaffte war etwas mit dem die junge Frau nicht umzugehen wusste. Sie wich ein paar Schritte nach hinten und betrachtete den Größeren verunsichert. Es war das Eine ihn durch die Gitterstäbe anzuhimmeln, etwas Anderes war es aber sich direkt in seiner Nähe zu befinden. Kein Metall trennte sie mehr, kein Wärter belauschte sie und kein Dämon war zugegen. Nur sie beide - und das wo sie sich doch gar nicht hatte zurecht machen können! Ihr erstes unmittelbares Aufeinandertreffen hatte sich die Fischerstochter anders vorgestellt. Leise und doch laut krächzte der Schlüssel als die Tür wieder abgesperrt wurde, ein Geräusch das irgendwie endgültig klang in ihren Ohren und das ihr Unbehagen bereitete. Sie hob die Arme und schlang sie um ihre Schultern, während sie den Hünen betrachtete der bei ihr war. Anders als noch vor wenigen Minuten, wagte sie es nun nicht ihn zu berühren.
„Ich will, dass du dein Kleid für mich ablegst, Sally… um dir ein Mal zu schenken, das dich zweifelsfrei als Seine Auserwählte markieren soll. Damit du nicht vergisst, welche Bedeutung du für Ihn hast… und für mich.“ Die Schamesröte schoss ihr ins Gesicht, ihre Augen wurden groß und ihr Mund öffnete sich einen Spalt breit. Das Erstaunen in ihrem Gesicht bedurfte keiner Erklärung - die junge Frau war wie erstarrt. Die alte Sal‘ hatte noch nie bei einem Mann gelegen, aber sie wusste was für gewöhnlich passierte wenn ein Mann eine Frau aufforderte sich auszuziehen. Überrascht von den Ereignissen die sich für sie zu überschlagen schienen, war ihr erster Impuls sich dem Mann zu verweigern. Sie schüttelte ihren Kopf und rieb sich über die Oberarme. „Sally is‘ nich‘ hübsch. Sally is‘ schmutzig...“, sagte sie beschämt und fing wieder an, an den Resten ihrer Fingernägel zu knabbern.
Ihr Versprochener sollte sie nicht so zu Gesicht kriegen. „s‘ sollte was besonderes sein wenn ein Mann seine Frau zum ersten Mal nackt sehen tut...“, erklärte sie ihre Sicht der Dinge, nicht sicher ob sich Quentin dafür interessieren würde. Aber wie auch schon zu Beginn ihres Treffens, zeigte sich der Blonde überaus interessiert an ihr und ihrer Meinung. Wo andere sie ausgelacht und einfach als verrückt abgestempelt hatten, hatte Quentin ihr zugehört und sie ernst genommen. Er hatte ihr von sich erzählt, von Feivi und ihrer Ehe und schon damals hatte sie sofort gewusst, dass das nicht richtig war. Ein Mann gehörte zu einer Frau und außerdem war Feivi eine verlorene Seele die nur Unglück über andere hereinbrachte. Hätte der Hüne sie erneut aufgefordert sich zu entkleiden, Sally hätte es nicht gewagt ein weiteres Mal zu widersprechen, doch der Blonde wiederholte sich nicht. Stattdessen schien er einzusehen, dass die junge Frau recht hatte und der Moment da sie einander nackt gegenüberstanden ein Besonderer sein sollte. Also schlug er einen Kompromiss vor, ein Entkleiden ihres Oberkörpers, mit dem Rücken zu ihm gewandt um sich den Anblick ihrer weiblichen Reize aufzusparen für den Augenblick, da sie von der Last des Ungläubigen befreit waren. Ein schmales Lächeln, noch immer schüchtern und voller mädchenhafter Scham, zeigte sich auf den rissigen Lippen der Gefangenen, ehe sie sich umdrehte und sich daran machte sich zu entkleiden. Ungeschickt und mit linkischen Bewegungen zog sich Sally nacheinander die Träger ihres zerschlissenen Kleides über die Schultern und nestelte dann an den Haken ihrer Corsage.
Es dauerte eine kleine Weile bis sie alle Häkchen gelöst und die darunter befindliche Bluse aufgeknöpft hatte. „Welches Mal willst‘n Sally geben? Ich hab noch nie ’n Mal gekriegt. Außer vom Einen. Mein Vater sagt immer: Kind! Dich hat der Herrgott besonders gemacht!“ - die Leute im Dorf fanden das Besondere an ihr aber eher lästig und abstoßend, jedoch konnte sie gut auf die Meinung der Anderen pfeifen. Nicht die hübsche Joleanne war hier mit Quenty. Auch nicht der Wildfang Arielle, die bei ihrer Großmutter Gretchen aufgewachsen war. All die klugen und schönen jungen Frauen konnten sich nicht mit einem Mann wie Quentin schmücken. Ihnen würde ihr Lachen im Halse stecken bleiben, wenn sie sie nun mit ihrem stattlichen Mann sehen könnten.
Die Kälte der Zelle beschwor eine Gänsehaut auf ihrem nackten Rücken herauf und die junge Frau erschauderte. Mit einem mädchenhaften Lächeln sah sie scheu über ihre dünnen Schultern nach hinten, dem Hünen bedeutend soweit zu sein.
„Ich b-bin bereit dein...Mal zu empfang‘.“ Auch wenn sie nicht wusste was es sein würde, so wollte sie durch niemanden lieber gezeichnet sein, als durch ihren Quentin.


Clarence B. Sky

Ich hätte fester werfen sollen, so dass er gleich tot umkippt. Hatte nur eine Chance, das hat Er mir schon prophezeit...
Oh ja… Sally Mitchell hatte nur eine einzige Chance, das war wirklich war. Eine einzige Chance hatte Er ihr gegeben – und in diesem Falle dachte Clarence dabei nicht an ihren bislang noch unbekannten Meister, sondern an sich selbst.
Es war Fluch und Segen zugleich, dass Nagi Tanka ihn über Jahre hinweg gelehrt hatte sein Gesicht, Gestik und vor allem auch sein Herz unter Kontrolle zu behalten. Das war nicht zwingend wichtig für den Umgang mit Dämonen oder Mutanten, wirklich nicht. Aber alles andere, alles noch halbwegs Menschliche… es ließ sich verführen von dem Bild das man ihm bot, nicht etwa vor der Wahrheit hinter den Spiegeln.
Ein schmales Lächeln legte sich bei Sallys Worten über die Lippen des Jägers, eine Regung die bis hinauf in seine Augen reichte und den dunklen Flickenteppich seiner Seele zu überdecken schien. Nachsichtig, beinahe schon väterlich blickte er auf die junge Frau hinab, gleich einem Mann der verstand, dass das Mädchen ihren Fehler einsah – und gleichzeitig wusste, dass sie diesen Fauxpas so schnell nicht wieder begehen würde.
Unter anderen Umständen, hätte diese Frau sich nicht durch ihre Äußerungen selbst einen essentiellen Wert gegeben, Claire hätte sich vielleicht ebenso mit ihr hier unten in den tropfenden, muffigen Kerkern eingesperrt. Hätte den Wärter und Matthew an den Pforten zu seiner persönlichen Hölle stehen lassen, wäre zu Sally Mitchell zurück gekehrt. Hätte sie unumwunden spüren lassen was es hieß, sein Eigen zu verletzen.
Matthew Cassiel Sky war ein Heiligtum, eine Reliquie. Sein kostbarer Körper ein Schrein und dessen Seele die einzige Gotteserscheinung, an welcher der geborene Fanatiker Blasphemie beging, ohne dabei die Hölle zu fürchten. Er hatte diesen Mann geheiratet, in der Kathedrale einer feindlichen Gottheit, gesegnet durch einen falschen Propheten und hatte mit ihm in der folgenden Nacht auf sündhafteste Weise jene ungültige Ehe vollzogen, die sich seine Herkunftsgemeinde nur hätte vorstellen können. Clarence lebte auf verdorbenem Land ein verbotenes Leben, für das seine tiefschwarze Seele auf ewig im Höllenfeuer schmoren würde, sollte er jemals sein verfluchtes Leben aushauchen.
Doch was immer er auch getan, was er entweiht und welche Sünde er begangen hatten sollte – Sally Mitchell war diejenige, welche ein Sakrileg begangen hatte.
Einen Finger an Matthew zu legen war Schande, ihm Schmerzen zuzufügen unverzeihlich. Doch ihn töten zu wollen, sein Eigen, Clarence Bartholomy Sky das nehmen zu wollen was ihm auf dieser Ebene der Existenz mehr bedeutete als alles andere sonst… das war eine Todsünde und Cassies Willen alleine war es verdankt, dass der Blonde die junge Frau vor sich nicht auf der Stelle auf bestialischste Weise ausweidete und sie an ihrem eigenen verfickten Blut in den Lungen krepieren ließ.
Unter all den Gesichtspunkten, die das Geschehene und ihr Aufeinandertreffen mit sich gebracht hatten, schien Sallys größte Sorge ihr derzeitiges Aussehen zu sein – womit das Weib abermals bewies, wie wenig sie noch Herr ihrer wenigen verbliebenen grauen Hirnzellen war. Clarence war sich nicht mal mehr sicher, ob Sally wirklich so dumm war oder ob ihr Wasauchimmer bereits viel zu kräftig mit einem Schneebesen im Schädel herum gewirbelt hatte, aber eines stand fest: Sie spurte, das war die Hauptsache.
Mit Engelsgeduld, wachem Blick und Händen so ruhig wie die hohe See fernab jeglicher Windböen, beobachtete er die Gefangene schließlich dabei, wie sie seinem Ruf folgte und sich teilweise entkleidete, nur um die verdreckte Haut darunter zu entblößen. Gott wusste – wohl oder übel – dass das schwärzeste aller Schäfchen seiner Gemeinde viel zu wenig an Frauen interessiert war um sich um ihre weiblichen Reize auch nur einen Deut zu scheren; wenn es nach dem Blonden ging, hätte sie ihre Kleider auch vollends ablegen können ohne in ihm das Zucken einer einzelnen Wimper auszulösen und dennoch war Claire gerade mehr als froh darüber, dass sein Mann sich nicht mehr zugegen befand. Es war das Eine einer Passion nachzugehen, die der Jäger in der Ausübung seines Berufes fand und etwas völlig Anderes war es dafür jene zweifelhaften Taktiken einzusetzen, die ein übereilter Kerl wie Matthew als unnötig empfinden und ihm gegenüber als berechnende Auslebung von Triebhaftigkeit auslegen würde.
„Mhh… glaub mir, mein Zuckerblümchen… besonders macht der Herrgott nur seine allerliebsten Kinder“, brummte es leise hinter dem blonden Flachs hervor, den Clarence sich Daheim wahrscheinlich bis auf die Haut niedermähen musste, wenn er noch länger hier unten im Kerker blieb. Geruch und Dreck würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mal mehr eine von Cassies teuren Tinkturen aus seinem schönen Bart bekommen, aber sei es drum. Wenn er damit auch nur zu einem geringfügigen Teil das Leben seines Mannes etwas sicherer gestalten konnte, würde er seinen wundervollen Bart sofort und ohne zu Zögern hergeben, das stand fest.
Wachsam fing Quentin den scheuen Blick der jungen Frau vor sich auf, geworfen über die knochige schmale Schulter die seit ihrem letzten Aufeinandertreffen eindeutig an Polsterung abgenommen hatte, und trat langsam näher an die Entblößte heran. Schwer und bedrohlich krochen dabei seine Schritte über die steinernen Wände des Kerkers, hallten davon wider und suchten sich Flucht aus der kleinen Zelle, nur um sich davor im dunklen Gang zu verlieren. Wusste Sally wie dankbar sie darum sein konnte, dass ausgerechnet ihr Opfer ihr das Leben rettete? Dass sie nur deshalb vor Quenty sicher war, weil der Verlorene darauf bestand das Urteil als geschädigte Partei alleinig fällen zu dürfen nach seiner vorbildlich voranschreitenden Genesung?
Fahl fiel durch das schmal vergitterte Fensterchen trübes Tageslicht hinein, gestalte die Szenerie im hiesigen Gefängnis noch weit unschöner als sie in der Realität sowieso schon war und ließ Clarence schließlich sogar die schaurige Gänsehaut erkennen, welche sich über den zarten Frauenrücken gelegt hatte. Prägnant blickten ihm die zierlichen Schulterblätter entgegen und ausladend erkannte man die vielen Wirbel, welche schroff und schief aus ihrer Körpermitte hervor stachen. Wahrlich, Sally Mitchell war keine hübsche Frau und selbst wenn sie für ihre körperlichen Anlagen nichts konnte, ihr verdorbener Charakter machte sie nicht gerade zu einem lohnenswerteren Präsent in den Augen eines Mannes.
„Vor einigen Wochen…“, erhob der Blonde schließlich wieder ruhig seine dunkle Stimme; mittlerweile war er Sally so nah, dass der Gestank ihrer Ausdünstungen kaum mehr zu ertragen war und nichtsdestotrotz zögerte der Lächelnde keine Sekunde, eine Hand wärmend auf ihrer nackten Schulter abzulegen und sanft über die entblößte Haut zu streicheln. „…da hat Er das erste Mal zu mir gesprochen. Er hat gesagt, ich werde auf eine mir auserwählte Frau treffen… und erst wenn ich sie gefunden habe, wird sie mir mehr über Ihn und seine Absichten erzählen. Ich soll sie als die Meine kennzeichnen, hat er gesagt… denn erst dann dürfe sie offen über Ihn zu mir sprechen.“
Gediegen schob er die Hand bei seinen Worten über die schmale Schulter hinaus, über den nackten Hals, schutzlos und verletzbar. Wie einfach es wäre sie in diesem Moment hinterrücks zu erdrosseln schien nur dem angehimmelten Quentin bewusst zu sein, eine Gewissheit, die er zu seiner Schande dennoch nicht auskostete.
„Wir werden verbunden sein. Eins, durch unser Wissen… und unser Mal.“
Stark und kräftig schlossen sich Clarence‘ Finger nun um die andere Schulter der Gefangenen, sie auf diese Weise bei sich haltend, während er mit der anderen Hand hinter seinem Rücken unter den eigenen Mantel fuhr um an seinem Gürtel ein schmales Messer zu lösen.
„Es wird weh tun, meine schöne Sally. Aber hab keine Angst. Der Schmerz ist nichts weiter als das notwendige Opfer, was erbracht werden muss damit Er unser gemeinsames Schicksal besiegeln und dir die Kraft geben kann, deine Aufgabe gewinnbringend zu vollenden…“
Ganz und gar lautlos ließ er die feine Klinge durch seine Lippen wandern, benetzte sie mit seinem Speichel und sah dem polierten Stahl für einen kurzen Augenblick dabei zu, wie er im fahlen Tageslicht schimmerte. Es gab Männer, denen erging es bei Messern wie mit Schusswaffen – je größer, desto besser. Aber es waren nicht immer die großen Waffen und Taten, die oftmals den bestmöglichen Gewinn erbrachten.
Ohne den Hauch von Mitleid schloss sich seine Hand fest um den Griff der Waffe, bevor sich durch seinen Willen die Spitze der Klinge hinauf zu Sallys dürrer Schulter erhob und unumwunden in die verdreckte Haut bohrte. Es war ihm egal ob die fragile junge Frau dabei Schmerzen litt, ob sie in wenigen Wochen bereute welche Entscheidungen sie einst gefällt hatte oder nicht.
Was zählte war der Weg dorthin und diesen begann Clarence ihr gerade auf äußerst geübte Weise in die Haut zu schneiden, während er sie mit dem anderen Arm unerbittlich an sich presste, damit sie ihm bloß nicht entkam bevor er sein Werk vollendet hatte.


Sally Mitchell

Oh welch unsagbares Glück sie hatte, dies war Sally Mitchell in jenen Minuten durchaus bewusst, aber sie sah nicht wirklich warum. In ihrem beschränkten Geist wähnte sie sich glücklich, dass Quenty bei ihr war, seinen garstigen Ehemann losgeworden war und sich lieber ihr zuwandte. Das hatte Er ihr so nicht gesagt, aber sie zweifelte nicht daran, dass Er es dennoch gewusst hatte. Der Eine wusste immerhin alles. Und sicher war Quentin ihr Geschenk und gleichsam ihr Anreiz um alles zu geben und wahrlich: würde sie noch eine Chance bekommen den dunkelhaarigen bösen Mann zu töten, sie würde sie nutzen. Und wenn sie ihm den Hals zerbeißen musste, auf das sein verdorbenes Blut aus ihm floss!Ihr eigentliches Glück war aber nicht, dass der Blonde sie wieder aufgesucht hatte, sondern viel mehr, dass er sie nicht auf der Stelle tötete. Welche düsteren Gedanken sich hinter der Stirn des Hünen verbargen, konnte Sally nicht einsehen und sie ahnte auch nicht von ihnen. Für sie zählte nur allein, dass der Größere bei ihr war, sich nicht abgewendet hatte und ihr auch nicht böse zu sein schien. Quentin war ihre Zukunft, mit ihm an ihrer Seite würde sich ihr ganzes Leben ändern. Sie würde ihm Kinder schenken, ihm eine gute Frau sein. Umsichtig und doch wie eine Löwin wenn es um ihn ging. Nach anfänglicher Trauer um seinen falschen Partner, würde er ihn vergessen. Sally würde dafür sorgen! Zuckerblümchen nannte er sie und die junge Frau kicherte mädchenhaft verlegen. Kosenamen kannte sie nur für andere, nicht für sich. Ihr Vater hatte sie früher ein ganz braves Kind genannt, aber das war nicht das selbe wie Zuckerblümchen. „Du machst Sally ganz nervös....“, sagte sie heiter und lächelte ihr schönstes Lächeln, als wäre sie nicht in diesem Loch gefangen. Doch für unbeschwertes Geplänkel war er nicht zu ihr gekommen und so verblasste ihr Schmunzeln schon bald wieder und mit großen Augen sah sie über ihre Schulter zurück zu ihrem Zukünftigen. “Du hast ihn auch gehört?“ flüsterte sie voller Ehrfurcht und starrte ihren Heilsbringer fasziniert an. Sally zweifelte nicht an Quentins Worten, ihr Argwohn war verflogen, denn allein das der Blonde zu ihr zurückgekommen war, bewies in ihren Augen schon seine Aufrichtigkeit. Für die junge Frau war es neu, dass sich jemand von außerhalb für sie interessierte. Sie war nicht aufregend anzusehen, sie war nicht besonders gescheit, brachte keinen Reichtum mit in eine mögliche Ehe. Sally wusste, dass sie  nicht viel hermachte, aber seit Er zu ihr gesprochen hatte wusste sie, dass sie trotzdem etwas besonderes war und das Quentin und sie ein glückliches Leben führen würden. Das der Erste auch zu ihm gesprochen hatte, erstaunte sie einerseits und auf der anderen Seite wieder nicht. Sie waren füreinander geschaffen und Er musste die Weichen dafür stellen, dass Quentin sich von dem Verlorenen lossagte. So nah wie sie einander mental schon waren, so nah kam ihr der Blonde nun auch körperlich. Sally roch ihn und ihr Herz klopfte schneller. Er roch nach sauberer Luft, nach Meer, nach Winter und nach Mann. Die Röte ihrer Wangen breitete sich über ihren Hals und das Dekolleté aus und sie spürte ein wohliges Kribbeln zwischen ihren Beinen aufkommen. Ein leises Seufzen entkam ihren rissigen Lippen als sich die Männerhand an ihre Schulter legte und sie erschauerte wohlig. „M-mehr über seine Absichden?“, sie kniff die Augen zusammen und für einen Moment schien es, als wolle der alte Argwohn zurückkehren. Zu ihr hatte Er nichts dergleichen gesagt, oder hatte sie es nur nicht verstanden? Die Fischerstochter verspannte sich etwas, doch die warme und beruhigende Stimme hatte etwas derart Vernünftiges an sich, dass Sally es nicht fertigbrachte die Worte des Blonden zu hinterfragen. Die Berührungen seiner Hand waren betörend und kribbelnd, machte die junge Frau weich wie Kerzenwachs. In welcher Gefahr sie schwebte und das ausgerechnet der ihr verhasste Matthew der Grund dafür war, warum sie noch lebte und nicht schon durch die Pranken ihres Quentins erwürgt wurde, dass war der ungepflegten Frau nicht klar. Erst als der Blonde sie packte, schrak sie zusammen und versuchte sich zu entwinden. Über die beruhigenden Worte des Mannes hinweg versuchte Sally sich zu wehren, doch die körperliche Überlegenheit Quentins war derart groß, dass sie nichts ausrichten konnte. „Lass mich los! Lass Sally los!“, quakte sie unbehaglich, dann bohrte sich die kalte Klinge in ihre Haut und sie quiekte überrascht vor Schmerz und Schrecken. „Sally will das nich‘!! Du stichs‘ mich ab, du brings‘ mich um!!“, sie versuchte sich aufzubäumen, lehnte sich gegen den Hinteren und erreichte dadurch doch nichts anderes, als das sie fester gepackt wurde. Tränen stiegen in ihre Augen empor, sie quiekte wieder und schluchzte. In den ersten Sekunden hatte die junge Frau die entsetzliche Angst, dass Quentin sie nun doch töten würde. ER hatte ihn angewiesen es zutun weil sie versagt hatte, weil der Ungläubige noch immer atmete und nicht schon kalt und weiß unter der Erde lag - von Maden angefressen. Es dauerte einige Momente bevor sie bemerkte, dass der Mann nicht auf sie einstach. Die Klinge wurde mit präzisen Bewegungen über ihre Haut geführt, hinterließ blutige Linien, aber keine Löcher. Ein Kennzeichen hatte Quentin das genannt, ein Mal das sie verband. Noch immer schluchzend würde die Gegenwehr der dürren jungen Frau weniger und ebbte schließlich ganz ab. Immer wieder zuckte sie, stöhnte und wimmerte. Sally machte keinen Hehl daraus Schmerzen zu leiden und verbalisierte ihre Qual auch deutlich. Welches Leid sie Feivel bereitet hatte, dass war ihr egal und darum hatte sie sich nicht eine Sekunde lang geschert, doch ihre eigenen Schmerzen - die trug sie zur Schau. „W-wie weit bis’ du...? Nich’ so fesd, auaaaah!“, ihr Jammern war ohne jede Tapferkeit, dennoch wähnte sich Sally nicht als wehleidig. Obgleich die junge Frau sicht- und hörbar wenig Gefallen an der Prozedur hatte, so wollte sie für ihren Quentin doch das erforderliche Opfer bringen. Was immer er tat, er tat es im Namen ihres gemeinsamen Gottes. Nicht dem der Christen, sondern in dem des Einzigen. Obgleich das Einritzen des Symbols nicht länger als eine Minute dauerte, kam es ihr so vor, als hätte es Stunden gedauert bis die kalte Messerklinge endlich von ihrer erhitzten Haut abließ. Warm krochen feine Rinnsale aus Blut über ihre nackte Schulter, tränkten den Stoff ihrer heruntergezogenen Bluse und färbten ihn rot. Wie laut sie atmete, wurde ihr erst bewusst als der Schmerz des Schneidens sie verlassen hatte, was freilich nicht hieß das sie nicht mehr litt! „Is’ Quenty fertig?“, fragte sie weinerlich und wandte dem Hünen das mit Tränen und Rotz verschmierte Gesicht wieder zu. Ihr schmaler Körper zitterte wie Espenlaub und sie gab wahrlich ein erbarmungswürdiges Bild ab. Derweil konnte man das Trappeln eiliger Schritte von draußen vernehmen. Matthew war zwar nicht zurückgekommen, doch der Aufseher war sehr wohl auf dem Weg zurück zu der Gefangenen und Clarence. „Sie tun zurück komm’.“, stellte Sally mit brüchiger Stimme fest, riss sich von dem Größeren los und sich hektisch die Bluse wieder über die Schulter. „W-was nun? W-as machen w-wir nun? Tun wir gehen? H-holt Quenty die alte Sal’ jetz‘ raus? Gehn’ wir und machen... den Verlorenen tot?“Ihre Augen leuchteten voller Erwartung. Quentin würde wissen was zutun war, da war sich die gute alte Sal‘ unumstößlich sicher. 


Clarence B. Sky

So wie Der Eine zu Sally gesprochen und ihr ein glückliches Leben mit einem fremden blonden Hünen prophezeit hatte, hatte der Erste und Einzige auch zu Clarence über eine mögliche Zukunft gesprochen. Doch in seinem Universum, in seinem Glauben, war Der Eine nicht mehr als ein falscher Prophet und der Erste und Einzige der einzig Wahre.
Viel zu lange schon hatte er alleine in seinem Lager geharrt, hatte getobt, geweint, gehungert. Gebetet. War an der Einsamkeit fast zugrunde gegangen und dem Wahnsinn verfallen, unaufhörlich zu seinem Gott sprechend, auf dass er den Christen eines Tages erhören möge.
Das alleine Sein hatte ihm noch nie gut getan; weder damals nach dem Tod seiner Eltern, zurückgekehrt auf den plötzlich ganz und gar verlassenen Hof, noch Jahre später als man ihn zum eigenen Schutz in einem der Zimmer des Rathauses in Falconry Gardens eingesperrt hatte. Alles was Claire jemals gewollt hatte, war ein Mensch mit dem er die Liebe teilen konnte. Das Leben, Glaube und die Hoffnung. Er war geschaffen für ein Paar, für Gemeinschaft und Strukturen und seine Seele ging unter, wenn er zu lange auf sich alleine gestellt war.
War das etwa zu viel verlangt gewesen? Ein Partner, dem man die Liebe schenken konnte von der man mehr als genug besaß?
Wahrlich, Clarence mochte die Stimme des einzig Wahren nicht vernommen haben so wie Sally die von Ihm, dennoch hatte er sein Wort erhört. Er war losgezogen, einem inneren Gefühl der Unruhe folgend, und hatte nach wochenlangem Rufen die Antwort auf alle seine Fragen und all das scheinbar fruchtlose Bitten erhalten. So wie Er Quentin an Sally versprochen hatte, hatte Gott Clarence Matthew Cassiel Reed geschenkt, auf dass sie sich nie wieder trennen mochten und fortan ineinander fanden, wonach sich ihre einsamen Herzen schon ihr ganzes Leben lang gesehnt hatten.
Cassie war sein Geschenk, eine einzigartige Gabe und einem Wunder gleich. Keine Sally Mitchell dieser Welt und keine psychotischen Stimmen in seinem Kopf würden dem Blonden diese absolut unumstößliche Gewissheit je wieder ausreden können. Wer Cassie verletzte, verletzte sich dadurch selbst – denn er würde niemals müde werden oder den Mut verlieren für diesen Menschen einzustehen, der ihm alles bedeutete. Selbst dann, mochte sein Partner nicht jeden seiner Schritte mit vollstem Wohlwollen nachvollziehen können.
Mit vollster Genugtuung ließ Clarence die Spitze der Klinge in die fremde Haut schneiden, spürte den fleischigen Widerstand und hörte das leise Reißen in seinen Ohren selbst über das lautstarke Wimmern der jungen Frau hinweg. Schnitt man tief genug und hörte man ganz genau hin, klang es als ob man einen nassen Fetzen zerriss; schrill und kreischend war jenes Geräusch, fast flüsternd und doch so verheißend. Es klang nach Leben, welches man in der Hand hatte und dabei sofortig auslöschen konnte wenn man denn wollte und bei Gott – Clarence wollte es.
Er wollte sein Werk vollenden, die blutige Klinge aus Sallys Haut heben und auch noch den anderen Arm um ihre Schultern legen; kalt und endgültig sollte sich das surrende Metall über ihre verdorbene Kehle ziehen und endlich den vermaledeiten Worten Einhalt gebieten, die unablässig aus ihrem Mund hervor quollen. Jede Drohung, jedes vermeintliche Schicksal welches Sally über seinen Mann verkündete, würde sie früher oder später bereuen. Vielleicht nicht heute, auch noch nicht morgen.
Aber Clarence schwor hier und jetzt, bei allem was er besaß, was er darstellte und was ihm heilig war: Sally Mitchell würde keinen einzigen Atemzug mehr tun in eben jenem Moment, wo sie mit ihrem Boot von dieser gottverlassenen Insel ablegten.
Schhh, Zuckerblümchen… hab Geduld…“, wisperte ihr Quentin der Jüngeren leise zu, während sein Blick auf das blutige Rot gerichtet war. In Sturzbächen ergoss sich es sich über die knochige Schulter, hinab wie melancholische Tränen ihres Daseins und versicherte schließlich im Saum der ehemals weißen Bluse. Ungehört und ungesehen von anderen, auf gleiche Weise wie Sally in wenigen Tagen ihr Leben auf ewig aushauchen würde.

Ohne Erbarmen riss der Jäger ihr die dünne Haut auf, Zug um Zug, Schnitt um Schnitt, und begutachtete sein Werk schließlich genüsslich, als er auch noch den letzten Schnitt an das umtriebige Weib setzte. Ein Mal war entstanden, das die Ketzerin vermutlich niemals mehr zu Gesicht bekommen würde, wenn sie bis ans Ende ihrer Tage hier unten im Kerker verlieb um ihr endgültiges Urteil zu empfangen; aber es ging letzten Endes auch nicht darum das Miststück zu verzücken oder gar mit einer filigranen Verzierung zu verschönern, sondern um weitaus essentiellere Dinge in seinem Tun.
Rotz und Wasser schimmerten fahl auf dem Gesicht der untersetzten Fischerstochter, während sie ihn unsicher und geschlagen über die Schulter hinweg zu erreichen versuchte und schweigend ließ der Christ dabei seine Klinge flach über die blutende Haut streichen, um das gefangennehmende Rot großflächig darauf zu verteilen. Wenn es nach ihm ging, war es wirklich schon viel zu lange her, dass ein anderer Mensch sich voller Angst und schmerzerfüllt in seinen Armen gewunden hatte.
Vielleicht hatte Cassie sogar Recht was das anging. So sehr er es auch wollte, aber im Herzen würde er niemals aufhören Jäger zu sein. Er würde sich von der Gefahr verführen lassen, von der Aussicht auf Nervenkitzel bannen. Selbst bei ihrem Anlegen in Cascade Hill, erst wenige Tage nachdem er selbst wieder auf die Beine gekommen war, war sein erster Gedanke nicht etwa gewesen sich mit seinem Mann ein gemütliches Gasthaus zu suchen um ein paar Tage ohne das Schaukeln der Wellen unterm Arsch ein Bett zu teilen. Es war ihm nicht darum gegangen ihre Vorratskammer alsbald wieder aufzustocken oder wenigstens für kurze Zeit das Leben in der Zivilisation zu genießen.
Was ihn gereizt hatte, war der vereiste und schroffe Berg gewesen, dessen Quellen aufgrund des Winters versiegt waren und Clarence war sich durchaus darüber im Klaren, wie wenig Gutes das über ihn aussagte… und wie viel Geduld Matthew die kommenden Jahre im Innersten würde aufbringen müssen, um es auf Dauer mit ihm auszuhalten.
Eilig riss sich Sally aus seinen Armen kaum dass das Schneiden ein Ende gefunden hatte und eilige Schritte auf dem Korridor ertönten. Ihr Quentin ließ sie gewähren, zufrieden mit den heutigen Vorbereitungen, die hatten getroffen werden können und noch zufriedener als er sich bewusst wurde, dass die junge Frau es bevorzugte ihre weiblichen Reize lieber mit der Bluse zu verdecken als weiter zur Schau zu tragen.
„Den Verlorenen tot machen?“, wiederholte Clarence ruhig die sich überschlagenden Fragen seiner fragwürdigen Gefährtin und senkte dabei den Blick auf sein Messer hinab, ganz so als müsse er ernsthaft über jene Option nachdenken. Vermutlich würde der Verlorene eher Quentin tot machen sobald er diesen Kerker hier wieder ins Tageslicht verließ, da hegte der Hüne keinerlei Zweifel. „Noch nicht, Sally… das ist deine Aufgabe. Ich darf dir dabei nicht helfen und das weißt du.“
Durfte, konnte und wollte nicht, aber die letzten beiden Aspekte waren gänzlich anderer Natur als die junge Fischerstochter wohl vermutete.
„Wir warten, kleine Sally. Wir lassen Ihn unser Mal erkennen und sobald er erkannt hat, dass wir uns gefunden haben… können wir anfangen Ihn zu finden.“
Für heute blieb zu wenig Zeit, dieser Idiot von Wärter war schon wieder auf dem Weg zurück – es brachte nichts dieser Irren unter Druck irgendwelche Informationen zu entlocken, das würde sie nur wieder argwöhnisch und wenig versöhnlich machen. Sollte sie doch noch ein wenig hier unten in ihrem dunklen Loch schmoren, über ihren Gott, die Welt und den Mord am Verlorenen nachdenken. Am Ende war es die verstrichene Zeit selbst, die sie noch näher zu Quentin führen würde, nicht eine erpresste Nähe. Wer wusste schon ob dieses kranke Stück nicht sogar unter Folter und Androhung von Mord ihr loses Mundwerk hielt, aus lauter Loyalität zu ihrem bislang noch unbekannten Meister gegenüber.
Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen, wandte der Jäger sich wieder der Zellentür zu, holte die Schlüssel aus einer seiner Taschen hervor und streckte seine Hand mitsamt Schlüsselring am Finger durch die schmierigen Gitterstäbe ihrem freundlichen Besucher entgegen. Etwas kurzatmig geworden der Gute, aber trotzdem war er erstaunlich – und ärgerlich – schnell gewesen in seiner Intervention.
„Schönen guten Tag Herr Wachtmeister. Wenn sie so freundlich wären…?“, hieß Clarence seinen unerwünschten Retter willkommen, in allerbesten Absichten den Schlüssel übergebend, so als wäre es ein furchtbares und unerwartetes Versehen gewesen, überhaupt in dieser Zelle gelandet zu sein.


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